WS 2003/04 Einführung in die Entwicklungspsychologie I Teil 1 11.11.03 18.11.03 1. Geschichte der Entwicklungspsychologie 2. Gegenstand und Theorien 25.11.03 02.12.03 3. Methoden entfällt 09.12.03 16.12.03 16.12.04 4. Entwicklung im Vorschulalter – ein Überblick 5. Kleinkindhaftes Erleben und Erzieherhaltung Die Bedeutung von Lernprozessen 5.1 Klassisches Konditionieren 5.2 Operantes Konditionieren 5.3 Modellernen 06.01.04 13.01.04 Wiederholung 6.Die sozial-emotionale Entwicklung 6.1 Die Entwicklung sozialer Kontakte und emotionaler Beziehungen 6.2 Hospitalismus 6.3 Berufstätige Mütter 6.4 Das Bindungskonzept 6.5 Wurzeln kompetenten Verhaltens 6.6 Ausgewählte Beispiele aus der sozialemotionalen Entwicklung im Vorschulalter 20.01.04 27.01.04 7.Die intellektuelle Entwicklung im Vorschulalter 7.1 Die Überwindung des kleinkindhaften Weltbildes 7.2 Die Entwicklung der kognitiven Leistungen 7.3 Die Theorie der Intelligenzentwicklung nach Jean Piaget 7.4 Piagets Theorie in der Kritik 7.5 Der Aussagewert von Intelligenztests im Vorschulalter 03.o2.o4 8.Die Sprachentwicklung/9.Spielentwicklung 10.02.04 Wiederholung 17.02.04 Klausur - 2 - Prof. Dr. Elisabeth Sander Einführung in die Entwicklungspsychologie des Vorschulalters -----------------------------------------------------------1. Geschichte der Entwicklungspsychologie 1.1. Ältere Ansätze Schon in der Antike wird über die menschliche Entwicklung reflektiert. Platon unterscheidet z.B. vier Stufen menschlicher Erkenntnis. Aristoteles spricht von einem inneren Plan (Entelechie),nach dem sich die Entwicklung eines Lebewesens vollzieht. Im Mittelalter waren die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen vermutlich wenig bewußt. Erst in der Neuzeit kann man von einer Idee der Kindheit sprechen. Comenius (1592 - 1670) war einer der ersten, der altersgemäße Schulen forderte. Auch die Philosophen der Aufklärung (z.B. John Locke) wiesen darauf hin, daß Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Sie betonten die Formbarkeit des Kindes. Rousseau (1712 - 1778), der einen sehr großen Einfluß auf das pädagogische Denken des 19. Jahrhunderts ausübte, vertrat dagegen die Auffassung, daß die Kultur nur verbilde, wenn sie in den natürlichen Entwicklungsverlauf eingreife. Von ihm beeinflußte Pädagogen wie Pestallozzi, Froebel (Kindergartengedanke) oder Maria Montesorri setzten sich für eine entwicklungsgemäße Pädagogik ein. Unter dem Einfluß von Herbert Spencer und Charles Darwin bildete sich eine vergleichende Orientierung der Entwicklungspsychologie heraus. (Vergleich der Entwicklung verschiedener Völker, Tierarten und von Menschen unterschiedlichen Alters). Analog zu Haeckel, der 1866 das biogenetische Grundgesetz formulierte, vertraten Stanley Hall, aber auch deutsche Psychologen wie Karl Bühler oder William Stern die Auffassung, daß die menschliche Individualitätsentwicklung eine Wiederholung der kulturellen und biologischen Geschichte der Menschheit sei. 1.2. Die Entwicklungspsychologie als Fachwissenschaft im 20. Jahrhundert - 3 Erst im 20. Jahrhundert wurden Lehrstühle für Entwicklungspsychologie an den Universitäten eingerichtet. Es bildeten sich Forschungstraditionen heraus, die sich durch Fragestellungen, Grundannahmen und Methoden deutlich unterschieden. - Deskriptiv-normative Entwicklungspsychlogie Fragestellung: Typisches Verhalten bestimmter Altersstufen Grundannahmen: Entwicklung vollzieht sich durch Reifung (Stadientheorien) Methode: Biographisch und anekdotisch - Experimentelle Kinderpsychologie Fragestellung: Wie wirkt sich ein Faktor (z.B. Alter, unabhängige Variable) auf ein bestimmtes Verhalten aus (z.B. Spielverhalten, abhängige Variable)? Grundannahmen: Entwicklung wird durch Kausalbeziehungen (bzw. probabilistische Beziehungen) bestimmt. Methode: Labor und Feldexperiment - Sozialisationsforschung und Entwicklungsauswirkungen von Interventionen und Ereignissen Fragestellung: Wie wirken sich Bedingungen in der Familie und der näheren und weiteren Umwelt auf die Entwicklung aus: ebenso pädagogische Maßnahmen (Interventionen) oder Lebensereignisse (z.B. Heirat)? Grundannahmen: Entwicklung ist ein Lern- bzw. Auseinandersetzungsprozeß des Individuums mit der Umwelt Methode: Feldforschung (Beobachtung, Befragung, Feldexperiment) 1.3. Erklärungsmodelle menschlicher Entwicklung (Entwicklungspsychologische Schulen) Endogenistische Theorie: Entwicklung ist ein Reifungsprozeß, (Umwelt passiv, Individuum passiv) Sonderform: Schwellenhypothese von Jensen. Exogenistische Theorie: Die Umwelt prägt das Individuum. Entwicklung ist ein Lernprozeß. (Umwelt aktiv, Individuum passiv). Lerntheorie, Behaviorismus. Konstruktivistische Stadientheorien: Der Mensch befindet sich in einem aktiven Austausch mit der Umwelt, auf die er handelnd einwirkt, die er erkennt und interpretiert. (Umwelt passiv, Individuum aktiv: Piaget!) Interaktion zwischen Person- und Umweltveränderungen: Es besteht eine Interaktion zwischen Mensch und Umwelt, deren wechselseitiger Einfluß nicht eindeutig determiniert ist, sondern nur - 4 wahrscheinliche Effekte nach sich zieht. (Individuum und Umwelt aktiv: transaktionale, relationale Modelle) 2. Gegenstand und Theorienbildung in der Entwicklungspsychologie Der Gegenstand der Entwicklungspsychologie sind die in einem inneren Zusammenhang stehenden psychischen Veränderungen eines Individuums im Laufe seines gesamten Lebens. Es ist die Aufgabe der Entwicklungspsychologie, diese Veränderungen zu erforschen. Theorienbildung in der Entwicklungspsychologie: Die Entwicklungspsychologie versucht mit Hilfe übergreifender Theorien alle empirisch gewonnenen Fakten, sowie empirisch bestätigte Beziehungen zwischen einzelnen Faktoren widerspruchsfrei zu erklären. Eine Theorie stellt den Anspruch, Voraussagen (Hypothesen) über Erscheinungen und Sachverhalte machen zu können, die in der Folge empirisch überprüft werden müssen. Können viele Hypothesen, die aufgrund einer Theorie formuliert wurden, empirisch nicht bestätigt werden, muß die Theorie erweitert, verändert oder es muß eine neue Theorie gefunden werden. In der Gegenwart ist die Bildung angemessener Theorien besonders schwierig, weil in immer kürzeren Zeiträumen, immer mehr Untersuchungsergebnisse vorliegen, die der einzelne nur mehr schwer überschauen kann. Die entwicklungspsychologische Theorienbildung konzentriert sich einerseits auf die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der menschlichen Entwicklung, andererseits auf das Auffinden von Faktoren, die als Ursache für die Veränderungen im Entwicklungsverlauf und als Erklärung der interindividuellen Unterschiede im Entwicklungsstand gleichaltriger Individuen angesehen werden können. So wird Entwicklung unter einer mehr inhaltlichen Fragestellung als Differenzierungs-, Zentralisations- (Integrations-) oder Kanalisationsprozeß dargestellt, wobei unter keinem dieser Aspekte der gesamte Entwicklungsverlauf erklärt werden kann. Es handelt - 5 - sich vielmehr um teilweise parallel laufende Entwicklungstendenzen. Bei dem Versuch, formale Gesetzmäßigkeiten im Entwicklungsverlauf aufzudecken, stehen einander zwei Haupttheorien gegenüber, die Theorie(n), die Entwicklung als Stufengang interpretieren, und die Theorien, die Entwicklung als kontinuierlichen Prozeß darstellen. Die Stufentheorien machen folgende Grundannahmen: a) Die Aufeinanderfolge der Stufen ist festgelegt; sie ist nicht umkehrbar. b) Die Entwicklung erfolgt in Schüben, die durch innere Gesetzmäßigkeiten (Reifungsprozesse) ausgelöst werden. Die Ergebnisse neuerer Untersuchungen führten zu einer Reihe von Einwänden gegen die Stufentheorien. Diese richten sich gegen a) die Annahme schubartiger Veränderungen in der Entwicklung, b) die These, daß Umwelteinflüssen eine nur geringe Bedeutung zukommt. Schließlich weisen die Kritiker c) darauf hin, daß die Stufentheorien zu sehr die Ähnlichkeiten zwischen den Individuen einer Altersstufe betonen. Theoretiker, die Entwicklung als kontinuierlichen Prozeß darstellen, stützen sich in erster Linie auf a) Untersuchungsergebnisse, die aufzeigen, daß die Entwicklung asynchron verläuft und b) auf die Tatsache, daß es den verschiedenen Stufentheorien nicht gelungen ist, überzeugende und gültige Unterscheidungskriterien für die von ihnen angenommenen Stufen zu finden bzw. die Dauer der Stufen festzulegen und altersgemäß zu definieren. Als verursachende Faktoren des Entwicklungsverlaufes bzw. der zwischen gleichaltrigen Individuen bestehenden Unterschiede im Entwicklungsstand werden in erster Linie Reifungs- und Lernprozesse genannt. Auch mit Hilfe der sogenannten Zwillingsforschung ist es nicht gelungen, den Anteil, den Erb- und Umweltfaktoren an der Ausprägung eines psychischen Merkmals haben, endgültig zu bestimmen. Viele Autoren neigen heute allerdings dazu, der Umwelt einen großen Einfluß am Entwicklungsverlauf zuzusprechen. Unter pädagogischem Gesichtspunkt ist es ohnehin nicht sinnvoll, danach zu fragen, ob ein bestimmter - 6 - Entwicklungsstand mehr durch Erbfaktoren oder durch Umwelteinfluß zustande gekommen ist - dies ist im Einzelfall gar nicht möglich. Es ist dagegen erfolgsversprechender, zwischen pädagogisch leichter und schwerer zu beeinflussenden Merkmalen zu unterscheiden. Die Forschung bemüht sich deshalb in neuerer Zeit verstärkt darum abzuklären, welche pädagogischen Maßnahmen unter welchen gegebenen Bedingungen am besten zu Entwicklungsfortschritten in einem bestimmten Bereich führen. In neuerer Zeit wird neben Erb- und Umwelteinfluß von immer mehr Forschern noch ein dritter, die Entwicklung beeinflussender Faktor hervorgehoben. Sie betonen die Eigenaktivität und Selbststeuerung des Individuums. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es zu erforschen, in welcher Weise sich angeborene Erlebens- und Verhaltenspläne (kognitive Strukturen: u.a. Erwartungen, Interessen, Werthaltungen) im Laufe der Entwicklung verändern, und in welcher Beziehung sie zu den anderen beiden Faktoren stehen. (Vgl. Abschnitt 1.3:Erklärungsmodelle menschlicher Entwicklung). 3. Methoden der Entwicklungspsychologie Der Gegenstand der Entwicklungspsychologie sind die in einem inneren Zusammenhang stehenden psychischen Veränderungen eines Individuums im Laufe seines gesamten Lebens. Es ist die Aufgabe der Entwicklungspsychologie diese Veränderungen zu erforschen. Es kann zwischen älteren und neueren Methoden der Entwicklungspsychologie unterschieden werden. Ältere Methoden sind die anekdotische Methode (Zufallsbeobachtungen) und die biographische Methode (Kindertagebücher). Die älteren Methoden weisen einige Mängel auf. Sie sind wenig objektiv und zuverlässig (reliabel), ihre Gültigkeit (Validität) ist zweifelhaft und ihre Generalisierbarkeit beschränkt. Um diese methodischen Mängel zu überwinden, wurden eine Reihe von anderen Methoden entwickelt: Mit Hilfe systematischer Beobachtungen versuchte man die Schwächen der Zufallsbeobachtung zu umgehen. Es wird nach einem festgelegten - 7 - Schema, zu festgelegten Zeit beobachtet; der Beobachter beobachtet nur einen Teilaspekt des Verhaltens der zu beobachtenden Person. Systematische Beobachtungen können in der natürlichen Situation vorgenommen werden oder unter kontrollierten Bedingungen stattfinden. Beobachtungstechniken sind die systematische Dauerbeobachtung, das Time/sampling (zufällige „Zeitauswahl“, geraffte Beobachtung) und die teilnehmende Beobachtung. Soll die Wirkung spezifischer Faktoren auf das Entwicklungsgeschehen festgestellt oder Wechselwirkungen einer Vielfalt die Entwicklung beeinflussender Faktoren aufgedeckt werden, reichen Beobachtungsmethoden nicht aus. Zur Klärung solcher Fragestellungen wird das Experiment herangezogen. Das Experiment ist eine Sonderform der kontrollierten Beobachtung. Es wird unter planmäßig variierten und wiederholbaren Bedingungen beobachtet. Die planmäßige Variation von Versuchsbedingungen erreicht man durch den Einsatz von Kontrollgruppen. Eine besondere Form von Experimenten, die in der Entwicklungspsychologie häufig eingesetzt werden, sind Leistungs- und Prüfexperimente. Neben diesen wohl wichtigsten Methoden der Entwicklungspsychologie werden auch heute für besondere Fragestellungen noch andere Methoden herangezogen: Die Analyse von Gestaltungen (Kinderzeichnung!), klinische Fallstudien und Fragebogenerhebungen. Veränderungen über einen längeren Zeitraum (20 - 40 Jahre eines Menschenlebens) werden mit Hilfe von Längsschnitt- und Querschnittuntersuchungen zu erfassen versucht. Bei einer Längsschnittuntersuchung werden Kinder von einem bestimmten Alter an laufend über viele Jahre hin untersucht. Bei Querschnittuntersuchungen werden Gruppenverschiedener Altersstufen zur gleichen Zeit, unter gleichen Bedingungen, mit denselben Verfahren, untersucht. Bedeutsame Unterschiede zwischen den Altersgruppen werden dann als typische Veränderungen im Entwicklungsverlauf interpretiert. 4. Entwicklung im Vorschulalter - ein Überblick - - 8 - 4.1. Das erste Lebensjahr Die körperliche Entwicklung im ersten Lebensjahr ist durch ein rasches Wachstum gekennzeichnet: z.B. Verdreifachung des Körpergewichts am Ende des ersten Lebensjahres! Im ersten Lebensjahr können vier Entwicklungsabschnitte beobachtet werden: a) b) c) d) - postembryonale Periode die Periode der ersten spezifischen Reaktionen aktive Zuwendung zur Umwelt Ausbildung spezifisch menschlicher Eigenschaften ad a) Rein reflektorisches Verhalten; sehr früh ist der orientierende Reflex zu beobachten. Der Säugling wendet sich reflexartig neuen Reizen zu. Der orientierende Reflex wird als Grundlage des Neugierverhaltens angesehen. Er ist damit Grundlage für die Motivation, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. ad b) Die Weiterentwicklung des orientierenden Reflexes führt zur Ausbildung der ersten spezifischen Reaktionen. Der Übergang von den ungesteuerten Impulsbewegungen zu gesteuerten Bewegungen ermöglicht die Koordination von Auge und Hand, es kommt zu Experimentierbewegungen. Als erste spezifische Reaktion auf die Umwelt sind auch das Lallen und Lautäußerungen als Reaktion auf menschliche affektive Zuwendungsreaktionen zu nennen (Vorstufe der Sprache). ad c) Zunehmende Aktionen im motorischen Bereich werden möglich: sensumotorische Kreisprozesse. Deutliche Zuwendungsreaktionen vertrauten Personen gegenüber werden sichtbar. ad d) Gegen Ende des ersten Lebensjahres erlernt das Kind einen aufrechten Gang, es lernt die ersten Wörter und das Werkzeugdenken entwickelt sich. 4.2. Hervortretende Erlebens- und Verhaltensmerkmale des Vorschulkindes Das "Weltbild" des Vorschulkindes wird mit den Begriffen "egozentrisch", "prälogisch", "final", "anthropomorphistisch", "physiognomisch" und "magisch" beschrieben. - 9 - Egozentrismus Unter Egozentrismus versteht man die Ichbezogenheit des Vorschulkindes. Sie macht sich in allen Erlebens- und Verhaltensbereichen bemerkbar; z.B. in Wahrnehmung, Vorstellung und Gedächtnis, in der Sprache und im Denken. Die egozentrische Einstellung des Vorschulkindes kann auch als Ursache für die im folgenden beschriebenen Erlebens- und Verhaltenstendenzen angesehen werden. Prälogismus und Finalismus Der Begriff prälogisch bezieht sich auf die intellektuelle Ebene der Umweltbegegnung. Das Vorschulkind kann noch keine Probleme durch Anwendung logischer Regeln lösen. Die Problembewältigung erfolgt zunächst durch aktives Handeln, mit dem Erlernen der Sprache tritt auch das Verständnis für Symbole auf, und allmählich werden mit Hilfe der Anschauung (Wahrnehmung) Analogieschlüsse möglich. Bedingt durch die egozentrische Haltung des Vorschulkindes, bezieht es das Umweltgeschehen auf sich selbst bzw. analog auf Gegenstände und Personen, mit denen es sich identifiziert. Es meint z.B. die Sonne scheint, damit ihm selbst und den Eltern, den Tieren und Puppen warm ist. (Finalismus) Anthropomorphismus, physiognomische und magische Weltdeutung Zwischen anthropomorphem, physiognomischem und magischem Erleben besteht eine enge Beziehung. Das Vorschulkind erlebt die Welt so stark aus der eigenen Perspektive, daß es die eigenen Gefühle in die Umwelt projiziert. Es erlebt Gegenstände personifiziert. Diese Haltung ist besonders lange im Spiel zu beobachten. Eng mit dieser anthropomorphen Weltsicht verbunden ist die physiognomische Deutung der Umwelt. Dinge werden als angenehm oder unangenehm, sympathisch oder unsympathisch, gut oder böse erlebt. Die anthropomorphistisch physiognomische Deutung der Welt führt auch zu der Neigung, die Umwelt magisch zu deuten, also zu glauben "höhere Mächte" (Geister) seien z.B. für physikalische Phänomene und Naturerscheinungen verantwortlich. Viele Kinder glauben an die Existenz von Nikolaus, Christkind und Osterhasen. - 10 - 5. Kleinkindhaftes Erleben und Erzieherhaltung – die Bedeutung von Lernprozessen für die Entwicklung des Kindes Der Ausprägungsgrad und das Andauern des magisch-anthropomorphen Weltbildes wie der egozentrischen Haltung des Vorschulkindes sind stark von Erziehungseinflüssen abhängig. Im folgenden sind Lernprozesse dargestellt, die für die Entwicklung von Erlebens- und Verhaltensweisen von besonderer Bedeutung sind: 5.1. Klassisches Konditionieren Pawlow stellte fest, daß nicht nur der natürliche Reiz Futter eine Speichelreaktion auslöst, sondern auch ein neutraler Reiz, der in räumlicher oder zeitlicher Nähe mit diesem auftrat, (z.B. das Erscheinen des Versuchsleiters, ein Klingelzeichen). Dieser Vorgang wird als Konditionierung bezeichnet: Ein vorher neutraler Reiz (konditionierter Stimulus = CS) wird durch die Stiftung einer Assoziation mit einem natürlichen Reiz (unkonditionierter Stimulus = US) zum Auslöser einer Reaktion, die zuvor nur auf den natürlichen Reiz erfolgte. Wird wiederholt nur der bedingte Reiz ohne natürlichen Reiz geboten, erlischt die gelernte (konditionierte) Reaktion. Der Prozeß der Konditionierung liegt auch der Entwicklung vieler emotionaler Reaktionen zugrunde; z.B. Angstreaktion eines Babys auf den Vater im weißen Hemd, nachdem es vom Arzt im weißen Kittel geimpft worden ist: weiße Kleidung (CS, bedingter Stimulus)-> CR Bedingte Reaktion β (Furcht) Einstich (US, natürlicher Stimulus)-> UR Unbedingte Reaktion (Schmerz/Furcht) Abb.1: Schema des klassischen Konditionierens 5.2. Operantes Konditionieren oder Lernen am Erfolg - Wie kommt es zum Erwerb neuer Verhaltensweisen? - Die am stärksten in die Praxis wirkende Theorie zur Beantwortung dieser Frage wurde von Skinner entwickelt. - 11 - Grundlegend für diese Theorie ist das von Thorndike (1911) formulierte "Gesetz des Effektes". Es besagt, daß jene Verhaltensweisen mit größerer Wahrscheinlichkeit wiederholt werden, die zu positiven Konsequenzen für das Individuum führen. Voraussetzung dafür, daß Lernen stattfindet, ist das Vorhandensein eines Bedürfnisses (z.B. Hunger) im Individuum. Skinner selbst verzichtet auf die Analyse von Bedürfnissen und ihre ursächliche Beziehung zum Verhalten bzw. zu Verhaltensfolgen (Behaviorismus): - In einer komplexen Situation steht dem Lebewesen ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensweisen zur Verfügung. Einer dieser Operants (Verhaltensweisen) führt zu Konsequenzen, welche die Wahrscheinlichkeit für das Wiederauftreten der einzelnen Operants verändern. Folgende Verhaltenskonsequenzen können unterschieden werden: Belohnung Bestrafung Löschung Positiver Verstärker der Situation hinzufügen angenehme Konsequenz aus der Situation entfernen (Typ2) unangenehme K. Keine Konsequenz Negativer Verstärker aus der Situation entfernen unangenehme Konsequenz der Situation hinzufügen (Typ1) angenehme K. Abb.2: Schema des operanten Konditionierens Entgegen landläufiger Meinung verschwindet ein unerwünschtes Verhalten in Folge von Bestrafung nicht aus dem Verhaltensrepertoire. (Es sei denn, die negative Konsequenz ist extrem massiv; z.B. schweres Verbrennen an einem Ofen) Solange dem unerwünschten Verhalten aversive (unangenehme) Strafreize folgen, ist die Wahrscheinlichkeit für das Wiederauftreten dieses Verhaltens deutlich vermindert. Sobald die Strafe ausbleibt, nimmt die Häufigkeit des Verhaltens wieder zu. Ein Verhalten gerät dagegen in Vergessenheit, wenn es konsequent nicht mehr verstärkt wird. (Löschung) - 12 - 5.3. Modellernen Kognitive Lerntheoretiker versuchen im Gegensatz zu den Behavioristen aufzuklären, welche inneren subjektiven Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Individuum in einer Situation sein Verhalten in bestimmter Weise verändert. Es zeigt sich nämlich, daß Lernen sich einerseits ereignet, obwohl (den genannten Lerntheorien zufolge) notwendige Bedingungen nicht gegeben sind, andererseits findet Lernen nicht statt, obwohl die Lernsituation alle theoretisch für erforderlich gehaltenen Elemente enthält. Z.B. lernten Vpn in einem Experiment von Bandura und Walters durch Ansehen eines Films sich aggressiv zu verhalten, obwohl sie selbst sich nicht aggressiv verhielten und dafür nicht verstärkt wurden. Bandura u.a. meinen, daß die Kinder durch das im Film gezeigte Modell ein Verhalten lernten, das sie imitierten. Modellernen gewinnt ab dem 1. Lebensjahr große Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Ob ein Modell nachgeahmt wird, hängt von folgenden Merkmalen ab: - Die Beziehung zwischen Kind und Modell muß positiv sein - Die Modellperson muß Prestige besitzen - Die Konsequenz des Verhaltens der Modellperson muß positiv sein. 6. Die sozial-emotionale Entwicklung 6.1. Die Entwicklung sozialer Kontakte und emotionaler Beziehungen Säuglinge müssen erst lernen, zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden. Man spricht deshalb von der "objektlosen Stufe" des Neugeborenen. Diese wird gefolgt von der sogenannten "Vorstufe des Objekts" (soziales Wiederlächeln); es gelingt nun zwischen sich und anderen zu unterscheiden (Personen werden in diesem Sinne als Objekte verstanden) und schließlich gelingt es dem Kind bis gegen Ende des ersten Lebensjahres, die sogenannte Objektstufe zu erreichen. Das Kind kann nun zwischen fremden und bekannten Personen unterscheiden und beginnt echte Beziehungen, Bindungen aufzubauen. (Fremdeln, 8-Monatsangst!) - 13 - 6.2. Hospitalismus Unter Hospitalismus versteht man Erlebens- und Verhaltensstörungen, die auftreten als Folge von länger andauerndem Klinik- oder Heimaufenthalt vor allem im ersten Lebensjahr. Hospitalisierte Kinder zeigen Entwicklungsrückstände im intellektuellen, sprachlichen und im sozial-emotionalen Bereich. In schweren Fällen kann der Tod eintreten (Marasmus). Als Ursache für die Hospitalismuserscheinung werden das Fehlen einer innigen emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind sowie der Mangel an Anregungsbedingungen genannt. Sehr bekannt sind die Affenversuche von Harlow zur näheren Bestimmung der Mutter-Kind-Beziehung. - Wie die Versuche von Harlows zeigen, ist die orale Bedürfnisbefriedigung für Affenkinder von geringerer Bedeutung als die Erfüllung eines Körperkontaktbedürfnisses. - Aber auch eine das Kontaktbedürfnis stillende Stoffattrappe kann die Affenmutter nicht ersetzen. Affenbabies, die von einer Stoffattrappe großgezogen wurden, zeigten als erwachsene Tiere schwere Verhaltens-, insbesondere Kontaktstörungen. Während Theorien, die die Folgen von Mutterentbehrung als fehlende Prägung (Lorenz) oder Fixierung (Tiefenpsychologie) erklären, heute selten herangezogen werden, gewinnen lerntheoretische Erklärungsversuche an Bedeutung: Die Bedeutung der Mutter (oder Bezugsperson) wird gesehen in ihrer Rolle als Stimulationsquelle, in ihrer Rolle als differenzierende Verstärkerin und in ihrer Rolle als Vermittlerin von Motiven. Schließlich kann die Mutter noch als Verhaltensmodell interpretiert werden. 6.3. Berufstätige Mütter Die Situation von Kindern berufstätiger Mütter ist nicht - wie das häufig in der tiefenpsychologisch orientierten Literatur geschieht - 14 - - mit der von Heimkindern zu vergleichen. Eine Anhäufung von Verhaltensauffälligkeiten, bei Kindern berufstätiger Mütter ist nur dann zu beobachten, wenn die Mutter überlastet und/oder mit ihrer Situation unzufrieden ist. Mehrfachbemutterung ist ohne Schäden für das Kind möglich, wenn alle Betreuer dem Kind ein hohes Ausmaß emotionaler Wärme entgegenbringen und den gleichen Erziehungsstil praktizieren. Beispiele für gelungene Mehrfachbemutterung sind die Kibbuzerziehung und das vom DJI durchgeführte Projekt "Tagesmutter". In Berlin wurden auch erfolgreiche Versuche mit Kindertagesmüttern durchgeführt. 6.4. Das Bindungskonzept Ein zentraler Gegenstand der Kleinkindforschung ist die Art der sozialen bzw. affektiven Beziehung zwischen Mutter und Kind. Diese Beziehung wird unter dem Begriff "Bindung" (attachment) diskutiert. Es gibt verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung der Entstehung von Bindung: - der psychoanalytische Ansatz (die Mutter wird als erstes "Liebesobjekt" gesehen, weil sie mit der Befriedigung elementarer Bedürfnisse - z.B. Nahrungsaufnahme - verbunden ist) - der lerntheoretische Ansatz (die Mutter wird als diskriminativer Verstärker und als Modell interpretiert) und - der ethologische Ansatz (Ethologie = vergleichende Verhaltensforschung). Der letztgenannte Ansatz regte die Bindungsforschung in den letzten Jahren besonders an. Ein herausragender Vertreter dieses Ansatzes ist John Bowlby. Er geht davon aus, daß jedes menschliche Lebewesen mit artspezifischem Verhaltenssystemen ausgestattet ist, die sein Überleben sichern sollen. Ein solches Verhaltenssystem ist das "Bindungsverhalten" des Säuglings und Kleinkindes, das auf die Herstellung der Nähe zu der oder den Pflegeperson(en) gerichtet ist. Diesem "Bindungssystem" entspricht auf Seite der Eltern das Pflegeverhalten. Bowlby konzentrierte sich vor allem auf die Klassifikation von Verhaltensformen (z.B. Lächeln, Weinen, - 15 - Nachlaufen des Kindes), die Bindung zwischen Mutter und Kind vermitteln. Er stellt dem Bindungs- und Pflegeverhalten als Antithese das Erkundungsverhalten des Kindes bzw. Verhaltensweisen der Pflegeperson, die dieses fördern, gegenüber. Mary Ainsworth, eine Schülerin Bowlbys, hat das Bindungskonzept weiterentwickelt. Sie integriert die von Bowlby als Antithesen verstandenen Verhaltensweisen in ein System: Das Zusammenspiel zwischen Bindung und Exploration rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Worauf es ankommt, ist nicht die Quantität zu beobachtenden Bindungsverhaltens, sondern die Qualität der Beziehung. Eine Bindung hoher Qualität = sichere Bindung wird als Voraussetzung für ein exploratives Verhalten des Kindes angesehen. Die Mutter-Kind-Beziehung entwickelt sich in charakteristischer Weise - Vorbindungsphase: Das Kind reagiert auf die Pflegeperson nicht anders als auf andere Personen (1. Lebenswoche). - Das Kind unterscheidet zwischen vertrauten und weniger vertrauten Personen. - Das Kind sucht aktiv die Nähe der Pflegeperson. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung der Objekt- und Personpermanenz. (Erfassung der Existenz von Personen und Dingen, auch wenn diese nicht unmittelbar wahrnehmbar sind). Es kommt zu zielkorrigierten Verhaltensweisen. (Das Kind berücksichtigt in seinen Handlungsentwürfen die vermuteten Handlungen seiner Mutter) (Etwa ab 9. - 12. Lebensmonat). - Phase der zielkorrigierten Partnerschaft. (Um das 3. Lebensjahr) Das Kind lernt sich in die Rolle seiner Mutter zu versetzen und so ihre Gefühle, Motive und Handlungen zu verstehen. Damit erwirbt es die Kompetenz, Ziele und Handlungen der Mutter so zu beeinflussen, daß zumindest ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiß entsteht. Zur Diagnose der Bindungsqualität wurde der „Fremde-SituationsTest“ entwickelt. Dieser Test wird im Alter von ca eineinhalb Jahren eingesetzt. Heute gibt es Tests zur Bindungsdiagnostik auch für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Es wird unterschieden zwischen - sicherer Bindung - 16 - unsicher vermeidender Bindung unsicher ambivalenter Bindung Es ist sehr wichtig, die Bindungsqualität beurteilen zu können. (Sorgerechtsentscheidungen bei Ehescheidungsprozessen!) Welche Ursachen hat die Entstehung unterschiedlicher Bindungsqualität? Die Bindungsqualität wird entscheidend von der Art und Weise des Verhaltens der Pflegeperson(en) bestimmt. Mütter bindungssicherer Kinder sind feinfühliger, kooperativer, verfügbarer für das Kind und akzeptieren es mehr. Die sensitive Responsivität der Mutter gegenüber den Signalen, die das Kind über seinen Zustand und seine Bedürfnisse mitteilt, werden als Schlüsselvariable einer sicheren versus ängstlichen Bindung herausgestellt. Die Bindungsqualität steht in Beziehung zur kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung in der frühen Kindheit. Das innere Arbeitsmodell Nach Bowlby entwickeln Kinder unterschiedliche mentale Repräsentationen von sich selbst, von anderen und von den Beziehungen zwischen anderen und sich selbst. Diese Repräsentationen werden in der Bindungstheorie innere Arbeitsmodelle genannt, an denen sich der Aufbau von Beziehungen zu anderen Menschen (Gleichaltrigen, Freunden, Partnern) im Laufe des Lebens orientiert. 6.5. Wurzeln kompetenten Verhaltens Einfluß auf die Entwicklung des Kindes nehmen alle Merkmale der kindlichen Umwelt. Welches sind die entscheidenden Merkmalsklassen? Um diese Frage beantworten zu können, wurden in den letzten Jahren Instrumente zur Erfassung der proximalen Umgebungsbedingung entwickelt. Folgende Merkmalsklassen werden von vielen Autoren übereinstimmend als günstig angesehen: - 17 - - die Möglichkeit, Bindung an eine Bezugsperson zu entwickeln; - ein emotionales Klima, das durch gegenseitiges Vergnügen an der Interaktion und durch minimale Restriktion und Bestrafung gekennzeichnet ist; - eine physikalische Umgebung, die stimulierend und responsiv ist; - Freiheit, die Umgebung zu explorieren; - Sicherung eines vorhersagbaren Tagesablaufs. Besonderes Interesse findet in der empirischen Forschung die Beziehung zwischen Eltern-Kind-Interaktion und kognitiver Entwicklung. Ausgegangen wird von der Bindungstheorie: Die mütterliche Responsivität (Feinfühligkeit) schafft die Voraussetzung für die Mutter-Kind-Bindung. Die Qualität dieser Bindung bestimmt, wie sicher sich das Kind fühlt (sichere Basis! Mary Ainsworth) und auf der Grundlage dieser Sicherheit seine Umgebung exploriert. Das Ausmaß explorativer Tätigkeiten steht in engem Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung. Diese Annahmen konnten empirisch bestätigt werden. Auch für die weitere kindliche Entwicklung ist die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion von Bedeutung: Die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Interaktionspartner gehen als Ausgangsgrößen in ein "Wechselspiel" ein. Dazu ist erforderlich, daß das Kind seine Zuständlichkeiten und Bedürfnisse signalisieren und auf mütterliches Verhalten reagieren kann. Die Aufgabe der Mutter, der Bezugsperson(en) ist es, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen (Sensitivität) und darauf angemessen zu reagieren (Responsivität). Eine angemessene Responsivität ist gekennzeichnet durch - Kontingenz (die Reaktion der Mutter auf ein Signal des Kindes muß in einem zeitlichen Zusammenhang stehen, um von diesem als reaktiv auf eigenes Verhalten erkannt zu werden). - Konsistenz (bestimmtes elterliches Verhalten muß auf bestimmtes Kindverhalten folgen, damit dieses spezifische Erwartungen aus- - 18 - bilden und die Umgebung durch eine gewisse Vorhersagbarkeit strukturieren kann). - Kontinuität (Kontingenz-Konsistenz-Verknüpfungen müssen über einen genügend langen Zeitraum auftreten, um Lernen zu ermöglichen). In diesen drei Prinzipien ist ein viertes implizit enthalten: - Angemessenheit (es werden von den Eltern nur Verhaltensweisen gezeigt, die dem momentanen Zustand und dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen). Positive Eltern-Kind-Interaktionen werden als Basis für eine effektive Lebensbewältigung gesehen, d.h. sie sind notwendig zur Erreichung intellektueller und sozial-emotionaler Kompetenz. Allerdings ist es nicht so, dass unsichere Bindungen an die Eltern die Entwicklung eines Kindes vollständig negativ determinieren in dem Sinne "Die Mutter ist an allem schuld." Positive Einflüsse in späteren Lebensjahren können negative in früheren bis zu einem gewissen Grad ausgleichen und umgekehrt. Außerdem spielt die individuelle Persönlichkeit (Temperament, Konstitution) eines Kindes (Eigensteuerung) eine zunehmend größere Rolle für die Verarbeitung von Erziehungseinflüssen. Irritable Kinder bauen mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine sichere Bindung auf als positiv gestimmte und körperlich robuste. 6.6. Ausgewählte Beispiele aus der sozial-emotionalen Entwicklung im Vorschulalter 6.6.1. Die Beziehung zu Erwachsenen Kleinkinder, die eine Bindung an die Mutter entwickeln, sind gleichzeitig oder kurz darauf in der Lage, Bindungen auch zu anderen Erwachsenen aufzubauen. Die Anwesenheit eines Erwachsenen, - 19 - mit dem ein Kind vertraut ist, bedeutet für ein Kind Sicherheit; (Reduzierung von Unsicherheit und Angst). In den ersten drei Lebensjahren sind die Eltern und andere Erwachsene die wichtigsten Bezugspersonen des Kindes. 6.6.2. Die Beziehung zu Gleichaltrigen Das Verhalten der Kleinkinder gegenüber anderen Kindern kann man in drei Entwicklungsabschnitte gliedern, die jedoch nicht als feste Stufenfolge aufgefaßt werden dürfen: - Das Beieinander-Sein (anfassen, streicheln, schlagen). - Die Entdeckung der Gruppe (man möchte dabeisein!). - Das aktive Mittun. Das Kontaktverhalten mit der Gleichaltrigengruppe hängt auch vom Erzieherverhalten ab. (Beispiel!) Der Kontakt mit Gleichaltrigen fördert die Entwicklung der Selbständigkeit. 6.6.3. Der Erwerb der Geschlechtsrolle und die sexuelle Entwicklung Mit etwa drei Jahren bemerkt das Kind Geschlechtsunterschiede. Über den Prozeß der Imitation und des Verstärkungslernens ordnet es sich selbst eine Rolle zu. Nach Freud lassen sich drei Entwicklungsstufen des Sexualverhaltens im Vorschulalter unterscheiden: - die orale Phase - die anale Phase - die phallische Phase. 6.6.4. Angst und Trotzreaktion Angst tritt immer als Reaktion auf einen Reiz auf. Diese Reize können unbedingt (natürlich) oder bedingt (gelernt) sein. Angstreaktion auf bedingte Reize werden über den Mechanismus des klassischen Konditionierens erlernt. - 20 - Viele Ängste werden im Kleinkindalter auch durch Imitationslernen erworben. Angst soll nicht als Erziehungsmittel eingesetzt werden! Starke Ängste hemmen das Neugierverhalten und damit die intellektuelle Entwicklung (vor allem die Entwicklung produktiver und kreativer Leistungsfähigkeit); sie hemmen aber auch die soziale Kontaktaufnahme und die Entwicklung positiver Gefühle. Neurotische Menschen haben immer starke Ängste. Auch Trotzanfälle sind reaktive Verhaltensweisen, d.h. es hängt vom Erzieher ab, wie das Kind reagiert. Trotzreaktionen tauchen während der gesamten Kindheit auf. Der Freiheitsraum des Kindes sollte nicht unnötig eingeengt werden, das Kind sollte aber auch nicht lernen, daß man mit Trotz alles erreichen kann. 6.6.5. Freundschaft und kooperatives Verhalten Kontakte von Kindern können motiviert sein durch: - den Ordnungssinn von Kleinkindern - durch die Eltern - durch Äußerlichkeiten - durch die Stellung in der Gruppe - durch Führungsansprüche - durch gemeinsame Interessen. Auch Freundschaften im Kleinkindalter können Belastungen standhalten. Durch Freundschaften wird das soziale Verhalten von Kindern positiv beeinflusst und die Frustrationstoleranz erhöht. Kooperatives Verhalten nimmt im Laufe der Entwicklung zu, ist aber stark abhängig von der gesamten psychophysischen Entwicklung, insbesondere von der Erzieherhaltung und äußeren Faktoren wie z.B. der Geschwistersituation. - 21 - 6.6.6. Streit Im Streit lernen die Kinder Konflikte auszutragen und die Wünsche anderer zu berücksichtigen. Schlägereien werden im Laufe der Entwicklung durch verbale Techniken der Auseinandersetzung abgelöst. Der Erwachsene sollte nur eingreifen, wenn ein Kind stark unterlegen ist. Streit kann auch die Folge gestörter Sozialbeziehungen sein (z.B. Neid! Eifersucht!). Hier muß die Ursache vom Erzieher herausgefunden und beseitigt werden. 6.6.7. Wettbewerbsverhalten und Leistungsmotivation Wettbewerbsverhalten kann ab etwa 3 Jahren beobachtet werden und steigt im Laufe der Entwicklung an. Voraussetzung für Wettbewerbsverhalten ist, dass das Kind etwas als seine eigene Leistung erkennt und den Erfolg oder Misserfolg auf seine eigenen Fähigkeiten zurückführt (Kausalattribuierung). Aus der Beurteilung der eigenen Leistung entsteht dann die Fähigkeit zu vergleichen, und damit die Grundlage für die Leistungsmotivation. Das Kind muß Gelegenheit erhalten, mit Ausdauer und Konzentration ein bestimmtes Ziel verfolgen zu lernen, Misserfolge zu ertragen, Spielregeln einzuhalten, fair zu sein. Die Vermittlung sozialer Verhaltensweisen im Bereich des Leistungsverhaltens ist eine wichtige Aufgabe für den Erzieher. Die Leistungsmotivation kommt durch die Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab zustande. Erste Ansätze zeigen sich im Alter von 3 bis 4 Jahren. Sie nimmt im Laufe der Entwicklung zu. Jüngere Kinder leiden stärker unter einem Misserfolg als ältere. Ältere Kinder setzen sich weniger häufig unrealistisch hohe Ziele oder zu leichte Ziele. Sie können mit Misserfolgen besser umgehen. Die Zielsetzung richtet sich nach der vorangegangenen Leistung, sie wird Anspruchsniveau genannt. Dieser Gütemaßstab entscheidet, ob eine Leistung als Erfolg oder Mißerfolg erlebt wird. Die Hoffnung auf Erfolg und die Furcht vor Mißerfolg beeinflussen den Grad der Motivation. Die Leistungsmotivation wird sehr stark durch Erziehungseinflüsse bestimmt. Folgende Dimensionen erwiesen sich als günstig für die Entwicklung einer Leistungsmotivation: - 22 - - Selbständigkeit - Belohnung durch soziale Verstärker (Zärtlichkeit, sozial-integrativer Erziehungsstil) - Erziehungsziele der Eltern (dem Leistungsstand des Kindes angemessene Zielsetzung). 7. Die intellektuelle Entwicklung im Vorschulalter 7.1. Die Überwindung des kleinkindhaften Weltbildes Schon sehr früh steht das anthropomorphistische Denken des Kindes im Gegensatz zu seinem Erfahrungswissen. Das Kind unserer Kultur wird im Gegensatz zu Primitivkulturen ständig mit dem logischkausalen Denken der Erwachsenen konfrontiert. Ein wichtiger erster Schritt in der Überwindung des Anthropomorphismus (etwa 5. Lebensjahr) ist die Entdeckung der Bewegung als unterscheidendes Merkmal zwischen belebter und unbelebter Welt. Nach dieser Entdeckung wird der "als-ob"-Charakter des Rollenspiels immer deutlicher. Gegen Ende der Vorschulzeit bahnt sich eine Übereinstimmung zwischen Erfahrungswissen und Denkprinzip an. 7.2. Die Entwicklung der kognitiven Leistungen 7.2.1. Die Wahrnehmung Die Differenzierung der Wahrnehmung ist einer der wesentlichsten Entwicklungsfortschritte im Vorschulalter, durch die die Orientierung in der räumlichen, zeitlichen, personalen und dinglichen Umwelt gewährleistet wird. Grundlage unserer Raumorientierung ist das Tiefensehen und die Wahrnehmungskonstanz. Durch sensumotorische Erfahrungen mit Greifen und Experimentieren und schließlich durch das Vordringen in den Raum nach dem Erlernen des Laufens verbessern sich die Leistungen im Tiefensehen, im Erkennen von Gegenständen und Personen bei wechselnder Stellung und im Identifizieren von Farben, und erreichen mit etwa 6 Jahren den Stand von Erwachsenen. - 23 - 7.2.1.1. Die Eroberung des Raumes Die Raumkategorien, in denen das Kind denkt, sind die der Nachbarschaft, der Geschlossenheit und der Eingeschlossenheit. (Topologischer Raum) Die Dimension Höhe, Länge und Breite (euklidischer Raum) kann es noch nicht miteinander in Beziehung bringen. 7.2.1.2. Zeitwahrnehmung und Zeitperspektive Der Zeitablauf wird für das vorschulpflichtige Kind durch anschauliche, vor allem räumliche Gegebenheiten repräsentiert. Die Länge der Zeit wird z.B. nach dem sichtbaren Effekt beurteilt. (In dem Experiment mit Spielzeugautos nach dem zurückgelegten Weg). Zeitabläufe werden durch räumliche Gegebenheiten, aber auch durch andere wahrnehmbare Veränderungen repräsentiert, wobei das jeweils Längere, Größere, Intensivere auch den längeren Zeitablauf bedeutet. Dasselbe gilt für die Beurteilung des Alters, das mit Größe gleichgesetzt wird. Die Zeitperspektive entwickelt sich relativ spät anhand des geordneten Tagesablaufes, der schon aus diesem Grund pädagogisch bedeutsam ist. Die "Standpunktrelationen" gestern - heute - morgen machen bis ins 5. Lebensjahr den meisten Kindern Schwierigkeiten. Größere Zeiträume werden am besten mit Hilfe emotionaler Markierungspunkte erfasst. 7.5.1.3. Gestaltwahrnehmung: Größe, Form, Farbe, Raumlage Die Formwahrnehmung ist lebenswichtig und daher schon früh, im ersten Lebensjahr vorhanden. Das Kind kann schon mit etwa 8 Monaten Gesichter unterscheiden. Die ersten konkreten Merkmale, die unterschieden werden, sind Größenunterschiede. Unterschiede zwischen Längen, Höhen, Flächen und Farbtönen zu erkennen, - 24 - bereitet schon Dreijährigen geringe Schwierigkeiten, wenn es sich um den Vergleich von zwei Elementen handelt, dagegen können erst etwa 5-jährige Reihen bilden und mehrere Elemente miteinander vergleichen. Da nur eine Dimension der Wirklichkeit erfaßt wird, bestehen vor dem 5. Lebensjahr häufig Schwierigkeiten beim Vergleich nach zwei Richtungen - oben und unten. Mängel treten bei entsprechender Lebenserfahrung nicht im sensumotorischen Bereich auf, sondern beim Verbalisieren, wenn Kinder nicht lernen, die Unterschiede, die sie erkennen, auch zu benennen. Sehr früh, im 2. Lebensjahr, besteht gegenständlichen Gebilden gegenüber eine gewisse Raum-Lage-Indifferenz. Kleine Kinder merken oft nicht, daß sie ein Bilderbuch verkehrt halten, sie erkennen die Gestalten auch in invertierter Lage. Schon ab etwa 3 Jahren erfährt diese Raum-Lage-Indifferenz eine Korrektur durch die Lebenserfahrung des Kindes. Die Raumlage von abstrakten Gebilden hat in der natürlichen Lebenssituation dieses Alters dagegen geringe Bedeutung. Hier steht das Gestalterkennen im Vordergrund. Der Lagerung der Gestalt nach oben, unten, rechts und links gegenüber sind viele Kinder bis ins 6. Lebensjahr indifferent. Dann allerdings wird diese Art der Differenzierung für das Erlernen des Lesens und Schreibens wichtig. Die verbale richtige Bezeichnung von links und rechts fällt vielen Schulanfängern noch sehr schwer. Linkshänder sollen nicht zum Gebrauch der rechten Hand gezwungen werden! 7.2.1.4. Der Mengenbegriff Der Mengenbegriff im Vorschulalter ist gekennzeichnet durch das Fehlen des Begriffs der Mengenkonstanz. Die Mengenlehre dient der Übung von Merkmalsunterscheidungen und zum Gruppieren von Mengen. 7.2.1.5. Die Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmung (Auffassung) Die Meinung, dass Kleinkinder durchwegs eine globale Gestaltauffassung haben, wurde in den letzten Jahren widerlegt. Versuche haben vielmehr gezeigt, daß schon Vierjährige Details isolieren und verschiedene Bilder und Objekte auf das - 25 - Vorhandensein von Unterschieden untersuchen können. Das Finden von Unterschieden ist dabei leichter als das Finden von Gleichheiten, der Vergleich von zwei Objekten leichter als der Vergleich eines Objektes mit mehreren anderen. Die Fähigkeit zum teilinhaltlichen Erfassen von Details ist weitgehend eine Funktion der Aufmerksamkeit. (Konzentrationsfähigkeit). Teilinhaltliches Erfassen lässt sich trainieren; die Fortschritte durch Kurzzeittraining bleiben nur erhalten, wenn nach dem Ende des Trainings ähnliche Anregungen geboten werden. 7.2.2. Das Gedächtnis Die größte Leistung des frühkindlichen Gedächtnisses liegt im Bereich der Sprache - vorausgesetzt, daß die entsprechenden Anregungen vorhanden sind. Im übrigen erinnert sich das Kind an Erwartungen und an emotional positiv oder negativ besetzte Personen, Objekte, Ereignisse und Orte. Die Selektion aus der Fülle der auf das Kind eindringenden Reize ist mitbestimmt durch den Egozentrismus dieser Altersstufe. 7.2.3. Die Intelligenz "Intelligenz ist der Leistungsgrad der psychischen Funktionen in ihrem Zusammenwirken bei der Bewältigung neuer Situationen". Am Anfang der Intelligenzentwicklung steht das Erfassen von Beziehungen auf der sensumotorischen Ebene (Werkzeugdenken). Höhere Leistungen, vor allem auf sprachlichem, nicht anschaulichem Gebiet, sind hingegen an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die im Vorschulalter erworben werden müssen. Es sind dies die Benennungen von Gegenständen, Tätigkeiten und Merkmalen, die ihrerseits das Unterscheiden von Merkmalen sehr erleichtern. Die Merkmalsdiskriminierung ist die Voraussetzung für das Lernen von Begriffen. Das Verfügen über Begriffe ermöglicht erst das Lernen von Regeln, was wiederum Voraussetzung für das Problemlösen auf höherer Ebene ist. 7.2.4. Neue Formen und Strukturen des Denkens - 26 - Das Problemlöseverhalten verlagert sich beim Vorschulkind vom praktischen Handeln auf die Vorstellungsebene. So gelingt allmählich die Loslösung vom Wahrnehmbaren, von der konkreten Einzelsituation zugunsten einer gedanklichen Vorwegnahme der Lösung auf Vorstellungsebene. 7.2.5. Die Begriffsbildung Zu Beginn der Sprachentwicklung finden wir bei sehr geringer Objekterfahrung eine übergreifende Generalisierung von Merkmalen. Mit zunehmender Differenzierung bilden sich Individualbegriffe, die später zu Gattungsbegriffen generalisiert werden. Damit vollzieht sich gegen Ende des Vorschulalters eine erste Ablösung des Denkens von konkreten Sachvorstellungen. Der Übergang von der perzeptuellen Begriffsbildung (Gruppierung nach wahrnehmbaren Gegenstandsmerkmalen) zur Bildung von Oberbegriffen bildet die relationale Begriffsbildung, d.h. ganz vom Eigenerlebnis bestimmtes Inbeziehungssetzen von Dingen zu vertrauten Lebensbereichen. 7.2.6. Wahrnehmungsdifferenzierung und Intelligenz Ab dem Alter von etwa 4 1/2 Jahren korreliert die visuelle Differenzierungsfähigkeit hoch mit der messbaren Intelligenz. Die Fähigkeit, durch realistische Hinwendung zur Umwelt Wahrnehmungsinhalte teilinhaltlich zu erfassen, ist wahrscheinlich eine wesentliches Charakteristik der Intelligenz dieser Altersstufe. 7.2.7. Die Theorie der Intelligenzentwicklung nach Jean Piaget Die Entwicklung der Intelligenz kann auch als Prozess einer Veränderung von Denkstrukturen aufgefasst werden. Das geschlossenste System der Intelligenzentwicklung, das auf diesem Grundgedanken aufbaut, wurde von Jean Piaget entwickelt. - 27 - Er versuchte anhand zahlreicher Experimente nachzuweisen, dass in der Entwicklung intelligenten Verhaltens typische Strukturveränderungen zu beobachten sind. Piaget sieht Intelligenz als einen Prozess, der zwischen Individuum und Umwelt ein Gleichgewicht (Äquivilibration) herstellt, und der sich aus einfachsten Formen der Umweltbegegnung zu einer immer komplexeren und reversibleren Form der Umweltbewältigung entwickelt. Zur Beschreibung dieses Prozesses dienen u.a. folgende drei zentrale Begriffe: Kognitives Schema, Assimilation und Akkomodation. Die Entwicklung der Intelligenz wird stufenförmig dargestellt (Sensumotorik, anschauliches Denken, konkrete Operationen, formal logisches Denken). Im ersten Lebensjahr befindet sich das Kind im Stadium der Sensumotorik von etwa dem Beginn des zweiten lebensjahres an bis zu ungefähr 7 Jahren (Schuleintritt) in der Phase des anschaulichen oder voroperatorischen Denkens. In der sensumotorischen Intelligenz unterscheidet Piaget die folgenden Stufen: 1. Übung angeborener Reflexmechanismen. 2. Primäre Kreisreaktionen. Eine Handlung, die zu einem angenehmen Ergebnis führt, wird wiederholt. 3. Sekundäre Kreisreaktionen (Differenzierung von Mittel und Zweck). 4. Die Koordinierung der erworbenen Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen. 5. Tertiäre Kreisreaktionen. Die Entdeckung neuer Handlungsschemata durch aktives Experimentieren. 6. Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung. (Werkzeugdenken, Aha-Erlebnis). Die Entwicklung der Symbolfunktion Wichtige Etappen des Verinnerlichungsprozesses, der auf der Stufe des anschaulichen Denkens voll ausgebildet ist, sind das Entdecken der Objektpermanenz (ca. 6. - 8. Monat), das Nachahmungsverhalten und Symbolhandlungen. - 28 - Die wichtigsten Charakteristika des voroperatorischen anschaulichen Denkens: Die Kinder denken und urteilen in Analogien. Sie nehmen animistische Weltdeutungen und finalistische Erklärungen vor. Der Egozentrismus des Kindes ist vorherrschend. Das Denken ist durch eine eingeschränkte Beweglichkeit und ein fehlendes Gleichgewicht charakterisiert. 7.4 Piagets Theorie in der Kritik Die Befunde Piagets über die Entwicklung von Denkstrukturen konnten in Nachuntersuchungen im Wesentlichen bestätigt werden. Allerdings legen die Ergebnisse zahlreicher Experimente eine Revision der Theorie auch in wichtigen Grundannahmen nahe. So wird in neuerer Zeit vor allem Piagets Stufenmodell kritisiert und die Entwicklung von (Wissens)bereichsübergreifenden Denkstrukturen angezweifelt. Ein wichtiger Anstoß zur Revision der Piagetschen Theorie kommt aus der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung. Zentraler Kritikpunkt ist die Annahme, dass zwischen dem Denken des jüngeren Kindes (bzw. Erwachsenen) strukturelle, qualitative Unterschiede bestehen; dass also die Vielzahl der Veränderungen im kognitiven System auf eine überschaubare Zahl wichtiger globaler Strukturveränderungen zurückzuführen ist. Eine solche synchrone Veränderung über alle Wissensbereiche (Domänen) hinweg ließ sich aber nicht nachweisen. In zahlreichen Untersuchungen zeigte sich, dass Kinder viel früher zu bestimmten kognitiven Leistungen fähig sind als Piaget angenommen hat. So unterscheidet sich z.B. das kausale Denken von Vorschulkindern nicht wesentlich von dem Erwachsener. Schon 6 Monate alte Säuglinge erkennen einige Aspekte mechanischer Verursachung. Es dürfte also viel mehr Wissen angeboren sein als früher vermutet wurde. Manche Säuglingsforscher folgern deshalb, dass der Prozess des Wissenserwerbs im Laufe der Entwicklung nur ein Prozess der Anreicherung angeborener begrifflicher Strukturen sei, nicht ein aktiver Prozess der Umstrukturierung wie Piaget annahm. Allerdings lässt sich auf diese Weise nicht erklären, wieso „kindliche Denkfehler“ gegenüber Instruktion erstaunlich resistent - 29 - sind. Bei „Irrtümern“ von Kindern scheint es sich um alternative Denkweisen, andere „Weltbilder“ zu handeln. Sie zu verändern bedarf es offenbar eines „Paradigmenwechsels“ bzw. einer Umstrukturierung des Wissens Der Unterschied dieses Erklärungsansatzes zu Piaget besteht in der Bereichsspezifität der angenommenen Veränderungen: In unterschiedlichen Wissensbereichen können sich wesentliche Veränderungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollziehen. Auf diese Weise können die Probleme einer bereichsübergreifenden Strukturveränderungstheorie umgangen werden, ohne dass die Vorstellung von tiefgreifenden Restrukturierungsprozessen im Laufe der Entwicklung aufgegeben werden müsste. Die Diskussion um die Frage, ob Entwicklung als Anreicherungsprozess angeborener Mechanismen oder als aktiver Konstruktionsprozess zu verstehen ist, ist nicht abgeschlossen. Als Kompromiss werden in neuester Zeit von einigen Forschern zwei Arten von Wissenserwerb unterschieden: Kernsysteme und Theorien. Kernwissenssysteme sind angeboren, bereichsspezifisch und steuern die Lösung von Alltagsproblemen. Durch Lernprozesse wird Wissen an die Kernwissenselemente angelagert und bereichert diese. Die Bildung von Theorien setzt dagegen die Fähigkeit zur Konstruktion und Rekonstruktion (Revision) voraus. Für die Aneignung unseres Kulturwissens sind Theorien unerlässlich. 7.5 Der Aussagewert von Intelligenztests im Kleinkindalter Der prognostische Wert des Intelligenzquotienten im Vorschulalter ist gering, am größten in den extremen Bereichen, d.h. bei sehr großen Entwicklungsrückständen oder -vorsprüngen. Aufgrund der Eigenwilligkeit des Kleinkindes ist die Testung äußerst problematisch. 8. Die Entwicklung der Sprache Die Entwicklung der Sprache kann nach folgenden Stufen beschrieben werden: - 30 - - Vorsprachliche Phase Zunächst äußert sich das Kind durch Weinen oder Schreien; später kommen Lall- und Gurrlaute dazu, die eine differenziertere Äußerung erlauben. Allmählich bilden sich die Laute und Lautkombinationen der Muttersprache heraus. Durch den sogenannten biologischen Spiegel" macht das Kind auch in dieser Phase wichtige sprachliche Kommunikationserfahrungen. Die Art, wie die Pflegeperson in dieser Zeit sprachlich mit dem Kind kommuniziert, legt eine wichtige Basis für die weitere Sprachentwicklung. - Wunschwörter Gegen Ende des ersten Lebensjahres äußert das Kind die ersten Wörter. Diese haben Wunschcharakter. Man spricht auch von der Einwortphase. - Mehrwortsätze Allmählich werden zwei und mehr Wörter aneinandergereiht; meist ein Substantiv im Nominativ und ein Verb im Infinitiv. - Nennwortphase Das Kind erfasst, dass Dinge einen Namen haben (Fragealter). - Hauptsatzstadium Bis etwa zur Vollendung des dritten Lebensjahres kann das Kind grammatisch richtig sprechen. Allmählich treten danach auch Satzverbindungen und Satzgefüge auf. Die Entwicklung der Sprache ist stark von der Förderung durch die Umwelt abhängig und von der Bedeutung, die Sprache in der jeweiligen Umwelt hat. (Restringierter und elaborierter Sprachkode! Kontextabhängigkeit des restringierten Kodes). Die Sprache des Kleinkindes ist stark durch seine egozentrische Grundhaltung geprägt. Die Abnahme des Egozentrismus (Kontextabhängigkeit) wird ebenfalls durch sprachliche Lernerfahrungen gefördert. 9. Die Entwicklung des Spiels - 31 - Es gibt verschiedene Theorien des Spiels. Das Spiel wird als Gegensatz zur Arbeit definiert. Ein wesentlicher Aspekt des Spiels ist "Zweckfreiheit", das heißt der Zweck liegt im Spiel selbst. Die Tätigkeit des Spiels wirkt selbst als Anreiz, diese weiter auszuüben. (Aktivierungszirkel, intrinsische Motivation). Man unterscheidet verschiedene Arten des Spiels: Funktionsspiele Symbolspiel werkschaffendes Spiel Rollenspiel Regelspiele Das Spiel ist für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung. Bei Kindern wird das Spiel auch therapeutisch eingesetzt. Eine Literaturauswahl Ein Überblick über die Entwicklung im Vorschulalter wird in allen entwicklungspsychologischen Lehrbüchern gegeben, z.B.: Nickel, H. (1972). Einführung in die Entwicklung des Kindes- und Jugendalters, Bd. 1. Bern: Huber. Oerter, R. (198620). Moderne Entwicklungspsychologie. Donauwörth: Auer. Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.) (1995). Entwicklungspsychologie. München: PVU. In Ergänzung zu einzelnen Kapiteln der Vorlesung werden noch folgende Bücher empfohlen: 1. Geschichte und Theorienbildung in der Entwicklungspsychologie - Montada, L.: Themen, Traditionen, Trends. In: Oerter/Montada (Hrsg.): s.o. Kap. 1. - Oerter, R.: Moderne Entwicklungspsychologie. S.o., Kap. 1 2. Methoden der Entwicklungspsychologie - 32 - Nickel, H. (1972).S.o., Kap. 3 - Petermann, F. (1982). Daten, Dimensionen, Verfahrensweisen. In: Oerter/Montada(Hrsg.), Kap.16. 3. Das erste Lebensjahr, Entwicklungstendenzen im Vorschulalter - Nickel, H.: s.o., Bd. 1. Kap. 4, 5, 6. - Papousek, H. & Papousek, M. (1979). Lernen im ersten Schuljahr. In: Montada, L. (Hrsg.): Brennpunkte der Entwicklungspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. S. 144-212. - Rau, H.: Frühe Kindheit. In: Oerter & Montada (Hrsg.): s.o., Kap. 4. 4. Lernen - Edelmann, W. (1996). Einführung in die Lernpsychologie. Weinheim: Beltz/PVU. - Weidenmann, B. & Krapp, A.(Hrsg.)(2001). Pädagogische Psychologie Weinheim: Beltz, Kap.5. 6. Bindung, emotionale Beziehungen - Keller, H. (Hrsg.) (1997). Handbuch der Kleinkindforschung. Berlin: Springer. 7. Intelligenzentwicklung - Montada, L.: Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets. In: Oerter & Montada (Hrsg.) s.o., Kap.4 und 13. - Oerter R.: Moderne Entwicklungspsychologie. s.o., Kap. 4. - Piaget, J. (1970). Psychologie der Intelligenz. Zürich. - Schenk-Danzinger, L. (1976). Entwicklungspsychologie. - Wien: Österr.Bundesverlag. 8. Sprache - Oerter / Montada (Hrsg.),s.o. s.o., Kap. 12. - Oksaar, E. (1977). Spracherwerb im Vorschulalter. Stuttgart. 9. Spiel - Einsiedler, W. (1985) (Hrsg.). Aspekte des Kinderspiels. Basel. - Einsiedler, W. (1990). Das Kinderspiel. Bad Heilbrunn: Klinkhard - Flitner, A. (1978). Das Kinderspiel. München. Übungsaufgaben 1. Wie hat man die menschliche Entwicklung in der Antike, im Mittelalter, in der Neuzeit gesehen? 2. Wie unterscheidet sich die Haltung der Aufklärung von dem Gedankengut Rousseaus? - 33 3. In welcher Weise beeinflussen die Ideen von Spencer und Darwin die Fragestellungen der Entwicklungspsychologie? 4. Wie lautet das biogenetische Grundgesetz? Wer hat es formuliert? Wie beeinflußte es das Denken bedeutender Entwicklungspsychologen? 5. Welche entwicklungspsychologischen Fragen stellte die Völkerpsychologie, die Tierpsychologie und die vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie)? 6. Beschreiben und erklären Sie die wichtigsten Forschungstraditionen in der Entwicklungspsychologie des 20. Jahrhunderts! Geben Sie Beispiele für Fragestellungen, charakterisieren Sie die jeweiligen Grundannahmen und erklären Sie typische Methoden! Erklären Sie die Schulen der Entwicklungspsychologie! 7. Was ist der Gegenstand und was sind die Aufgaben der Entwicklungspsychologie? 8. Womit beschäftigt sich die entwicklungspsychologische Theorienbildung? 9. Was bedeuten die Entwicklungsprinzipien: Zentralisation, Differenzierung und Kanalisation? 10. Welche Faktoren beeinflussen die Entwicklung? 11. Welche Aussage machen die Stufentheorien und die Theorien, die Entwicklung als kontinuierlichen Prozess darstellen? 13. Nennen und beschreiben Sie die wichtigsten älteren und neueren Methoden der Entwicklungspsychologie. 14. Was bedeuten die Gütekriterien Objektivität, Reliabilität, Validität?. Nennen Sie Beispiele! 15. Welche Entwicklungsabschnitte können im ersten Lebensjahr festgestellt werden? 16. Mit welchen Begriffen kann das Weltbild des Vorschulkindes beschrieben werden? Gehen Sie näher auf diese ein. 17. a) Geben Sie ein Beispiel für eine klassische Konditionierung. b) Bezeichnen Sie in diesem Beispiel den unkonditionierten Stimulus (US), die unkonditionierte Reaktion (UR), den konditionierten Stimulus (CS) und die konditionierte Reaktion (CR). 18. Erklären Sie an einem Beispiel das Prinzip des operanten Konditionierens. 19. Nennen Sie die Formen von Verstärkung und Strafe. Geben Sie dazu ein Beispiel - 34 20. Erklären Sie das Prinzip der Löschung. 21. a) Definieren Sie Modellernen. b) Nennen Sie wichtige Voraussetzungen für Modellernen 22. Definieren Sie "Objektstufe". Wann wird sie erreicht und welche Stufen gehen ihr voraus? 23. Was versteht man unter Hospitalismus? 24. Welche Versuche führte Harlow zur näheren Bestimmung der Mutter-Kind-Beziehung durch, und was zeigen diese? 25. Wie erklären die älteren Theorien und die neueren lerntheoretischen Erklärungsversuche die Folgen von Mutterentbehrung? 26. Ist die Situation von Kindern berufstätiger Mütter mit der von Heimkindern gleichzusetzen? 27. Geben Sie einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zur Entstehung von Bindung. 28. Was besagt das Bindungskonzept nach Mary Ainsworth? Erklären Sie, wie sich nach ihr die Mutter-Kind-Beziehung entwickelt. 29. Beschreiben Sie die verschiedenen Bindungsqualitäten. 29a Beschreiben Sie kurz das Prinzip des Fremde-SituationsTests. 29b Welche Verhaltensweisen seitens der Mutter gelten als Variablen der Bindungsqualität? Welche Begriffe erklären dies näher? 30. Welche Merkmale der kindlichen Umwelt wirken sich günstig auf die Entwicklung des Kindes aus? 31. In welchem Zusammenhang steht die Mutter-Kind-Beziehung mit der kognitiven Entwicklung des Kindes? 32. Welche Bedeutung hat die Bindung an einen Erwachsenen für ein Kind? 32a Was versteht man unter dem „inneren Arbeitsmodell“? Welche Bedeutung hat es im Laufe der Entwicklung? 33. Über welche Prozesse lernt ein Kind die Geschlechtsrolle? Erklären Sie diese Prozesse! 34. Beschreiben Sie kurz die ersten drei Phasen der Sexualentwicklung nach Freud! 35. Beschreiben Sie klassisches Konditionieren und erklären Sie, wie auf diesem Weg Angst gelernt wird. 36. Gibt es ein "Trotzalter? - 35 - 37. Welche Entwicklung nimmt das soziale Verhalten (Freundschaften und kooperatives Verhalten) im Vorschulalter? 38. Welche Funktion haben Streitereien bei Kindern? 39. Was versteht man unter Leistungsmotivation? Erklären Sie die Begriffe Kausalattribution und Anspruchsniveau in diesem Zusammenhang! 40. Erklären Sie den Zusammenhang zwischen Raumorientierung (Tiefensehen und Wahrnehmungskonstanz) und der sensumotorischen Entwicklung. 41. Was versteht man unter der topologischen Raumwahrnehmung des Kindes? 42. Wie nehmen Kinder Zeit und Raum wahr? 43. Wie entwickelt sich die Formwahrnehmung? Welche Beziehung besteht zum Erwerb der Kulturtechniken? 44. Was versteht man unter dem Begriff der Mengenkonstanz? 45. Beschreiben Sie die Richtung der Intelligenzentwicklung! 46. Beschreiben Sie die Entwicklung von Begriffen! 47. Erklären Sie den Zusammenhang zwischen Wahrnehmungs- und Intelligenzentwicklung im Vorschulalter! 48. Erklären Sie den Begriff Äquilibration im Zusammenhang mit der Intelligenzentwicklungstheorie Piagets! 49. Was versteht Piaget unter den Begriffen kognitives Schema, Assimilation und Akkomodation? 50. Nennen und erklären Sie die Entwicklungsstufen in der sensumotorischen Intelligenz. 51. Erklären Sie die Entwicklung der Symbolfunktion. 51a Erklärungen Sie die Kritik an dem Konzept Piagets. Was besagen Anreicherungsmodelle? Was wird im Gegensatz Dazu als Theorie verstanden? 52. Warum ist die Diagnose der Intelligenz im Kleinkindalter schwierig? Geben Sie ein Beispiel! 53. Nennen und erklären Sie die Stufen der Sprachentwicklung! 54. Was versteht man unter restringiertem und elaboriertem Sprachcode? 55. Was bedeutet "egozentrisches" oder "kontextunabhängiges" Sprechen? 56. Nennen und beschreiben Sie die Entwicklungsstufen des Spiels! - 36 57. Welche Beziehung besteht zwischen Intelligenz-, Sprach- und Spielentwicklung? - 37 -