Sprache und Denken - Dysphagie

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Sprache und Denken II
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Sprache und Denken
Teil II: Denken gestört – Sprache gestört?
Thomas Helmenstein
Vorbemerkung
Frau Eckold ging in Ihren Ausführungen von der aphasisch gestörten Sprache aus und konnte aus dieser
Perspektive zeigen, daß Sprachverarbeitung und Denken zwei relativ eigenständige Funktionen des
Gehirns darstellen.
In meinem Teil des Vortrags nehme ich die entgegengesetzte Perspektive ein: am Beispiel der
Alzheimer-Demenz gehe ich vom beeinträchtigten Denken aus und frage, ob Alzheimer-Patienten
aphasisch sind oder ob die Krankheit durch andere, spezifische Sprachstörungen charakterisiert ist.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung vorweg: wenn ich fortan von "Demenz" spreche, meine ich
immer die Demenz vom Alzheimer-Typ, wenn ich hiervon einmal abweiche, werde ich das explizieren.
Zunächst werde ich einige Sätze sagen zu den Folgen einer dementiellen Erkrankung für Gedächtnis,
Denken und Persönlichkeit. Ich hoffe, daß diese Vorüberlegungen die Beantwortung der Frage nach der
Bedeutung von Sprachstörungen bei Demenz erleichtern.
Zur neuropsychologischen Demenzdiagnostik und der Frage:
Was bedeuten "Denken" und "Demenz" psychologisch?
Beginnen möchte ich mit der Frage: welche Hirnfunktionen einer Person sind erwartungsgemäß von einer
Demenz betroffen, was wird neuropsychologisch untersucht?
Wir versuchen, aus Anamnese, Fremdanamnese und Exploration, mit Fragebögen und Tests
Informationen zum Alltagsverhalten, zum psychischen Status und den kognitiven Leistungen unserer
Probanden zu erhalten.
Die Funktion "Denken", von der Frau Eckold schon gesprochen hatte, wurde mittlerweile "eingedeutscht" und
heißt hier "Exekutivfunktionen".
Sie wissen, Alzheimer-Diagnostik ist Ausschlußdiagnostik, prämorbides Funktionsniveau, mögliche
psychische Störungen und Verlauf der Symptomatik
müssen abgeklärt werden.
Alle diese Funktionen sind natürlich nicht unabhängig
voneinander, im Gegenteil. Diese Art der Gliederung soll
lediglich der Übersichtlichkeit dienen.
Nehmen wir gleich die "Exekutivfunktionen". Die Leistungen dieser Funktion lassen sich mit Problemlösen, Organisieren, Planen, Überwachen umschreiben. Dabei kommt aber auch der Steuerung von Aufmerksamkeitsprozessen und Gedächtnisleistungen eine große Bedeutung zu.
Die Exekutivfunktionen versetzen einen Menschen in die Lage, sich rasch an neuartige Situationen in
einer veränderlichen Umwelt anzupassen, sich mit ihr zielgerichtet auseinanderzusetzen.
Der Mensch erlebt sich dabei in einer ihm eigenen, relativ konstanten individuellen Struktur, seiner Persönlichkeit, die er notfalls anpassen kann, meist aber aufrechterhält. Hierbei nimmt das Gedächtnis die
zentrale Stellung ein.
Der Physiologe Ewald Hering könnte es für unsere Zwecke nicht besser gesagt haben:
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„Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen, und wie unser Leib in
unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele
ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke
zählt.“
Er spricht von der "bindenden Macht des Gedächtnisses", nennt damit seine wesentliche Funktion.
Durch unser Gedächtnis erleben wir unsere aktuelle Situation als natürliche Folge dessen, was vorher
war, was gegenwärtig ist und der Erwartungen, die wir im Moment an die Zukunft haben, kurz: wir
erleben uns in einem zeitlichen Kontinuum;
und da wir auch -im Wesentlichen- immer wissen, wo wir sind, ist es ein zeitlich-räumliches Kontinuum.
Durch eine Demenz wird dieses Kontinuum verletzt. Die Betroffenen erleben dies als Brüche in ihrer
Wahrnehmung der Umwelt und ihres Selbst. Das Bewußtsein zersplittert, wie Hering sagt, die individuelle
Struktur löst sich auf, das Denken ist nicht mehr angepaßt.
Im Innern reagieren die Betroffenen mit Angst, Depression oder Aggression, emotionale Veränderungen,
die wir von außen am veränderten Verhalten beobachten können.
Was stellen wir weiterhin fest?
Betrachten wir die "kognitive Trias" der Demenzdiagnostik. Zum Gedächtnis, zu dem ich mich gerade
geäußert habe, gesellen sich dabei die räumlich- konstruktiven Leistungen und die Sprache.
Daß sich "eine Struktur auflöst" wird zunächst bei der Überprüfung der konstruktiven Leistungen in der
Testsituation greifbarer, also:
zur Uhr! Eine beliebte Aufgabe in der neuropsychologischen
Diagnostik: die Probanden haben die Aufgabe, das Zifferblatt
einer Uhr zu zeichnen und die Zeiger auf eine bestimmten Zeit
einzutragen, bei mir immer auf 20 vor 4 Uhr.
Sie werden sicher mit mir darin übereinstimmen, daß eine
räum-liche Struktur in diesem ausgeprägten Fall sicher nicht
mehr zu erkennen ist.
Doch kommen wir an dieser Stelle zu unserem eigentlichen Thema: ist der Strukturverlust denn in den
Sprachleistungen nachweisbar?
Zur Sprache: finden wir spezifische Störungen bei Alzheimer - Demenz?
Ein Beispiel: eine Patientin (N) wird gebeten, ein Nashorn zu definieren
T.: Ein Nashorn.
N.: Ein Nashorn ... Die sind nicht bei uns, die sind nur ... in Griechenland oder so irgendwo, Türkei.
T.: Was ist ein Nashorn?
N.: Nashorn, die sind im Wasser drinnen.
T.: Stellen Sie sich vor, ich würde kein Nashorn kennen. Woran würde ich erkennen, daß es ein
Nashorn ist?
N.: Ich hab jetzt schon lange keine mehr gesehen. Früher war ich viel in Italien, da hab ich gekocht für
die Naturfreunde.
T.: Und dort gab`s Nashörner?
N.: Na, da sind wir halt viel herumgekommen, nicht. Ja, ich war einmal sehr tüchtig, aber die
Schicksalsschläge waren sehr hart.
Sie werden sicher mit mir übereinstimmen, daß die Äußerungen der Patientin auffällig waren, z.B.:
Das Wissen über das Nashorn beschränkt sich im Wesentlichen darauf, daß es in südlichen Ländern
lebt,
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das prägnante Merkmal, das es von anderen Exemplaren dieser Kategorie unterscheidet und dem Tier
den Namen gibt, wird mißachtet und
die Patientin leitet spontan zu autobiographischen Erinnerungen über.
Sie können erkennen, daß diese Auffälligkeiten kaum mit den Phänomenen aphasischer Sprache, wie wir
sie in den Vorträgen vorher kennengelernt haben, zu vergleichen sind, daß sie,
wenn wir das Schaubild (s.u.) wiederum bemühen, "weiter oben", bei den "höheren kognitiven Funktionen" an-zusiedeln sind. Es handelt sich hier um eine "sprachpragmatische" Störung.
Das pragmatische Sprachsystem hat
die Funktion, die kommunikativen Ziele
der Sprache auszuführen.
Grice (1975) hat vier Regeln aufgestellt,
die der Erfüllung von Kommunikationszielen der Sprache dienen. Während ich
sie Ihnen vorstelle, denken Sie an die
Patientin aus dem "Nashorn-Beispiel"!
Konversationsmaxime
1. Die Maxime der Quantität:
hier geht es um die Frage, ob der
Gesprächspartner eine ausreichende
Menge an Informationen übermittelt
oder ob er lediglich bruchstückhafte
Informationen gibt, deren Sinn erst
noch erschlossen werden muß, oder treten z.B nichtssagende Floskeln auf, Stereotypien,
Perseverationen oder Weitschweifigkeit?
2. Die Maxime der Modalität:
kann der Mitteilungsgehalt eines Gesprächsthemas erfaßt bzw.klar mitgeteilt werden oder treten
Themenwechsel und Gedankensprünge auf?
„Verstöße“ gegen diese ersten beiden Maxime sind die häufigsten pragmatischen Auffälligkeiten bei
leicht- und mittelgradiger Demenz und die o.g. Patientin „verstößt“ gegen beide.
3. Die Maxime der Relation:
ist der Gesprächsbeitrag am Gesprächspartner ausgerichtet?
Auch die Relation von wichtigen und unwichtigen Informationen in den sprachlichen Ausführungen ist
schon in frühen Demenzstadien beeinträchtigt
das Beispiel der Patientin paßt gut zu den vorherigen Überlegungen:
Wissen geht verloren, die Kontrolle über das Gespräch fehlt, der Zusammenhalt der Äußerungen, ihre
Struktur geht verloren.
4. Die Maxime der Qualität:
ist der Gesprächsbeitrag nicht irreführend, widerspruchsfrei in seinem situativ-kommunikativen
Kontext?
Treten z.B. „konkretistische“ Äußerungen auf?
Zum „Konkretismus“ ein Beispiel
T.: Kennen Sie das Sprichwort „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“?
S.:Ja natürlich!
T.: Können Sie mir sagen, was es bedeutet?
S.: Das bedeutet, daß wenn der Apfel reif ist und zu schwer, er dann gerade herunterfällt
und nicht weit weg vom Stamm.
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Das Denken ist auf das konkret Faßbare und Anschauliche gerichtet, ein anderer Zusammenhang der
Worte, der von den konkreten Dingen erst abstrahiert, erschlossen werden muß, wird nicht gefunden!
Das Bisherige kurz zusammengefaßt:
Pragmatische Störungen zeichnen sich dadurch aus, daß die Kommunikation wenig informativ ist, unklar,
nicht ausreichend strukturiert, mangelhaft dem Thema angepaßt; umgangssprachlich: „weitschweifig“
oder „den Faden verlierend“.
Pragmatische Störungen treten typischerweise in frühen KH-Stadien der Demenz auf.
Typischerweise. Nicht spezifisch.Denn auch bei rechtshirnig betroffenen Schlaganfallpatienten sehen wir
diese Form einer Kommunikationsstörung häufig.
Spezifischer: Demenz und Aphasie
Sind Alzheimer-Patienten auch aphasisch?
Betrachten wir die folgende Folie:
Die Beeinträchtigten sprachlichen Leistungen ähneln in der Beschreibung denen, die
wir in den Vorträgen von Dr. Rüffer und
Frau Pluschinski kennengelernt haben.
Aber sie sind ihrem Wesen nach mit einer
Störung der Exekutivfunktion erklärbar:
Die Störungen, die auf den sprachlichen
Leistungen sichtbar werden, kommen
dadurch zustande, daß schon der "Input"
in das Sprachverarbeitungssystem
fehlerhaft ist!
Schauen wir uns noch an, welche Störungen bei Demenz nicht zu erwarten sind, weil auch dies ja
differentialdiagnostische Bedeutung hat:
Nur am Beispiel der Agrammatismen
möchte ich Ihnen zeigen, daß manche
charakteristisch aphasischen Symptome
bei Alzheimer-Demenz in keinem KHStadium zu erwarten sind!
Frau Pluschinskis Beispiel "Laden gehen
einkaufen" werden Sie von einem
Alzheimer-Dementen nicht hören.
Die auffälligen sprachlichen Äußerungen
Dementer sind also nicht aphasisch.
Natürlich gibt es auch DAT-Patienten, die
aphasische Störungen aufweisen.
Dann sind diese jedoch durch ein
zusätzliches fokales Ereignis z.B. erklärbar,
nicht vor dem Hintergrund der Demenz!
Es gibt allerdings auch Beispiele, die sich nur langsam in eine Systematik einfügen wollen:
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T.: Sagen Sie mir doch bitte einmal, was folgendes
Sprichwort bedeutet: „Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm“.
R.: Das bedeutet, daß manche Menschen vom Apfel
abstammen.
T.: ...
Zusammenfassung
1. Denkstörungen und aphasische Störungen können zwar gemeinsam auftreten,
sie bedingen sich jedoch nicht gegenseitig.
2. Störungen der sprachlichen Funktionen bei dementiellen Erkrankungen
sollten nicht mit dem Terminus „Aphasie“, sondern sollten korrekter als
„Störungen des Sprachverhaltens bei Demenz“ bezeichnet werden.
3. Für die Therapie ist zu folgern, daß
sprachtherapeutische Maßnahmen für Demente unbegründet sind.
Literatur
(das "Nashorn-Beispiel ist entnommen aus:)
1. Goldenberg, G (1997). Neuropsychologie: Grundlagen, Klinik, Rehabilitation. Stuttgart: Gustav Fischer.
(empfohlene Literatur zur Vertiefung:)
2. Bayles KA, Kaszniak AW, Tomoeda CK: Communication and Cognition in Normal Aging and
Dementia. 1987, Texas: pro-ed.
3. Romero B (1997). Sprachverhaltensstörungen bei Morbus Alzheimer. In: Weis S, Weber G (Hrsg.),
Handbuch Morbus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose, Therapie.. Weinheim: Beltz PVU
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