Versorgen ist gut, teilhaben besser

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S C H W E R P U N K T | Versorgung gestalten
Versorgen ist gut, teilhaben besser
Vom Spannungsverhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen Systemen
Text: Carlo Knöpfel und Yann Bochsler
Der Sozialen Arbeit werden heute zwei Zielsetzungen zugeschrieben: Existenzsicherung und Integration. Die lange wirtschaftliche Krise der 1990er-Jahre hat in der Schweiz den aktivierenden Sozialstaat hervorgebracht, der diese beiden
Vorgaben verknüpft. Wer arbeitslos, krank oder mittellos ist,
hat kein unbedingtes Anrecht auf materielle Existenzsicherung mehr. Wir plädieren für einen Ansatz, der sich am Postulat der gesellschaftlichen Teilhabe orientiert.
Das Bemühen um Integration, genauer: um Integration in
den Arbeitsmarkt, ist der eingeforderte Tatbeweis, der erst
den Bezug von finanziellen Unterstützungsleistungen aus
der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung
oder der Sozialhilfe rechtfertigt. Wo sich die Soziale Arbeit
auf diese Aufgabenstellung reduzieren lässt, wird sie zur
Erfüllungsgehilfin eines ökonomistischen Programms, das
vom Primat der Eigenverantwortung geprägt ist und das
weder nach den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen, noch nach der Aufnahmebereitschaft des Arbeitsmarktes fragt. «Aktivierung» verkommt
so zu einem einseitigen Anpassungsprogramm für «defekte», nicht genügend arbeitsmarktfähige Wirtschaftssubjekte. Es überrascht nicht, dass dieser Denk- und Handlungsansatz nur sehr begrenzte Wirkung entfaltet. Zu viele
Menschen haben mit facettenreichen Einschränkungen
ihrer Leistungsfähigkeit zu kämpfen, zu gering ist die
Übereinstimmung zwischen dem Profil der offenen Stellen und dem Portfolio der zur Arbeitssuche angehaltenen
Personen. Bis heute hat dies aber nicht dazu geführt, dass
der aktivierende Sozialstaat in der politischen Arena ernsthaft in Frage gestellt würde. Im Gegenteil: Die offensichtlich begrenzte Zielerreichung trägt nur dazu bei, dass der
Druck auf die Betroffenen erhöht und das Arsenal an Sanktionen ausgeweitet wird.
Carlo Knöpfel
ist Professor an der FHNW –
Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Sozialplanung
und Stadtentwicklung und
Präsident der Kommission
Sozialhilfe und Sozialpolitik
der SKOS.
Yann Bochsler
arbeitet bei der FHNW –
Hochschule für Soziale Arbeit
am Institut für Sozialplanung
und Stadtentwicklung.
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SozialAktuell | Nr. 4_April 2015
Weg aus der Sackgasse
Ausgehend von dieser skizzenhaften Darstellung der aktuellen Situation, mit der die Soziale Arbeit in vielen Tätigkeitsfeldern konfrontiert ist, formulieren wir eine argumentative Piste, die aus der eben kritisierten Sackgasse
herausführen kann, in dem sie auf die Engführung auf die
arbeitsmarktliche Integration verzichtet und den Bezug
zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen thematisiert.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Formel der
beruflichen und sozialen Integration so wenig fassbar ist,
dass dem Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten
kaum Grenzen gesetzt sind. Dazu gehört auch, dass der Integrationsbegriff nur zu oft so (miss-)verstanden wird, als
ob die Gesellschaft «gesetzt» sei und die Menschen eine
einseitige Vorleistung zu ihrer Integration erbringen müssten, sich den Gegebenheiten also ohne Frage anpassen sollten. Von der Sozialen Arbeit wird erwartet, dass sie diese
Gesellschaftliche Teilhabe hat nichts mit
der einfachen Polarität von «drinnen» und
«draussen» zu tun
Assimilation in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, vor allem aber in den Arbeitsmarkt fördert und vor
allem einfordert. Die Soziale Arbeit hat aber ein anderes,
auf Partizipation, Autonomie und Selbstverantwortung
aufbauendes Selbstverständnis, dem wieder mehr Gehör
verschafft werden muss.
Wir plädieren darum für einen Ansatz, der sich am Postulat der gesellschaftlichen Teilhabe orientiert. Damit ist
jene Schwelle der Prekarität angesprochen, jenseits derer
das Ausmass an sozialer Ungleichheit nicht mehr akzeptabel ist. Dieser Ansatz ist von einem Spannungsverhältnis
zwischen Individuum und der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Funktionssysteme geprägt. Nicht nur der Grad
der Versorgung innerhalb einer Lebenslagendimension ist
dabei relevant, sondern ebenso wichtig ist, inwieweit eine benachteiligte Lebenslage auf ungleiche Verwirklichungschancen zurückgeht. Gesellschaftliche Teilhabe wird so zum
Massstab für einen gelingenden Zugang der verschiedenen sozialen Gruppen zu wichtigen Subsystemen der Gesellschaft, ohne deren notwendige Selbstverantwortung
für eben dieses Gelingen zu vernachlässigen. In der Diskussion über diesen Ansatz formuliert Bartelheimer (2007)
fünf Attribute, dem der Begriff der gesellschaftlichen Teilhabe zu genügen habe.
Fünf Attribute der gesellschaftlichen Teilhabe
Gesellschaftliche Teilhabe ist relativ zu verstehen und
misst sich an den sozioökonomischen Gegebenheiten und
dem Grad der strukturellen Entwicklung einer Gesellschaft. Gesellschaftliche Teilhabe kann damit als Indikator für den Fortschritt von Nationalstaaten interpretiert
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werden. Dafür steht als Beispiel der «human development
index» des United Nations Development Program (UNDP
2014). Dort ist nachzuschlagen, wie viele Kinder und Jugendliche in einem Land zur Schule gehen, wie viele
Frauen erwerbstätig sind und wie viele Menschen Zugang
zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung haben.
Gesellschaftliche Teilhabe ist mehrdimensional. Sie verweist auf die unterschiedlichen Teilhabeformen in den
verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen, sei
dies der Arbeitsmarkt, das Bildungssystem, das Gesundheitswesen, der Sozialstaat oder die Politik. Die Bedingungen der Teilhabe sind Ergebnisse gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und manifestieren sich zum Beispiel in
unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, Berufsbildungszertifikaten oder Arbeitsverhältnissen. Das Ausmass an gesellschaftlicher Teilhabe bestimmter sozialer Gruppen
lässt sich erst im Zusammenwirken dieser verschiedenen
Teilhabeformen ablesen.
Gesellschaftliche Teilhabe hat nichts mit der einfachen Polarität von «drinnen» und «draussen» zu tun. Es geht vielmehr um Abstufungen unterschiedlicher Teilhabeformen
in den verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft. Entlang diesen Dimensionen der gesellschaftlichen Teilhabe
lassen sich dann Zonen der Sicherheit, der Prekarität und
der Hilfsbedürftigkeit beschreiben. So verweist beispielsweise die Begriffskette «Normalarbeitsverhältnis – atypisches Arbeitsverhältnis – prekäre Beschäftigung – Arbeitslosigkeit – Langzeitarbeitslosigkeit» auf eine ausdifferenzierte Dimension der gesellschaftlichen Teilhabe in Bezug
auf den Arbeitsmarkt. Ähnliche Begriffsketten können im
Bildungssystem, im Gesundheitswesen, aber auch im Bereich des Wohnens oder der Familie gebildet werden.
Gesellschaftliche Teilhabe ist ein dynamisches Konzept.
Gesellschaftliche Teilhabe verändert sich im Kontext von
Lebensläufen und Biografien, aber auch unter dem Einfluss
gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse. Zugleich ergibt
sich aus der Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen
Teilhabe auch, dass Veränderungen in einer Teilhabeform
häufig Auswirkungen auf eine andere Teilhabeform haben
können. So kann der Verlust einer Arbeitsstelle dazu führen, dass die Wohnung gewechselt werden muss und sich
die gesundheitliche Situation verschlechtert.
Gesellschaftliche Teilhabe verlangt nach aktivem Handeln und geht davon aus, dass Menschen von sich danach
streben, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten
selbstständig und autonom das eigene Leben zu gestalten.
Die Einschätzung über die Teilhabemöglichkeiten von sozialen Gruppen muss darum deren Erfahrungen und Verhaltensweisen berücksichtigen, ohne die tatsächlichen
Zugangsbedingungen zu den gesellschaftlichen Teilsystemen zu vernachlässigen. Soziale Mobilität lässt sich auch
daran ablesen, wie veränderbar die Ausprägung der gesellschaftlichen Teilhabe für Menschen aus bestimmten so­
zialen Gruppen ist und wie stark die Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen in den verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft ausfällt.
Das Konzept der gesellschaftlichen Teilhabe kann als Weiterentwicklung bekannter Ansätze aus der Armutsforschung interpretiert werden. So finden sich Elemente des
Lebenslagenansatzes gleichermassen wie Resultate aus
der Diskussion über die Prekarisierung der Gesellschaft,
Bausteine aus der Debatte um das Begriffspaar der «Inklusion» und «Exklusion» gleichermassen wie konzeptionelle
Aspekte des «capability approach» (Schuwey, Knöpfel
2014). Das Konzept der gesellschaftlichen Teilhabe löst sich
aber von der oft beobachtbaren Fixierung auf das Individuum und thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen den «Betroffenen» und den Bedingungen gesellschaftlicher Teilhabe in den einzelnen Funktionssystemen. Damit können einseitige Schuldzuweisungen an angeblich zu aktivierende Betroffene zurückgewiesen und
die dysfunktionalen Aufnahme- und Zugangsbedingungen verschiedener Funktionssysteme der Gesellschaft thematisiert werden.
Breites Aufgabenfeld für die Soziale Arbeit
Der Sozialen Arbeit kommt in diesem Konzept der gesellschaftlichen Teilhabe die Aufgabe zu, den Hilfe bedürftigen Menschen Teilhabemöglichkeiten in den verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft zu eröffnen. Wo sich die
Soziale Arbeit auf diesen Auftrag einlässt, sieht sie sich mit
einem breiten Aufgabenfeld konfrontiert. In der Beratung
und Begleitung muss sie sich der Mehrdimensionalität der
gesellschaftlichen Teilhabe bewusst sein und sich von der
einseitigen Fixierung auf die arbeitsmarktliche Integration emanzipieren. In vielen Fällen sind «konstruktive Umwege» über eine Verbesserung der gesundheitlichen oder
der bildungsbezogenen Dimension gesellschaftlicher Teilhabe zielführend, soweit die Veränderungsbereitschaft
der Betroffenen gegeben ist und die notwendigen Ressourcen in den entsprechenden Institutionen, in denen sich die
Soziale Arbeit eingebunden sieht, gewährleistet werden.
An diesem Punkt wird deutlich, wie sehr gesellschaftliche
Teilhabe auch durch die Finanz- und Sozialpolitik von
Bund, Kantonen und Gemeinden beeinflusst werden kann.
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Der Fokus auf die individuelle Förderung und die Entwicklung von Projekten der Teilhabe genügt darum nicht. Die
Beschäftigung mit den Teilhabebedingungen in den einzelnen Funktionssystemen der Gesellschaft rückt ebenso
in den Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit wie die aus einer solchen Analyse ableitbaren gesellschaftspolitischen
Forderungen zum Gegenstand vom Engagement der Sozialen Arbeit im politischen Feld werden müssen. Eine solche
Haltung geht nicht davon aus, dass die Versorgung Hilfe
suchender Menschen nur eine Frage der Ressourcen und
der effizienten Organisation ist. Sie fragt vielmehr kritisch
nach den Bedingungen und Voraussetzungen der gesellschaftlichen Teilhabe – und meldet sich in jenen Politikbereichen zu Wort, in denen die Voraussetzungen für eine
solche gesellschaftliche Teilhabe von Armutsbetroffenen
nicht gegeben sind.
Das doppelte Dilemma des aktivierenden Sozialstaates
Wie lassen sich diese Überlegungen für die sozialpolitische
Auseinandersetzung über das Primat der arbeitsmarktlichen Integration fruchtbar machen? Greifen wir noch einmal den Begriff der «Aktivierung» auf. Der aktivierende
Sozialstaat kann nur unter zwei alternativen Bedingungen weiter Legitimation erwarten. Entweder er hält daran
fest, dass Vollbeschäftigung möglich ist und dass alle Menschen ihrem Wunsch nach Erwerbsarbeit entsprechend
beschäftigt werden können. Dies käme einem «Recht auf
Arbeit» gleich. Oder aber die Unfähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, wird als individuelles Defizit
gedeutet, weil die Betroffenen entweder nicht können
oder nicht wollen.
Die erste Bedingung ist in Anbetracht des strukturellen
Wandels auf dem Arbeitsmarkt als Mythos zu entlarven.
Unter dem globalen Druck des Standortwettbewerbs verändert sich der hiesige Arbeitsmarkt in Richtung kapital-,
wissens- und wertschöpfungsintensiver unternehmerischer Aktivitäten, sodass Arbeitskräfte mit begrenzten beruflichen Qualifikationen immer grössere Schwierigkeiten
haben, eine existenzsichernde Stelle zu finden. Die zweite
Bedingung führt unweigerlich zu einer Unterscheidung
zwischen jenen, die mit der Aktivierung noch eine Stelle
finden, den «würdigen Armen», und jenen, denen dies
nicht gelingt, den «unwürdigen Armen». Diese sind dann
selber schuld, dass sie offenbar dem Anforderungsprofil
auf dem Arbeitsmarkt nicht zu entsprechen vermögen.
Diesen «Überflüssigen» droht eine dreifache Stigmatisierung. Sie tragen erstens das Stigma der Armen, die langfristig unterstützt werden müssen, zweitens werden sie
dem Segment der schlechten, nicht mehr vermittelbaren
Armen zugewiesen, und drittens wird ihnen unterstellt,
sie seien an ihrer Situation selber schuld.
Bessere Voraussetzungen schaffen für die Teilhabe
Das Konzept der gesellschaftlichen Teilhabe provoziert andere Antworten auf das doppelte Dilemma des aktivierenden Sozialstaates. Statt den Arbeitslosen die Schuld für
ihre Erwerbslosigkeit zuzuschreiben, ist nach Möglichkeiten einer investiven Sozialpolitik zu forschen. Eine investive Sozialpolitik, die nicht einseitig auf die Defizite von
Armutsbetroffenen fokussiert, sondern vielmehr auf
struktureller Ebene nach Möglichkeiten sucht, neue Zugänge und Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe zu ermöglichen. Zu fragen ist nach den Einschränkungen einer
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komplexen Lebenslage, welche aus vielerlei Gründen die
Aufnahme einer Erwerbsarbeit behindert. Diese können
von kaum mehr tragbaren Schulden bis zu gesundheitlichen Schwierigkeiten, von prekären Wohnverhältnissen
bis zur sozialen Isolation reichen. Erst wenn hier bessere
Voraussetzungen geschaffen werden, wachsen die Chancen auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Dann öffnet
sich auch das weite Feld der nachholenden Bildung, der
Weiterbildung und Umschulung. Den schwindenden Aussichten auf dem Arbeitsmarkt ist ein altersunabhängiger
Anspruch auf berufliche Qualifikation entgegenzuhalten.
Soll zudem am Postulat der Vollbeschäftigung festgehalten werden, muss über neue Möglichkeiten der Erwerbsarbeit jenseits des ersten Arbeitsmarktes ernsthaft nachgedacht werden. Mit der Versorgung von Langzeitarbeitslosen in Sozialfirmen wird es nicht getan sein. Vielmehr
braucht es eine Debatte über die gesellschaftliche Anerkennung aller Tätigkeiten, die für das Zusammenleben in
einem Gemeinwesen unabdingbar sind. An diesem Punkt
wird sich die Tragfähigkeit des hier diskutierten Konzepts
der gesellschaftlichen Teilhabe erst noch erweisen müssen.
Literatur
Bartelheimer, Peter (2007): Politik als Teilhabe. Ein soziologischer Beipackzettel. Fach Forum 1/2007. Zugriff vom 23.01.2015: http://library.
fes.de/pdf-files/do/04655.pdf
Schuwey, Claudia; Knöpfel, Carlo (2014): Neues Handbuch Armut in der
Schweiz. Luzern, Caritas-Verlag.
United Nations Development Report (2014): Sustaining Human Progress:
Reducing Vulnerabilities and Building Resilience. Human Development
Report 2014. New York, UNDP. Basel, 23.1.2015
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