Seminarskript Psychische Krankheitsbilder und Kunsttherapie K.

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Seminarskript
Psychische Krankheitsbilder und Kunsttherapie
K.-H. Menzen, Sommersemester 2014
Persönlichkeitsstörungen erfassen für das Individuum typische stabile und
beherrschende Verhaltensweisen, die sich als rigide Reaktionsmuster in
unterschiedlichsten Lebenssituationen manifestieren und mit persönlichen
Funktionseinbußen und/oder sozialem Leid einhergehen.
Einführung:
Die Erfindung der Hysterie – und der Beginn einer wissenschaftlichen
Krankheitslehre von der Psyche
(Das folgende Kapitel 1 ist Teil einer Veröffentlichung
und darf nur für private Zwecke genutzt werden)
1 Mesmerismus und Hypnosepraxis
Die Suggestionsmethode des Franz Anton Mesmer um 1800 und die Bilder der Salpétrière um
1880 wie die ihres Chefarztes Charcot, der eine Spielart dieser Methode benutzt, lassen eine
Hypothese zu, die da heißt: In den Symptomen der Patienten, speziell der Patientinnen des
ausgehenden 19. Jahrhunderts spiegelt sich eine Art der Entleibung, umgekehrt: der
Aneignung sexueller Körperlichkeit, welche männerbündnishaft wie im Raum der Kirche so
hier im Raum der Klinik verwaltet wird. Probehalber wird in der berühmtesten Klinik
Europas, des psychiatrischen Klinikums Salpétrière in Paris, ein Phänomen öffentlich, wird
dieses theatralisch inszeniert und einer erweiterten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, das wir
Hysterie nennen.
Ein Mythos, der des hysterischen weiblichen Körpers entsteht. Und eine doppelte Natur
dieses Körpers zeigt sich: einerseits eingebildet - symptomatisch, andererseits real symptomatisch. Christina von Braun hat in Ihrem Aufsatz " Das wandelbare Gesicht der
Hysterie. Von der Hysterie zur Anorexie" (vgl. web) auf den vergleichbaren Akt der
Verwandlung bei der Transsubstantiation hingewiesen, auf "das Fleisch gewordene Wort",
das in der Salpétrière real - symptomatisch per suggestiver Hypnose Lähmungen, Krämpfe,
Erstickungsanfälle und Sprachverlust hervorruft. Das hierfür notwendige Wort spricht
selbstinduziert-hypnotische Trance anregend der Therapeut, der für diesen Akt von
Penetration nicht zahlt - wie im Altertum üblich (vgl. die Praxis mit den entlohnenden
Bordellmarken, der ersten Entstehungsform des Geldes ; siehe Abb.), sondern - und das ist in
dieser Klinik nicht unüblich - mit dem sexuellen Gegenwert für seine Arbeit entlohnt wird.
Wir sprechen also über eine Art der Tempelprostitution, wie wir sie von den Assyrern oder
Griechen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts kennen, - wie sie in der die psychiatrische
Klinik der Neuzeit begründenden Praxis der Salpétrière verbürgt ist (Didi-Hubermann, 1997,
198) und offenbar derzeit in pädagogischen und kirchlichen Erziehungseinrichtungen der
Gegenwart sublim weitergeführt worden ist. Thomas Kerstan und Martin Spiewak (ZEIT 12,
2010) sprechen von "Parallelen zwischen Tätergemeinschaften" pädagogischer und
kirchlicher Provenienz, die wir hier um die klinische verlängern.
In Deutschland wie in Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind die soziokulturellen
Weihestätten der Gesellschaft ähnlich männerbündlerisch organisiert. Ob wilhelminischmilitärisch, jansenistisch-kirchlich, reformpädagogisch oder klinisch-psychiatrisch, - " innige
persönliche Beziehungen" (so der Reformpädagoge Geheeb) suchen die distanziertobrigkeitsstaatlichen zu kompensieren, liberal zu unterlaufen. Innige persönliche Beziehungen
- das waren in der Klinik Salpétrière Kompression des Uterus, Friktionen der
Geschlechtsteile, Masturbationen und sogar Verordnungen des Beischlafs, wie Briquet, einer
der Erfinder der Hysterie es schonungslos beschreibt. (Didi-Huberman, 1997, 1998) Was da
auf Gongschlag assoziativ per Hypnose freigesetzt wurde, ereignete sich nicht selten auf den
Weg der Penetration. "Die Geburt der Klinik", wie sie Michel Foucault skizziert, lebte von
der sexuellen Initialisierung, lebte von einem Opferakt, dem die auffällig gewordene,
zuweilen familiär widerständige Frau sich zu unterwerfen hatte. Wenn die beliebteste
Versuchsperson der Klinik, Augustine, als ehedem vergewaltigte und nunmehr die
psychischen Reaktionen reinszenierende Patientin in der für eine Öffentlichkeit freigegebenen
Theaterszene hypnotischer Reaktualisierung auftritt, reißen sich die Assistenten Charcots um
dieses Mädchen, solange bis es ihr zu viel wird und sie als man verkleidet aus der Klinik
flieht. (Abb.) Die Beckendusche (Pelvicdouche), wie sie schon um 1860 zur HysterieLinderung angeboten wird, macht die sexuelle Absicht überdeutlich.
Als Charcot die Klinik Salpétrière als Chefarzt übernimmt, liegen dort in den Bettensälen an
die 20.000 Patientinnen - und wir müssen uns das Szenario vorstellen: schreiend, sich
wälzend, stöhnend, sexuell sich gebärdend, eben so, wie man ihnen beigebracht hat, auf
welchem Weg sie Beachtung finden. Charcot reduziert ihre Zahl auf 4000, - und über die
Aspekte, die Auswahlkriterien der Reduktion brauchen wir uns keine sonderlichen Gedanken
machen, sie sind u.a. sexueller Natur, richten sich auch danach, welchen wissenschaftlichen
Wert die Patientinnen ersprechen. Der Chefarzt und seine Assistenten installieren ein
Fotolabor, legen eine "Iconographie photograpique de la Salpétrière" an, Dokumente, aus
denen alle hineinzulesenden Anzüglichkeiten retouchiert sind. Didi-Huberman: "So bekommt
man sie im Bildausschnitt, im Klischee, nie zu sehen. An vielen Details spürt man, dass sich
die Berührung, einverständliche Liebkosung oder Brutalität, auslöschen will. (ders. 1997,
199) Und Didi-Huberman fragt an: "Wie konnte die Beziehung zwischen einem Arzt und
seiner Patientin in einem Hospiz von viertausend 'unheilbaren' Körpern, eine Beziehung, die
neben der Ehe fast als einzige die Betastung der Körper autorisierte, ja instituierte - wie also
konnte diese Beziehungen zur Sklaverei, zum Besitz, zur Quälerei werden?" (ders. 1997, 198)
- wir sind im Thema unseres Buches angelangt.
2 Die Inszenierung des nicht zugelassenen Sexuellen
"Ich sage immer, dass sich in Wahrheit, eine bestimmte, die tiefere Schichten von Wahrheit,
nur erreichen lässt durch Stilisierung und Inszenierung und Erfindung." (Werner Herzog,
Zeit-Interview, 4.2. 2010) Das Krankheitsbild der Hysterie wird später Konversions-,
Dissoziations-, so Somatisierungsstörung genannt. Und wird damit ausdrücken, dass
psychische Belastungen und Konflikte in körperliche Symptome umgewandelt werden - ohne
dass eine eigentliche körperliche Störung entsteht.
Wir haben vielleicht von dieser Krankheit im Verlauf einer Schilderung Anna O.s gehört, der
berühmtesten Patienten von Josef Breuer, der zum Ende des 19. Jahrhunderts in Wien diese
Frau mit ihren bürgerlichen Namen Bertha Pappenheim versuchte zu kurieren. Eine Redekur,
talking cure nannten beide diese Behandlungsart, wenn der die Patientinnen überbelastende
Erlebnis werden Zustände der Vergangenheit sprach und nochmalig durchlebte. Die
Krankheitssymptom, dass Anna O. im Verlauf der Pflege ihres sterbenden Vaters annahm,
Sprachverlust und Lähmungserscheinungen, wurden von Josef Breuer, einem der
bekanntesten ärztlichen Diagnostiker seiner Zeit, als hysterische Symptome bezeichnet und
mit einem der Wärmeenergetik Carnots entliehenen Modell vom Erhalt aber möglichen
Verschiebungen der Energie erklärt: Hiernach verschöben sich nicht nur die physikalischen,
auch die psychischen Erregungssummen, hier speziell auf abnormem Wege; der Organismus
habe das Bestreben, das Niveau der Erregung fest zu halten und wieder zu erreichen, nachdem
es überschritten worden sei. Die psychische Energie wird also in ihrer Summa als konstant
betrachtet, wobei sie allenfalls durch Umwandlung der motorischen oder assoziativen
Tätigkeit in kinetische Energie summativ veränderbar sei.(Hirschmüller 1978, 13f.)
Sigmund Freud wird bald diesem Konzept widersprechen und für die Tendenz zur
Erniedrigung der Erregungssumme nach dem Prinzip der Abfuhr (Katharsis) plädieren. Wo
von Summe die Rede ist, kann geteilt werden. Also liegt die Vermutung nicht weit, dass die
Summe des Erregungspotenzials teilbar ist, also aufgespalten werden kann. Wir sind bei
Breuers Erkenntnis, dass das hysterische Symptom sich durch eine Spaltung des
Bewusstseins, psychischen Tätigkeit definiert. Und tatsächlich stellen wir fest, dass zu der
Zeit, in der Freud und Breuer ihre "Studien zur Hysterie" (1895) schreiben, vielen Patienten
und Patientinnen in den Anstalten Europas ihre gespaltenen Bewusstseinsausdrücke auf
Papier und Leinwand bringen. Und obwohl ein Teil dieses abgespaltenen, also dissoziativen
Zustandes, in dieser Befindlichkeit dem bewussten Zugriff nicht mehr erreichbar ist,
zeichnen, malen, plastizieren die Patienten in Reaktion auf ihre psychisch belastenden
Erfahrungen. Solches wird nämlich jetzt immer deutlicher: Wer schwerwiegende, nunmehr
kommt die Bezeichnung auf, traumatische Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, musste
sie unter Umständen wegblenden, abspalten, ist angesichts von deren schwer lähmenden
Affekthaltigkeit in einen Zustand der sogenannten Amnesie, d.h. totalen oder partiellen
Gedächtnisausblendung gegangen. Unter der Hand wird die Hysterie zunehmend als
Dissoziation nach Psychotraumata bezeichnet. Und die Künstler und Künstlerinnen,
solchermaßen betroffen, zeichnen, malen sich in totaler Isolation.
Freud und Breuer werden sich über den Realitätsgehalt des Erlebten so auseinandersetzen,
dass sich trennen. Freud, der noch vor der Jahrhundertwende einen Arbeitskreis für die
sexuell ausgebeuteten Mädchen gründete, die vornehmlich als Dienstkräfte in die großen
Städte wie Wien oder Berlin strömten, abgefangen und zu sexuellen Dienstleistungen
gezwungen wurden (wir sprechen von zirka einem Prozent der Bevölkerung, die auf den
großen Bahnhöfen Europas von der aufkommenden Bahnhofsmission schließlich betreut
wird), wird gegenüber Breuer schon bald diese Form der psychischen Traumatisierung eher
der Fantasie schulden. Darüber werden sich nicht nur diese beiden Männer trennen, darüber
wird auch die große Zahl seiner Schülerschaft sich von ihm lösen. Werden Freud darin
missverstehen, dass er traumatische Erfahrungen nicht in ihrer Faktizität ablehnt, wohl aber
auf die gelingende bzw. misslingende Form ihrer Verarbeitung verweist.
Die gemeinsame Erkenntnis der "Studien zur Hysterie" ist im Sinne Freuds und Breuers
jedoch unumstößlich: Die Wirkungsweise psychischer Traumen ist durch eine Zurückhaltung
von Affekt zu erklären; die Auffassung des hysterischen Symptoms erklärt sich als eine aus
dem Seelischen ins Körperliche versetzte Erregung - und Freud setzt hinzu: Ideen, für welche
wir die Termini "Abreagieren" und "Konversion" geschaffen haben. (Freud 1904, V, Über
Psychotherapie)
Immer noch hält die aufkommenden Psychoanalyse, wie Watzlawick einhundert Jahre später
verdeutlichen wird (1980, 12f.), an der ausschließlichen Betonung der mit Erhaltung und
Umwandlung von Energie zusammenhängenden Phänomene fest, an den Merkmalen einer
aus dem ersten Hauptsatz der Wärmelehre übernommen Theorie, die die psychische Energie
(Libido) mit dem hydraulischen Modell einer zähen, geradlinigen und da determiniert zu
berechnenden Flüssigkeit vergleicht. Watzlawick wird Jahre später den evolutiven,
systemischen, selbstregulativen und sich rückkoppelnden Charakter der Energie Bertalanffys
herausheben. Desungeachtet weren aber bis heute viele mit Traumaphänmenen Umgehende
an dem alten psychischen Energiebegriff festhalten. Pierre Janet (1859-1947), einer der wohl
begabtesten Schüler Charcots, wird den systemisch sich manifestierenden Charakter des
Traumas erahnen: "Es ist, als hätte sich eine Vorstellung, ein partielles Gedankensystem
emanzipiert, wäre unabhängig geworden und hätte sich auf eigene Faust entwickelt ... es
(scheint) nicht mehr vom Bewusstsein kontrolliert zu werden." (1906, Harvard-Vorlesung) Er
definiert die Hysterie als Spaltung der "Ideen und Funktionssysteme, die die Persönlichkeit
konstituieren."
Und Janet erläutert, wie die Hysterie von einer "übermächtigen Vorstellung, die in abnormer
Weise auf den Körper einwirkt", bestimmt wird; er nennt eine solche Vorstellung
"Suggestion", die infolge nicht mehr vom Bewusstsein kontrolliert wird, "sich ohne Führung
davon zumachen" sucht. (ebd.) Das Opfer eines Kutschenunfalls, das gegen alle Realität
glaubt, das Rad sei über sein Bein gefahren, ist als gelähmtes willkommenes Beispiel für
seine Theorie. Nicht wenige der Opfer, die in den Psychiatrien Europas einsitzen, malen
demonstrativ ihren Zustand als gespalten und werden oft infolge fälschlicherweise als
psychotisch eingestuft.
Die Diagnosepraxis der Psychiatrie erweist sich nicht selten, so Gunter Herzog (1984), als
willkürliche Zuschreibungsdiagnostik, die sich wohl differenziert: Mit großen
wissenschaftlichen Interesse wird vermerkt, wie Bewusstseins-und Bewegungskomplexe
zusammenhängen, aufeinander verwiesen sind. C.G. Jung, der 15 Jahre nach Freud die Pariser
Klinik aufsucht, wird von Janet lernen, dass "in der Hysterie... besonders physiologische ...
Funktionen gestört (werden)", dass es sich um "Projektionen der primitiven Psyche" handelt.
(Jung, Analytische Psychologie und Weltanschauung, 1979, S. 401; Psychologische
Determinanten, 1979, S. 143) Und in unseren Tagen werden Koma-Patienten, die wegen
psychischen Unfallsfolgen behandelt werden, auf Grund ihrer Körperhaltungen diagnostiziert,
die sich nach ihren traumatischen Erlebnissen im Körpergedächtnis des autonomen
Körperselbst eingeschrieben haben (Stammhirn, Hypothalamus, Hypophyse, Basalganglien).
(Johnson 1980,364) Das aus allen Fugen geratene sexuelle Erregungspotenzial weiss selbst in
der komatösen Rückzugsposition eine Antwort auf die traumatisch-isolative, dissoziative
Situation, inszeniert sich körperhaft. (Zieger, 2002) (Abb.)
3 Rückblende: Aufkommende Suggestions- und Hypnosetechniken des 19. Jahrhunderts
Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird ein Heilmittel erfunden, der animalische
Magnetismus. Er beruft sich auf ein universal verbindendes Fluidum, also eine Substanz, die
alle miteinander verbindet. Sie ist magnetisch, so die romantische Einsicht, bringt alles mit
allem zusammen, erschafft Korrespondenzen, so wie Sonne und Mond, Wasser und Erde,
Kälte und Wärme etc. Die Naturmedizin der Romantik geht von einem dieseswegs
bewerkstelligten Gleichgewicht aus, einer Homöostase der Naturprozesse. Animalisch heißt
diese Lehre, weil auch die Menschen miteinander verbunden sind in Anziehung und
Abstoßung auf der Grundlage dieses Stoffes, den man Fluidum oder Äther nennt. Ist der
Mensch gesund, ist er offenbar im Gleichgewicht; ist er krank, ist die Regulation der
Beziehungskräfte gestört. 1775 entdeckt Franz Anton Mesmer, der 1766 eine Dissertation
über den Einfluss der Planeten (des Makrokosmos) auf die Krankheiten (des Mikrokosmos)
geschrieben hat, den medizinalen und finanziellen Nutzen dieser Theorie. Er setzt sie in eine
gesundheitliche Praxis um, in deren Gebräu aus astrologischen, alchemistischen,
elektrophysikalischen und anfänglich-psychosomatischen Erkenntnissen jene feinstofflichdurchdringende und -verbindende Substanz, eine Art Lebenselexier der Gesundheitszustand
des Menschen garantiert sein soll. Mit Hilfe eines magnetischen Zubers oder Bottichs, in dem
Wasser mit magnetisierten Spänen vermischt eben jenes Fluidum abbildet und - wenn man
seine vielleicht kranken Gliedmassen in es eintaucht - heilsam zu wirken in der Lage ist, wird
der Gesundheits- als Gleichgewichtszustand wiederhergestellt. Der Magnetiseur - später wird
er heißen: Hypnotiseur, noch später: Psychotherapeeut - hat für den Ausgleich, das ungestörte
Zusammenwirken der Regulationskräfte des Körpers zu sorgen.
Die Theorie ist nicht ganz ohne Hintergrund, bezieht sich auf Isaac Newton, der eine
Anziehungskraft zwischen allen Massen (Gravitation) gelehrt hat und dabei von einer Art
Äther ausgegangen ist, - eben von jenem Fluidum, in welchem Kräfte zwischen lebendigen
Körpern aufeinander wirken. Chinesische und indische Vorstellungen, die in den Großstädten
Europas der damaligen Zeit umlaufen, den Vorstellungen von jenem Lebensstoff, der wie das
indische Prana oder das fernöstliche Chi unseren Körper durchströmt und reguliert, finden
sich in dem Topf dieses Gebäudes genauso wieder wie die Lehre des Schweizer Johann
Samuel Halle, der 1784 ein Buch mit dem Titel "Magie oder die Zauberkräfte der Natur"
verfasst. Magnetismus ist in aller Munde. Wundersam geformte Magnete sollen spezifische
Einflüsse auf spezifische Organe bewerkstelligen, herzförmige Magnete beispielsweise das
Herz beeinflussen, alle kleinen und großen Körper beseelen und beleben, so Professor Wolfart
in seinem Buch "Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung
des tierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen"
(1814). Wolfart weiß, dass ein solcher Magnetismus wieder Ordnung in den Zusammenhang
der Körperteile bringt. Das bringt ihm den Applaus der französischen und deutschen
Oberschicht ein und macht ihn populär, obwohl Napoleon die Lehre als einer Art adligen
Okkultismus zu unterdrücken sucht.
Trotz der Ablehnung einer wissenschaftlichen Kommission der französischen Regierung
(1784) erhält der Magnetismus Zuspruch aus Philosophie, speziell der Naturphilosophie
(Schelling), der Literatur (Edgar Allan Poe) wie der Musik (Mozart: Cosi fan tutte) und
revolutioniert das Gesundheitswesen der Zeit. James Braid wirkt 1843 in England, Hyppolite
Bernheim um 1865 in Frankreich, - und eine durchgehende These der Praktizierenden lautet:
die suggerierten Vorstellungen in den Séancen der mesmerischen Praxen streben danach, "zur
Empfindung, zum Bild, zur Bewegung zu werden" (Bernheim, 1840 bis 1919). Sie können
solchermaßen heilsam auf die dysregulierten Kräfte des Körpers zu wirken. Pierre Janet wird
sich später gerade diesen regulativen Kräften der Suggestion, die er in der Hysterie gestaltgebend vorfindet, widmen. Und die neurologische Forschung wird entdecken, dass Hysterie
und Suggestion im denselben präfrontalen Arealen des Cortex wirken. Axel Munthe (1857 bis
1949), Leibarzt der schwedischen Königin und Mitarbeiter in der Salpétrière um 1880, wird in
seinem berühmten Werk "Das Buch von San Michele" (1929) die diagnostischen und
suggestiv-hypnotischen Praxen der Zeit so schildern, dass eine breite europäische Oberschicht
von den Phänomenen der Hysterie und ihrer Heilungsversuche fasziniert ist.
Warum sind die Leute so fasziniert? Was lässt dieses Buch so verbreitet werden? Es ist das
stille Einverständnis einer breiten Käuferschicht, die sich in der Zeitschilderung des Buches
wiederfindet, die findet, dass hier etwas ausgesprochen ist, was gemeinhin unerwähnt bleibt.
Das 19. Jahrhundert ist eines der grossen innerfamiliären und zwischengeschlechtlichen
Tabus. In den sozial- und erziehungsphilosophischen Entwürfen von dem, was den Menschen
ausmacht, was ihn aufklärerisch-moralisch und -pragmatisch auszeichnet, werden innere
Regungen, werden Gefühle erst um die Wende zum 19 Jahrhundert benannt. Sie finden sich
allerdings begrifflich in den aufkommenden Lexika der Aufklärer nur im Rang der unteren
Vorstellungsvermögen wieder, entsprechend jener Auffassung, nach der triebhafte
Äußerungen vor allem den Tieren, aber auch den Frauen zuzusprechen sind. Hier ist einer der
Gründe zu suchen, warum vornehmlich Frauen als Patientinnen in den Psychiatrien derzeit
anzutreffen sind. Entsprechend dem allgemein geltenden Tabu kommen Gefühle sowohl im
privaten wie im öffentlichen Leben oft nur gewaltsam zum Ausdruck, brechen eben aus.
Die Krankheitslehren der Zeit bezeichnen solche explosiven, überzeichneten
Gefühlsausbrüche als "hysterisch" und haben umgangsprachlich diese Bezeichnung bis heute
beibehalten. Karl Philipp Moritz, Aufklärer der ersten Stunde und auf dem Höhepunkt seiner
Karriere Professor für Ästhetik in Berlin, beginnt um 1780, Gefühlsausdrücke aller Art zu
sammeln. Sein "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und
Ungelehrte" (1783-1793 ) listet solche umgangssprachlichen Gefühlsausdrücke auf und macht
sie einer lesenden Ober- und Mittelschicht zugänglich. Mit den pädagogischen Schriften eines
Herbart oder den psychologischen eines Carus werden die emotionalen Befindlichkeiten zum
erstenmal wissenschaftlich erfasst und erhalten eine solche Dignität, dass man darüber redet und nunmehr klinisch erörtert, wenn sie allzu leidenschaftlich, d. h. bar jeder Vernunft
geäußert werden. Offenbar werden ganz im Sinne der Aufklärung Unterschiede gemacht in
den vernünftigen und sinneshaften Äußerungsformen, wird zwischen vernünftiger und
sinnlicher Anschauung unterschieden. „Körperliche Ekstase“ als „Symbol der explosiven
Ankunft“, hat Mary Douglas in ihren sozialanthropologischen Studien dies genannt,
annonciert der „Vermischung von Göttlichem und Menschlichem“ (Douglas 1974, 9) – eben
den Beginn der Inthronisation Gottes auf symbolhaftem Weg.
4 Schemen des Blicks: Von rationalen und sinnlichen Weltsichten und wie sie
zusammenfinden
Immanuel Kant (1724 bis 1804) fordert in seinen aufklärerischen Aufruf, aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit auszusteigen, dazu auf, die Welt mit autonomem Verstand
zu betrachten. Er weiß darum, dass wir die Welt mit zwei Augen betrachten: dass wir sie mit
unsern Sinnen erfassen und ihr gleichzeitig eine Struktur, eine vernünftige Ordnung geben.
Immanuel Kant entwirft eine Bild- und Erkenntnistheorie in drei Kritikentwürfen (1781 bis
1790) und fordert dazu auf, die innere wie äussere Welt in ihrer Allgemeinheit wie auch in
ihrer Besonderheit zu erkennen. "Den Begriffen hängen ... doch immer bildliche
Vorstellungen an", sagt er und ergänzt in seiner Kritik der reinen Vernunft (B 181), dass die
Bilder der Dinge und Ereignisse im Kopf der Betrachter entstünden. Es ist ein denkwürdiger
Satz, der uns bis heute beschäftigt: „Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der
produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe ein Produkt und gleichsam ein
Monogramm der reinen Einbildungskraft apriori, wodurch und wonach die Bilder allererst
möglich werden..." (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 181)
Kant teilt uns hier seine Annahme mit, dass aus dem Schema der Dinge sozusagen ein
Monogramm, schließlich ein Bild entstehe; oder umgekehrt: dass der Schnittpunkt von
Monogramm, also einen grafischen Zeichen, und dem Bild die Schemata seien, welche die
Sinnes-und Verstandesdaten miteinander vermittelten. Das Problem, das Kant uns hier
mitteilt, ist nicht nur ein Problem der Philosophen, sondern auch der Therapeuten. So lesen
wir bei Freud: "Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen
meine beiden Hände und sagte: 'Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Drucke meiner Hand.
Im Augenblicke, da ich mit dem Drucke aufhöre, werden Sie etwas vor sich sehen oder wird
Ihnen etwas als Einfall durch den Kopf gehen und das greifen Sie auf. Es ist das, was wir
suchen.- Nun, was haben Sie gesehen oder was ist Ihnen eingefallen?'" (Freud, GW Bd. 1, S.
168). Und Freud benennt das Problem des Patienten wie des Therapeuten in diesem Vorgang:
Beide können mit der Flut von Einfällen bzw. der Bildassoziationen, welche ihnüberkommen,
kaum umgehen. Freud: "Es war wie eine Reihe von Bildern mit erläuterndem Texte" (GW Bd.
1, S. 246). Es ist eben nicht leicht, die Bildeinfälle – dies im Sinne der damaligen Heilkunst
gesagt – „auf die Reihe zu kriegen“.
Es ist wie ein Jonglieren Freuds zwischen Wort und Bild. Dieses zeigt sein Bemühen, verbal
die bildhaften Produktionen seiner Patienten zu konstellieren: "Benehmen Sie sich so, wie
zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und den im
Innern Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert." (GW
Bd. 8, S. 468) Wir kennen solche Anweisung aus dem hypnotischem Um-Arrangement, bei
dem der Wiener Analytiker Josef Breuer seine Patientin Anna O. das Schlafzimmer ihres
Vaters umräumen lässt. Der Patient Sigmund Freuds: "Ich könnte es zeichnen, ... aber ich
weiß nicht, wie ich es sagen soll" (GW Bd. 11, S. 86). Freud begreift offensichtlich jene
Schwierigkeit, Bild in Wort rückzuübersetzen: Er weist darauf hin, "daß ein Bewußtwerden
der Denkvorgänge durch Rückkehr zu den visuellen Resten möglich ist" (GW Bd. 13, S. 248);
berichtet aber auch von den Schwierigkeiten, die sich hierbei bieten: "Man erlebt es (den
Traum) vorwiegend in visuellen Bildern ... Ein Teil der Schwierigkeit des Traumerzählens
kommt daher, daß wir diese Bilder in Worte zu übersetzen haben" (GW Bd. 11, S. 86).
Die Vorstellungen, die dem Patienten einfallen, repräsentieren, d. h. wieder präsent machen,
bilden sozusagen eine Zeitbrücke, welche die Vorstellungen von jetzt und damals verbinden,
also die vergangenen Bilder mit ihren noch erhaltenen - wir wissen heute: neuronalen Spuren, Resten synthetisiern. In diesem Vorgang sind die Schemata sowohl erkenntnismäßig
wie psychisch-kognitiv und -emotional außerordentlich wichtig. Synthetisieren sie doch die
Elemente der Wahrnehmung und Gefühle - Kant sagt: einbildungkräftig. Sie versetzen also in
ein Bild, in dem sich sinnliches und verstandesmäßiges Begreifen treffen. Schemata, das hat
uns Kant, der diese wiewohl nicht psychologisch verstanden wissen wollte, gelehrt,
bestimmen alle eingehenden Informationen, füllen die Informationslücken und entscheiden
darüber, wie wir das Gesehene verstehen. Wenn die momentane Realität sich von den alten
aktiven Schemata unterscheidet, werden sie nur wahrgenommen, wenn sie nicht zu übersehen
sind. Schemata umreißen also in der Psychologie grundlegende mentale Wissensstrukturen,
die einen Gegenstand, eine Situation bzw. ein Konzept in abstrakter, generalisierter Form
enthalten. Für Kant, der wie gesagt die Schemata als grundlegendes Werkzeug des Verstandes
begreift, ist die Kategorie der Zeit die Hauptdimension, in der sich das sinnliche und
verstandesmäßige Erfassen im Bild treffen.
Ein Bild, das will uns Kant sagen, ist die Darstellung derjenigen „Vorstellung der
Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter
Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und
verständlich machen kann." Eine solche Darstellung repräsentiert ein „unabsehliches Feld
verwandter Vorstellungen". (Kant, KdU § 49) So kann Freud, der die Schema - Lehre auf sein
System überträgt, zu der Feststellung kommen: "Es ist möglich, den somatischen Effekt eines
Gedankens festzustellen, ohne dass das Ich darum wisse ..." (Freud, vgl. rororo-Biografie,
nach seinem Aufenthalt bei Charcot, 1886) Sowohl im Traum wie in der Rekonstruktion des
Traums via Psychoanalyse wird die zeitliche Reihung der Eindrücke von der anfänglichen
Wahrnehmung, über die Spuren dieser Wahrnehmung (Erinnerungsspuren) bis zu ihrer
Umsetzung in Handlung insofern wichtig, als sie zurückverfolgt werden kann, die
Zeitversetzung von vorher und nachher also im Blick bleibt - das Bild als bleibendes also das
sichtbare und bleibende Konstrukt jener Zeitbrücke bildet, welche die zu rekonstruierenden
Vorstellungen miteinander verbindet.
5 Wenn sich der Vorhang hebt: Die Nacht der Triebe und der Tag des Bewusstseins
In einem Brief an Romain Rolland vom Januar 1936 schreibt Freud: „Sie wissen, meine
wissenschaftliche Arbeit hatte sich das Ziel gesetzt, ungewöhnliche, abnorme, pathologische
Erscheinungen des Seelenlebens aufzuklären, das heißt, sie auf die hinter ihnen wirkenden
psychischen Kräfte zurückzuführen und die dabei tätigen Mechanismen aufzuzeigen. Ich
versuchte dies zunächst an der eigenen Person, dann auch an anderen, und endlich in kühnem
Übergriff auch am Menschengeschlecht im Ganzen." (Freud S: Brief an Romain Rolland.
Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis. GW, Bd. 16) Wie sollen diese psychisch
wirkenden Kräfte auf unsere Vorstellungskomplexe greifbar werden, fragt Freud sich und
erfährt viele Antworten.
So handelt Carl Gustav Carus' (1789-1869) Anschauungslehre unentwegt von diesem einen
Aspekt: Aus der Dämmerung der sog. Nachtvölker der Triebe treten die Tagvölker des
Bewußtseins hervor; und "der dunkle Körper" ist es hier, welcher des "reinen... Lichts" harrt
(Carus 1963, S.194); entsprechend korrellieren den unbewußten die bewußte Aspekte "der
Natur- und Seelenwirkungen". (Carus 1963, S.158) Seit Leibniz, seit Sulzer, seit Tetens, seit
Schelling und Carus lesen wir; bei Immanuel Kant, bei Jean Paul, bei Arthur Schopenhauer,
bei Friedrich Nietzsche erfahren wir: Eine Sphäre des Triebhaften ist mit einer entsprechend
wilden, unheimlichen, dunklen, verworrenen, unbewußten Sphäre zu assoziieren; dieser
Sphäre ist, wie Kant sagt, die Einbildungskraft verschrieben (vgl. Lütkehaus 1991).
Vorstellungs- und Bewußtseinsformen sind kaum mehr nur 'rein und hell' zu entwerfen. Und
Sigmund Freud fragt konsequent aber metaphorisch danach, was den sog. 'dark continent...
psychisch ur-bevölkere', - während er dabei ist, diese unerklärliche unbewußte Sphäre zu
skizzieren (zu der Zeit liest er des Afrikaforscher Stanleys 'Through the dark continent', wie er
am 14. August 1878 an Silberstein schreibt).
Es handelt sich um eine "unaufhörlich fließende Quelle sexueller Erregung" - so malt Freud
das zu erkundende, einprägsame Bild. (Freud, Stud. Ausg. Bd. 5, 126) Seine Bild- und
speziell: Symbol- Auffassung orientiert sich bekanntlich an einer abgewehrten und analytisch
zu erarbeitenden Triebrealität. Sein Bild- und Symbol- Begriff stehen zeichenhaft für
elementare Triebvorgänge. Dieses Verständnis fragt danach, welchen Sinn, welche Richtung
das individuelle Triebschicksal schon im kindlichen Zeichen-, Symbol- Ausdruck offenbare;
welche unbewußt seelisch-konflikthaften Sachverhalte sich hierin manifestierten? Das
ästhetisch-bildnerische Produkt scheint deutbar als konflikt-ersatzweiser
Interpretationsversuch; das symbolisch Manifeste scheint hinzudeuten auf ein LeidensSymptom. 'Zerrbild einer Kunstschöpfung' heisst nach Freud beispielgebend dieses Symptom,
welches er "Hysterie" nennt; welches ihm in seiner Bildhaftigkeit, in seinem "als-obCharakter" (Mentzos 1982) zu entzerren, aufzulösen ist. Welches - so die Tochter Freuds,
Anna, neu zu zentrieren ist- insofern es im symbolischen Ausdruck seine innere, umgeleitete
Erregung dokumentiert. - Was liegt näher, als auf den symbolisch zu hebenden Bildwert des
Symptoms einzugehen? Sigmund Freud aber tut sich schwer mit der Deutbarkeit der Bilder
auf der Ebene des bildnerisch-Ästhetischen. Er der jüdische Analytiker folgt hier vielleicht
dem Bilderverbot seiner Vorfahren. (Menzen, 2009, 176)
Freuds schematische Darstellung der umgeleiteten Erregung, der primären Abwehr
(Verdrängung) ist uns "Aus den Anfängen der Psychoanalyse " (Freud, 1950) überliefert.
In seiner " Psychologie des Unbewussten" (1975, 172) erscheint die Wortvorstellung als ein
abgeschlossener Vorstellungskomplex, die Objektvorstellungen mit ihren visuellen,
akustischen oder klanglichen Assoziationen aber als ein offener Komplex. In dem Vorgang der
Hinterfragung der Bild - Wort - Assoziation geht es ihm immer um "die Art der Verknüpfung,
die sich zwischen dem gesuchten Namen und dem verdrängten Thema ... hergestellt" hat (vgl.
seine Spurensuche, beispielsweise seine Assoziationen um das im Verlauf der Analyse
fallenden Wort Signorelli; vgl. Freud, Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit,
1898/Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1901); ihm geht es um einen psychisch
bedingten, d. h. lebensgeschichtlich verstörend-bedingten Gestaltszerfall der Wahrnehmung
und deren Äußerung. Die Skizze eines Sexualschemas, die Freud 1895 an seinen Freund
Fliess nach Berlin schickt, illustriert die Umwege, die Verstellungen jenes aus Gründen des
psychischen Überlebens notwendig gewordenen Zerfalls.
Es gehört zu den visuellen Bildtechniken Freuds, die Ur-Szene, die den psychischen Zerfall
initiiert hat, wiederaufleben zulassen in einer Art Schauspiel. Freud sagt: Der "Zweck des
Schauspiels" gehe dahin, eine "Reinigung der Affekte" herbeizuführen; … diene "vor allem
dem Austoben intensiver vielfacher Empfindungen" (Freud 1905/6; Bd.10, 1969, S.163 f.).
Ganz im Banne der psychologischen Introspektionstheorie entwirft Freud ein Modell der
inneren "bewußten und ... verdrängten" Teilhabe an einem "Schau-Spiel": "... infolge der
Bekanntheit der Stoffe hebt sich der Vorhang ...immer gleichsam mitten im Stück" (Bd.10,
S.165). Es gehe hierbei darum, meint er, "uns... wiederzufinden", was bedeute: "den Akt der
Verdrängung zu wiederholen", dabei den "Verstand... zu verlieren" (Bd.10, S.165 f.).
Bedingung sei in diesem Vorgang, daß der Zuschauer, d. h. der Patient mindestens zu
'erregtem Mitleiden' fähig ist; den 'Wunsch' kenne, 'gesund zu werden, den Zustand zu
verlassen'. Wir werden an die Anfänge des Mesmerismus erinnert, in denen der in Berlin neu
bestallte Professor K.Ch. Wolfart mit seinem Buch "Mesmerismus oder System der
Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine
Heilkunde zur Erhaltung des Menschen" (1814) davon redet, daß kranke Menschen sozusagen
außer Takt geraten sind - wir sagen umgangssprachlich "nicht mehr auf der Reihe sind" - und
einer neuen inneren Ordnung bedürfen: Solche "Reihe ist von einer Ordnung, welche die
Nervensubstanz durchdringt und mit der gesammten Natur in Wechselverhältniß bringen
kann" (Wolfart 1814). Die erkenntnis- und gefühlsmäßige Neuordnung, Rekonstruktion der
Psyche ist hier begründet.
6 Der erregte weibliche Körper und sein Wert - Szenen des Hysterischen
Wenn wir hier von Hysterie sprechen, dann sind damit zunächst jene ekstatischen
Körperverrenkungen, Krämpfe, Lähmungserscheinungen, Anfälle von Erstickung, auch der
Verlust des Sprechens gemeint, wie wir sie aus der psychiatrischen Literatur des 19.
Jahrhunderts kennen. Jene Unsicherheiten beim Gehen und Stehen, jene
Empfindungslosigkeit der Haut, des Sehvermögens - und immer wieder: jene Gebärden
sexueller Exaltation, die wie in einem Horrorgemälde Tausende von Frauen, in den Betten der
Salpétrière stöhnend und sich verrenkend liegend, befallen hat. Sind es männliche
Wunschbilder, die in jenen Geburtsort der psychiatrischen Klinik des ausgehenden 19.
Jahrhunderts hinein projiziert werden? In der viel weiter zurückreichenden Geschichte jenes
hier angenommenen Wunschbildes ist es das Bild von dem Tier, das ruhelos im Körper der
Frau umherwandere, bis es, wenn die Geschlechtsteile eingerieben, also behandelt sind,
seinen Ort im unteren Teil des Körpers wieder eingenommen hat. Besonders ist es das Bild
von der Gebärmutter, die ein Eigenleben führt und, der Verfügung der Frau entzogen, dem
rationalen Zugriff des Mannes anheim fällt. Die in Hexenprozessen hunderttausendfach
verbrannten Frauen müssen die Austreibung jenes Tieres, genannt Teufel, sprachlos erdulden.
Selbst die Saubermänner der Renaissance (besonders Paracelsus und Rabelais) zeichnen
gierig dieses Bild, das zunehmend seiner animalischen Besessenheit auch im Kopf gewahr
wird.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist es endlich so weit, ist endlich eine Methode
entdeckt, die jene besessenen Köpfe in der hypnotischen Suggestion sprechen lässt. Zitat:
„Die ersten Experimente mit Frauen nennt Charcot Experimente mit Hypnotismus. Das Wort
war ungefährlich. Deshalb benutzt er es. Er wählt zwei junge Frauen als Objekte aus,
Augustine (der Nachname fehlt, und sie verschwindet nach diesem Experiment aus der
Geschichte) und Blanche Wittmann. Assistenten sind Gilles de la Tourette, Joseph Babinski
und Désiré-Magloire Bourneville, zwei von ihnen (sind) spätere Monumente der Geschichte
der Medizin. Er bezeichnet die Ausgangslage der Objekte, also der Patientinnen, als labil.
Augustine hatte sich seit dem Vortag in einem trance-ähnlichen Zustand befunden, und
Blanche war aggressiv, hatte gewiehert, kurze Lacher ausgestoßen und Charcot mit beinah
feindlichen Augen betrachtet. Das Experiment wurde jedoch mit Blanche eingeleitet, die ein
Pendel betrachten mußte und bereits nach fünf bis acht Minuten schläfrig zu werden schien,
die Augen schloß und einschlief. Sie blieb sitzen.
Augustine war auf ein Bett gelegt worden: Als Charcot für einige Sekunden ihre Augenlider
hochhob, reagierte sie sofort und streckte die Beine aus; eine Bewegung, die ihr Nachthemd
zur Seite gleiten ließe und ihren nackten Unterleib und das bloße Geschlecht enthüllte.
Charcot gab daraufhin Bourneville die Anweisung, ihren Körper zu bedecken.
Blanche schlief jetzt. Charcot blies leicht über ihr Gesicht und sagte ihr, wenn sie aufwachte,
würde sie sich wohl fühlen. Sie verblieb jedoch in einem kataleptischen Zustand (Zustand, in
dem aktiv oder passiv eingenommene Körperhaltungen übermäßig lange beibehalten werden Anm.d.A.). Charcot preßte daraufhin seine Hand auf Punkte an ihren Eierstöcken: dies ist
also, bevor Charcot die Ovarienpresse erfand, die aus Metall und Leder, die benutzt wurde,
um Hysterie zum Stillstand zu bringen. Sie erwachte und sah Charcot mit einem
eigentümlichen Lächeln an. ‚Wie fühlst du dich jetzt', hatte Charcot gefragt. Sie antwortete:
‚Ich hätte nichts dagegen, jetzt ein Stück Brioche zu essen.'" ( Schott, H.,
Medizingeschichte(n): Medizin und Literatur - Jean-Martin Charcot. In: Dtsch Aerztebl 2006;
103(34-35): A-2254 / B-1955 / C-1889)
Wenn wir hier von Hysterie sprechen, dann sind besonders damit Frauen gemeint, deren
Gebärfähigkeit hinterfragt, nein: eher männlicherseits beneidet wird. In dem Augenblick, als
die Weiblichkeit des männlichen, literarisch-bildnerisch-theatralisch sich gebärden könnenden
Körpers en vogue ist - Christine von Braun hat in dem bemerkenswerten Artikel "Das
wandelbare Gesicht der Hysterie. Von der Hysterie zur Anorexie" (vgl. web.) dies
herausgearbeitet -, schmücken sich Flaubert, Baudelaire oder Mallarmé, hier für viele stehend,
mit diesem Etikett.
Aber der angesichts einer feindlichen Übermacht "kriegs- zitternde" Mann, der sich in den
Lazaretten der Weltkriege als 'Simulant' und 'Drückeberger' eher die männliche Ehre als die
(eher weibliche) Sexualität nehmen lässt, will sich die gemeinhin anerkannte FrauenKrankheit der Hysterie nicht zuschreiben lassen. Auf dem Psychoanalysekongress im
Budapest der Kriegsjahre 1918 wird der Kriegszitterer hinter verschlossenen Tür verhandelt,
nur Männer sind zugelassen. "Kriegsneurose" heißt jetzt diese Krankheit, die trotz aller
Vorsicht der Organisatoren höchste öffentliche Aufmerksamkeit erhält. (Vgl. Freud, Zur
Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1919)
Über die Hysterie des Mannes darf vernünftig und wissenschaftlich geredet werden. Sie erhält
ihre Bühne, ihre nur sublim, d.h. verdeckt-sexuelle, fachwissenschaftliche Form - und
beginnt, sich gegen das Bild der verirrten, da nicht beheimateten weiblichen Gebärmutter, in
übermächtiger Grenzerfahrung aus den Grabenkriegen des Ersten Weltkrieges her zu
definieren – aus jenen, um es metaphorisch zu sagen, dunklen Löchern buchstäblich an das
alles zerreissende Licht tretend.
Ernst Jüngers Buch "In Stahlgewittern" schildert die Fronterlebnisse des Autors 1915 bis 1918
und beginnt noch romantisierend mit der "Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen", um dann
eitel zu berichten, wie er "es immerhin erreicht, dass elf von diesen Geschossen auf mich
persönlich abgegeben wurden". Mit Tagebuchskizzen, in denen Männer um ihn herum nicht
mehr "bei klarem Verstand" und ihre Gehirne in "rote Nebel..., Blutdurst, Wut und
Trunkenheit" getaucht von dem "übermächtigen Wunsch zu töten" beseelt sind, spaltete er die
männliche literarisches Szene, die allenfalls den traumatisierenden Schock als beherrschendes
Moment hervorhebt (vgl. Karl Heinz Bohrer: "die Kategorie des Schocks als beherrschendes
Moment moderner Wahrnehmung"). "Es wurde auch höchste Zeit, dass unsere erregten
Nerven zur Ruhe kamen", heißt es zu Beginn des Erlebnisberichts eines Soldaten über die
Osterschlacht 1915; er schließt mit den Worten: " Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen,
war jeder darauf bedacht,... zu vergessen all das Schreckliche der letzten Tage, glücklich eher,
den der Traumgott heimtrug tun Müttern, bis - die Wirklichkeit beim Erwachen wieder an ihn
herantrat." (vgl. web) In Augenblicken der größten männlichen Verwirrung hat die GebärMutter wieder ihren Ort, der hier geradezu von göttlich-erlösendem Wert ist.
7 Alles hat seinen Preis: Männliche Hohepriester, Psychotherapeuten - die neuen Zöllner der
westlichen Kultur
Die folgende Geschichte von der Erfindung des Geldes ist eng mit der Praxis der Opfergaben
im Tempel konnotiert: "pecunia", lateinisch abgeleitet von pecus=Vieh, ist der Wert, der in
Form von Münzen den Wert eines Opfertieres dokumentiert. Von den Fruchtbarkeitsriten der
babylonischen Tempel über den Aphrodite-Kult der Griechen bis in die Tempel- und noble
Bordellpraxis der römischen Kaiserzeit gilt die Praxis, im Tauschgeschäft für mitgebrachte
Naturalien (Tiere, Wein, Früchte) eine Münze zur erwerben, die wie in Roms 39 ausgesuchten
Bordellen zu jener sexuellen Praxis berechtigt, die auf der Münze abgebildet ist. Eine weit
verbreitete religiös und später profan geregelte prostitutive Hingabe junger bürgerlicher
Mädchen zieht sich durch das erste vorchristliche Jahrtausend. Die Prägung der ersten
Silbermünzen geht mit solcher religiös-geschlechtlicher Hingabe einher. Es wird gesetzlich
geregelt, wie das Geld aus den Händen der männlichen Hohenpriester - um die
Jahrtausendwende werden es in Rom nur noch hohe Beamte sein, denen diese Aufgabe zufällt
- in das allgemeine staatliche und private Tauschgeschäft übergeht.
Es hat schon seinen Preis, über die leibhaften Entäußerungen der sich konstituierenden jungen
Tempel-Dienerinnen (man nennt sie von früh an Hierodulen = heilige Dienerinnen) zu
verfügen. Der Zugang zu ihren Körpern ist per Zoll geregelt. Das Opfer, dass die
babylonischen Mädchen in der Art eines sozialen Jahres zu erbringen haben, hat eine
Geschichte, die bis in die psychiatrische Klinik der Salpétrière reicht: Auch hier stehen die
jungen Frauen den Assistenten Charcots zur Verfügung, der Beischlaf zum Vollzug der
Hypnose ist nicht unüblich, wie der Ästhetik-Theoretiker Didi-Huberman schildert: "Wie kam
es dazu, das der Patientenkörper dem ärztlichen Körper gehörte, und wie konnte sich diese
Enteignung in dem vollziehen, was die Hysterie selbst uns zwingt, Zauber zu nennen?" (1997,
198) Der Zugang zur Erfahrung des Außergewöhnlichen ist nunmehr klinisch geregelt, die
neurologisch versierten Psychotherapeuten sind quasi Zollbeamte einer inzwischen
aufgeklärten Kultur.
Der Wert des sich konstituieren müssenden weiblichen Körpers offenbart sich als lebende
Münze, in welcher der sexuelle weibliche Leib zur Inkarnation göttlich-orgiastischer
Erfahrung wird.
Die massenhysterischen Opfer der in der Regel männlichen Sinnes- und Schaulust, jene über
die Jahrhunderte geschätzten ca. 9 Millionen wegen Hexerei verbrannter Frauen, haben
durchaus zur geschlechtsspezifischen Konstitution männlicher Kultur beigetragen, werden
nunmehr Ende des 19. Jahrhunderts theatralisch in den Räumen der Salpétrière zur
Schaustellung und zum Sinnesvergnügen angereister wissenschaftlicher Intellektuelle benutzt:
"Die Hysterikerinnen der Salpêtrière …waren stets bereit »de piquer une attaque«, um
Charcots klassische Grande Hysterie, den »arc-en-ciel« usw. oder seine berühmten drei
Stadien der Hypnose vorzunehmen: Lethargie, Katalepsie, Somnambulismus, alle vom
Meister erfunden und kaum je außerhalb der Salpêtrière beobachtet. Einige rochen mit
Behagen an einer Flasche Ammoniak, wenn man sie ihnen als Rosenwasser hinhielt, andere
aßen ein Stück Kohle, wenn man ihnen sagte, daß es Schokolade sei, wieder andere krochen
auf allen vieren, bellten wütend, wenn man ihnen suggerierte, sie seien Hunde; sie bewegten
die Arme, als wollten sie fliegen, wenn man sie zur Taube machte. Andere rafften ihr Kleid
mit einem Entsetzensschrei, wenn man ihnen einen Handschuh zuwarf mit der Suggestion, es
sei eine Schlange", - schreibt Axel Munthe, betonte Autor von "Das Buch von San Michele".
8 Der sexuelle Opferakt –oder: „Geben ist seliger als Nehmen“
Die lustvolle Erfahrung des Heiligen im Akt der Hingabe, im Opferakt der weiblichen
Sexualität bleibt seit jenen Tagen nicht mehr den Männern vorbehalten, wie Christina Braun
schreibt: „… die Hysteriker machen sich zur ‚Verkörperung‘ des vernichteten Sexualwesens
und heben damit den Prozeß der Entleibung wieder auf. Sie schlagen die Logik mit ihren
eigenen Mitteln in Bann, denn allein die Tatsache, daß sie ihre Verwandlung in einen Mythos
zu spielen vermögen, beweist, daß sie existieren, daß diese Verwandlung also nicht
stattgefunden hat. Wer seine Vernichtung noch darzustellen vermag, der ist nicht vernichtet. „
(Christina von Braun, 1988)
Bataille zeichnet in seinem Werk „L’érotisme“ (1957; dt 1965) diese Verwandlung aus der
Sicht des Mannes nach, skizziert eine Szene aus den Höhlen von Lascaux:
„Ein Mann, der augenscheinlich tot ist, liegt ausgestreckt, wie gefällt, vor einem reglosen und
bedrohlichen schweren Tier. Das Tier ist ein Bison, und die Bedrohung, die von ihm ausgeht,
wiegt umso schwerer, als er mit dem Tode ringt: er ist verwundet, und aus seinem
aufgerissenen Bauch quellen seine Eingeweide. Offenbar hat der hingestreckte Mann das
sterbende Tier mit seinem Wurfspiess durchbohrt. Aber der Mann ist nicht ganz Mensch, sein
Kopf, ein Vogelkopf, verjüngt sich zu einem Schnabel. Nichts in dieser Szene rechtfertigt die
paradoxe Tatsache, dass der Mann mit aufgerichtetem Geschlecht daliegt.“ (Bataille 1965, 25)
Das Rätsel von Lascaux, so Bataille, gibt den Blick frei auf jenen „dark continent“ Sigmund
Freuds, gibt einen Blick in die Tiefe des Schachts der Menschheitsgeschichte: „Diese
Wahrheit tritt sicher immer wieder ans Tageslicht. Aber sooft sie zutage tritt, sooft entzieht
sie sich ... Verhüllt in Gegensätzen, die auf schwindelerregende Weise sich offenbaren, in der
gleichsam unzugänglichen Tiefe, die für mich das Extrem des Möglichen ist.“ (ders. 1965,
26f.) Und am Schluss dieses Wort: „ich betone es noch einmal: solange die Erotik uns nicht in
ihrer Bodenlosigkeit bewusst ist, entgeht uns ihre Wahrheit… Wer den religiösen Sinn der
Erotik nicht sieht, dem entgeht ihr ganzes Wesen. Wer umgekehrt das Band nicht sieht, das
die Religion mit der Erotik verknüpft, dem wird auch das Wesen der Religion entgehen“
(ebd., 37f.)
Krankheitslehre des Psychischen
Definition
"Persönlichkeitsstörungen" erfassen für das Individuum typische stabile und
beherrschende (pervasive) Verhaltensweisen, die sich als rigide Reaktionsmuster
in unterschiedlichsten Lebenssituationen manifestieren und mit persönlichen
Funktionseinbußen und/oder sozialem Leid einhergehen.
Diese Definition beinhaltet, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in
der Adoleszenz aufgrund der noch vorhandenen Entwicklungspotenziale
zurückhaltend gestellt werden sollte. Andererseits lässt sich bei einigen
Persönlichkeitsstörungen ein eindeutiges Kontinuum zwischen den
Verhaltensmustern in Kindheit und Jugend und denen des Erwachsenenalters
nachweisen, sodass auch aus klinisch-praktischen Erwägungen die Diagnose
einer Persönlichkeitsstörung in der späten Adoleszenz sinnvoll sein kann.
Beziehungs- / Persönlichkeitsstörungen
Was versteht man unter Beziehungs- und Persönlichkeitsstörungen?
Menschen mit dieser Problematik verfügen nicht über ausreichend Flexibilität,
Vielfalt und Anpassungsfähigkeit im Rahmen ihres Persönlichkeitsstils. Die
persönlichen Eigenarten weichen dagegen mit ausgesprochener Unflexibilität,
ständiger Wiederholung und der Unfähigkeit, Stress zu bewältigen, von einem
angemessenen und befriedigenden Verhalten und Erleben ab.
Die Abweichungen betreffen folgende Bereiche:
Kognition (d.h. Wahrnehmung und Interpretation von Dingen, Menschen und
Ereignissen sowie Einstellungen und Vorstellungen von sich und anderen)
1. Gefühle (Variationsbreite, Intensität und Angemessenheit der
emotionalen Ansprechbarkeit und Reaktion)
2. Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung
3. Zwischenmenschliche Beziehungen und die Art des Umgangs mit ihnen
Meist besteht die Problematik seit der späten Kindheit oder frühen Jugend und
wird im Gegensatz zu seelischen Störungen (wie z.B. Ängsten oder
Depressionen), die auftreten und auch wieder verschwinden können, als zur
Person dazu gehörig erlebt.
Der Übergang vom Persönlichkeitsstil zur Störung ist fließend und bedarf
präziser diagnostischer Klärung. Dazu gehört auch die Information und
Aufklärung des Patienten, wie auch die Einbeziehung seiner eigenen
Einschätzung.
Abb.: Neurobiologisches Mobile
1 Narzisstische Störung
Frustration des kleinkindlichen Bedürfnisses nach Zuwendung führt zur
Abspaltung des Zuwendungswunsches, in der Folge zu Idealisierungen,
Größenphantasien, Überflutungsängsten, Wutzuständen, Leere, Störung des
Identitätsgefühls (Beispiel: Erics Weltraumphantasien)
Unter Narzißmus versteht man nicht nur das krankhafte Extrem der absoluten
Selbstsucht, sondern auch Strebungen der Selbstliebe, wie sie bei jedem
Menschen vorhanden sein können. Die Liebe zur eigenen Person ist ein Teil der
Liebe insgesamt, ohne sie wäre eine Liebe zu anderen Personen nicht zu
verwirklichen. Der Narzißmus ist also nicht nur das erotische Äquivalent des
Egoismus.Sigmund Freud unterscheidet einen primären von einem sekundären
Narzißmus.
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•
Jeder Säugling durchläuft eine primär-narzißtische Phase in seinen ersten
Lebensmonaten. Die eigene Person, der eigene Körper ist dann
Sexualobjekt, auf ihn konzentriert sich seine Libido, seine Lebensenergie,
die Freud als sexuelle Energie verstand
Zu dieser Zeit kann der Säugling noch nicht zwischen sich und seiner
Umwelt unterscheiden, die Abgrenzung vom Selbst zum Nicht-Selbst ist
noch nicht erfolgt.
Bei Erwachsenen mit primär-narzißtischen Störungen kann man ähnliche
Tendenzen beobachten. Ihnen fehlt die existentielle Sicherheit, das
Urvertrauen, sie haben Angst, mit ihrer Umwelt zu "verschmelzen". In
einer Partnerschaft fällt es ihnen schwer, ihr Selbst von dem Selbst des
Partners abzugrenzen
Wenn man - in einem späteren Lebensalter - Objektbeziehungen eingeht (zu
Dingen oder zu Personen), sie aber aufgrund einer (narzißtischen)
Kränkung wieder aufgibt und seine Libido ganz auf sich selbst ausrichtet,
dann liegt ein sekundärer Narzißmus vor. Die Selbstliebe ist hier Reaktion
auf eine frustierende Umwelt oder auch seelische Verletzung. Der
sekundär-narzißtisch gestörte Erwachsene besitzt ein mangelndes
Selbstwertgefühl, ist unsicher und leicht zu kränken. Seine Umwelt bzw.
sein Partner sind für ihn hauptsächlich dazu da, narzißtische
Selbstbestätigungen zu liefern.
Bochumer Psychologen mit rund 250 Studierenden im Alter von rund 25
Jahren . Alle lebten seit etwa 42 Monaten in einer festen Beziehung, teils
im eigenen Haushalt. In einer weiteren Studie wurde das gesunde
Selbstbewusstsein separat erfasst, um es als möglichen Einflussfaktor
ausklammern zu können. Schließlich nahmen an der dritten Studie rund 50
Elternpaare von Studierenden teil, die im Schnitt 51 Jahre alt und 26 Jahre
verheiratet waren.
Verzerrte Selbstwahrnehmung
Deutlich erhöhte Werte für Narzissmus traten bei etwa einem Fünftel der
befragten Studierenden auf. Damit bestätigten die Forscher eine USamerikanische Studie, in der schon 1986 jeder siebente Studierende erhöhte Werte
erreichte, die bis zum Abschluss dieser Untersuchung 2006 kontinuierlich
anstiegen. Die Bochumer Studien zeigen nun die Konsequenzen für die
Partnerschaft: Je narzisstischer die befragte Person, umso mehr überschätzt sie
die eigene Attraktivität und damit zugleich die eigenen Beiträge zur Partnerschaft.
Die verzerrte Selbstwahrnehmung äußert sich darin, dass Narzissten die Leistung
des Partners geringer einschätzen als die eigene und kaum würdigen. Die
narzisstische Person übt in der Beziehung ständig Druck auf ihren Partner aus.
Bei den Elternpaaren fielen die Antworten zwar weniger narzisstisch aus, doch
auch bei ihnen war der Narzissmus mit einer höheren Bewertung der eigenen
Beiträge verbun-den. Zudem zeigte sich hier ein interessantes Phänomen: Die
eigene Überschätzung eines Elternteils ging mit einer geringeren
Selbsteinschätzung beim anderen Elternteil einher. Diese komplementären Urteile
führten letztlich zu einer übereinstimmenden Bewertung beider Partner. In:
European Psychologist (2010, im Druck).
2 Histrionische Störung
Charakteristisch für Histrioniker ist der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen.
Betroffene sind meistens extravertiert, sozial ungezwungen und kontaktfreudig,
haben aber nicht selten auch einen Hang zur Aggressivität. Das Selbstwertgefühl
ist eher schwach ausgeprägt. Entsprechend wichtig ist für Histrioniker die
Bestätigung durch das Umfeld. Um diese Bestätigung zu erreichen, neigen sie zur
exzessiven, oft theatralischen Selbstdarstellung. (B.: Oscar Wilds Märchen vom
selbstsüchtigen Riesen)
Die histrionische Persönlichkeitsstörung (HPS) (von englisch histrionic
„schauspielerisch; theatralisch, affektiert“ zu lateinisch histrio „Schauspieler“) ist
gekennzeichnet durch egozentrisches und theatralisches Verhalten. Als
Bezeichnung für eine Persönlichkeitsstörung hat HPS den veralteten Begriff
Hysterie abgelöst
Charakteristisch für Histrioniker ist der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen.
Betroffene sind meistens extravertiert, sozial ungezwungen und kontaktfreudig,
haben aber nicht selten auch einen Hang zur Aggressivität. In Stresssituationen
reagieren sie oft mit Schuldabwehr und Selbstbemitleidung, aber auch mit
aggressivem Verhalten. Nicht selten suchen sie in derartigen Situationen zudem
nach Selbstbestätigung und zeigen deutlich ein Bedürfnis nach sozialer
Unterstützung.
Das Selbstwertgefühl ist eher schwach ausgeprägt. Sie können die eigene
Bedeutung nur schlecht einschätzen, haben dafür aber ein sehr ausgeprägtes
Gespür, wie andere auf ihr Auftreten reagieren. Entsprechend wichtig ist für
Histrioniker die Bestätigung durch das Umfeld. Um diese Bestätigung zu
erreichen, neigen sie zur exzessiven, oft theatralischen Selbstdarstellung.
Histrioniker sind extrem suggestibel. Leicht werden sie durch andere beeinflusst,
wobei sie meist nach Übereinstimmung streben und Positionen des Gegenüber
übernehmen. Gleichermaßen findet eine Anpassung an das jeweilige Umfeld statt,
wobei sich die Persönlichkeit deutlich ändern kann. Die Betroffenen sind
angeblich sehr leicht zu hypnotisieren und fallen gelegentlich auch allein in
Trance.
Sie suchen ständig nach Neuem und nach Stimulation. Dadurch können sie sich
leicht in gefährliche Situationen begeben. Sie können schnell enthusiastisch
Interesse an etwas gewinnen und es ebenso schnell wieder verlieren. Auch
sprachlich wechseln sie das Thema. Ihr Sprachstil ist dabei oberflächlich,
detailarm und zuweilen impressionistisch.
Sie sind offen für oft wechselnde sexuelle Beziehungen. Das fällt ihnen leicht, da
sie sich in Szene zu setzen wissen und viel Zeit und Geld in körperliche
Attraktivität investieren. Typischerweise besteht ein ausgeprägter innerer Drang,
zu flirten und sich (sexuell) verführerisch zu verhalten. Dabei ist vordergründig die
umfassende Liebe der Zielperson das Motiv, weniger die sexuelle Befriedigung.
Innerhalb einer heterosexuellen Beziehung weicht anfängliche, überschwängliche
Begeisterung oft gar nicht viel später der Enttäuschung, wobei die jeweiligen
Partner nicht viel mehr als Objekte der emotionalen Manipulation sind und keinen
Einfluss auf den Gefühlsumschwung haben. Es sollte aber beachtet werden, dass
viele Histrioniker in monogamen Beziehungen oder ganz ohne Partner
lebenPromiskuität ist kein sicheres Symptom. Innerhalb der Partnerbeziehungen
werden immer wieder Liebesbeweise gefordert, was in extremen Fällen zu
Spannungen führt.
Recht bedrohlich für die Betroffenen sind Selbstmordversuche, deren Motiv
ebenfalls die Beachtung und Liebe durch das soziale Umfeld ist. Gelegentlich sind
erpresserische Drohungen damit verbunden, die ernst genommen werden sollten.
Klassifizierung nach ICD und DSM
ICD-10 Nach ICD-10 müssen mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder
Verhaltensweisen vorliegen: dramatische Selbstdarstellung, theatralisches
Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen; Suggestibilität, leichte
Beeinflussbarkeit durch andere oder durch Ereignisse (Umstände);
oberflächliche, labile Affekte; ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und
Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen;
unangemessen verführerisches Erscheinen oder Verhalten; übermäßige
Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen.
Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung, fehlende
Bezugnahme auf andere, leichte Verletzbarkeit der Gefühle und andauerndes
manipulatives Verhalten vervollständigen das klinische Bild, sind aber für die
Diagnose nicht erforderlich.
DSM-IV Nach DSM-IV ist die HPS charakterisiert durch ein tiefgreifendes
Muster übermäßiger Emotionalität oder Strebens nach Aufmerksamkeit. Der
Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und die Störung zeigt sich in
verschiedensten Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen
erfüllt sein:
fühlt sich unwohl in Situationen, in denen er/sie nicht im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit steht,
die Interaktion mit anderen ist oft durch ein unangemessen sexuell-verführerisches
oder provokantes Verhalten charakterisiert,
zeigt rasch wechselnden und oberflächlichen Gefühlsausdruck,
setzt regelmäßig seine körperliche Erscheinung ein, um die Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken,
hat einen übertrieben impressionistischen, wenig detaillierten Sprachstil,
zeigt Selbstdramatisierung, Theatralik und übertriebenen Gefühlsausdruck,
ist suggestibel, d.h. leicht beeinflussbar durch andere Personen oder Umstände,
fasst Beziehungen enger auf, als sie tatsächlich sind.
3 Passiv-aggressive Störung
Die Betroffenen ertragen nicht Autoritätspersonen, die ihnen etwas auferlegen
möchten. Nur in der Unabhängigkeit bewahren sie ihre Selbstachtung. In der
Anpassung geben sie sich auf. Eine aggressive Grundstimmung soll sie schützen
(Beispiel: Marcs aggressive Hochnäsigkeit)
4 Mutistische Störung
Erzieherisch oder psychisch bedingte Antwort auf Überforderung beispielsweise
Traumatisierung. Verstummen und Sprachlosigkeit als Folge (Beispiel: Roberts
Sprachverweigerung)
5 Dependente Störung
Pathologische Antwort auf ein fundamentales Bedürfnis nach Versorgung, das sich
selbst abwertet, um die Nähe und den Schutz der stärkeren Person einzuhandeln.
(B.: Russ. Püppchen, G 3)
6 Depressive Störung
Pathologische Antwort auf Verlusterlebnis (Personen oder Objekte auf die ich
mich bezogen habe). In der Folge Abspaltung des emotionalen Erlebens und
autoaggressiver Rückzug/Beschränkung wie Verdrängung des oral-besitzenWollens (B.: Mareikes erschreckende Bravheit; Hassan; G 16 Lucy)
Depressiv (lat. deprimere „niederdrücken“) bezeichnet umgangssprachlich einen
Zustand psychischer Niedergeschlagenheit. In der Psychiatrie wird
die Depression den affektiven Störungen zugeordnet. Im gegenwärtig verwendeten
Klassifikationssystem psychischer und anderer Erkrankungen (ICD 10) lautet die
Krankheitsbezeichnung depressive Episode oder rezidivierende (wiederkehrende)
depressive Störung. DieDiagnose wird allein nach Symptomen und Verlauf
gestellt. Zur Behandlung depressiver Störungen werden nach Aufklärung über die
Ursachen und den Verlauf der Erkrankung Antidepressiva eingesetzt, aber auch
reine Psychotherapie ohne Medikation, wie z. B tiefenpsychologi-sche
oderverhaltenstherapeutische Verfahren
Abb.: K.-H. Menzen, Verschüttete Bilder. Anhang
Klassifikation nach ICD-100
F32.0 Leichte depressive Episode (Der Patient fühlt sich krank und sucht ärztliche
Hilfe, kann aber trotz Leistungeinbußen seinen beruflichen und privaten Pflichten
noch gerecht werden, sofern es sich um Routine handelt.)
F32.1 Mittelgradige depressive Episode (Berufliche oder häusliche Anforderungen
können nicht mehr oder - bei Tagesschwankungen - nur noch zeitweilig bewältigt
werden).
F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Der Patient
bedarf ständiger Betreuung. Eine Klinik-Behandlung wird notwendig, wenn das
nicht gewährleistet ist).
F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (Wie F.32.2,
verbunden mit Wahngedanken, z. B. absurden Schuldgefühlen,
Krankheitsbefürchtungen, Verarmungswahn u. a.).
F32.8 Sonstige depressive Episoden
F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet
7 Depressive Störung mit psychosomatischer Reaktion
Über Tast- und Greiferlebnisse in frühen Jahren werden einprägsame Gefühle und
Beziehungen angebahnt. Die Unterbindung affektiver Ausdrücke führt zu
Hautaffektionen, die eine Verunsicherung in den grundlegenden Selbst- und
Objektrepräsentanzen wiederspiegeln. Unterschiedliche Entwicklungsphasen
können nach Recherchen der Ulmer Hautklinik betroffen sein und Regression und
Abwehr können unterschiedlich ausfallen. (B.: G 9: Haut als Konfliktort)
8 Hypochondrische Störung
Wenn infolge von Vernachlässigung und Affekt-Entzug das/der eigene Selbst/wert
in Gefahr ist, wird der Feind im eigenen Körper gesucht, gefunden und abgewehrt.
Alles Denken und Handeln dreht sich um das eigene Selbst (B.:
Kinderkrankenschwester, ständig leidend)
9 Borderline-Störung
Bezugspersonen werden als inkompatibel erlebt und in der Folge werden die
Personanteile gespalten. Der Trennung in gute und böse Anteile folgen
Idealisierungen, Projektionen, Leugnungen und polymorphes Verhalten (B.:
Jussufs Grossspurigkeit und Nähewunsch; Raymund)
Emotionalität
Affektive Instabilität
Betroffene leben in einer extremen und auch labilen Gefühlswelt. Äußern kann sich
das in kurzwelligen Stimmungsschwankungen und in tiefen emotionalen Krisen.
Die Reizschwelle liegt niedrig. Bereits kleine Ereignisse können starke
Gefühlsimpulse auslösen, und bestimmte Reize können nur schwer verarbeitet
werden. So kann es leicht vorkommen, dass sich negative Erfahrungen wie z. B.
Kränkungen oder Blamagen emotional und gedanklich festsetzen. Sie tauchen als
Flashbacks wieder auf und wandeln sich erst lange Zeit später zu normalen
Erinnerungen.
Unabhängig von solchen Empfindlichkeiten erleben Betroffene äußerst quälende
und diffuse Spannungszustände, wobei sie unterschiedliche Emotionen nicht
differenziert wahrnehmen. Zu anderen Zeitpunkten werden solche diffusen
Spannungen durch Gefühle von innerer Leere kontrastiert.
Durch die extreme Gefühlswelt ergeben sich hartnäckige Schlafstörungen. Nicht
jeder Betroffene hat diese Probleme permanent und gleich stark, aber jeder hat
früher oder später damit zu kämpfen.
Impulskontrolle
Die geringe Impulskontrolle führt zu einem Muster intensiver
Verhaltensstörungen. Dieses Verhalten ist in erster Linie selbstschädigend, es
kann aber auch fremdschädigend sein. Die Betroffenen versuchen in
charakteristischer Weise, ihre Impulse zu unterdrücken, das unterscheidet sie von
antisozialen Persönlichkeiten. Trotzdem wirken sich die Impulse auf Denken und
Sozialverhalten aus.
BPS – Borderline-Persönlichkeitsstörung
Ausbalancieren zwischen Verändern und Akzeptieren
Da BPS-PatientInnen seit langer Zeit unter starken Emotionen leiden und in ihrer
Umgebung sehr viel Unverständnis gefunden haben ("invalidierende Umgebung"),
schwanken sie zwischen den beiden Extremen hin und her, entweder ihren eigenen
Gefühlen oder der Meinung der anderen Personen Glauben zu schenken. Mal
haben sie das Eindruck, dass ihre starken negativen Gefühle sehr wohl ihren guten
Grund haben und sind verzweifelt über ihre belastende Situation, mal schließen sie
sich der negativen Meinung ihrer Umgebung an (wenn diese z.B. meint, man wäre
"hysterisch" oder "man solle sich zusammenreißen") und werten sich dann selbst
als "schwach" oder "schlecht" ab.
Infolge versuchen TherapeutInnen, dieser Entwicklung entgegen zu arbeiten,
indem sie gemeinsam mit den PatientInnen immer wieder den wahren Kern in
ihren Gefühlen suchen und auch finden. Sie versuchen, der invalidierenden
Umgebung entgegen zu wirken und unterstützen die PatientInnen dabei, ihre
Gefühle klar zu erkennen und ihnen wieder mehr zu trauen. Wenn also die
Betroffenen starken Ärger oder starke Traurigkeit und Depression spüren, helfen
TherapeutInnen ihnen, diese Gefühle wieder als angemessen und zutreffend zu
akzeptieren. Das ist einerseits immer wieder eine Bestätigung und Beruhigung für
die PatientInnen, die viele, viele Male das Gegenteil erfahren haben. Andererseits
müssen sie natürlich eine sehr negative Realität anerkennen und akzeptieren
lernen. Sie müssen möglicherweise akzeptieren, dass wichtige Personen aus ihrer
Überlastung heraus häufig Fehler machen, diese jedoch nur menschlich sind, dass
sie ungerecht behandelt werden, Ungerechtigkeit jedoch zum Leben gehört und
manchmal ertragen werden muss und Ähnliches mehr. Diese Erfahrung ist für
BPS-PatientInnen sehr schmerzhaft, manchmal kaum auszuhalten. Und auch wenn
sie für diese Entwicklung nicht die Verantwortung tragen, müssen sie selbst für
sich einen Weg heraus aus dem Problem finden, obwohl sie oft am Ende ihrer
Kräfte sind. (Verhaltenstherapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörung„,Marsha
M. Linehan)
Symptome
- Chronische, frei-flottierende Angst: Die Angst, die häufig als allgegenwärtig
erfahren wird, kann von Individuen mit einer Borderline-Störung vor allem dann
eingesetzt werden, wenn andere bewusstseinsnahe, aber unvereinbare Affekte
zugedeckt werden sollen.
- Multiple Phobien Hierzu gehören vor allem Phobien, welche die
Körperlichkeit oder die leibliche Erscheinung betreffen (z.B. Errötungsphobie,
Furcht vor öffentlichen Auftritten oder vor dem Angeschautwerden) und mit
Beschämungsängsten verbunden sind.
- Zwangssymptome, die vorübergehend die Qualität unumstößlicher Gewissheit
erhalten Zwangsgedanken (z. B. hypochondrischen oder paranoiden Inhalts), die
lange Zeit als Ich-fremd erfahren werden, können vorübergehend (wie beim
psychotischen Individuum) Ich-synton werden, wobei sich die Realitätsprüfung
nach einigen Stunden oder Tagen wieder einstellt.
- Multiple, bizarre Konversionssymptome Hierunter fallen chronische oder
auch massive monosymptomatische Konversionssymptome, Konversionssymptome
mit der Tendenz zu Körperhalluzinationen oder mit bizarren Bewegungsabläufen.
- Dissoziative Reaktionen Traum- oder Dämmerzustände, häufig schwere
Depersonalisationserlebnisse werden vom Borderline-Patienten leicht übersehen,
weil sie für ihn etwas sehr Vertrautes darstellen.
- Depression Die Borderline-Depression stellt sich zumeist im Anschluss an
den Zusammenbruch eines grandiosen Selbstbildes ein, manifestiert sich in
ohnmächtiger Wut oder Gefühlen der Hilflosigkeit und löst
gegenübertragungsmäßig wenig helferische Aktivitäten aus.
- Polymorph-perverse Sexualität Das Vorliegen mehrerer perverser Züge (wie
z.B. heterosexuelle und homosexuelle Promiskuität mit sadistischen Elementen) bei
einer gleichzeitigen Instabilität von Beziehungen verweist - im Unterschied zu
Individuen mit einer stabilen sexuellen Devianz bei konstanten Beziehungen - auf
ein Borderline- Symptom.
- Vorübergehender Verlust der Impulskontrolle Hierzu gehören zum Beispiel
episodische Fresssucht, Alkoholismus, Kleptomanie, Drogenabhängigkeit, die
nach Beendigung der Impulsdurchbrüche als Ich-fremd erlebt werden.
Neurobiologie der BPS (1)
Man konnte in mehreren Studien belegen (Koenigsberg, Siever 2001), dass sowohl
bei Borderline-Patienten als auch bei Patienten mit anderen
Persönlichkeitsstörungen eine verminderte Gesamtaktivität des serotogenen
Systems besteht. Es besteht eine Verbindung zwischen dem serotogenen System
und impulsiver Aggression, was sowohl gegen sich selbst gerichtete Aggressionen
betrifft (z. B. SVV und Suizidversuche) als auch Fremdaggressionen (z. B.
Wutausbrüche oder Gewalt). Die serotogene Gesamtaktivität kann gemessen
werden, indem man serotogene Substanzen verabreicht und dann die
Prolaktinfreisetzung misst, die bei BPS-Patienten geschwächt ist.
Des Weiteren konnte man bei BPS-Patienten nachweisen, dass das cholinerge
System empfindlicher ist (Koenigsberg, Siever). Durch diese Empfindlichkeit wird
ein Mensch emotional sensibler und stimmungslabiler. Außerdem spielt das
cholinerge System eine Rolle bei der Regulierung des REM-Schlafes. BorderlinePatienten haben eine verminderte und stärker schwankende REM-Phase.
Neurobiologie der BPS (2)
Die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus sind zwei zusammenwirkende
Funktionseinheiten des limbischen Systems. Mit Magnetresonanztomographie und
Positronen-Emissions-Tomographie konnte festgestellt werden, dass bei BPSPatienten die Amygdala sowohl verkleinert als auch übererregbar ist (Bohus
2004). Die Amygdala ist ein zentraler Teil des stressverarbeitenden Systems und
mit dem Furchtgedächtnis verbunden.
Nach Heller und Van der Kolk ist der Hippocampus, der für
Gedächtnisabspeicherungen eine wichtige Rolle spielt, bei BPS-Patienten sogar
noch stärker degeneriert als die Amygdala. Die Schäden der Borderline-Patienten
sind im Übrigen identisch wie bei Patienten mit schweren Posttraumatischer
Belastungsstörungen (Bohus, Heller, Van der Kolk). Die Defizite stören die
Gefühlsverarbeitung, intensivieren das Emotionsgedächtnis und machen Patienten
überempfindlich für Reize. Zudem wird das System durch intensive unangenehme
Gefühle, wie Scham, Ärger und Angst, weiter beeinträchtigt, wodurch eine
Abwärtsspirale entstehen kann.
Beziehungen
Beziehungsverhalten ist ein Hauptmerkmal bei Persönlichkeitsstörungen, und
gerade bei der BPS spielt es eine prägende Rolle (Huber 2005). Beziehungen
haben eine große Bedeutung für Betroffene, sie sind jedoch beziehungsgestört.
Partnerschaften verlaufen hier sehr individuell und sie können auch gut
funktionieren. Jedoch wirken die negativen Impulse oft verheerend. So kann es
durchaus vorkommen, dass die Partner geschädigt aus Beziehungen herausgehen.
In manchen Fällen werden die Beziehungspartner so stark belastet, dass sie nach
längerer Zeit selber psychologische Unterstützung benötigen, insbesondere wegen
leichterer Traumatisierungen durch traumatische Übertragungen
Besonders problematisch sind Verhältnisse von Betroffenen untereinander, weil es
hier unterschiedliche Bindungstypen gibt, weil beide sensibler sind und weil sich
die Störfaktoren akkumulieren. Es ergeben sich teils langwierige und schwierige
Beziehungen mit häufigen Trennungen und Wiederannäherungen. Wie solche
Beziehungen ablaufen, hängt eben auch vom Bindungstyp des Partners ab.
Grundsätzlich lässt sich sagen: je ähnlicher, desto besser. Daher können auch
Beziehungen unter Betroffenen gut funktionieren.
Bindungstypen
In der Bindungstheorie werden verschiedene Bindungstypen diskutiert, die häufig
bei Borderline-Patienten gefunden wurden. Die Bindungsforschung hat ergeben,
dass Betroffene häufiger einen unsicheren Bindungsstil im Erwachsenenalter
zeigen. Insbesondere zeigt sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung häufig
ein desorganisierter Bindungsstil. Psychoanalytische Forscher vermuten vor allem
einen Zusammenhang zwischen der unsicher-ambivalenten Bindung und der
desorganisierten Bindung bei der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung.
Unsicher-ambivalente Bindung
Unsicher-ambivalente Bindungen bilden einen Gegensatz zu unsichervermeidenden Bindungen, aber die beiden Typen sind verwandt und kommen bei
verschiedenen Persönlichkeitsstörungen vor. Menschen vom unsichervermeidenden Bindungstyp werten nahe emotionale Beziehungen ab und scheinen
sie nicht zu brauchen. Dieser Bindungstyp entsteht primär durch frühkindliche
Ablehnung. Die andere Variante ist für BPS charakteristisch.
Menschen vom unsicher-ambivalenten Bindungstyp neigen dazu, sich innerlich an
Bindungspersonen zu klammern. Gleichzeitig sind sie aber wütend und ärgerlich
auf sie. Auf der einen Seite stehen zunächst große Beziehungssehnsucht und
Verschmelzungswünsche. Zum anderen kommen dann in der Realität Gefühle von
Einengung und Zwang hinzu. Dieser Bindungstyp entwickelt sich aus unsicherer
Bindung zu frühkindlichen Bezugspersonen und aus deren unvorhersehbaren
Verhaltensweisen. Das unvorhersehbare Verhalten überträgt sich dabei, und es
kennzeichnet später die Beziehungsmuster.
Unsicher-desorganisierte Bindung
Unsicher-desorganisierte Bindungen haben zwei Untertypen: Feindselig
bestrafend und tröstend fürsorglich. Beide entwickeln sich aus demselben
Hintergrund (Verlassenheit und/oder Misshandlung), aber Betroffene verharren
später starr in jeweils nur einem dieser Stile. Sie können nicht flexibel zwischen
ihnen hin- und herwechseln.
Den feindselig bestrafenden Typ schreibt man mehr anderen
Persönlichkeitsstörungen zu, er kann aber auch bei einer BPS bestehen. Die
tröstend-fürsorgliche Variante ist bei BPS viel häufiger. In beiden Stilen versuchen
Betroffene, die Beziehungen zu anderen Menschen zu kontrollieren.
Emotionalität
Emotionale Dynamik
Die charakteristischen Gefühle der BPS sind Angst, Wut und Verzweiflung, ferner
auch Schuldgefühle und Depression (resp. Trauer, Leere, Resignation). Intensive
Gefühle werden teils bewusst erlebt, sie können aber auch unterschwellig
bestehen.
Die emotionalen Aspekte greifen in die Dynamik von Macht und Ohnmacht, die
sich wie ein roter Faden durch die Persönlichkeitsmerkmale zieht. Ohnmacht
entspricht dabei Hilflosigkeit und ist mit Verzweiflung assoziiert, Macht ist das
Gegenteil und bedeutet Kontrolle. Angst und Wut (und als deren Hauptfolge
Aggression) befinden sich zwischen diesen Gegensätzen.
Verzweiflung ist ein Extrem im menschlichen Gefühlsspektrum und steht auf dem
negativen Pol. Die Angst (resp. Panik) und Wut (resp. Aggression) resultieren aus
Verzweiflung (resp. aus Ohnmachtsgefühlen) und ziehen in Richtung des
vermeintlich positiven Pols. Nach den meisten Schulen ergibt sich Aggression aus
dem Gefühl einer existenziellen Bedrohung, insbesondere aus einer empfundenen
Bedrohung der Ich-Struktur. Daher wird Aggression durch Angst verursacht.
Aus dem Zusammenhang können sich bewusste oder unbewusste Kontrollzwänge
sowie Gewaltpotential und kranker Ehrgeiz ergeben. Das kann sich auf die eigene
Persönlichkeit und die eigene Organisation beziehen, es kann aber genauso in
sozialen Zusammenhängen stehen, auch in Verbindung mit der gestörten
Objektbeziehung.
10 Angst-Störung
Gestörte frühe Ich-Entwicklung äussert sich in Trennungs- und Verlustangst sowie
instabiler Selbst- und Objektrepräsentanz. Der Angstzustand tritt ein in der Folge
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geschwächter Objekt-Konstanz und des Selbstverlustes.(B.: Katharinas
Unfähigkeit, flügge zu werden)
Phobische Störung
Einhergehend mit schweren Angst- und Zwangs-zuständen, in der Folge auch von
Depressionen, werden unbewusste Phantasien meist sexueller Art (z.B. nach
Missbrauch) gefürchtet, verdrängt, ersetzt, verschoben – auf Orte, Dinge, Tiere,
Situationen. (B.: Frau N’s 16jähriger Rückzug)
Sozialphobische Störung
Obwohl akuter gesellschaftlicher Rückzug Jungen und Mädchen gleichermaßen zu
betreffen scheint, sind es überwiegend männliche Personen, die mit ihrem
Verhalten Besorgnis oder Aufmerksamkeit erregen. Hinter dem Rückzug vermuten
die Psychologen schwere soziale Phobien - die Angst, sich zu blamieren oder den
Ansprüchen anderer nicht gerecht zu werden. Angst vor anderen Menschen. (B.:
Junge, der sich in seinem Zimmer einschliesst/Jeanette)
Ängstlich-vermeidende Störung
Die betroffene Person zieht sich gerne und schnell aus sozialen Zusammenhängen
zurück, wenn eine unangenehme Situation wie z.B. Kritik oder Zurückweisung
drohen (B.: Leo der Lehrer, der die Schule verlässt um die Mutter zu pflegen)
Zwangsstörung
Die magische Kindheitsphase, in der gewöhnlich eine Stabilisierung des
Weltbildes erfolgt, ist gestört. In der Folge ist das stabile selbst und Weltbild
gefährdet, wird durch Zwänge (Sammel-, Wasch-, Zähl-, Grübel-, Sauberkeits-)
aufrecht gehalten. Ängste, Affekt-Verzichte etc. sind die Folge
(Beispiel: G 12 – Zwangshaft-asketische Ehe; der Junge der Theologe werden
will)
Schizoide Störung
Als Folge emotionaler Vernachlässigung geschieht ein Rückzug von affektiven,
sozialen und anderen Kontakten mit übermäßiger Vorliebe für Phantastereien,
einzelgängerischem Verhalten und eine in sich gekehrte Zurückhaltung. Die
Betroffenen verfügen nur über ein begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken
und Freude zu erleben. (B.: Kiras Geschichte einer ganz normalen
Vernachlässigung)
Dissoziale Störung
Soziale Regeln werden nicht mehr eingehalten. Versprechungen, Schulden,
Verpflichtungen werden ignoriert. Was Andere über mich denken ist unwichtig.
Paranoische Störung
Aus Vorsicht vor den anderen Menschen muss ich acht geben, dass sie mich nicht
ausbeuten und kleiner machen als ich bin
Schizotypische Störung
Ich habe eine seltsam verzerrte, exzentrische Wahrnehmungs-, Denk-, Sprech- und
Verhaltensweise. Ich bin ein Niemand in einer fremden Umgebung und Welt. So
wie ich mich unwohl in Gegenwart der Anderen fühle, so werden sie mich auch
erleben. (B.: G 16 - Lucys Unwohlsein in der Familie, der Sozialität – und ihr
Bewältigungsmuster mit der Droge)
Lit.: Sachse, R. (2006): Persönlichkeitsstörungen verstehen. Psychiatrie Verlag,
Bonn.
Anm.: Die Ziffer G bezieht sich auf die Geschichten in dem Buch des Autors,
„Verschüttete Bilder. Aspekte der Beratungsarbeit. Lambertus: Freiburg 1988);
vgl. hier bes.: Kapitel III: Krankheitsbilder
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