Jenseits von Lifestyle und Trends

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M A R K T- U N D S O Z I A L F O R S C H U N G S C H W E I Z 2 01 5
Jenseits von
Lifestyle und
Trends
Dr. Mauro Frech
Geschäftsführer von mrc research & consulting
www.mrc.ch
Lifestyle-Typologien funktionieren wie Vorurteile: Sie erlauben es, schnell und einfach falsche Einschätzungen
zu treffen. Spannender als die Analyse von Trends und Styles sind die realen Veränderungen in der Gesellschaft.
Lifestyle-Typologien gehören zum Inventar eines jeden Marketers
– mal mehr, mal weniger wissenschaftlich. Sie machen aus einer
abstrakten Zielgruppe reale, gut fassbare Konsumenten. Zugegeben: Wir leben in einer Zeit, in welcher Einfachheit wieder einen
Wert hat. Je komplexer unsere Umwelt, je grösser die Blackbox,
die uns umgibt, desto mehr suchen wir das Einfache. Kaum ein
Unternehmen, welches «einfach» nicht zu einem Kernwert in der
Markenpersönlichkeit erhebt. Und Typologien entsprechen ebenso dem generischen Bedürfnis nach Simplifizierung. Sie reduzieren die Pluralität und Widersprüchlichkeit der Konsumenten auf
griffige, kommunikativ umsetzbare Konzepte.
Tarot oder Lifestyle-Typologie?
Viele Typologien orientieren sich am Prinzip der Tarot-Karten: Sie
bedienen sich einer generischen, verschlüsselten, bisweilen kryptischen Sprache. Durch die konsequent vieldeutigen Beschreibungen auf einer semantischen Metaebene lassen sie viel Interpretations-Spielraum. Jeder sieht, was für ihn relevant ist. Und
gleichzeitig garantiert ein eingängiger Name, dass am Ende alle
im Glauben sind, vom Selben zu sprechen. Labels wie Arrivierte,
konsumorientierte Basis oder extrovertierte Konsumfans sind
Kraft der Sprache differenzierend. Sie suggerieren relevante
Unterschiede innerhalb der Lifestyle-Segmente, die als kausale
Erklärung für das Verhalten der Konsumenten herhalten müssen.
Provokativ formuliert, sind Typologien am Computer modellierte Konstrukte. Mittels Psychologie und Storytelling angereichert, liefern
sie jenen Content, welcher im Marketing für Beschäftigung sorgt.
Bekannt ist: Kunden entscheiden unberechenbar, sind sprungund wechselhaft. Gleichzeitig hat der gesellschaftliche und technologische Wandel eine unberechenbare Dynamik erreicht. Wel10
che Bedeutung und Relevanz nehmen Typologien in diesem Kontext noch ein? Gelingt es ihnen, den modernen Konsumenten zu
definieren? Wo liegen die künftigen Ansätze für eine Segmentierung der Konsumenten im digitalen Zeitalter?
Die Renaissance der Demografie
In der Praxis bestimmen die klassischen soziodemografischen
Merkmale wie Alter, Einkommen, Bildung oder familiäre Situation
den Lebensstil unverändert stark. Sie beeinflussen die Art und
Weise, wie wir leben, denken und handeln. Die Demografie hilft
dem Marketing weit besser, unterschiedliches Verhalten der Konsumenten zu verstehen und damit den Markt zu segmentieren,
als Lifestyle-Typologien dies können.
Die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung unterliegt
weder Trends noch Moden, ändert sich aber dennoch. Die soziodemografischen Veränderungen sind evolutionäre Prozesse, die
fundamental auf unsere Gesellschaft einwirken. Diesen steten
strukturellen Umbau der Gesellschaft muss das Marketing
beachten und interpretieren. Denn diese Prozesse liefern bedeutende Inputs für die Marktbearbeitung. Dieses Wissen gilt es bei
einer künftigen Marktsegmentierung zu nutzen.
Zwei äusserst interessante, aktuelle gesellschaftliche Phänomene stellen die Entstehung eines neuen Bildungsbürgertums sowie
den Wandel in den Wohnformen dar. Beide Prozesse sind Ausdruck langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen mit fundamentalen Auswirkungen auf Konsum und Lebensstil.
Die neue Bildungsaristokratie
Begünstigt durch den rapiden Anstieg an Frauen mit höherer Bildung, steigt in den westlichen Ländern der Anteil an verheirateten
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Häufigste Wohnform: Der Single-Haushalt
Einen weiteren evolutionären, gesellschaftlichen Wandel stellen
die Ein-Personen-Haushalte dar. In der Schweiz die heute häufigste Wohnform. Der Trend zum Alleinleben ist weder neuer noch
kurzfristiger Natur. Die Zunahme an «Kleinsthaushalten» lässt sich
seit 60 Jahren beobachten. So stieg der Anteil an Single-Haushalten von 14 Prozent im Jahr 1960 auf 36 Prozent im Jahr 2005.
Heute liegt er bei 38 Prozent. Die Single-Haushalte sind ein zahlenmässig relevantes Marketingsegment. Interessant sind die
Singles, da konsumfreudig und kaufkräftig. Sie sind jedoch auch
eine sehr anspruchsvolle Zielgruppe.
Faktenbasierte, valide Analyse statt interpretierte Konstruktionen
Paaren mit gleichem Bildungshintergrund. Dies führt zu einer
neuen ökonomischen Bildungselite, die es im Marketing zu
beachten gilt.
Noch 1960 gab es auf dem Heiratsmarkt nur wenige Frauen mit
universitärer Bildung. 25 Prozent der Akademiker waren mit einer
Akademikerin verheiratet. Bis ins Jahr 2005 stieg der Anteil an
Paaren mit gleichem Bildungsniveau auf 50 Prozent und der Trend
zeigt weiterhin stark nach oben. Parallel zur veränderten Partnerwahl entwickelte sich das Einkommen der Akademikerhaushalte:
Diese verdienten vor 60 Jahren 76 Prozent mehr als ein Durchschnittshaushalt, 2005 waren es 115 Prozent.
Der amerikanische Soziologe Charles Murray untersuchte in seinem 2012 erschienenen Buch Coming Apart die Folgen dieser
demografischen Trends. Er stellt fest:
«High-I.Q. Americans have come to dominate elite colleges. They
tend to marry one another — cognitive homogamy — and produce
children statistically more likely to be smart themselves.»
Er kommt zum Schluss, dass der sozioökonomische Bildungsgraben die amerikanische Gesellschaft stärker in eine New Upper und
Lower Class teilt als die traditionellen und ethischen Unterschiede.
«Cocooned in the same neighborhoods, this new upper class has
its own culture. Its members don’t watch game shows or go to
bars with pool tables in them. They are skinnier.»
Die universitären Familien stellen eine neue Zielgruppe mit eigenen Bedürfnissen, Einstellungen und spezifischen Konsumverhalten dar. Sie grenzen sich gegenüber den bildungsferneren Gesellschaftsschichten klar ab.
In Deutschland bestätigen erste Studien diesen Trend. Naheliegend,
dass sich diese Entwicklung ebenso in der Schweiz zeigen wird.
Nebenbei: Das Konzept der «kognitiven Homogamie» passt perfekt zur wachsenden Bedeutung der Online-Partnersuche, die
mittels Matching ganz nach demselben Prinzip gleich und gleich
gesellt sich gern arbeitet.
Ein gewaltiger Strukturwandel steht noch bevor
Die erwähnten Beispiele sind nur zwei Phänomene einer demografischen Veränderung. Vieles deutet darauf hin, dass ein dramatischerer Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft noch
bevorsteht: Disruption – die Zerstörung ganzer Wertschöpfungsketten durch neue digitale Prozesse – wird die Wirtschaft und
unser Verhalten grundlegend wandeln. Laut Erik Brynjolfsson,
Wirtschaftsprofessor an der US-Eliteuniversität MIT, stehen wir
vor der eigentlichen digitalen Revolution.
Sie wird in wenigen Jahren Millionen von Arbeitsplätzen durch
Roboter und Software ersetzen. Die Betroffenen sind – und dies
ist überraschend – diesmal Berufe mit einer höheren Bildung. So
sinkt beispielsweise in den USA der Bedarf an Anwälten, da Millionen von Dokumenten inhaltlich mittels Software durchforstet
werden. Eine Arbeit, welche früher juristisch gebildete Mitarbeiter
erforderte.
Bitte kein l’art pour l’art
Im Kontext dieser grossen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen mutet das Denken in Konzepten wie
«Lohas» (Lifestyles of Health and Sustainability) oder «Lovos»
(Lifestyles of Voluntary Simplicity) zu einfach an.
Das Gerede von Flexitariern, extrovertierten Konsumfans, gut
situierten Rationalisten sowie Essays über Generation X, Generation Y, Generation Golf, Generation Maybe sind unterhaltend,
jedoch wenig relevant.
Das Marketing muss sich, um den Herausforderungen der Zukunft
gewachsen zu sein, stärker an den harten soziodemografischen
Fakten orientieren. Jede Branche, jedes Unternehmen, ja sogar
Produkte müssen ihre Marktsegmentierung und eigene Zielgruppenbeschreibung auf die Veränderungen in der Gesellschaft finden.
QUELLEN
Charles Murray, COMING APART, The State of White America, 1960 – 2010.
Crown Forum
w ww.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/karriere/Die-Mittelklasse-wird-ausgehoehlt/story/13718773
www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/heiratsmarkt-hoehergebildete-frauen-und-maenner-heiraten-untereinander-a-1016268.html
w ww.nytimes.com/2012/02/12/books/review/charles-murray-examinesthe-white-working-class-in-coming-apart.html?pagewanted=all
w ww.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/konjunktur/Die-Haelfte-der-Jobs-verschwindet/story/31845534
www.research-results.de/fachartikel/2006/ausgabe2/von-der-poesie-der-schnen-namensgebung.html
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