reiner_privatrecht_\247 18

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Prof. Dr. jur. Günter Reiner
Helmut-Schmidt-Universität
- UniBw Hamburg -
Vorlesung
Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler
Teil II – WT 2004
zu § 18: Anfechtung von Willenserklärungen
Die Objektivierung des Tatbestands der Willenserklärung dient dem Schutz des Rechtsverkehrs
und bewirkt, dass sich der Erklärende u.U. rechtlich an etwas festhalten lassen muss, was er so
nicht gewollt hat. Deshalb räumt ihm das Gesetz in diesen Fällen die Möglichkeit ein, seine
Erklärung wegen Irrtums rückwirkend zu vernichten (§§ 119-124, 142-144 BGB). Hierbei trägt
der Erklärende das Risiko, dass die Gegenpartei durch ihr Vertrauen auf die Wirksamkeit der
Erklärung einen Schaden erleidet.
I. „Irrtumsanfechtung“
Anfechtungsgründe
Das Gesetz unterscheidet bei der Irrtumsanfechtung drei Anfechtungsgründe:
•
Inhaltsirrtum, § 119 I Fall 1 BGB
Irrtum über die Bedeutung des bewusst gewählten Erklärungszeichens
(Deutungsfehler)
Verlautbarungsirrtum: Irrtum bei der Wahl des Erklärungszeichens, z.B.
irrtümliche Verwendung von Maßen, Gewichten, Fremdwörtern
Fall 1: Sie gehen in ein bekanntes Feinschmecker-Lokal. Zu den gebratenen
Wachteln wollen Sie Rotwein trinken. Da Sie an den Getränkekosten sparen
wollen, bestellen Sie, ohne dieses Produkt zu kennen, eine Flasche „Carola
rouge“ für 10 € im Glauben, dies sei ein billiger Rotwein. Tatsächlich ist es ein
Mineralwasser mit rotem Etikett.
Fall 2: Grundschuldirektor R bestellt 12 Gros Rollen WC Papier im Glauben, es
handle sich um 12 große Rollen. In Wirklichkeit ist ein „Gros“ 144 Rollen, so
dass 1728 (=12 x 144) Rollen gekauft wurden (vgl. Aufgabe 9).
Individualisierungsfehler:
Gegenstand
Verwechslung
des
Geschäftspartners
oder
des
Bsp.: Gastwirt G, der ein großer Boxfan ist, glaubt, in einem seiner Gäste, den
Boxer Henry Maske zu erkennen. Er ist hocherfreut und erlässt dem Gast die
Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen
Bezahlung der Rechnung. Der Gast freut sich seinerseits und bedankt sich. Als G
anschließend um ein Autogramm bittet, stellt sich heraus, dass es nicht Henry
Maske aus Frankfurt/Oder, sondern Helmut Müller aus Konstanz war. Was kann
G tun ?
•
Erklärungsirrtum, § 119 Fall 2 BGB
Erklärender wollte ein anderes als das verwendete Erklärungszeichen abgeben
(Handlungsfehler), z.B. Versprechen, Verschreiben
Bsp.: Ein Handwerker vergisst in einem schriftlichen Angebot bei der Angabe des
Preises eine „Null“.
Übermittlungsfehler als Sonderfall, § 120 BGB: Hier verspricht sich nicht der
Erklärende selbst, vielmehr erfolgt eine Veränderung der Erklärung im Laufe der
Übertragung durch einen Dritten (Bsp. Erklärungsbote, Dolmetscher;
nicht: Empfangsbote).
•
Eigenschaftsirrtum, § 119 II BGB
grds. Irrtum im Bereich der Willensbildung als bloßer Motivirrtum unbeachtlich
bei
verkehrswesentlichen
Eigenschaften
des
Vertragspartners
oder
Vertragsgegenstands ist aber ein Schutz des Rechtsverkehrs nicht erforderlich
„verkehrswesentliche Eigenschaften“ sind auf natürlichen Beschaffenheiten
beruhende Merkmale sowie tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse und
Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsanschauung für die
Wertschätzung oder die Verwendbarkeit der Vertragsleistung von Bedeutung sind
Bsp.: Bank B gewährt Kredit an langjährigen Kunden K in der Annahme, dieser
sei nach wie gut verdienender vor leitender Angestellter einer Firma. Tatsächlich
ist K arbeitslos und hoch verschuldet. Hier ist eine Anfechtung wegen Irrtums
über die Kreditwürdigkeit möglich.
•
unbeachtlicher Motivirrtum
Irrtum im Bereich der Willensbildung, nicht der Willenserklärung
Motive für die Abgabe einer Willenserklärung sind, sofern sie nicht selbst zum
Inhalt der Erklärung gemacht werden, grds. rechtlich irrelevant → enttäuschte
Erwartungen können i.d.R. keine Anfechtung rechtfertigen.
Ausführung der Anfechtung
•
Anfechtungserklärung, § 143 BGB
formfreie Willenserklärung, die erkennen lässt, dass der Erklärende das Geschäft
wegen eines Willensmangels nicht gelten lassen will
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Bsp.: „Ich trete vom Vertrag zurück, das habe ich mir anders vorgestellt.“
gegenüber dem Anfechtungsgegner
•
Anfechtungsfrist
unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern nach Erlangung der Kenntnis vom
Anfechtungsgrund, § 121 BGB
Rechtsfolgen der Anfechtung
•
Nichtigkeit der Willenserklärung, § 142 BGB
rückwirkende Nichtigkeit der Erklärung, § 142 I BGB (Wirkung „ex tunc“)
Wegfall des gesamten Vertrags mit den (gegenseitigen) Leistungsverpflichtungen;
ggf. Pflicht zur Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen
•
Schadensersatzpflicht des Anfechtenden, § 122 BGB
bei rechtzeitiger Anfechtung braucht der Erklärende sich den objektiven Inhalt
seiner Erklärung nicht entgegenhalten zu lassen, sein tatsächlicher Wille setzt sich
durch (Grundsatz der Privatautonomie)
jedoch Haftung für den Schaden, der dem Geschäftspartner im Vertrauen auf die
falsch ausgedrückte Erklärung entstanden ist (Vertrauensschaden)
Verschulden ist für diesen Schadensersatzanspruch nicht erforderlich
Mitverschulden des Erklärungsempfängers führt (entgegen § 254 BGB) zum
Ausschluss des Schadensersatzanspruchs, § 122 II BGB
Bsp.: Fall der Hotelreservierung, Empfangsdame ist nicht schwerhörig, der
Telefonanschluß des Hotels ist aber defekt.
das Vertrauensinteresse ist der Höhe nach auf das Erfüllungsinteresse begrenzt
(§ 122 a.E. BGB)
→ Vertrauensschaden: der Geschädigte wird so gestellt, wie er stehen würde,
wenn sich der Erklärende korrekt ausgedrückt hätte und der Vertrag daher wegen
fehlender Einigung erkennbar nicht zustande gekommen wäre
Bsp. (Carola-Fall): Ersatz der Selbstkosten für die bereits geöffnete und nicht
mehr veräußerbare Sprudelflasche.
→ Erfüllungsschaden: Geschädigter wird so gestellt, wie er stehen würde, wenn
ordnungsgemäß erfüllt worden wäre
Bsp.: Ersatz des Kaufpreises der Sprudelflasche im obigen Fallbeispiel
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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen
II. Arglist- und Drohungsanfechtung
arglistige Täuschung, § 123 I Alt. 1, II BGB
•
Täuschung: Hervorrufen, Unterhalten oder Bestätigen eines Irrtums durch positives
Tun oder Unterlassen (Verschweigen)
•
Arglist: Täuschung mit dem Vorsatz, dass der andere die Willenserklärung sonst so
nicht abgegeben hätte; Erklärung „ins Blaue“ genügt
•
Spezialfall des Motivirrtums zum Schutz der Freiheit der Willensbildung
widerrechtliche Drohung, § 123 I Alt. 2 BGB
•
Drohung: in Aussicht stellen eines Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben
vorgibt
•
widerrechtlich: verwerfliche Zweck-Mittel-Relation
•
kein Irrtum, aber Schutz der Freiheit der Willensbildung
keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden
einjährige Anfechtungsfrist, § 124 BGB
III. Exkurs: Fehlen bzw. Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB
Das Fehlen bzw. der Wegfall der Geschäftsgrundlage betrifft Fälle des beiderseitigen Irrtums
über bestimmte bei Vertragsschluss bestehende oder nachträglich eintretende Umstände, die
zumindest aus der Sicht einer der Vertragsparteien für das Interesse am Vertrag entscheidend
sind.
Beispiele:
•
Fall 1: V verkauft K ein Bild, das einem Schüler von Claude Monet zugeschrieben
wird, für DM 10.000. Später stellt sich heraus, dass dieses Bild von Monet selbst ist
und dass der Marktpreis mindestens 10 Mal so hoch ist. K freut sich über sein
Schnäppchen. V fordert eine Nachzahlung.
•
Fall 2: K bestellt eine Motor-Yacht bei der Bodensee-Werft W. Ziel ist die
Verwendung dieser Yacht auf dem Bodensee. Danach Erlass eines behördlichen
Verbots von Motor-Yachten dieser Größe auf dem Bodensee.
•
Fall 3: V und K schätzen eine Halde Altmetall, die K kaufen will, auf 40
Waggonladungen. Auf der Grundlage des Tagespreises berechnen sie den Kaufpreis.
Beim Verladen stellt sich heraus, dass die Halde 80 Waggonladungen entspricht. V
fordert eine Nachzahlung.
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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen
•
Fall 4: Rosenmontagsumzug in Düsseldorf. Ein Hotel, welches unmittelbar an der
Umzugsstrecke liegt, vermietet Ihnen einen Stehplatz auf seiner großen Terrasse, den
Sie eine Woche vorher reservieren. Der Umzug wird kurzfristig abgesagt, weil wegen
des 2. Golfkrieges Trauer angesagt ist. Müssen Sie den Stehplatz dennoch bezahlen ?
•
Fall 5: Im Jahre 1988 gewährt A dem B (beide wohnhaft in Dresden) ein Darlehen in
Höhe von 10.000 Mark (DDR), das 1992 zur Rückzahlung fällig wird. Mit der
deutschen Wiedervereinigung haben beide bei Vertragsschluss nicht gerechnet. Kann B
im Jahre 1992 das Darlehen mit alten DDR-Mark zurückbezahlen, die er noch in einer
Schublade findet ?
Das Fehlen bzw. der Wegfall der Geschäftsgrundlage wird seit der Schuldrechtsreform von
2002 in § 313 BGB geregelt. Der Gesetzgeber hat damit eine langjährige, auf § 242 BGB
gestützte Rechtsprechung („Lehre vom späteren Wegfall oder anfänglichen Fehlen der
Geschäftsgrundlage“) kodifiziert.
Lehre vom späteren Wegfall oder anfänglichen Fehlen der Geschäftsgrundlage betrifft Fälle
des beiderseitigen Motivirrtums
•
Umstände sind nicht Vertragsinhalt geworden
•
Umstände sind für beide Parteien von Bedeutung (sonst bloß einseitiger Motivirrtum,
s.o.)
•
Bsp. Rosenmontagsumzug: Für beide Parteien ist klar, dass der Umzug stattfinden
wird. Der Umzug selbst ist aber nicht Vertragsbestandteil, insbesondere nicht Teil der
geschuldeten Leistung.
Bsp. Yachtfall: Die Parteien reden beim Vertragsschluss darüber, wie toll es doch sein
muss, mit dem bestellten Boot auf dem Bodensee zu fahren.
Geschäftsgrundlage: Nach der bisherigen Rechtsprechung gehören zur Geschäftsgrundlage
die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, aber bei Vertragsschluss zutage
getretenen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftspartner erkennbaren
und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem
Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf denen der Geschäftswille
der Partei sich aufbaut (sog. subjektive Geschäftsgrundlage). Es genügt, wenn sich die
Parteien besondere Umstände als selbstverständlich ansehen, ohne sich diese bewusst zu
machen (sog. objektive Geschäftsgrundlage).
Kontrollfrage: Durfte die Vertragspartei davon ausgehen, dass sich der Geschäftspartner
sinnvollerweise darauf eingelassen hätte, den fraglichen, für die eine Vertragspartei
wichtigen Umstand zum Vertragsinhalt zu machen ?
•
Äquivalenzstörung: Umstände, die für das vertragliche Gleichgewicht bedeutsam sind
Bsp. Darlehensfall: Die deutsche Wiedervereinigung führt dazu, dass der Inhalt der
Rückzahlungsverpflichtung (10.000 DDR-Mark) nicht mehr dem damaligen Wert der
Auszahlungsverpflichtung entspricht, obwohl der Nennwert derselbe ist
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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen
•
Zweckstörung: Umstände, die für das Erreichen des mit dem Vertrag verfolgten
persönlichen Zwecks von Bedeutung sind
Bsp. Yachtfall: Trotz Erlass des behördlichen Verbots ist die Yacht nach wie vor ihren
Kaufpreis wert. Das Problem liegt aber darin, dass K seine Yacht nicht mehr, wie
vorgesehen, auf dem Bodensee benutzen darf
schwerwiegende Veränderung der Umstände (§ 313 I BGB) oder Herausstellen wesentlicher
Vorstellungen als falsch (§ 313 II BGB)
Parteien hätten bei Kenntnis der Sachlage den Vertrag so nicht geschlossen
Festhalten am unveränderten Vertrag ist unzumutbar
Rechtsfolge: primär Vertragsanpassung, § 313 I BGB; sofern dies unmöglich oder
unzumutbar ist Rücktritt bzw. Kündigung, § 313 III BGB
Bsp. Rosenmontags-Fall: Eine Vertragsanpassung ist nicht möglich. Die Zweckstörung aus
Ihrer Sicht (Hotelgast) kann nicht etwa damit gelöst werden, dass Sie dem Hotel für den
gemieteten Terrassenplatz nur noch die Hälfte bezahlen müssen. Das Gericht wird dem Gast
deshalb die Möglichkeit gewähren, vom Vertrag zurückzutreten. Zum Schutz des
Vertragspartners wird hier § 122 BGB analog angewandt. Danach hat der Gast dem Hotel
den Vertrauensschaden zu ersetzen (z.B. nutzlose Aufwendungen).
Bei Störungen der Geschäftsgrundlage, die ihre Ursache in grundlegenden Änderungen der
wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Rahmenbedingungen haben (zB Krieg,
Revolution, Naturkatastrophen) - der sog. „großen“ Geschäftsgrundlage -, kann § 313 BGB
durch Spezialregelungen des Gesetzgebers verdrängt werden (Fall 5: Gesetz zum Vertrag
über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen
Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vom 18. Mai 1990).
Abgrenzung zur ergänzenden Vertragsauslegung:
•
ergänzende Vertragsauslegung: betrifft Fälle, wo eine Regelungslücke besteht; die
Parteien haben einen bestimmten Punkt überhaupt nicht bedacht
•
Lehre von der Geschäftsgrundlage: kommt zum Einsatz, wenn eine Regelung bzgl. des
streitigen Punktes (i.d.R. der vertraglichen Hauptpflichten) vorhanden ist, diese aber
angesichts der veränderten Umstände als unbillig empfunden wird
•
die ergänzende Vertragsauslegung ist gegenüber der Lehre von der Geschäftsgrundlage
vorrangig (planwidrige Unvollständigkeit)
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