2.4 Grenzwerte bei Funktionen

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2.4
Grenzwerte bei Funktionen
Um im nächsten Abschnitt genau beschreiben zu können, was eine stetige Funktion ist,
müssen wir zuerst definieren, was es heisst, dass eine beliebige Funktion f : D −→ R gegen
einen Grenzwert a strebt für x → x0 .
Nehmen wir eine Folge (xn )n∈N von reellen Zahlen xn im Definitionsbereich D der Funktion f , die gegen x0 konvergiert. Dann könnten wir den Grenzwert von f im Punkt x0 =
lim xn als Grenzwert der Funktionswerte f (xn ) definieren. Hier müssen wir jedoch aufn→∞
passen: Nehmen wir eine andere Zahlenfolge (yn )n∈N in D mit demselben Grenzwert x0 , so
kann der Grenzwert der Funktionswerte f (yn ) ungleich dem Grenzwert der Funktionswerte
f (xn ) sein!
Beispiel
Sei f : R −→ R definiert durch
f (x) =
−1
2
falls x ≥ 0
.
falls x < 0
Untersuchen wir den Grenzwert von f an der Stelle x0 = 0. Wir betrachten drei verschiedene
Folgen mit dem Grenzwert 0.
• Die Folge xn =
1
n
• Die Folge yn = − n1
• Die Folge zn = (−1)n n1
Wir erhalten also je nach betrachteter Zahlenfolge drei verschiedene Grenzwerte (d.h.
zwei verschiedene Grenzwerte und eine Divergenz) für die Folgen der Funktionswerte. Der
Grenzwert einer Funktion an einer Stelle x0 soll jedoch eindeutig definiert sein. Die Funktion
im Beispiel hat also keinen Grenzwert in x0 = 0. Allgemein soll der Grenzwert unabhängig
von der betrachteten Zahlenfolge sein.
Definition Sei f : D −→ R eine Funktion und x0 eine reelle Zahl, die Grenzwert einer
Zahlenfolge (xn )n∈N mit xn ∈ D ist. Dann ist a der Grenzwert von f an der Stelle x0 , falls
für jede Folge (xn ) mit xn ∈ D, xn 6= x0 für alle n, und lim xn = x0 gilt, dass
n→∞
a = lim f (xn ) .
n→∞
Wir schreiben dann
a = lim f (x) .
x→x0
Die reelle Zahl x0 kann dabei in D liegen, muss aber nicht.
26
Beispiel
Sei f : D −→ R,
f (x) =
x2 − 1
x2 − 1
=
,
x2 + 3x + 2
(x + 1)(x + 2)
also ist D = R\{−2, −1}.
Existieren die Grenzwerte von f an den Stellen −1 und −2 ?
• x0 = −1: Sei (xn ) eine Folge mit lim xn = −1, xn ∈ D und xn 6= −1 für alle n.
n→∞
• x0 = −2: Hier gilt hingegen
(x + 1)(x − 1)
x−1
= lim
= ±∞ bzw. divergent
x→−2 (x + 1)(x + 2)
x→−2 x + 2
lim f (x) = lim
x→−2
der Grenzwert lim f (x) existiert also nicht.
x→−2
Um den Grenzwert einer Funktion an einer Stelle zu untersuchen, ist der Begriff des
linksseitigen und des rechtsseitigen Grenzwerts hilfreich.
• Für den linksseitigen Grenzwert betrachtet man nur Folgen xn mit xn < x0 , also Folgen,
die sich “von links” dem Wert x0 annähern. Wir schreiben
lim f (x) .
x↑x0
• Für den rechtsseitigen Grenzwert betrachtet man nur Folgen xn mit xn > x0 , also
Folgen, die sich “von rechts” dem Wert x0 annähern. Wir schreiben
lim f (x) .
x↓x0
Satz 2.5 Sei f : D −→ R eine Funktion und a in R. Dann ist a = lim f (x) genau dann,
x→x0
wenn sowohl der linksseitige Grenzwert lim f (x) als auch der rechtsseitige Grenzwert lim f (x)
x↑x0
x↓x0
existieren und beide gleich a sind.
Beispiele
1. Sei f : R −→ R definiert durch
f (x) =
−1
2
falls x ≥ 0
falls x < 0
27
wie auf Seite 25. Dann gilt
lim f (x) = −1
x↓0
2. Sei f : R\{1} −→ R, f (x) =
Für x0 6= 1 gilt
aber
lim f (x) = 2 .
x↑0
1
.
x−1
lim
x→x0
1
1
1
=
=
.
x−1
lim x − 1
x0 − 1
x→x0
Hingegen ist
lim
x↓1
1
=∞
x−1
und
lim
x↑1
1
= −∞
x−1
Analog zum Grenzwert von f an einer Stelle x0 in R definiert man den Grenzwert von f
für x → ∞ und für x → −∞.
Im Beispiel oben gilt
1
1
= lim
=0.
lim
x→∞ x − 1
x→−∞ x − 1
Betrachtet man den Graphen von f , so bedeutet lim f (x) = a, dass die horizontale Gerade
x→∞
y = a eine Asymptote für x → ∞ ist. Genauer heisst dies, dass der Graph für genügend
grosse x im horizontalen Streifen zwischen den Geraden y = a + ε und y = a − ε liegt.
Eine analoge Interpretation findet man für lim f (x) = a. Für jedes ε > 0 liegt der Graph
x→x0
von f über einem genügend kleinen Intervall (x0 − δ, x0 + δ) innerhalb des horizontalen
Streifens zwischen den Geraden y = a + ε und y = a − ε, wobei der Punkt (x0 , f (x0 )) ausser
acht gelassen wird.
28
2.5
Stetige Funktionen
Definition Sei f : D −→ R eine Funktion und x0 in D. Dann heisst f stetig in x0 , wenn
gilt
lim f (x) = f (x0 ) .
x→x0
Die Funktion heisst stetig in D, wenn f in jedem Punkt x0 ∈ D stetig ist.
Anschaulich bedeutet die Stetigkeit von f in einem Punkt x0 , dass der Wert f (x) nahe bei
f (x0 ) ist, sobald x genügend nahe bei x0 ist (wie im vorangehenden Beispiel eingezeichnet
für x0 = 2 und f (x0 ) = 1).
Beispiele
1. f : R −→ R, f (x) = x2 .
2. Betrachten wir noch einmal das Beispiel von Seite 25, d.h. f : R −→ R ist definiert durch
f (x) = −1 für x ≥ 0 und f (x) = 2 für x < 0. Der Grenzwert lim f (x) existiert nicht, also
x→0
ist f in x0 = 0 nicht stetig. In allen anderen Punkten x0 6= 0 ist f jedoch stetig. Der Graph
macht in x0 = 0 einen Sprung:
3. Macht der Graph an einer Stelle nur einen Knick, dann ist die Funktion an dieser Stelle
immer noch stetig. Sei f : R −→ R definiert durch
−x + 2 falls x ≥ 0
f (x) =
2 falls x < 0
Ist f stetig in x0 = 0 ?
29
Die Stetigkeit ist eine sehr schwache Eigenschaft und trifft für alle “vernünftigen” Funktionen zu.
Satz 2.6 Alle elementaren Funktionen (Polynome, rationale Funktionen, allgemeine Potenzen, Exponential- und Logarithmusfunktionen, Winkelfunktionen (siehe Abschnitt 2.6)) sind
stetig in ihrem Definitionsbereich.
Aus diesen elementaren Funktionen kann man eine Vielzahl von weiteren stetigen Funktionen konstruieren.
Satz 2.7 Seien f, g : D −→ R zwei in einem Punkt x0 ∈ D stetige Funktionen. Dann gilt:
(1) Die Summe f + g ist stetig in x0 . Hierbei ist die Funktion f + g : D −→ R definiert
durch (f + g)(x) = f (x) + g(x).
(2) Das Produkt f · g ist stetig in x0 . Hierbei ist die Funktion f · g : D −→ R definiert durch
(f · g)(x) = f (x) · g(x).
(3) Ist g(x0 ) 6= 0, so ist auch der Quotient
durch
f
g (x)
=
f
g
stetig in x0 . Hierbei ist die Funktion
f
g
definiert
f (x)
g(x) .
(4) Seien f : D −→ R und g : D ′ −→ R zwei Funktionen mit f (D) ⊂ D ′ . Sei f stetig in x0
und g stetig in f (x0 ). Dann ist die Komposition g ◦ f stetig in x0 .
Beispiele
1. Betrachten wir noch einmal die Funktion f : D −→ R mit D = R\{−2, −1},
f (x) =
x2 − 1
x2 − 1
=
x2 + 3x + 2
(x + 1)(x + 2)
von Abschnitt 2.4. Nach Satz 2.7 ist f stetig auf ganz D. Nun stellt sich die Frage, ob man
Werte a und a′ finden kann, so dass f mit f (−2) = a und f (−1) = a′ stetig auf ganz R ist
(wenn ja, sagt man, dass man f nach −2 und −1 stetig fortsetzen kann).
Wir haben schon auf Seite 26 gesehen, dass lim f (x) = −2, der Grenzwert lim f (x)
x→−1
x→−2
hingegen nicht existiert. Die Funktion f ist also stetig fortsetzbar nach −1, wenn man
f (−1) = −2 setzt. Hingegen ist f auf −2 nicht stetig fortsetzbar (−2 ist eine Polstelle).
30
2. Sei f : R\{0} −→ R, f (x) = sin
1
x
.
1
0,5
y
-1
0
-0,5
0
0,5
1
x
-0,5
-1
Diese Funktion ist stetig in R\{0}, lässt sich jedoch nicht stetig nach 0 fortsetzen, denn der
Grenzwert von f für x → 0 existiert nicht.
3. Die Funktion f : R\{0} −→ R, f (x) = x sin x1 ist ebenfalls stetig in R\{0}. Sie lässt sich
hingegen durch die Definition f (0) = 0 stetig nach 0 fortsetzen.
Eigenschaften von stetigen Funktionen
Ist eine Funktion stetig, dann kann man ihren Graphen ohne abzusetzen “anständig” zeichnen. Der folgende Satz präzisiert diese anschauliche Beschreibung.
Satz 2.8 Auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] nimmt eine stetige Funktion f einen minimalen Wert m und einen maximalen Wert M an, und alle anderen Werte von f auf [a, b]
liegen dazwischen. Zudem gibt es zu jedem c in [m, M ] (mindestens) ein x in [a, b] mit
f (x) = c.
Folgerung (Nullstellensatz) Ist f stetig auf dem Intervall [a, b] und haben f (a) und f (b)
unterschiedliche Vorzeichen, so hat f eine Nullstelle zwischen a und b, d.h. es gibt ein
x0 ∈ (a, b) mit f (x0 ) = 0.
31
f(a)>0
−
x
a
0
b
f(b)<0
Beispiel
Nach Satz 2.6 ist die Funktion f (x) = 4e−x + x2 − 3 stetig auf dem Intervall [0, 1]. Es gilt
f (0) = 1 > 0
und
f (1) = −0, 528 < 0 .
Also hat f mindestens eine Nullstelle im (offenen) Intervall (0, 1).
Wie wir eine Näherung für diese Nullstelle finden können, werden wir später sehen.
2.6
Winkelfunktionen
Der Winkel ist das Mass einer Rotation, und zwar einer Drehung im positiven Drehsinn (d.h.
Gegenuhrzeigersinn). Wir zählen die Drehungen: ganze Drehungen plus Teile von ganzen
Drehungen. Die üblichen Skalen für Winkel sind das Gradmass und das Bogenmass:
Gradmass: Mass für die Drehung = 360◦
Bogenmass: Mass für die Drehung = 2π = Umfang des Kreises vom Radius 1
Das Bogenmass entspricht der Länge eines Bogens auf dem Einheitskreis mit dem entsprechenden Zentriwinkel.
32
Drehungen
− 14
0
1
4
1
2
3
4
1
1 21
2
Gradmass
−90◦
0◦
90◦
180◦
270◦
360◦
540◦
720◦
Bogenmass
− π2
0
π
2
π
3π
2
2π
3π
4π
Umrechnung:
=⇒ ϕ =
2π
360◦ α
Winkel im Bogenmass
ϕ Winkel im Bogenmass =⇒ α =
360◦
2π ϕ
Winkel im Gradmass
α Winkel im Gradmass
Wir betrachten die Drehung als “Prozess”, und daher ist 540◦ 6= 180◦ , 360◦ 6= 0◦ und auch
−180◦ 6= 180◦ . Nimmt man jedoch das “Resultat” der Drehung, das heisst die “Endlage”,
dann gilt 540◦ = 180◦ , 360◦ = 0◦ und auch −180◦ = 180◦ .
Nun starten wir mit dem Punkt P0 = (1, 0) auf dem Einheitskreis und drehen ihn um
den Winkel ϕ. Dies liefert den Punkt Pϕ auf der Kreislinie. Wie oben bemerkt, gilt dann
Pϕ+2π = Pϕ .
Definition Die Winkelfunktionen cos : R −→ R (Cosinus) und sin : R −→ R (Sinus)
werden wie folgt definiert:
cos ϕ = x-Koordinate des Punktes Pϕ
sin ϕ = y-Koordinate des Punktes Pϕ
Der Winkel ϕ wird dabei üblicherweise im Bogenmass angegeben.
Es gilt cos ϕ ∈ [−1, 1] und sin ϕ ∈ [−1, 1] für alle ϕ in R, und jeder Wert zwischen −1
und 1 wird von beiden Funktionen angenommen, das heisst, die Bildmenge der Funktionen
cos und sin ist das ganze Intervall [−1, 1].
33
Eigenschaften
Die folgenden Eigenschaften können direkt am Einheitskreis abgelesen werden:
(1) Periodizität: Es gilt Pϕ+2π = Pϕ und daher
cos(ϕ + 2πk) = cos ϕ
und
sin(ϕ + 2πk) = sin ϕ
für alle k ∈ Z ,
das heisst, cos und sin sind periodische Funktionen mit der Periode 2π.
(2) Pythagoras: cos2 ϕ + sin2 ϕ = 1 für alle ϕ in R.
(Hier ist cos2 ϕ die übliche Kurzschreibweise für (cos ϕ)2 .)
(3) Nullstellen:
cos ϕ = 0 ⇐⇒ Pϕ auf y-Achse ⇐⇒ ϕ =
sin ϕ = 0
π
2
+ kπ für k ∈ Z
⇐⇒ Pϕ auf x-Achse ⇐⇒ ϕ = kπ für k ∈ Z
(4) Symmetrien: Ist P = (x, y), so gilt
Pϕ+π = (−x, −y) =⇒ cos(ϕ + π) = − cos ϕ und sin(ϕ + π) = − sin ϕ
=⇒ cos(ϕ + π2 ) = − sin ϕ und sin(ϕ + π2 ) = cos ϕ
Pϕ+ π2 = (−y, x)
P−ϕ = (x, −y)
=⇒ cos(−ϕ) = cos ϕ
und sin(−ϕ) = − sin ϕ
Die letzte Zeile besagt, dass cos eine gerade und sin eine ungerade Funktion ist. Dabei
heisst eine reelle Funktion gerade, wenn f (−x) = f (x) für alle x in D und sie heisst
ungerade, wenn f (−x) = −f (x) für alle x in D. Der Graph einer geraden Funktion
ist achsensymmetrisch zur x-Achse, der Graph einer ungeraden Funktion ist punktsymmetrisch zum Ursprung.
(5) Additionstheoreme:
cos(α + β) = cos α cos β − sin α sin β
sin(α + β) = sin α cos β + cos α sin β
Die Graphen von cos und sin:
34
Umkehrfunktionen
Die Sinusfunktion ist als Funktion von R nach R nicht umkehrbar. Doch schränkt man
den Zielbereich auf ihre Bildmenge [−1, 1] ein, dann ist sie surjektiv. Bei geeigneter Einschränkung des Definitionsbereichs ist sie zusätzlich streng monoton wachsend, zum Beispiel
auf dem Intervall [− π2 , π2 ]. Also ist sin : [− π2 , π2 ] −→ [−1, 1] injektiv, und daher umkehrbar.
Die Umkehrfunktion nennt man Arcussinusfunktion
arcsin : [−1, 1] −→ [− π2 , π2 ]
Analog ist die Cosinusfunktion streng monoton fallend auf dem Intervall [0, π], das heisst
cos : [0, π] −→ [−1, 1] ist umkehrbar. Die Umkehrfunktion heisst Arcuscosinusfunktion
arccos : [−1, 1] −→ [0, π]
Definition Die Tangensfunktion ist definiert durch
tan ϕ =
sin ϕ
.
cos ϕ
Der Definitionsbereich ist {ϕ ∈ R | cos ϕ 6= 0} = R\{ π2 + kπ | k ∈ Z}.
35
Eigenschaften der Tangensfunktion:
(1) Es gilt tan(−ϕ) = − tan ϕ, d.h. tan ist eine ungerade Funktion.
(2) Es gilt tan(ϕ + kπ) = tan ϕ für alle k in Z, d.h. tan ist periodisch mit der Periode π.
(3) Auf dem offenen Intervall (− π2 , π2 ) ist tan streng monoton wachsend und die Bildmenge
ist R.
Wegen der dritten Eigenschaft ist tan : (− π2 , π2 ) −→ R umkehrbar. Die Umkehrfunktion
heisst Arcustangensfunktion
arctan : R −→ (− π2 , π2 )
Modifizierte Winkelfunktionen
Die Graphen der Funktionen f (x) = sin(x − u), g(x) = sin(αx) und h(x) = A sin x sind
gegenüber der Sinuskurve um u nach rechts verschoben, bzw. in der x-Richtung gestaucht
(für |α| > 1) oder gestreckt (für |α| < 1), bzw. in der y-Richtung gestreckt (für |A| > 1) oder
gestaucht (für |A| < 1.
36
Hier die Graphen von sin x, sin(x − 2), sin(2x), 2 sin(x):
Kombinationen von diesen Modifikationen tauchen bei Schwingungsproblemen in der
Physik auf und haben meistens die Form
y(t) = A sin(ωt + ϕ) .
Dabei ist t ∈ R die Zeit, ω die Kreisfrequenz, A (> 0) die Amplitude und ϕ die Phase. Diese
Funktion ist periodisch mit der Periode (= Schwingungsdauer) T = 2π
ω . Ihre Werte liegen
zwischen −A und A und ihr Graph ist um ϕ nach links verschoben.
3π
Hier der Graph von y(t) = A sin(ωt + ϕ) mit A = 6, T = 2π
ω = 8, ϕ = 4 :
Bestimmt man graphisch die Summenfunktion f (x) = sin x + cos x, so sieht das Ergebnis
aus wie eine verschobene und in Richtung der y-Achse gestreckte Sinuskurve:
37
Satz 2.9 Jede Linearkombination A sin x+B cos x ist eine (modifizierte) Winkelfunktion und
lässt sich in der Form
A sin x + B cos x = C sin(x + u)
√
darstellen. Dabei ist C = A2 + B 2 , und u ist bestimmt durch die Gleichungen A = C cos u,
B = C sin u. Umgekehrt lässt sich jede modifizierte Winkelfunktion C sin(x + u) (oder
C cos(x + v)) als Linearkombination A sin x + B cos x darstellen.
Diese Tatsache folgt direkt aus dem Additionstheorem für die Sinusfunktion:
Beispiele
1.
sin x + cos x = ?
2.
2 sin(x − π3 ) = ?
38
3
Komplexe Zahlen
Für alle reellen Zahlen x gilt x2 ≥ 0. Es gibt also keine reelle Zahl, welche Lösung der
Gleichung x2 + 1 = 0 ist. Allgemein hat die quadratische Gleichung
ax2 + bx + c = 0 ,
a, b, c ∈ R
nur dann Lösungen in R, wenn b2 − 4ac ≥ 0 gilt. Im Bereich der reellen Zahlen ist also nicht
jede algebraische Gleichung, das heisst
an xn + an−1 xn−1 + · · · + a1 x + a0 = 0 ,
mit a0 , . . . , an ∈ R ,
lösbar. Dieser Mangel motiviert eine Erweiterung des Zahlbereichs R zu einem Zahlbereich,
in dem alle algebraischen Gleichungen lösbar sind. Tatsächlich reicht es aus, den Bereich R
so zu erweitern, dass
1. die spezielle Gleichung x2 + 1 = 0 lösbar ist, das heisst es soll eine imaginäre Zahl i geben,
so dass i2 = −1;
2. alle Grundrechenarten +, −, · und / uneingeschränkt durchführbar sind und die Rechenregeln für R erhalten bleiben.
Der Bereich C der komplexen Zahlen ist der minimale Bereich mit diesen Eigenschaften. In
diesem neuen Bereich sind automatisch alle algebraischen Gleichungen lösbar!
Die Einführung und Anerkennung der komplexen Zahlen war ein langer Prozess, der mehr
als drei Jahrhunderte lang dauerte. Seit dem 19. Jh. werden die komplexen Zahlen jedoch
in vielen Gebieten der Mathematik eingesetzt und auch in den Naturwissenschaften sind sie
heute unverzichtbar.
3.1
Definitionen und Rechenregeln
Ein Ausdruck der Form
z = a + bi
mit a, b ∈ R
heisst komplexe Zahl. Die Zahl i nennt man imaginäre Einheit und sie erfüllt die Gleichung
i2 = i · i = −1 .
Die Menge aller komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet.
Die Zahl a =: Re(z) heisst Realteil, die Zahl b =: Im(z) Imaginärteil von z. Ist b = 0, so
ist z = a reell (insbesondere ist R ⊂ C). Ist a = 0, so ist z = bi rein imaginär.
Die Darstellung z = a + bi ist eindeutig, das heisst, zwei komplexe Zahlen z1 = a + bi und
z2 = c + di sind gleich genau dann, wenn a = c und b = d.
Die komplexen Zahlen kann man als Punkte der Gaußschen Zahlenebene darstellen.
39
Die zu z = a + bi konjugiert komplexe Zahl ist z = a − bi. In der Zahlenebene erhält man
z, indem man z an der reellen Achse spiegelt. √
Der Betrag |z| von z ist definiert als |z| = a2 + b2 . Er entspricht dem Abstand des
Punktes z vom Ursprung in der Zahlenebene.
Definition der Addition und Subtraktion:
(a + bi) ± (c + di) := (a ± c) + (b ± d)i
Die Addition und Subtraktion komplexer Zahlen entspricht der Vektoraddition und -subtraktion in der Zahlenebene.
Wie multipliziert man zwei komplexe Zahlen?
Definition der Multiplikation:
Es gilt insbesondere
(a + bi) · (c + di) := (ac − bd) + (ad + bc)i
z · z = |z|2 .
Aus der Formel z · z = |z|2 ist ersichtlich, dass durch jede komplexe Zahl 6= 0 dividiert
werden kann. Es gilt nämlich
z
z
1
= 2 ∈C.
z −1 = =
z
z·z
|z|
Dies führt zur folgenden Definition der Division.
Definition der Division: Für w, z ∈ C gilt
w·z
w
=
z
|z|2
Das heisst, wir erweitern den Bruch mit der konjugiert komplexen Zahl des Nenners.
Genau genommen müsste man die Subtraktion und Division eigentlich nicht definieren, denn
sie sind als Umkehroperationen der Addition und der Multiplikation gegeben.
40
Wir sehen, dass die uns bekannten Rechenregeln für reelle Zahlen erhalten bleiben und
die Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetzte auch für alle komplexen Zahlen gelten.
Während sich die reellen Zahlen mit Hilfe der ≤-Relation auf dem Zahlenstrahl anordnen
lassen, ist dies für die komplexen Zahlen jedoch nicht möglich.
Es ist praktisch, die folgenden Rechenregeln zu kennen.
Satz 3.1 Für w, z ∈ C gilt:
(a) w ± z = w ± z, w · z = w · z,
(b) |w · z| = |w| · |z|, wz = |w|
|z|
w
z
=
w
z
(c) |w + z| ≤ |w| + |z| (Dreiecksungleichung)
Nun sind wir schon fähig, quadratische Gleichungen zu lösen.
Beispiele
1. x2 = −1
2. x2 = −4
3. x2 = −c für eine positive reelle Zahl c. Wie im 2. Beispiel finden wir die beiden Lösungen
√
x1,2 = ± c i .
4. x2 + 2x + 5 = 0
Auf ähnliche Weise wie im 4. Beispiel findet man die Lösungen der allgemeinen quadratischen
Gleichung
ax2 + bx + c = 0 ,
wobei a, b, c in R. Die Lösungsformel liefert die Lösungen
√
−b ± b2 − 4ac
.
x1,2 =
2a
41
Abhängig von der Diskriminante D = b2 − 4ac können nun drei verschiedene Situationen
eintreten:
• D>0
=⇒
zwei reelle Lösungen x1 , x2
• D=0
=⇒
eine reelle Lösung x1 = x2
• D<0
=⇒
zwei komplexe (nicht-reelle) Lösungen x1 , x2 , wobei x2 = x1
Die obige Lösungsformel macht auch Sinn für eine quadratische Gleichung az 2 + bz + c = 0
mit Koeffizienten a, b, c in C. Nun ist D = b2 − 4ac eine komplexe Zahl und man muss zwei
Fälle unterscheiden: Im Fall D 6= 0 gibt es zwei (komplexe) Lösungen und im Fall D = 0 gibt
es genau eine (komplexe) Lösung.
Betrachten wir nun eine allgemeine algebraische Gleichung über C
an z n + an−1 z n−1 + · · · + a1 z + a0 = 0 ,
a0 , . . . , an ∈ C .
Die natürliche Zahl n (falls an 6= 0) heisst der Grad der Gleichung (die linke Seite ist ja
ein Polynom). Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) hat bewiesen,
dass jede algebraische Gleichung über C mindestens eine (komplexe) Lösung hat. Aus dieser
Aussage erhält man den folgenden fundamentalen Satz.
Fundamentalsatz der Algebra Jede algebraische Gleichung über C vom Grad n hat bei
geeigneter Zählweise genau n Lösungen in C.
Im Beweis zeigt man, dass jedes Polynom p(z) = an z n + · · · + a1 z + a0 mit a0 , . . . , an ∈ C als
Produkt von genau n Linearfaktoren geschrieben werden kann:
p(z) = (z − z1 ) · (z − z2 ) · · · · · (z − zn )
mit z1 , . . . , zn in C. Dann ist
p(z) = 0
⇐⇒
z ∈ { z1 , . . . , zn } .
Beispiel
Für Gleichungen vom Grad 2, 3 und 4 gibt es Lösungsformeln. Es gibt jedoch keine allgemeine
Formeln für Gleichungen vom Grad ≥ 5. In diesen Fällen benutzt man Näherungsverfahren.
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