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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
sic et non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. #8/2007
[www.sicetnon.org]
Stefan Schweizer und Pia-Johanna Schweizer
Leviathan und Lauschangriff
Abstract
Eine Legitimierung Politischer Ideengeschichte ergibt sich aus deren Nutzbarkeit zur Durchdringung moderner politischer Theorien oder Politikinhalte. Teilweise kann die Politische
Ideengeschichte aber auch manipulativ instrumentalisiert werden. Dann berufen sich z.B. Politiker auf Ideengeschichtler und möchten somit, gestützt durch die Wissenschaftlichkeit und
Autorität der politischen Philosophen, Policies in ihrem Sinne durchsetzen.
Der vorliegende Aufsatz Leviathan und Lauschangriff skizziert einen solchen möglichen
Missbrauchsfall, indem die Legitimierung des großen Lauschangriffs durch die politische
Theorie von Thomas Hobbes versucht wird. Erstaunlicher Weise ergibt sogar die Theorie
immanente Ebene von Hobbes zwei Lösungsmöglichkeiten: Einmal ist der große Lauschangriff zu rechtfertigen, da ein primäres Ziel des Staates in Hobbes’ Theorie im physischen
Schutz der Untertanen besteht. Zum anderen könnte man auch mit Hobbes auf der anthropologischen Grundkonstante der Unverletzlichkeit des Wohnraums insistieren, wodurch der
große Lauschangriff unzulässig wäre. Allerdings ist es nicht möglich einen politischen Philosophen wie Hobbes im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung argumentativ
zur Durchsetzung bestimmter Policies einzusetzen.
sic et non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. #8/2007
1
STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
Abstract............................................................................................................................................................... 1
1. Einleitung.................................................................................................................................................... 2
2. Grundgemeinsamkeiten von Kontraktualisten ................................................................................................ 5
3. Prinzipien der (rationalen) Rekonstruktion..................................................................................................... 7
3.1 Similarität.................................................................................................................................................. 7
3.2 Präzision.................................................................................................................................................... 8
3.3 Konsistenz................................................................................................................................................. 8
4. (Rationale) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“.................................................................................... 9
4.1 Biographischer Abriss von Hobbes' Leben und Skizzierung historischer Ereignisse bzw.
sozialgeschichtlicher Implikate ....................................................................................................................... 9
4.2 Hobbes' Wissenschaftsverständnis.......................................................................................................... 10
4.3 Das Menschenbild in Hobbes' „Leviathan“ ............................................................................................ 13
4.4 Der Naturzustand in Hobbes' "Leviathan" .............................................................................................. 16
4.4.1 Die natürlichen Gesetze und Verträge in Hobbes' „Leviathan“........................................................... 19
4.5 Der Vertrag in Hobbes' „Leviathan“....................................................................................................... 20
4.6 Monarchie, Aristokratie und Demokratie im „Leviathan“...................................................................... 22
4.6.1 Machtfülle des Staates in Hobbes' „Leviathan“ ................................................................................... 24
4.7 Über bürgerliche Gesetze, bürgerliche Freiheit, ..................................................................................... 26
bürgerliche Rechte und Pflichten in Hobbes' „Leviathan“............................................................................ 26
4.7.1 Über Verbrechen, seine Bestrafung und über irreguläre Vereinigungen in Hobbes' „Leviathan“....... 27
5. Problemlösung anhand der (rationalen) Rekonstruktion............................................................................... 28
5.1 Problemvorstellung und Begriffsklärungen ............................................................................................ 28
5.2 Möglichkeit zweier unterschiedlicher Lösungsansätze........................................................................... 30
5.3 Erster Lösungsvorschlag ......................................................................................................................... 31
5.4 Alternativlösung...................................................................................................................................... 34
5.5 Abwägen beider Lösungsvorschläge ...................................................................................................... 36
6. Abschlussdiskussion ..................................................................................................................................... 36
1. Einleitung
Die Ideengeschichte ist Teilbereich der klassischen politischen Theorie und sie hängt eng mit
der Politischen Philosophie zusammen. Politische Ideengeschichte beschäftigt sich mit einer
Heterogenität von Konzepten politischer Ideen, welche im Laufe der Menschheitsgeschichte
entstanden sind. Insofern ist die Behauptung sicherlich nicht falsch, dass die politische Ideengeschichte als eine Art Wissenschaftsgeschichte der Politischen Theorie betrachtet werden
kann.
Untersuchungen über moderne Demokratietheorien leisten meistens einen Rekurs auf die politische Ideengeschichte. Eine mögliche Entwicklungslinie verläuft von Aristoteles, Montesquieu, Rousseau, Tocqueville, Mill und Marx’ Vorstellungen über die Direktdemokratie in
der Pariser Kommune über Weber und Downs zur Vergleichenden Demokratieforschung.1
1
Vgl. Schmidt, Manfred: Demokratietheorien. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich 1997.
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Häufig unternehmen die Autoren, welche sich mit der Politischen Ideengeschichte beschäftigen, den Versuch einer Bewertung der diskutierten Konzepte. Klaus v. Beyme etwa klassifiziert und systematisiert politische Theorien von 1789 bis 1945 in Liberalismus/Radikalismus,
Konservatismus/extreme Rechte und Sozialismus/ Anarchismus/Kommunismus.2 Ob dieser
Systematisierungsversuch richtig und umfassend ist und wie viel Erklärungswert ihm beiwohnt, bleibe an dieser Stelle dahingestellt.
Nicht nur der innerwissenschaftliche Begründungs-, sondern auch der außerwissenschaftliche
Verwertungszusammenhang bedient sich gerne der Politischen Ideengeschichte, um Vorstellungen über die Demokratie und Politikinhalte, sogenannte Policies als konkrete Politikentscheidungen,3 zu legitimieren und plausibilisieren. Politiker berufen sich auf Traditionen politischer Vorstellungen und evozieren somit den Eindruck, dass ihre Ausführungen wissenschaftlich abgesichert und somit legitim seien.
Problematisch ist diese Vorgehensweise immer dann, wenn die Politische Ideengeschichte
von Politikern instrumentalisiert und manipuliert wird, um Ideen und Policies populär zu machen, welche dem Geist der Demokratie und dem Grundgesetz widersprechen. Ein solch fiktiver Missbrauchsfall wird im Folgenden am Beispiel der Politischen Ideengeschichte von
Thomas Hobbes und dem modernen Politikproblem des Großen Lauschangriffs geschildert.
Dabei wird Theorie immanent, d.h. innerhalb der Theorie von Hobbes argumentiert, vielleicht
so, wie ein Politiker des rechten Spektrums argumentieren würde, um seine Policy, hier die
Verschärfung der Überwachungs- und Sicherheitsgesetze, durchzusetzen, obwohl diese Policy eindeutig der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands widerspricht, falls
sie die Basiswerte der Demokratie missachtet.
Diesem Aufsatz ist also – in wenigen eigenen Worten zusammengefasst – folgende zu bearbeitende Gesamtproblemstellung vorgegeben:
Es sollen die de facto längst erfolgten Legitimationsmöglichkeiten bzw. -grenzen des „großen
Lauschangriffs“, also der in Deutschland früher zu Recht kontrovers diskutierten Erweiterung
der Rechte von Geheimdiensten und Vollzugsbehörden zur Belauschung privater Wohnungen, die vermutlich durch das organisierte Verbrechen bzw. deren Akteure als für Teile der
Exekutive (vermeintlich) unantastbare Rückzugsräume benutzt werden, anhand einer (rationa2
V. Beyme, Klaus, Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789-1945. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
3
Vgl. zum Begriff Policy Schweizer, Stefan, Politische Steuerung selbstorganisierter Netzwerke. Baden-Baden:
Nomos 2003, S. 24 ff.
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len)4 Rekonstruktion des kontraktualistischen Werkes „Leviathan“ von Thomas Hobbes aufgezeigt werden.
Auf den denkbaren Einwand hin, warum man denn zur Rechtfertigung eines aktuellen rechtlichen und politischen Problems Ende des 20. Jahrhunderts einen „politischen“ Philosophen
bemühen müsse, dessen Werk vor über 300 Jahren erstpubliziert wurde, könnte man antworten, dass aus der Sicht des empirisch-analytischen Wissenschaftsansatzes ältere historischpolitische Ideen auch heute noch brauch- und auf moderne Problemstellungen anwendbar
sind.5
Es liegt also mitunter im Erkenntnisinteresse der Gesamtdisziplin der Politischen Theorie,
Argumente und Konzepte von Philosophen für moderne Aufgabenstellungen nützlich zu machen bzw. zu instrumentalisieren. Wie oben angedeutet wurde, gibt es aber einerseits passende und andererseits nicht zulässige Anwendungen politischer Ideengeschichte auf die demokratischen Verhältnisse und Policies.
Um die Anwendbarkeit dieser älteren Ideen und Konzepte auf derartig zeitbezogene Problemstellungen zu ermöglichen, muss man die den Ideen und Konzepten zugrunde liegenden Texte
als Modell oder als Hypothese(n) rekonstruieren.6 Dazu wird die Methode der (rationalen)
Rekonstruktion gebraucht.7
Zuerst wird in diesem Aufsatz kurz darauf eingegangen, was unter den Begriff des Vertragstheoretikers bzw. Kontraktualisten zu subsumieren ist. Dabei wird aufgezeigt, welche Grundgemeinsamkeiten die drei klassischen Kontraktualisten Hobbes, Locke und Rousseau besitzen.
Als nächster Arbeitsschritt werden die drei Prinzipien der (rationalen) Rekonstruktion dargestellt.
Als Teil der (rationalen) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“ wird sodann ein kurzer
biographischer Abriss über das Leben von Thomas Hobbes gegeben. Er soll zu einem besseren Gesamtverständnis der Entstehungsgründe und -geschichte von Hobbes' politikwissenschaftlich relevantestem Werk beitragen. Gleichzeitig werden dabei in knapper Form gesellschaftliche, politische und historische Verhältnisse aufgezeigt, da davon ausgegangen werden
4
Zu der Klammerung des Begriffes „rational“, vgl.: Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995,
S. 57, Fn 12.
5
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S., S. 57.
6
Druwe, Ulrich: Studienführer Politikwissenschaft. Neuried: Ars Una 1994, S. 133.
7
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 57.
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4
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kann, dass sozialgeschichtliche Implikate sowie historische Hintergründe mitentscheidend für
den Entstehungsprozess und -zusammenhang eines politisch-philosophischen Werkes sind.
Dieses skizzenhafte Andeuten von Hobbes' Leben und den begleitenden zeitgeschichtlichen
Elementen beschränkt sich nur auf die zentralen Punkte.
Die (rationale) Rekonstruktion erfordert darüber hinaus, dass das Wissenschafts- und Begriffsverständnis des jeweilig zu rekonstruierenden Autors geklärt wird. Dieses Teilkapitel
steht wie der biografische Abriss zusammengefasst vor der Werkrekonstruktion des „Leviathan“.
Dem folgt die werkimmanente (rationale) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“.
Die (rationale) Rekonstruktion umfasst die für die Problemlösung relevanten Inhalte.
Danach wird Hobbes' Menschenbild, seine Darstellung des Naturzustandes mit den natürlichen Gesetzen und den Vertragsdefinitionen, die aus dem abgeschlossenen Vertrag resultierenden möglichen Staatsformen und die Beschreibung von bürgerlichen Gesetzen, bürgerlichen Pflichten und Verbrechen und deren Bestrafung erläutert.
Zum Abschluss wird die vorgegebene Problemstellung des „großen Lauschangriffs“ anhand
der (rationalen) Rekonstruktion gelöst.
2. Grundgemeinsamkeiten von Kontraktualisten
Die gemeinsamen Grundessenzen der älteren Vertragstheoretiker Hobbes, Locke und Rousseau darzustellen, ist ein schwieriges Unterfangen zu sein. Die Möglichkeit hierbei Verkürzungen, Pauschalierungen und unzutreffenden Aussagen zu unterliegen, ist groß. Das scheint
jedoch in der Natur der Sache zu liegen.
Dennoch möchte ich probieren, zum einen wichtige Grundgemeinsamkeiten und zum anderen
parallele Vorgehensweisen bzw. Strukturmuster dieser älteren Vertragstheoretiker darzustellen. Durch dieses Vorgehen soll der Blick für das vorgegebene Problem und seine Lösung
geschärft werden. Hat man nämlich einmal festgestellt, welche gemeinschaftlichen Charakteristika die drei erwähnten Vertragstheoretiker besitzen, so sind diese Punkte bei der (rationalen) Rekonstruktion zu berücksichtigen.
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Hauptziel und -anliegen der Vertragstheoretiker ist immer die allgemeine Legitimierung und
Etablierung von staatlicher Herrschaft.8 Staatliche Herrschaft soll vor allem damit gerechtfertigt werden, dass alle unter dieser staatlichen Herrschaft lebenden Menschen als Freie und
Gleiche genau dieser real-existierenden staatlichen Ordnung durch einen Vertrag zugestimmt
haben. Theoretisch muss die erneute Zustimmung zu der gewählten Herrschaftsart und -form
immer wieder aufs Neue erfolgen können.9 Alle Vertragstheorien können sich daher als Möglichkeit einer beliebig wiederholbaren Neuschöpfung des politischen Universums verstehen.10
Zunächst wird in den verschiedenen Vertragstheorien ein bestimmtes, jedoch unterschiedliches Menschenbild skizziert. Dieses Menschenbild ist in allen Ansätzen für die weiteren
Schlussfolgerungen bis zur eigentlichen Konstitution des Staates hin bestimmend.11
Nach diesen zunächst nur das Individuum betreffenden Überlegungen werden von den Vertragstheoretikern (das Kollektiv betreffende) Szenarien entworfen: Menschen treffen aufeinander und befinden sich in einem Zustand des (zumeist asozialen) Miteinanders, das insbesondere durch die Bedingungen einer materiellen Ressourcenknappheit bestimmt wird.
Typischerweise ist dieses menschliches Zusammenleben in dem zumeist als Ur- bzw. Naturzustand titulierten Szenario alles andere als erstrebenswert. Konkurrenz- und Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen gefährden das menschliche Leben. Dem Individuum wohnt
jedoch ein unveräußerlicher Selbsterhaltungstrieb inne, der durch die Gegebenheiten des Naturzustands aufs Äußerste gefährdet wird.
Dieser Selbsterhaltungstrieb ist (v.a. bei Hobbes) als eine allerhöchste Priorität besitzende
menschliche bzw. dem Menschen a priori immanente Eigenschaft zu verstehen.
Um diesen menschlichen Trieb zum Überleben bei jedem gleichermaßen gewährleisten zu
können, wird versucht, in ein „System der Kooperation einzutreten“.12
Dazu ist ein Vertragsabschluss nötig. Der Wille, den Vertrag abzuschließen, basiert also auf
nutzenmaximierendem Denken oder – anders ausgedrückt – auf ökonomischer Rationalität.13
8
Forsyth, Murray: Hobbes's contractarianism, in: Boucher, David: The social contract from Hobbes to Rawls.
London: Routledge 1994, S. 37.
9
Ballestrem, Karl: Vertragspolitische Ansätze in der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Politik. 30. Jahrgang (1983), S. 4.
10
Siep, Ludwig: Vertragstheorie, in: Bermbach, Udo, Kordalle, Klaus (Hrsg.): Furcht und Freiheit. LeviathanDiskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes. Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 130.
11
Dießelhorst, Malte: Nachwort, in: T. Hobbes, Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Reclam 1996, S.
310.
12
Ballestrem, Karl: Vertragspolitische Ansätze in der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Politik. 30.
Jahrgang (1983), S. 11.
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Wie in Kapitel 4.5 an Hobbes „Leviathan“ gezeigt wird, wird durch diesen Vertragsabschluss
Herrschaft überhaupt erst begründet und konstituiert. Dabei ist der Vertrag gleichzeitig Legitimationsfaktor für die gegründete Form der Herrschaft. Die Herrschaftsformen und -arten
können ganz unterschiedlicher Ausprägung und Natur sein.
Zusammengefasst handelt es sich in den Werken der erwähnten Kontraktualisten um vier verschiedene Bestandteile, die bei allen auftauchen:
1. Es wird ein bestimmtes Menschenbild entworfen.
2. Das entworfene Menschenbild wirkt sich bestimmend auf die Art des Naturzustandes aus.
3. Aus diesem (auf lange Sicht zumeist bedrohlichen) Naturzustand rettet sich der Mensch
durch einen Vertragsabschluss.
4. Der Vertragsabschluss konstituiert Herrschaftsform und -art.
3. Prinzipien der (rationalen) Rekonstruktion
Im Gegensatz zur Hermeneutik, die nach Dilthey als Kunst der Verstehenslehre schriftlich
fixierter Lebensäußerungen definiert wird,14 basiert die (rationale) Rekonstruktion auf einem
sprachlogischen Verfahren.15
Sie ermöglicht, sich mit philosophisch und politikwissenschaftlich relevanten Texten der Vergangenheit derart zu beschäftigen, dass diese trotz eines (großen) zeitlichen Abstands für den
heutigen Leser noch sinnhaft und aussagekräftig bleiben.16
Das Verfahren der (rationalen) Rekonstruktion umfasst drei Prinzipien, welche im Folgenden
kurz vorgestellt werden.
3.1 Similarität
Das erste Prinzip der (rationalen) Rekonstruktion wird Similarität genannt.17
13
Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1994, S. 54.
14
Hauff, Jürgen: Hermeneutik, in: Hauff, Jürgen et.al: Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft. Band 2. Frankfurt am Main: Hain 1991, S. 1.
15
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 57.
16
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 1.
17
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 57.
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Danach muss die (aus dem Text abstrahierte) Theorie so wiedergegeben bzw. dargestellt werden, dass sie in Einklang mit den Grundideen des Autors bleibt. Das bedeutet, dass konstruktive Tätigkeit und historische Methode miteinander verbunden werden müssen.18 Hierbei erweist sich als notwendig, dass man die Begriffs- und Problementwicklungen des Philosophen
untersucht sowie ggf. die entsprechenden geschichtlichen Hintergründe in Betracht zieht.19
Zentrales Anliegen ist dabei, dass man der Intention des Autors „möglichst nahe kommt“.
3.2 Präzision
Das zweite Prinzip der (rationalen) Rekonstruktion, welches Präzision heißt,20 fordert, dass
man die rekonstruierte Theorie durch präzise Begriffe darzustellen hat. Das bedeutet, dass
man gegebenenfalls Texte so reformulieren muss, dass sie in der heutigen Wissenschaftssprache stringent und nachvollziehbar bleiben.21
Anschließend sollte man in den Texten vorkommende Begriffe, die in anderen historischen
und gesellschaftlichen Kontexten andere Bedeutungen besaßen, in die moderne Wissenschaftssprache übersetzen, ohne dass dabei inhaltliche Bedeutungsverschiebungen entstehen.
3.3 Konsistenz
Das dritte Prinzip der (rationalen) Rekonstruktion heißt Konsistenz.22 Einschlägig ist es dann,
wenn einander widersprechende rationale Interpretationen eines Textes möglich sind. Ausschlaggebend ist hierbei der Grad der Adäquatheit.23 Unter dem Grad der Adäquatheit können
18
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 2.
19
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 2.
20
Druwe: Ulrich, Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 58.
21
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 2 ff.
22
Druwe: Ulrich, Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 58.
23
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 4.
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8
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so verschiedene Dinge wie Nähe bzw. Ferne zu der intuitiven Bedeutung eines Textes als
auch eine mehr oder weniger exakte Darstellung eines Textes subsumiert werden.24
Falls zwei Interpretationsmöglichkeiten eines Textes gleichberechtigt möglich sind, so ist der
konsistenteren (im Sinne von „zusammenhängend in der Gedankenführung“25) der Vorzug zu
geben.26 Um einen Text konsistent wiedergeben zu können, müssen die Anforderungen der
Similarität und der Präzision erfüllt werden, was darin mündet, dass der Text als stringente
und widerspruchsfreie Argumentation dargestellt werden kann.27 Aus der Darstellung der
dritten Anforderung der (rationalen) Rekonstruktion ergibt sich, dass der Text als mögliches
Modell oder als mögliche Theorie dargestellt werden muss. Anhand dieses Modells kann die
wissenschaftstheoretische Stringenz alter politischer, historischer und philosophischer Ideen
überprüft werden, wobei dies allerdings noch nichts über die Einschlägigkeit der Politischen
Theorie auf die Demokratie und bestimmte Policies aussagt, da lediglich eine Theorie immanente Überprüfung der Modellkonsistenz gewährleistet ist.
4. (Rationale) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“
4.1 Biographischer Abriss von Hobbes' Leben und Skizzierung historischer
Ereignisse bzw. sozialgeschichtlicher Implikate
Thomas Hobbes wurde 1588 als Vikarssohn in Wiltshire geboren und er starb 1679 in Hardwick. Seine akademische Karriere ging sehr zügig vonstatten; manche hielten ihn schon im
Kindesalter für ein Wunderkind, da er mit vier Jahren lesen und schreiben konnte. Bereits
1607, also mit 19 Jahren, erwarb er das Recht, an der Universität Vorlesungen über Logik
abhalten zu können.
Der englische Bürgerkrieg (1642-1649), in welchem der puritanische Heerführer Oliver
Cromwell (1599-1658) mit der Parlamentspartei gegen den katholischen Stuartkönig Karl I.
(1625-1649) kämpfte, war ein äußerst prägendes Ereignis für das staatsphilosophische Verständnis von Hobbes. Da er für die Seite der Krone eintrat und diese in der Auseinanderset24
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 4.
25
Duden: Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag 1989, S. 873.
26
Stegmüller, Wolfgang: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1970, S. 4 f.
27
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 58.
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zung unterlag, musste er zunächst 1640 nach Frankreich fliehen. Elf Jahre später erschien der
"Leviathan" in englischer Sprache. 1668 erschien der "Leviathan" erneut, aber diesmal in lateinischer Sprache verfasst und mit starken Modifizierungen und (vor allem) Abschwächungen (im religiösen Bereich) gegenüber der Erstausgabe.
Hobbes' Erfahrungen während des Bürgerkrieges, schließlich die Enthauptung Karls I. und
die Diktatur Cromwells bestimmten in großem Ausmaß die Konzeption des Buches „Leviathan“: Es „drängte sich der Friedensgedanke als Postulat an seine Realisierbarkeit auf; gleichzeitig deduzierte H. durch seine Analyse des Menschen und seiner gesellschaftlichen Existenz
die Unmöglichkeit eines Friedens.“28
Dieses absolut gesetzte Diktum zum Frieden wurde wie die anderen Teile des „Leviathan“
auch durch mathematische und mechanistische Methodik begründet.29
Es ist ersichtlich, dass Hobbes' Reflexionen real-historischer Geschehnisse ihren Niederschlag
in einem seiner wichtigsten philosophischen Werke fanden. Der Wunsch nach Frieden war
bei ihm wohl so stark vorhanden, dass er die scholastische Tradition der Wahrheitssuche hinter sich ließ und stattdessen das bereits erwähnte Primat des Friedens postulierte, wobei davon
ausgegangen werden muss, dass er „in seinem Denken nicht von einem Idealzustand der Welt
aus(ging, S.S./P.S.), sondern von den Tatsachen seines Erfahrungshorizontes.“30
Die Wirkungsgeschichte von Hobbes dauert sogar bis in die heutige Zeit, obwohl sein Theoriegebäude unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten sicherlich fragwürdig ist. Hobbes
gehört dennoch zum engeren Kanon der Philosophischen Fakultäten, und es werden immer
noch wissenschaftliche Bücher in großer Zahl über ihn publiziert.
4.2 Hobbes' Wissenschaftsverständnis
Im 17. Jahrhundert war die wissenschaftlich-philosophische Einheitsmethode vorherrschend,
mit der man versuchte, mathematische Sätze und Methoden auch auf andere Wissensgebiete
auszudehnen und anzuwenden.31
28
Schneider, Thomas: Hobbes, in: Lutz, Bernd (Hrsg.): Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern
bis zu den Neuen Philosophen. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 1995, S. 396.
29
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 128.
30
Schneider, Thomas: Hobbes, in: Lutz, Bernd (Hrsg.): Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern
bis zu den Neuen Philosophen. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 1995, S. 397.
31
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 39.
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Hobbes' bedeutsame Stellung hinsichtlich dieser bewussten Abwendung von der aristotelischscholastischen Tradition wird im Folgenden darzustellen sein.
Hobbes versuchte, naturwissenschaftliche Methoden auf die Politik (bzw. die Philosophie)
anzuwenden.32
Gerade an der Rekonstruktion von Hobbes Wissenschaftsverständnis kann man die Wirksamkeit und Bedeutung der Methode der (rationalen) Rekonstruktion aufzeigen. Zu Hobbes' Zeiten galt die von ihm u.a. verwendete Methode „analog zur Geometrie“ als empirisch.33 Die
empirische Geometrie galt für Hobbes als „Muster aller wahren Wissenschaft“.34
Nach heutigem Verständnis gehört die Geometrie als Teilgebiet der Mathematik jedoch unzweifelhaft zu den analytischen Wissenschaften. Deshalb folgt aus dem heute gängigen empirisch-analytischen Wissenschaftskonzept (welches nur zwei Wissenschaftssprachen kennt: die
empirische und die analytische), dass die von Hobbes im „Leviathan“ verwendeten Begriffe
als Axiome bzw. Definitionen verstanden werden müssen. Hobbes' Werk „Leviathan“ besitzt
somit keinen empirischen Gehalt, sondern es muss als Modell rekonstruiert werden.35
Als Teil der (rationalen) Rekonstruktion wurde bereits in Kapitel 4.1 aufgezeigt, aus welchen
historischen Kontextbedingungen Hobbes' Werk „Leviathan“ und die damit vorgestellte Legitimierung absolutistischer Herrschaft entstanden ist. Friedenswunsch und -denken waren zwei
der Hauptmotivationspunkte bei der Erstellung dieses Werkes. Klar und deutlich ersichtlich
wird dies auch dadurch, dass Hobbes im „Leviathan“ davon spricht, dass die Wissenschaft
„das Wohl der Menschen zum Ziel.“ (Lev, S. 45) hätte.
Durch die oben skizzierte Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf andere Wissensbereiche versuchte Hobbes, eine methodische Friedenswissenschaft zu entwerfen, welche
für die Praxis Gültigkeit besaß. Dadurch entstand ein Dualismus zwischen intellektueller Wissenschaft und praktisch-technischem Verfügungswissen. Die praktische Anwendbarkeit intellektuellen Wissens und die Sicherheit der aus Prämissen hergeleiteten Begründung sollten die
32
Euchner, Wolfgang: Thomas Hobbes, in: Münkler, Herfried, Fetscher, Iring (Hrsg.): Pipers Handbuch politischer Ideen. Band 3, München: Piper 1985, S. 353.
33
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 131.
34
Dießelhorst, Malte: Nachwort, in: T. Hobbes, Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Reclam 1996, S.
310 f.
35
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 132.
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Richtigkeit seiner Friedenswissenschaft und seines Friedensinstruments des Leviathan für alle
einsichtig machen und die Basis einer politischen Friedenstechnik garantieren.36
Hobbes' Verwendung einer „resolutiv-kompositiven“37 bzw. „resolutiv-kompositorischen“38
bzw. „analytischen“39 Methode ist in der Sekundärliteratur weitgehend unumstritten.
Wichtigstes Moment dieser Methode ist die Einsicht, dass Ursache- und Wirkungszusammenhänge zentral für Wissenschaftlichkeit allgemein sind, denn darin liegt die Erkenntnismöglichkeit impliziert, beliebig oft bestimmte Gegenstände auf Erzeugungs- bzw. Entstehungsbedingungen hin zu analysieren:
„nach Gefallen zu jeder anderen Zeit zu wiederholen; denn sooft wir sehen, woher,
woraus und wodurch gewisse Wirkungen entstehen, lernen wir auch, durch ähnliche
Ursachen, insofern sie in unserer Gewalt stehen, ähnliche Wirkungen hervorzubringen.“ (Lev, S. 44)
Diesem säkularisierten, da auf göttliche Hilfe und theologische Erklärungsversuche verzichtenden, kausal-determinierten Ansatz werden zwei weitere zentrale Kategorien, die der
Addition und Subtraktion (Lev, S. 39) und die der richtigen Begriffsdefinition, (Lev, S. 42)
als Grundpfeiler von Wissenschaftlichkeit an die Seite gestellt.
Diese Vorgehensweise liefert unstrittige und eindeutige Resultate, und sie ermöglicht bei der
exakt gleichen Vorgehensweise eine intersubjektive Überprüfbarkeit,40 welche in der heutigen
Wissenschaftstheorie als eine der drei Bestandteile des Rationalitätspostulats angesehen
wird.41
Hobbes' Modernität an diesem Punkt ist evident.
Aus dem bisher Gesagten lässt sich folgern: von Wirkungen bzw. Gegenständen wird auf Ursachen oder Prinzipien geschlossen. Dieser Teil wird der resolutive genannt.42 Bei manchen
Ursachen ist eine weitergehende analytische Zerlegung nicht mehr möglich. Setzt man nun
bei der gefundenen Ursache, also dem Punkt, an dem eine weitergehende analytische Zerlegung und Zurückverfolgung nicht mehr möglich ist, an und bewegt sich zur Wirkung fort, so
36
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 43 ff. und Dießelhorst, Malte: Nachwort, in: T. Hobbes, Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Reclam 1996, S. 311.
37
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 46.
38
Euchner, Wolfgang: Thomas Hobbes, in: Münkler, Herfried, Fetcher, Iring (Hrsg.): Pipers Handbuch politischer Ideen. Band 3, München: Piper 1985, S. 354.
39
Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1994, S. 59.
40
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 49.
41
Druwe, Ulrich: Studienführer Politikwissenschaft. Neuried: Ars Una 1994, S. 59.
42
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 51.
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12
STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
ist dies der kompositorische und eigentliche wissenschaftliche Teil, welcher sich dann in der
geordneten Darstellung „von Ableitungs-, Konstitutions-, Erzeugungs- und Begründungszusammenhängen“43 manifestiert. Die so gewonnenen analytischen Erkenntnisse kann man
„durch korrektes Schließen zu einer empirisch abgesicherten und logisch begründeten Theorie
zusammensetzen.“44
An diesem Punkt schließt sich der Kreis. Es war Hobbes' Vorstellung und Wunsch gewesen,
zu einer Friedenswissenschaft zu gelangen, die jedem gleich einsichtig zu sein hatte und welche nicht ohne weiteres durch (normative) Gegenargumente vom Tisch gewischt werden
könnte. Durch die gerade skizzierte Methode schien er dieses Ziel realisiert und alle potentiellen Kritiken im voraus eliminiert zu haben.
4.3 Das Menschenbild in Hobbes' „Leviathan“
Wie im zweiten Kapitel aufgeführt wurde, ist das Menschenbild der Kontraktualisten entscheidend für alle weiteren Schlussfolgerungen. So verhält es sich auch bei Thomas Hobbes'
Werk „Leviathan“.
Den Ausführungen von Kapitel 4.2 und insbesondere von Kapitel 3. zufolge, kann es sich bei
dem von Hobbes entworfenen Menschenbild nicht um eine empirisch-anthropologische Sichtweise mit einem unstrittigen Realitätsgehalt handeln.
Hobbes' Ausführungen zum Menschenbild müssen vielmehr als Axiome bzw. Prämissen aufgefasst werden.
Diese Feststellung darf allerdings nicht zu der Vermutung Anlass geben, dass dem Ganzen
überhaupt kein potenzieller Realitätsgehalt innewohnt, denn Hobbes versuchte sein axiomatisches Menschenbild so zu entwerfen, dass möglichst viele einen hohen Realitätsgehalt darin
zu erkennen glaubten.45
In der Einleitung zum „Leviathan“ erklärt Hobbes, dass der zu konstruierende Staat ein künstlicher Mensch zu sein hätte und dass man Analogien zwischen den Funktionsweisen eines
Menschen und denen eines Staates ziehen könnte. (Lev, S. 5 f.)
43
Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 51.
Euchner, Wolfgang: Thomas Hobbes, in: Münkler, Herfried, Fetcher, Iring (Hrsg.): Pipers Handbuch politischer Ideen. Band 3, München: Piper 1985, S. 354.
45
Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1994, S. 63.
44
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
Bei der Klärung von Hobbes' Wissenschaftsverständnis in Kapitel 4.2 wurde bereits darauf
hingewiesen, dass Menschen in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken vermögen.
Diese Fähigkeit zum Umgang mit Kausalzusammenhängen und zu ihrer Analyse ist ein sehr
wichtiges Axiom für Hobbes' Menschenbild. Ein anderer Terminus dafür ist der Begriff Vernunft. Die Vernunft und – mit ihr verbunden – die Furcht sind ganz wesentliche Merkmale,
welche für die Beendigung des Naturzustandes verantwortlich sind. Darauf wird an späterer
Stelle eingegangen.
Für sein weiteres axiomatisches Menschenbild konstatiert Hobbes, dass externe Gegenständlichkeiten zu Vorstellungen bzw. Erscheinungen führten, welche ihren Ursprung im „Sinn“
hätten. Diese Fähigkeiten der auf „Sinn“ fundierten visuellen, optischen, haptischen (etc.)
Perzeption legt den Grundstein für alle möglichen weiteren Vorstellungen bzw. Eindrücke.
(Lev, S. 11)
Die Erinnerungsmöglichkeit vieler Ereignisse nennt Hobbes Erfahrung. (Lev, S. 15) Als Pendant dazu setzt er die Klugheit, welche "in einer Vermutung über das Zukünftige besteht,
(und, S.S./P.S.) welche sich auf die Erfahrung der vergangenen Zeiten gründet“. (Lev, S. 26)
Hier wird ersichtlich, dass der von Hobbes fingierte Mensch ein voll reflexionsfähiges Lebewesen ist, welches die Möglichkeit besitzt, analytisch mit der Vergangenheit und Zukunft
umzugehen und mitunter auf diesen Analysen basierend sein Leben danach auszurichten. Diese Fähigkeit ist vom Potenzial her zunächst einmal allen Menschen gegeben.
Als nächsten Punkt seines axiomatischen Menschenbildes führt Hobbes die Sprache an, welche durch den Verstand hervorgebracht wird. (Lev, S. 20) Sprache kann in mündlich artikulierter und in schriftlich fixierter Form gebraucht werden. (Lev, S. 29) Nur durch die Sprache
selber wird es möglich, sich in Kategorien wie „wahr“ oder „falsch“ zu bewegen, da die beiden Kategorien „wahr“ oder „falsch“ nicht den Dingen selber immanent sind. (Lev, S. 33)
Leidenschaften wie Neigung, Hass, Freude und Schmerz (Lev, S. 51) und deren verschiedentlich starke Ausprägungen bei den Menschen sind nach Hobbes dafür verantwortlich, dass die
Menschen Sachverhalte nicht gleich schnell begreifen können. (Lev, S. 64)
Die Leidenschaften hängen immer sehr stark mit der Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen zusammen. Der relevanteste Punkt hinsichtlich verstandesmäßiger Unterschiede bei
den Menschen ist jedoch folgender:
„Die größte Ungleichheit unter den Verstandeskräften entsteht meistens aus dem
mehr oder weniger eifrigem Streben nach Macht, Reichtum, Wissenschaft und An-
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
sehen, welches alles schon in dem Worte Macht enthalten ist: da Reichtum, Wissenschaft und Ansehen eine Art von Macht in sich begreifen.“ (Lev, S. 68 f.)
Im 13. Kapitel beschreibt Hobbes den Naturzustand oder – anders formuliert – das (asoziale)
Zusammenleben bzw. Zusammentreffen von Menschen im außerstaatlichen bzw. vorvertraglichen Zustand. Dabei geht er noch einmal dezidierter auf körperliche und geistige
Unterschiede bei den Menschen ein und stellt fest, dass die durchaus vorhandenen
Unterschiede nicht allzu groß sind, da immer Kompensationsmöglichkeiten, z.B. durch
kollektive Zusammenschlüsse oder individuelle Listen, gegeben sind. Eventuell vorhandene
Ungleichheiten
werden
also
durch
unterschiedliche
Kompensationsmöglichkeiten
ausgeglichen, und der Mensch befindet sich in Hobbes' Modell in einem faktischen Zustand
der Gleichheit. Diese (natürliche) Gleichheit wird nun aber durch andere Eigenschaften und
Verhaltensweisen des Menschen auf das schärfste tangiert.
Quasi als Schlussfolgerungen aus seinen Prämissen der verschiedenen Leidenschaften des
Menschen konstatiert Hobbes, dass die von der Natur gegebene Gleichheit durch den Menschen nicht akzeptiert werden könnte und somit die ersten Konflikte zwischen den Menschen
vorprogrammiert seien, (Lev, S. 112 ff.) welche dann im vorstaatlichen Zustand besonders
gravierend zum Tragen kämen.
Aus dem bisher Gesagten sind insbesondere drei Punkte für die Rekonstruktion von Hobbes'
Menschenbild relevant.
Zum einen besitzt der Mensch einen eher unkontrolliert-animalisch wirkenden Teil, welcher
von Hobbes unter den Begriff der Leidenschaften subsumiert wird und der – wie bereits erwähnt – sehr eng mit der Bedürfnisbefriedigung verbunden ist. Dieser Teil besitzt, wie noch
aufzuzeigen sein wird, eine ganz wesentliche Funktion für das Nichtfunktionieren eines außerstaatlichen Zustands, weil er – insgesamt betrachtet – das Selbsterhaltungsinteresse der
Menschen gefährdet.
Zum anderen ist der Mensch aber auch zur Vernunft bzw. Klugheit befähigt. Diese könnte
man als antithetischen Teil zu den Leidenschaften betrachten. Die Vernunft ermöglicht es
dem Menschen, Betrachtungen in Kausalzusammenhängen anzustellen und eröffnet damit die
Möglichkeit, über Zukunft bzw. Vergangenheit Erörterungen in spekulativer Form anzustellen. (Lev, S. 26) Diese Vernunftfähigkeit ist ganz eng mit zwei weiteren, äußerst relevanten
Punkten von Hobbes' axiomatischem Menschenbild verbunden: dem Trieb nach Selbsterhaltung und der Todesfurcht.
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
Durch die vorhandene Vernunftfähigkeit kann es dem Menschen möglich sein, dass er nach
Wegen sucht, welche die Selbsterhaltung garantieren sollen.
Diese Prämisse wird im 13. Kapitel ausdrücklich erwähnt. Das fundamentale Selbsterhaltungsinteresse bildet die Basis (beinahe) aller menschlichen Handlungen, da es absolute Priorität besitzt und keinen anderen Interessen untergeordnet werden kann.
Aus diesem Blickwinkel sind alle folgenden Entwürfe von Hobbes, wie der des Naturzustandes und der der Staatskonstruktion, zu verstehen. Sie bleiben nur unter dem Gesichtspunkt
nachvollziehbar, dass der Mensch seinem Selbsterhaltungstrieb folgt, oder anders ausgedrückt: Jeder Mensch muss sich selber sein Überleben garantieren können.
Diesen Ausführungen zu dem axiomatischen Menschenbild von Hobbes muss hinzugefügt
werden, dass man sich bei ihnen den Menschen ohne jeglichen Staat vorzustellen hat. Schon
hieraus wird die Fiktivität des Ganzen ersichtlich, denn weder Hobbes selber noch seine Zeitgenossen lebten in einem außerstaatlichen Zustand. Diese fiktive Entstaatlichung des Menschen bedingt gleichzeitig einen Prozess der Naturalisierung.46
Was aus dem Gesagten folgt, ist die Darstellung bzw. der axiomatische Entwurf eines Menschen im Naturzustand. Hier stellt Hobbes nun Überlegungen an, was passieren könnte, ja
müsste, wenn die von ihm skizzierten gleichen Menschen in einem außerstaatlichen bzw. außervertraglichen Zustand aufeinander träfen. Diese Überlegungen über das Zusammenleben
von Menschen im Naturzustand bilden seinen zweiten großen methodischen Schritt in der
Gesamtkonzeption seines Werkes „Leviathan“. Sie sollen im folgenden beschrieben werden.
4.4 Der Naturzustand in Hobbes' "Leviathan"
In Kapitel 4.3 wurden Hobbes' Auffassungen von der Gleichheit der Menschen erwähnt. Diese Gleichheit gilt insbesondere für den allen Menschen innewohnenden Selbsterhaltungstrieb.
Dieser Selbsterhaltungstrieb wird jedoch dadurch gefährdet, dass zwei Menschen oft ein und
dieselben Güter begehren und deshalb oft nach dem Leben des anderen, also dem des Mitkonkurrenten, trachten. (Lev, S. 113 f.)
Die Selbsterhaltung ist immer auch eng mit der Sicherung und Wahrung von Besitz verbunden, und diese Besitzstandswahrung kann im Naturzustand nicht garantiert werden, da immer
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
die Chance besteht, dass jemand dem anderen nach dem Leben trachtet und seinen materiellen
Besitz raubt. Dieser Konflikt um die Güterverteilung impliziert die Schlussfolgerung, dass die
existenten Güter nicht zur Bedürfnisbefriedigung aller ausreichen. Es herrscht also eine für
alle gleichsam existente Ressourcenknappheit vor, welche das Leben der Individuen strukturiert und bedroht.
Die Saturierung individueller Bedürfnisse scheint nur bis zu einem gewissen Grad möglich zu
sein und hängt größtenteils von den Durchsetzungsfähigkeiten und
-möglichkeiten des Individuums ab.
Aus diesen Prämissen folgert Hobbes, dass sich die Menschen in diesem als Naturzustand
titulierten Szenario in einem Krieg aller gegen alle befänden. (Lev, S. 115)
Hierbei wird schon ein in seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzender Aspekt deutlich, der
beinahe allen diesen Prämissen innewohnt. Es ist der Gesichtspunkt der symmetrischen Äquivalenz, einer Gleichheit in gleicher Verteilung.
Für Hobbes sind alle Menschen hinsichtlich ihrer geistigen und physischen Fähigkeiten
gleich, alle Menschen werden von der Ressourcenknappheit im abstrakten Sinne gleichermaßen tangiert, alle Menschen haben die Möglichkeit, andere Menschen zu töten, und alle sind
deshalb von dem Krieg aller gegen alle faktisch betroffen.
Zum Krieg aller gegen alle macht Hobbes allerdings eine Einschränkung auf individueller
Ebene: Er räumt ein, dass nicht immer jeder mit jedem im Kriegszustand läge, der Kriegszustand zumindest aber auf einer höheren Ebene stattfände, wie z.B. auf der von König- und
Fürstenreichen. (Lev, S. 117)
Diese nicht sehr einladend wirkenden Skizzierungen können nach Hobbes keine moralische
oder ethische Kategorisierung erfahren, denn:
„Die Leidenschaften der Menschen sind ebensowenig wie die daraus entstehenden
Handlungen Sünde, solange keine Macht da ist, welche sie hindert; solange ein Gesetz noch nicht gegeben ward, ist es auch nicht vorhanden, und solange der Gesetzgeber nicht einmütig ernannt wurde, kann auch kein Gesetz gegeben werden.“ (Lev,
S. 116)
In diesem Zitat liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der bedrohlichen Triebstruktur des Menschen, die nur durch von allen legitimierte Gesetze eingeengt werden kann.
46
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Buchgesellschaft 1994, S. 63.
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Beim Nachvollzug von Hobbes' Menschenbild wird das dualistische, antithetisch anmutende
Moment des menschlichen Charakters deutlich. Der Mensch ist nicht nur ein Trieb-, sondern
auch ein Vernunftwesen.
Unter dem dem Hobbes’schen Menschen impliziten Vernunftbegriff kann man subsumieren,
dass der Mensch auch zu Kosten-Nutzen-Analysen fähig ist, da er seine Vernunft strategisch
und instrumentell einsetzen kann. Diese Eigenschaften und Fähigkeiten kann man unter den
Begriff des homo oeconomicus zusammenfassen.
Bei den von Hobbes beschriebenen Menschen dient die Vernunft dazu, das Leben zu erhalten
bzw. die im Naturzustand nicht sehr hoch ausfallende Lebensqualität zu steigern. Diese stark
eingeschränkte Lebensqualität im Naturzustand beschreibt Hobbes anschaulich mit den Worten:
„Da findet sich kein Fleiß, weil kein Vorteil davon zu erwarten ist; [...] ; statt dessen ein tausendfaches Elend; Furcht gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein
einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.“ (Lev, S. 115 f.)
Die Frage, die sich daraufhin stellt, lautet: Wie können die Menschen diesen unwünschenswerten Naturzustand durchbrechen, um ihn hinter sich lassen zu können?
In dem vorletzten Zitat von Hobbes (S. 15) zeigt er einen Ausweg aus diesem alle gleich
betreffenden Dilemma. Es muss eine allgemeine Macht von allen gleichermaßen etabliert
werden, damit Gesetze erlassen werden können, welche die Selbsterhaltung des Einzelnen
gewährleisten sollen.
Hier fällt wieder eine Symmetrie auf: Alle müssen der Macht zustimmen, und diese dann etablierte Macht kann dann für alle verbindliche Gesetze erlassen.
Der Regulierungsnotwendigkeit, der durch die Gesetze entsprochen werden soll, entsprechen
die durch die Gesetze regulierten Individuen. Die im vorstaatlichen Zustand vorhandene Variante der Deregulierung, nämlich „daß im Naturzustand alle ein Recht auf alles, die Menschen selbst nicht ausgenommen, besitzen“, (Lev, S. 119) muss wegen der Selbsterhaltung
aller
Menschen
dahingehend
transformiert
werden,
dass
diese
große,
von
der
Bedrohungssymmetrie ausgehende Gefahr beseitigt wird.
Hobbes muss nun Gründe dafür angeben, warum denn auch wirklich alle Menschen an der
Beseitigung des Naturzustandes interessiert sein sollen. Diese Gründe nennt er am Ende des
13. Kapitels:
„Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich geneigt machen können, sind die Furcht vor einem gewaltsamen Tod; ferner das Verlangen nach den zu
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
einem glücklichen Leben erforderlichen Dingen und endlich die Hoffnung, sich diese durch Anstrengung wirklich zu verschaffen. Die Vernunft aber liefert uns einige
zum Frieden führende Grundsätze, und das sind die natürlichen Gesetze“.(Lev, S.
118)
Die Vernunft und das mit ihr verbundene Selbsterhaltungsinteresse und, damit wiederum eng
verbunden, der Wunsch nach Besitzerwerb und -wahrung leiten den Menschen dazu, den Naturzustand zu verlassen.
Diese logische Folgerung von Hobbes hat u.a. den Gedankeninhalt, dass selbst derjenige, der
wegen verschiedener Vorzüge zunächst im Naturzustand zu profitieren scheint, daran interessiert ist, diesen zu verlassen. Der Grund dafür ist einfach: Auch für den zunächst im Naturzustand Begünstigten gibt es keine Garantie, seiner materiellen Güter und seines Lebens nicht
beraubt zu werden.
4.4.1 Die natürlichen Gesetze und Verträge in Hobbes' „Leviathan“
Die natürlichen Gesetze werden im Naturzustand durch die Vernunft gelehrt, und nach ihnen
dürfen die Menschen nichts tun, was sie als schädlich für sich selber erkennen würden. (Lev,
S. 118) Bei der Befolgung der natürlichen Gesetze überwiegt also der Vernunft- den Triebteil.
Allerdings werden die natürlichen Gesetze nicht immer eingehalten und dann überwiegt die
Triebstruktur. Das dualistische Menschenbild Hobbes' lässt sich nicht einfach als eine ausgewogene Balance zweier gleich starker Pole, denen der Vernunft und des Triebes, beschreiben.
Für die Rekonstruktion des „Leviathan“ sind die ersten beiden natürlichen Gesetze wichtig.
Das erste natürliche Gesetz lautet, dass man den Frieden suchen und ihm nachjagen solle.
(Lev, S. 119)
Das zweite natürliche Gesetz handelt von der Aufgabe von Rechten, welche man eigentlich
im Naturzustand hat, um sich dafür sein Leben und seinen Frieden zu sichern. (Lev, S. 119)
Diese beiden (Vernunft-) Gesetze sollen also zur Friedenserlangung beitragen; sie sollen Mittel und Wege aufzeigen, wie der Friedenszustand erreicht und garantiert werden kann.
Im 15. Kapitel nennt Hobbes 17 weitere Gesetze, welche für diese Rekonstruktion aber nicht
sehr relevant sind. Er fasst die Quintessenz dieser weiteren natürlichen Gesetze, die er teilweise sehr detailliert aufführt, mit dem Spruch zusammen: „Was du nicht willst, das dir geschehe, tue andern auch nicht!“ (Lev, S. 140)
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
In einem nächsten Schritt wird definiert, was unter dem Begriff Vertrag zu verstehen ist. Danach stellt die wechselseitige Übertragung eines Rechtes einen Vertrag dar. (Lev, S. 121)
Der Befolgung der natürlichen Vernunftgesetze und der Einhaltung von abgeschlossenen Verträgen liegt beinahe ausschließlich ein rein subjektives Interesse zugrunde. Durch die Gesetzesbefolgung respektive Vertragseinhaltung will zunächst einmal jeder seine Selbsterhaltung
garantieren. Es ist also insoweit durchaus vernünftig, die natürlichen Gesetze zu befolgen, um
daraus den subjektiven Nutzen der Selbsterhaltung zu ziehen.
Die mögliche Durchbrechung und Beendigung des Kriegs- bzw. Naturzustandes scheint gegeben zu sein, da der Frieden als das Gut gefunden wird, welches allen gleich stark aus
subjektiven Interessen nützt. Daraus ergibt sich, dass der Friede, der die Selbsterhaltung und
die Besitzstandswahrung garantiert, nicht nur subjektiven Vernunftansprüchen, sondern auch
objektiven genügt, da alle davon gleichermaßen profitieren. Subjektiver Vorteil ist somit
zugleich mit kollektivem Profitieren gleichzusetzen.
Ein gravierender Einwand bleibt aber bestehen, denn wer kann denn die Einhaltung dieser
natürlichen Gesetze garantieren?
Aus der Menschenbildprämisse und aus den Skizzierungen des Naturzustandes scheint eine
Garantie zur Einhaltung der natürlichen Gesetze nicht gegeben zu sein. Es reicht die Möglichkeit einer Durchbrechung der natürlichen Gesetze, um den Friedenserhalt und das höchste Priorität besitzende Ziel der Selbsterhaltung zu gefährden. Daraus lässt sich folgern, dass die natürlichen Gesetze den Naturzustand verhindern können, ihn aber nicht unterbinden müssen. Hobbes kommt also zu der Erkenntnis, dass dem Macht- und Konkurrenzstreben im Naturzustand
nur eine viel größere Macht effektiv entgegenwirken könne.
Bevor der Naturzustand endgültig zugunsten eines größeren Macht-, ja sogar institutionalisierten Zwangssystems verlassen wird, ist noch zu klären, durch welche Schritte dieser Wechsel vollzogen werden kann.
4.5 Der Vertrag in Hobbes' „Leviathan“
Für die Selbsterhaltung eines jedes einzelnen Menschen ist es unerlässlich, eine allgemein
verbindliche Macht zu installieren, die die Einhaltung von Gesetzen und Verträgen durch institutionalisierte Sanktionsmöglichkeiten garantieren kann. (Lev, S. 151) Diese Sanktions-
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
möglichkeiten waren im Naturzustand keineswegs auf einer objektiven, alle Menschen gleich
betreffenden Art existent. Es galt das Naturrecht und damit v.a. das Recht des Stärkeren bzw.
desjenigen, der sich durchzusetzen verstand.
Die Etablierung dieser allgemeinverbindlichen Macht oder – anders ausgedrückt – dieses
Staatswesens muss durch die Zustimmung aller an ihr beteiligten Individuen erfolgen.47 Wer
sich unter den Schutz der zu erschaffenden Macht stellen möchte, muss dies durch eine Willensäußerung kundtun.
Der Vorgang dieser Vertragsbildung sieht so aus, dass jeder seine Macht und Kraft freiwillig
auf einen Stellvertreter überträgt und dessen Handlungen als die seinigen akzeptiert. (Lev, S.
155) Auf den Kriterien der Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit ist der Vertrag fundiert.48 Auf
diese Weise entsteht der Staat oder Leviathan für alle diejenigen, die an dem Vertragsschluss
teilnehmen. Die Art des Vertragsvorgangs, die Konsequenz und das Ziel des Vertragsschlusses beschreibt Hobbes mit den Worten:
„Staat ist eine Person, deren Handlungen eine große Menge Menschen kraft der gegenseitigen Verträge eines jeden mit einem jeden als ihre eigenen ansehen, auf daß
diese nach ihrem Gutdünken die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung anwende.“ (Lev, S. 155 f.)
Jeder schließt mit jedem einen Vertrag ab, um seine Macht und natürlichen Rechte einem
Dritten zu unterwerfen bzw. abzugeben. In diesem Sinne kann man von einer Art Entäußerungsvertrag sprechen.49 Danach sind die Entscheidungen des Dritten als eigene Entscheidungen anzusehen. Die Entscheidungen des bevollmächtigten Dritten sollen dem Frieden und der
gemeinschaftlichen Verteidigung dienen.
Es bleibt festzuhalten, dass alleine der entstandene Souverän Rechte besitzt und dass er
Rechtsansprüche anmelden und durchsetzen kann. Gegen den Souverän kann man keinerlei
Rechtsansprüche anmelden. Es ist zu beachten, dass der Sinn und Zweck der Staatsgründung
die Garantierung der Selbsterhaltung war. Der Staat hat also ein Instrument zur Friedens- und
Lebenssicherung zu sein, auch wenn man den Souverän darauf vertraglich nicht festlegen
kann und die Vertragsmitglieder keine Möglichkeit besitzen, die Gesetze des Souveräns zu
ändern.
47
Forsyth, Murray: Hobbes's contractarianism, Boucher, David: The social contract from Hobbes to Rawls.
London: Routledge 1994, S. 37.
48
Schottky, Richard: Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18.
Jahrhundert (Hobbes, Locke, Rousseau, Fichte). Amsterdam: Rodopi 1985, S. 8.
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
Der Vertragsschluss stellt einen Gesellschaftsvertrag dar.50 Er unterwirft die Vertragschließenden einem Herrscher, der, wie bereits erwähnt, die Macht zur Einschüchterung der Untertanen besitzen muss. Der Staat oder Leviathan ist als „ein Kunstwerk oder ein künstlicher
Mensch“(Lev, S. 5) aufzufassen.51
Ferner handelt es sich um einen horizontalen Unterwerfungsvertrag, da diejenigen, die den
Vertrag schließen, sich der neu entstandenen Instanz unterwerfen und ihr keinerlei Widerstand entgegenbringen, wobei hervorzuheben ist, dass die Unterwerfungsinstanz nicht Vertragspartner ist.52
Noch drei weitere Komponenten des Vertragswesens sind hervorzuheben.
Da durch den Vertrag Herrschaft eigentlich erst konstituiert und legitimiert wird, handelt es
sich um einen Herrschaftsvertrag.53
Die zweite wesentliche Komponente betrifft den Vertragsschluss. Der Souverän selber ist
kein Vertragsmitglied, sondern er steht außerhalb des gesamten Vertragsgebildes:
„Andererseits schließt ja der, welchem die höchste Gewalt übertragen wird, mit denen, welche sie ihm übertrugen, eigentlich keinen Vertrag, und folglich kann er keinem Unrecht tun, weshalb ihm die höchste Gewalt genommen werden könnte.“
(Lev, S. 158)
Durch dieses Zitat wird die dritte wichtige Komponente ersichtlich. Bei dem Vertrag handelt
sich auch um einen Begünstigungsvertrag, da der Souverän durch den Vertrag unzweifelhaft
begünstigt wird.54 Da, wie schon aufgeführt, der Souverän selber kein Vertragsmitglied ist,
kann er mitnichten von seinen Untergebenen für irgendwelche Handlungen seinerseits zur
Rechenschaft gezogen werden.
4.6 Monarchie, Aristokratie und Demokratie im „Leviathan“
Hobbes beschreibt im 19. Kapitel des "Leviathan", wie der von ihm vorgestellte Staat aussehen könnte. Seine Staatsphilosophie wendet sich, nachdem Art und Weise der Staatsgründung
49
Siep, Ludwig: Vertragstheorie, in: Bermbach, Udo, Kordalle, K. (Hrsg.): Furcht und Freiheit. LeviathanDiskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes. Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 133.
50
Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1994, S. 83.
51
Hartmann, Klaus: Politische Philosophie. Freiburg: Alber 1981, S. 147.
52
Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1994, S. 85 f.
53
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 134.
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
beschrieben wurde, der Frage zu, wie denn die Staatsform nach dem Vertragsschluss konkret
auszusehen hat.
Drei verschiedene mögliche Staatsformen gibt es für Hobbes. Dabei folgt er zumindest im
terminologischen Bereich den bereits von Aristoteles entwickelten und beschriebenen Darstellungen:
„Deshalb kann es auch nur dreierlei Staatsverfassungen geben, nämlich die monarchische, bei der die höchste Gewalt in den Händen eines einzigen ist; die demokratische, bei der diese Gewalt von einer Versammlung, zu der jeder freien Zutritt hat,
ausgeübt wird, und die aristokratische, bei der die höchste Gewalt dem vornehmsten
Bürgerstande anvertraut ist.“ (Lev, S. 167)
Der Unterschied in den drei Staatsformen liegt für Hobbes darin, dass die Bürger unterschiedliche Mitwirkungsmöglichkeiten für die Friedenserhaltung haben. (Lev, S. 168)
Dass Hobbes für die Ausformung des Staates die drei verschiedenen Möglichkeiten der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie zugelassen hat, lässt sich sicherlich damit erklären, dass es ihm hauptsächlich auf das instrumentell-funktionale Wirken des Staates ankommt.
Der Leviathan soll den Menschen die Selbsterhaltung garantieren, den Eigentumserwerb ermöglichen und sie vor der Macht anderer Leviathane schützen.
Als in seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzendes und von der eigentlichen Staatsform bzw.
-verfassung unabhängiges Moment betont Hobbes die Notwendigkeit einer permanenten Kontinuität des Staatsgebildes. Da die Menschen, die den Staat bilden, sterblich sind, besteht die
Gefahr, dass der Staat nach dem Tode dieser Person(en) auch untergehen kann. Daher muss
eine Garantie geschaffen werden, die die Weiterexistenz des Staates ermöglicht:
„So wie also zur Errichtung eines Staates ein künstlicher Mensch nötig war, so ist
auch zur Fortdauer des Staates ein künstliches Leben erforderlich, weil sonst nach
einem Menschenleben mit dem Tode des Monarchen der ganze Staat untergehen
würde. Dieses künstliche Leben ist eben das, was Recht der Erbfolge genannt wird.“
(Lev, S. 174)
Das Frieden sichernde und Leben erhaltende Instrument des Staates muss also unabhängig
von der Existenz natürlicher Menschen gegeben sein. Die von Hobbes vorgegebene Lösung
ist die des Erbfolgerechtes.
54
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 134.
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
4.6.1 Machtfülle des Staates in Hobbes' „Leviathan“
Unabhängig davon, wie beim Leviathan die konkrete Ausgestaltung vorgenommen wird (Monarchie, Aristokratie, Demokratie); seine Kompetenzen und Befugnisse seien in jedem der
drei Fälle gleich.
Hinsichtlich der Kompetenzen und Befugnisse richtet Hobbes nunmehr sein Hauptaugenmerk
auf Machtbeschränkungen und -teilungen.
Hobbes rechtfertigt von vornherein alle möglichen Handlungen des Souveräns und möchte sie
gegenüber den Untertanen mit dem Argument unangreifbar machen, dass der Souverän selber
ja kein Vertragsmitglied sei. (Lev, S. 158 ff.)
Die Staatszwecke sind Frieden und Schutz, und alleine der Souverän kann geeignete Maßnahmen und Mittel zur Erlangung dieser Ziele bestimmen und für ihre Realisierung sorgen.
Diese Friedenssorge und -sicherheit gilt sowohl für die inneren Beziehungen des Staatswesens als auch für seine äußeren. (Lev, S. 160 f.) Um dies zu gewährleisten, wird dem Souverän eine große Kompetenzfülle eingeräumt.
Konsequenterweise spricht Hobbes dem Souverän das Recht zur Zensur zu, der von diesem
v.a. dann Gebrauch machen kann, wenn durch aufrührerische Reden und Schriften das
Staatswesen als solches gefährdet ist. (Lev, S. 161)
Weiterer, wichtiger Punkt staatlicher Kompetenzfülle ist die Legislative. Der Staat ist zur
Legislative berechtigt. Hobbes bringt das Recht der Gesetzgebung in den Zusammenhang mit
den Eigentumsrechten, welche bei ihm, wie schon aufgezeigt, eine wesentliche Rolle für den
Selbsterhalt spielen:
„die höchste Gewalt (hat, S.S.) das Recht, diejenigen Vorschriften zu erlassen, welche das Eigentum betreffen [...] was er (der Untertan, S.S./P.S.) mit Recht tun und
nicht tun dürfe.“ (Lev, S. 161)
Ferner vereint der Souverän in Hobbes Staatsmodell auch die Judikative in sich:
„(Es, S.S./P.S.) gehört [...] zur höchsten Gewalt, alle Rechtshändel der Wahrheit und
den Rechten nach zu untersuchen und alle Streitigkeiten zu entscheiden, mit einem
Worte: das Richteramt.“ (Lev, S. 162)
Hobbes begründet die Rechtsprechung durch die höchste Gewalt weiter damit, dass die Bürger ohne „Richteramt“ vor Unrecht nicht gesichert seien und sich wegen Eigentumsstreitigkeiten ansonsten in dem Zustand des Krieges aller gegen alle befänden. (Lev, S. 162)
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STEFAN SCHWEIZER UND PIA-JOHANNA SCHWEIZER: LEVIATHAN UND LAUSCHANGRIFF
Zur Judikative und Legislative kommt der Aspekt der ausführenden Gewalt hinzu. Der Souverän vereint auch die Exekutive in sich. Der ausführenden Gewalt misst Hobbes die größte
und höchste Bedeutung zu, da er sie als relevantesten Faktor für die Innen- und Außenstabilisierung des Staates ansieht:
„die höchste Gewalt (muss, S.S./P.S.) Krieg gegen andere Staaten nach Gutdünken
beschließen oder Frieden mit ihnen machen [...] Denn der Schutz der Bürger hängt
von den Kriegsheeren ab, die Stärke dieser von der Einigkeit des Staates und diese
allein von der Person des Oberherrn. Das Recht über die Kriegsheere ist schon an
und für sich die höchste Gewalt, weil darin die ganze Stärke des Staates besteht.“
(Lev, S. 162)
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Souverän in Hobbes' Staatskonstruktion eine extrem
große Machtfülle in sich vereinigt. Die Bürger geben alle gleichermaßen ihre Rechte und ihre
Macht auf und übertragen diese der höchsten Gewalt. Sie üben einen einseitigen Rechtsverzicht. Kausalgründe für diesen Rechtsverzicht waren das dualistische Menschenbild, das Szenario des Naturzustands und die Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. Gegen
den Souverän selber kann man keine Rechtsansprüche geltend machen. Man kann nur darauf
hinweisen, dass er eine Funktionalität hinsichtlich der inneren wie äußeren Friedenssicherung,
der Lebenserhaltung der Individuen und der Möglichkeit von Eigentumserwerb und (eventuell) -akkumulation besitzt.
Man könnte hinsichtlich der Machtfülle des Souveräns von absoluter Herrschaft sprechen und
davon, „daß absolute Herrschaft nicht nur eine hinreichende Bedingung, sondern auch eine
notwendige Bedingung für die Beendigung des Kriegszustandes und die Errichtung einer
friedlichen Koexistenzordnung ist.“55
Aus dem bisher Genannten kann man als Extremableitung folgern, dass es in Hobbes' Modell
zwischen der absoluten Herrschaft eines Souveräns und einer (möglichen) absoluten Anarchie
im Naturzustand keinen wahren Mittelweg gibt. Entweder es herrscht ein Krieg aller gegen
alle oder der höchsten Gewalt sind alle Bürger gleichermaßen untertan. Diese Pointierung
verdeutlicht den Gedankengang von Hobbes in nuce, da in seiner Theorie die Abwesenheit
des absoluten Souveräns mit Leib und Leben gefährdender Anarchie gleichzusetzen ist.
Allerdings muss man, wenn man die Theorie immanente Argumentation verlässt, an dieser
Stelle deutlich Kritik üben. Bei Hobbes gibt es keine Wertschätzung der Demokratie und es
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ist fragwürdig, ob Hobbes’ Begriff der Demokratie mit dem heutigen Demokratieverständnis
deckungsgleich ist. Als diesbezüglich äußerst problematisch ist der Gesichtspunkt, dass bei
Hobbes der Leviathan (d.h. der Souverän) nicht Vertragsbestandteil ist und somit nicht zur
Verantwortung gezogen werden kann. Dieses Verständnis widerspricht fundamental dem heutigen Demokratieverständnis. Bei Hobbes gibt es keine vernünftige Alternative zur unumschränkten Herrschaft eines absoluten Souveräns, wobei diese Einschätzung natürlich in heutigen Demokratien undenkbar sind. Somit wird offensichtlich, dass Hobbes’ analytische Offenheit hinsichtlich der Herrschaftsform (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) keinerlei
Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung des Staatswesens besitzt, da dieses absolutistisch
und autoritär, d.h. antidemokratisch ausgerichtet ist.
4.7 Über bürgerliche Gesetze, bürgerliche Freiheit,
bürgerliche Rechte und Pflichten in Hobbes' „Leviathan“
Bürgerliche Freiheit besteht für Hobbes in der Abwesenheit von externen Schranken und von
Regulierungsbeschränkungen; sie ist nur dort vorhanden, wo es keine vom Souverän gesetzten Regelungen gibt. (Lev, S. 187 und 190)
Die bürgerlichen Freiheiten verhindern nicht, dass der Souverän das Recht über Leben und
Tod der Staatsbürger innehat, (Lev, S. 190) denn er besitzt die „absolute Machtvollkommenheit“.56 Er ist selber kein Vertragsmitglied und kann damit nicht im rechtlich einklagbaren
Sinne von den Bürgern belangt werden.
Die natürlichen Gesetze werden durch den Vertragsschluss und damit durch den dafür autorisierten Herrscher in bürgerliche transformiert. Die Realisierung der bürgerlichen Gesetze ist
die logische Konsequenz der Kreierung des künstlichen Menschen.
Hobbes gesteht die Möglichkeit der Nichteinhaltung der bürgerlichen Gesetze ein und verweist im gleichen Atemzug auf die daraufhin drohenden Sanktionsmöglichkeiten der höchsten
Gewalt; die Sanktionen müssen größer sein als der Profit, den man sich von der Überschreitung der Gesetze verspricht (Lev, S. 189) und können letztlich den Verlust des Lebens bedeuten.
56
Euchner, Wolfgang: Thomas Hobbes, in: Münkler, Herfried, Fetcher, Iring (Hrsg.): Pipers Handbuch politischer Ideen. Band 3, München: Piper 1985, S. 359.
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Für Hobbes resultieren die bürgerlichen Rechte und Pflichten einerseits und die bürgerliche
Freiheit andererseits aus dem Akt der Unterwerfung und somit sind sowohl alle Rechte und
Verpflichtungen als auch alle Freiheiten vom Individuum selber gewählt und autorisiert. (Lev,
S. 193) Daraus lässt sich ableiten, dass Hobbes durch den Unterwerfungsakt eine Identität der
Willen von Herrscher und Untertanen sieht.
Als Modifizierung dieses an absolute Staatshörigkeit erinnernden Konstrukts gibt er an, dass
kein Bürger gezwungen werden könne, sich selber anzuklagen oder sich selber zu töten. (Lev,
S. 194 und 198) Es ist ersichtlich, dass hier die absolute Priorität des Selbsterhaltungstriebs
eine Rolle spielt, welche darin besteht, sich nicht unter allen Umständen um den Preis seines
eigenen Lebens dem Staate unterzuordnen.
Falls der Staat nicht mehr in der Lage sein sollte, die Selbsterhaltung der Bürger zu garantieren, so sind diese wieder auf sich selbst zurückgeworfen:
„Die Verpflichtung der Bürger gegen den Oberherrn kann nur so lange dauern, als
dieser imstande ist, die Bürger zu schützen; denn das natürliche Recht der Menschen
sich selber zu schützen, falls es kein anderer tun kann, wird durch keinen Vertrag
vernichtet [...] Der Zweck des Gehorsams ist Schutz; je nachdem man nun die Erfüllung dieses Zweckes von einem anderen oder von sich selbst erwartet, dringt die
Natur auf Gehorsam oder auf eigenes Streben.“ (Lev, S. 197)
Unter diesen Umständen kann der Absolutheitsanspruch des Staates und die damit verbundene verbindliche Einhaltung der Gesetze ihre Grenzen finden. Kann der Staat die ihm zugeschriebene Funktion des Schutzes zur Selbsterhaltung seiner Bürger nicht erfüllen, so ist auch
die Gehorsamspflicht der Bürger obsolet geworden.
4.7.1 Über Verbrechen, seine Bestrafung und über irreguläre Vereinigungen in
Hobbes' „Leviathan“
Für Hobbes können Verbrechen nur da existent sein, wo es Gesetze gibt, (Lev, S. 244) und er
sieht in einem Gesetzesbruch:
„auch eine gewisse Verachtung des Gesetzgebers, welcher als eine Verletzung seiner sämtlichen Gesetze anzusehen ist.“ (Lev, S. 243)
Nicht nur die ausgeführte Tat einer Gesetzesüberschreitung ist für ihn ein Verbrechen, sondern schon alleine der Vorsatz dazu. (Lev, S. 243)
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Verbrechen werden von Seiten des Staates bestraft, damit die Bürger präventiv abgeschreckt
und dadurch zum Gehorsam genötigt werden. (Lev, S. 258)
Insbesondere gibt es zwei Arten von Verbrechen, die die Stabilität des Staates in gravierender
Weise betreffen. Einmal können fehlerhafte Grundsätze und zum anderen können aufrührerische Lehren zu einer Instabilität des Staatsgebildes führen.57
Hobbes geht auch auf die Problematik von regulären wie irregulären Vereinigungen ein.
Während reguläre Vereinigungen der höchsten Gewalt im Staate untergeordnet sind, (Lev, S.
199 f.) bedrohen irreguläre Vereinigungen durch ihre Kompetenzansprüche die Souveränität
des Staates und werden mit Geschwüren verglichen, (Lev, S. 211) was die Vorstellung nahe
legt, dass irreguläre Vereinigungen entschieden bekämpft werden sollen.
Bevor zur Problemlösung übergegangen wird, ist hervorzuheben, dass es keinerlei Loslösung
oder Freiheit der Staatsbürger von den bürgerlichen Gesetzen geben kann, da diese die Menschen vor Übergriffen anderer Menschen schützen und damit verhindern, dass der Naturzustand erneut durchbricht.58 Hobbes kommt zu der Einsicht, dass nicht die Wahrheit für die
Setzung von Gesetzesnormen verantwortlich ist, sondern das alleine die Autorität des Herrschers für die Legislative verantwortlich zeichnet.59
Diese Einsicht entspringt rein utilitaristischen Gesichtspunkten. Nicht eine hehre Wahrheit
soll soziales Leben koordinieren und strukturieren, sondern die hobbessche Prämisse, dass die
Lebenserhaltung aller Untertanen allerhöchste Priorität bei der Ausprägung sozialer Strukturen besitzt.
5. Problemlösung anhand der (rationalen) Rekonstruktion
5.1 Problemvorstellung und Begriffsklärungen
Bevor zu der bereits in der Einleitung skizzierten Problemstellung der Legitimation des „großen Lauschangriffs“ aus der (rationalen) Rekonstruktion von Thomas Hobbes' Werk „Leviathan“ übergegangen wird, sind einige Begriffe zu klären. Herauszuheben ist, dass es sich bei
der Überprüfung der Kompatibilität von Hobbes’ Theorie und großem Lauschangriff um ein
57
Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995, S. 131.
Copleston, Frederick: A history of Philosophy: Volume 5. Modern Philosophy: The British Philosophers. Part
II Berkeley to Hume. New York: Image Books 1964, S. 54.
58
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fiktives Gedankenexperiment handelt, welches beispielsweise von Politikern des rechten
Spektrums geführt werden könnte, um eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze zu legitimieren. Dass eine solche Vorgehensweise der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung widerspricht, sei an dieser Stelle betont. Bei dem Folgenden handelt es sich also lediglich um eine
Theorie immanente Sichtweise von Hobbes’ politischer Theorie, um die Instrumentalisierbarkeit der politischen Ideengeschichte in Argumentationen von Politikern und der Exekutive des
Staates aufzuzeigen.
Der Vorschlag des„großen Lauschangriffs“ sah vor, dass es legalerweise den Geheimdiensten
und Vollzugsbehörden möglich sein soll, bei begründetem Verdacht private Wohnungen zur
Verbrechensprävention und -aufklärung abzuhören, da Privatwohnungen als intimer Rückzugsraum auch zur Verbrechensplanung und -koordinierung missbraucht werden könnten.
Dieses Abhören des gesprochenen Wortes in privaten Wohnungen wird unter Mithilfe technischer Geräte wie Wanzen und Richtmikrofonen geschehen.
Unter organisierter Kriminalität ist zu verstehen, dass es sich bei dieser Verbrechensform um
große, effiziente Vereinigungen mit straffen hierarchischen Strukturen handelt, die formal
damit unternehmensähnliche Züge aufweisen. Hauptziel der organisierten Kriminalität ist
Profitmaximierung, jedoch in Größenordnungen, die die von Unternehmungen um ein Vielfaches übersteigen.
Betätigungsfelder des organisierten Verbrechens sind insbesondere Rauschgifthandel, Menschenhandel jeglicher Couleur, Prostitution, Schutzgelderpressungen, Waffenhandel und
Wirtschaftskriminalität.
Dabei weist das organisierte Verbrechen heutzutage starke Globalisierungstendenzen auf.
Darunter wird verstanden, dass nationale Ebenen verlassen werden und Geld-, Kapital-, Waren- und Informationsströme keinen räumlichen Beschränkungen unterworfen werden.
Diese neuen Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität würden, so derlei Verlautbarungen, vom Staat erfordern, illegalen Herausforderungen mit neuen Strategien und Taktiken
zu begegnen. Ein mögliches Instrument der Verbrechensbekämpfung ist bzw. sei der „große
Lauschangriff“. Dabei stellt sich die Frage, ob z.B. in der Öffentlichkeit präsentierte Statistiken zum Thema Kriminalität nicht gezielt Ängste schüren wollen. Das dahinter stehende Kal-
59
Höffe, Ottfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat.
Frankfurt am Main 1987, S. 130.
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kül liegt in der Legitimierung von Behörden, welche sich mit der Verbrechensbekämpfung
befassen, außerdem werden Ressourcen- und Kompetenzerweiterungen angestrebt.
Die Rechtmäßigkeit des „großen Lauschangriffs“ wurde in der öffentlichen Diskussion kontrovers erörtert.
Aus dem Grundgesetz ließ sich dabei keine eindeutige Antwort hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des "großen Lauschangriffs" ableiten. Dies liegt v.a. an dem Spannungsverhältnis von
Art. 13 (1) GG und Art. 13 (3) GG. Art. 13 (3) GG enthält nämlich die Möglichkeit der Einschränkung von Art 13 (1) GG. Diese Einschränkung hat durch Gesetz zu erfolgen.
An der Problemstellung des "großen Lauschangriffs" kann sich die Fruchtbarkeit der Methode
der (rationalen) Rekonstruktion zeigen. Dabei wird deutlich, dass es der Teildisziplin der Politischen Theorie möglich sein kann, Politikberatung bei Problemen der politischen Tagesordnung zu leisten. Dass ideen- oder theoriengeschichtliche Texte dazu verwendet werden, welche meistens eine lange Zeit vor einer solchen Problemstellung und -lösung liegen, ist immerhin erstaunlich, da hierin die Problematik begründet liegt, in argumentativ und sachlich
schiefen Zusammenhängen zu argumentieren. Bewegt sich eine solche Vorgehensweise innerhalb des freiheitlich-demokratischen Rahmens des Grundgesetzes, so ist sie legitim und
kann auch durchaus erhellend wirken, da der Wertekanon der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung eine basale Axiomatik der bundesdeutschen Demokratie darstellt. Es wurde
bereits aber mehrfach auf die Gefahr eines Missbrauchs bei einer solchen Vorgehensweise
hingewiesen, wie es an unserem Beispiel von Hobbes und dem großen Lauschangriff deutlich
Im Folgenden werden für die Problemstellung zwei Lösungsmöglichkeiten erarbeitet. Diese
wird.
beziehen sich beide auf die rekonstruierte Theorie von Hobbes, folglich argumentieren sie
Theorie immanent. Erstaunlich ist dabei, dass sogar bei einer rein Theorie immanenten Argumentation zwei Lösungsvarianten denkbar sind.
5.2 Möglichkeit zweier unterschiedlicher Lösungsansätze
Es scheint auf der Hand zu liegen, dass man anhand der (rationalen) Rekonstruktion von Thomas Hobbes' Werk „Leviathan“ die Legitimität des staatlich verordneten „großen Lauschangriffs“ rechtfertigen kann (Kapitel 5.3). Eine Alternative zu dieser Lösung scheint wegen der
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erarbeiteten (rationalen) Rekonstruktion von Hobbes' Werk „Leviathan“ ausgeschlossen zu
sein.
Bei näherer Betrachtung der Dinge kommt man aber zu dem Schluss, dass es auch eine mögliche Alternative zu der den Lauschangriff bejahenden Lösung geben kann. Es sei vorweggenommen, dass die in Kapitel 5.4 aufgeführte Alternative ohne eine Problematisierung von
Hobbes’ Kontraktmodell und ohne weitere kritische Arbeiten zur Überwachung des Gesellschaftskörpers nicht so überzeugend wirkt. Sie wird aber trotzdem dargelegt, da angedeutet
werden soll, dass mit dem ersten Lösungsansatz keine unumstößliche Antwort vorliegt. Die
Alternative besteht darin, die Legitimation des „großen Lauschangriffs“ mit Zurückhaltung, ja
sogar mit Ablehnung, zu betrachten. Für diesen Lösungsansatz gibt es zwei Argumente. Bei
der zweiten Lösungsalternative scheint die Kompatibilität mit Hobbes’ Grundintention der
politischen Theorie eher fraglich. Allerdings wären hinsichtlich des Theorie immanenten Lösungsvergleichs weitere Arbeiten notwendig.
Für die erste Begründung ist entscheidend, wie man Wohnraum definiert, welchen Stellenwert man ihm einräumt und ob man eine generelle bzw. pauschale Ausweitung staatlicher
Präventions- und Sicherheitsbedürfnisse undiskutiert übernehmen kann und möchte.
Die zweite Begründung kann aus der Abwägung von Art. 13 (1) GG und Art. 13 (3) GG gewonnen werden. Bei Art. 13 (1) GG handelt es sich um ein Grundrecht. Dieses Grundrecht
kann durch Art. 13 (3) GG „zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für
einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung“60 eingeschränkt bzw. aufgehoben werden.
5.3 Erster Lösungsvorschlag
Der Modellmensch ist bei Hobbes mit Leidenschaften und Bedürfnissen ausgestattet. Als Gegenpol spielen die Axiome der Vernunft und Furcht eine große Rolle. Das dem homo oeconomicus eigene nutzenmaximierende Denken bildet einen weiteren Grundpfeiler des hobbesschen Menschenbildes. Das oberste Ziel dieses Menschen ist die Selbsterhaltung.
Aus dem Menschenbild von Hobbes lässt sich ableiten, dass eine Hinwendung zur organisierten Kriminalität zunächst mit rationalem Handeln gleichzusetzen wäre, da durch sie zunächst
60
Grundgesetz, in: Öffentliches Recht. Nomos-Verlags-Gesellschaft: Baden-Baden 1994, S. 7.
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Chancen bestehen, den für die Selbsterhaltung nicht irrelevanten Besitz zu erwerben. Man
könnte eventuell Vorteile im Güterverteilungskampf durch den hohen Organisationsgrad und
durch das kollektive Handeln erwerben. Gleichzeitig muss man aber auch auf die Gefahrenseite einer Hinwendung zur organisierten Kriminalität hinweisen, da z.B. durch bandeninterne
und -externe Verteilungskämpfe das Leben des einzelnen Menschen stark gefährdet wird.
Die hobbessche Darstellung des Naturzustandes suggeriert Ähnliches.
Gleiche Menschen befinden sich wegen vorherrschender Ressourcenknappheit in einem Güterverteilungskonflikt, welcher oftmals tödlichen Ausgang haben kann. Moralische Wertung
kann das Ganze nicht erfahren, da es keine allgemeinverbindliche Macht und keine für alle
gleich geltenden Gesetze gibt. Da diese Situation jedoch das Primärziel der Selbsterhaltung
gefährdet, betont Hobbes die Vernunftseite bzw. -komponente des Menschen und leitet daraus
natürliche Gesetze ab, welche die Selbsterhaltung garantieren sollen. Da aber kein institutionalistisches Zwangssystem die Einhaltung der natürlichen Gesetze und damit das Zurückdrängen des Naturzustandes garantieren kann, muss ein Staat gegründet werden.
Bis zu diesem Punkt wird ersichtlich, dass aus dem Modell von Hobbes eine große Furcht vor
etwas der organisierten Kriminalität Vergleichbarem und irregulären Vereinigungen herrscht.
Eventuell lässt sich eine abstrakte Parallele zwischen dem von Hobbes gefürchteten Bürgerkrieg und der organisierten Kriminalität ziehen. Beides impliziert (zumeist materielle) Verteilungskämpfe und Menschenrechtsfragen. Die Furcht lässt sich damit begründen, dass die organisierte Kriminalität hohe Gewinne auf Kosten anderer macht. Diese Kosten können so
hoch sein, dass sie massiv die Selbsterhaltungsinteressen von Individuen tangieren.
Hobbes' Lösung dieses Dilemmas besteht darin, dass jeder mit jedem einen Vertrag abschließt, um einen künstlichen Staat zu schaffen. Dieser Vertrag ist sowohl ein Entäußerungsals auch ein Unterwerfungsvertrag. Der Souverän ist kein Vertragsmitglied, und Rechte sind
gegen ihn nicht einklagbar.
Aus diesem Vertragsgedanken lässt sich zunächst eine eindeutige Rechtfertigung des „großen
Lauschangriffs“ ableiten. Rechte werden entäußert, und Menschen unterwerfen sich einem
Souverän, der selber kein Vertragsmitglied ist und somit kein Unrecht gegen seine Untertanen
ausüben kann.
Die Ausgestaltung dieses Staatswesens bleibt zunächst offen, obwohl Hobbes die Form einer
Monarchie favorisiert hat. In jedem Fall besitzt der Souverän bei Hobbes eine uneingeschränkte Machtfülle, welche demokratischen Vorstellungen zuwider läuft. Eine Gewaltentei-
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lung ist nicht existent, der Souverän vereinigt Legislative, Exekutive und Judikative in sich.
Alleine der Souverän bestimmt die Mittel, mit denen Frieden und Schutz im Staat hergestellt
werden können. Ferner bestimmt der Souverän Meinungen und Lehren sowie Eigentumsverteilung und Steuern.
Es wird klar ersichtlich, dass der „große Lauschangriff“ aus dieser Staatsdefinition heraus per
se gar keiner Legitimation bedürfte. Die Machtbefugnisse des Souveräns unterliegen gar keinen Restriktionen.
Es ist allerdings zu beachten, dass die Funktionalität der Staatsgründung erhalten bleiben soll.
Das bedeutet, dass der Schutz zur Selbsterhaltung nicht unterlaufen werden darf. Das scheint
bei dem „großen Lauschangriff“ mitnichten der Fall zu sein, denn durch die Bekämpfung der
organisierten Kriminalität werden die Bürger und ihr Leben geschützt.
Bürgerliche Freiheiten gibt es in dem hobbesschen Modell nur da, wo es keine gesetzlichen
Reglementierungen gibt. Das bedeutet, dass die bürgerlichen Gesetze bürgerliche Freiheit
determinieren. Neue gesetzliche Reglementierungen können von dem Souverän ohne „wenn
und aber“ erlassen werden. Die Untertanen haben in Hobbes' Staat keinerlei Möglichkeit gegen die Gesetze vorzugehen oder sie zu ändern.
Auch aus diesem Abschnitt ergibt sich eine problemlose Rechtfertigung des „großen Lauschangriffs“. Wo Gesetze ohne Kontrollzwang erlassen werden können, keiner gegen sie vorgehen kann und Gesetze dazu bestimmt sind, bürgerliche Freiheiten zu definieren, da ist jedes
neue Gesetz insoweit legitim, als es die Selbsterhaltung der Bürger garantiert.
Hobbes sah in illegalen und irregulären Vereinigungen ein großes Gefahrenpotential für den
Staat. Diese Sichtweise wurde mit Kompetenzstreitigkeiten mit dem Staat und Gefahrenpotenzialen für den Staat begründet. Mit aller Entschiedenheit, so hieß es, sollte gegen diese den
Staat bedrohenden Vereinigungen vorgegangen werden. Dieses Argument, nämlich, dass der
Staat mit aller Härte gegen ihn bedrohende Vereinigungen vorgehen solle, findet sich im politischen Diskurssystem v.a. dann, wenn der Staat sich von Gruppierungen attackiert fühlt.
Da es sich bei der organisierten Kriminalität um Vereinigungen mit hoher struktureller Organisationskraft handelt, wären diese von Hobbes als für den Staat besonders gefährlich eingestuft worden. Da das Ziel des Staates die Gewährleistung der Selbsterhaltung von Individuen
ist, lässt sich folgern, dass eine Bedrohung des Staates immer auch eine Bedrohung seiner
Untertanen impliziert. Auch aus diesen Überlegungen lässt sich die Einführung des „großen
Lauschangriffs“ ohne weiteres rechtfertigen.
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Insgesamt wurde deutlich, dass nach diesem Lösungsvorschlag der „große Lauschangriff“
ohne Bedenken durch die wissenschaftsimmanente (rationale) Rekonstruktion von Thomas
Hobbes' Werk „Leviathan“ gerechtfertigt werden könnte.
5.4 Alternativlösung
Bei der Alternativlösung muss die Akzentuierung v.a. auf der Komponente des Wohnraums
liegen. Diese Betonung der Wichtigkeit der Unverletzlichkeit des Wohnraums entspricht natürlich nicht so sehr den zeitgenössischen Tendenzen von Thomas Hobbes als eher einer
postmaterialistischen Sichtweise oder Lesart.
Nach dieser modernen postmaterialistischen Auffassung kann man behaupten, dass die Unverletzlichkeit des Wohnraums ein Grundrecht darstellt, welches für die individuelle Selbstverwirklichung unabdingbar ist. Man kann darüber hinaus von einer anthropologischen
Grundkonstante sprechen, die bei allen Kulturen bzw. Kulturkreisen anzutreffen ist: „Unabhängig von Wohnform und Hauskonstruktion gilt in allen Kulturen, dass man den privaten
Bereich ohne Einladung nicht betritt.“61
Durch den „großen Lauschangriff“ wird aber eine Wohnung sozusagen im akustischen Bereich ohne vorherige Einladung betreten. Schlimmer noch, die die Wohnung Benutzenden
wissen gar nicht, dass jemand ihre Wohnung „betreten“ hat. Sie fühlen sich also in ihrer Intimsphäre der Unverletzbarkeit der Wohnung geborgen wie eh und je.
Außerdem können sich aus den bei dem „großen Lauschangriff“ gewonnen akustischen Informationen durchaus dann bei den Belauschenden „visualisierte, optische“ Handlungsabläufe
in Form von assoziativen Vorstellungen zu dem gehörten Wort ergeben. Insgesamt ist die
Intimsphäre des privaten Wohnraums durch den „großen Lauschangriff“ immens diskreditiert.
Man stelle sich nur einmal vor, dass die Wohnung eines verdächtigen Pärchens abgehört wird.
Aus ermittlungstaktischen Gründen werden die Richtmikrofone und Wanzen sicherlich nicht
bei intimen Handlungen und Gesprächen der beiden abgestellt, da ja jederzeit wieder Kommunikation hinsichtlich organisierter Kriminalität stattfinden kann. Gerade in diesem Punkt
ist auch mit der Neugier der Belauschenden zu rechnen.
61
Grammer, Karl: My home is my castle. Behausung, Wohnen und urbanes Leben, in: Funkkolleg: Der Mensch.
Anthropologie heute. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen 1993, S. 16.
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Wenn man konstatiert, dass in Zeiten, in denen die materielle Grundversorgung der Bevölkerung weitestgehend sichergestellt ist, die Selbsterhaltung in mehr als nur dem nackten Überleben besteht, dann kann man folgern, dass zwischen Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung ein enger Zusammenhang besteht. Gerade die Selbsterhaltung ist es ja, die Thomas
Hobbes durch eine Staatsgründung gesichert sehen will. Die Verletzung des Wohnraums
würde dann also dem Primärzweck der Selbsterhaltung zuwiderlaufen. Hier muss eine genaue
Abwägung
zwischen
individuellen
Partikularinteressen
(der
Unverletzlichkeit
des
Wohnraums als Mitvoraussetzung der Selbsterhaltungsgarantie) und allgemeinen Interessen
(Tötung oder Schädigung anderer Individuen durch organisierte Kriminalität) stattfinden.
Ein weiterer Faktor, welcher gegen die Rechtfertigung des „großen Lauschangriffs“ sprechen
kann, ist das Spannungsverhältnis zwischen Art 13 (1) GG und Art 13 (3) GG. Der Art. 13 (1)
GG steht im engen Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentfaltung, der Privatsphäre des
Bürgers, und sein Sinn ist die Wahrung räumlicher Integrität und damit „der Schutz eines
räumlichen Bezirks, in dem der einzelne ungestört unbeobachtet tun und lassen darf, was ihm
beliebt“.62 Wieder kann man das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung in engen Zusammenhang mit der von Hobbes postulierten Selbsterhaltung setzen. Verstärkt wird dieser Argumentationsstrang dadurch, dass der Unverletzlichkeit der Wohnung ein Abwehranspruch
gegen den Staat innewohnt.63 Allerdings sieht das Grundgesetz auch Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 13 (1) GG durch den Art. 13 (3) GG vor. Die obige Argumentation wird
durch die Betrachtung des Art. 13 (3) GG nicht hinfällig, da ihm eine differenzierte Auslegung zugrunde liegt.64 Das bedeutet, dass der relativ weit gefasste Begriff der Wohnung am
meisten dort greift, wo sie auch als solche hauptsächlich benutzt wird (also nicht als Arbeits-,
Lagerungsstätte, Büroraum etc.). Bei der vorgegebenen Aufgabenstellung und dem damit
verbundenen „großen Lauschangriff“ handelt es sich aber um Privatwohnungen, welchen
dann der Abwehrbereich des Art. 13 (1) GG implizit ist.
Aus den vorgenannten Begründungen lässt sich der "große Lauschangriff" durch die (rationale) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“ kaum legitimieren.
62
Katz, Alfred: Staatsrecht. Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag 1994, S. 371.
Katz, Alfred: Staatsrecht. Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag 1994, S. 371.
64
Katz, Alfred: Staatsrecht. Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag 1994, S. 372.
63
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5.5 Abwägen beider Lösungsvorschläge
Es ist deutlich geworden, dass der erste Lösungsvorschlag plausibler und stringenter wirkt.
Die erste Lösung ist hinsichtlich des Werks „Leviathan“ von Thomas Hobbes konsistenter.
Sie ist sicherlich damit zu rechtfertigen, dass sie insgesamt wohl auch den Vorstellungen von
Hobbes nahe kommt.
Bei dem zweiten Lösungsvorschlag handelt es sich um eine Lösungsinterpretation, in der
auch moderne Sichtweisen und Faktoren berücksichtigt sind. Diese Variante ist nur durch die
zugegebenermaßen neuzeitliche Auffassung der sehr stark abstrahierten Gleichstellung von
Selbsterhaltung mit Selbstverwirklichung zu verstehen.
Aus Gründen der Konsistenz wirkt der erste Vorschlag gerechtfertigt. Dies bedeutet aber
nicht, dass ihm daher der Vorzug vor der modernen Sichtweise zu geben ist. Dafür wäre eine
weitere Auseinandersetzung oder Begriffsgeschichte des Privaten und Intimen vonnöten.
6. Abschlussdiskussion
In dieser Abschlussdiskussion wird die Ebene der Theorie immanenten Argumentation verlassen. Es dürfte deutlich geworden sein, welche Gefahren von einer Instrumentalisierung und
Manipulation politischer Ideengeschichte zur Legitimierung und Plausibilisierung von Policies ausgeht, welche grundlegenden demokratischen Werten, wie der Unverletzlichkeit der
Privatwohnung, fundamental widersprechen. Im Falle von Hobbes liegt die Ausgangsproblematik darin begründet, dass dessen Politische Theorie demokratischen Grundsätzen zutiefst
widerspricht und somit eine Anwendung derselben auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik nicht möglich ist.
Verliert man diese Grundprämisse allerdings einmal aus den Augen, so könnte man leicht der
Gefahr erliegen, der oben skizzierten „Theorie immanenten“ Diskussion zu folgen, zumal der
Anspruch der Wissenschaftlichkeit nicht zuletzt durch Verfahren wie die „Rationale Rekonstruktion“ gegeben zu sein scheint. In der wissenschaftlichen Nutzbarmachung politischer
Ideengeschichte für moderne Sachverhalte kann also ein großes Gefahren- und Manipulationspotential verborgen liegen. Politiker können so, vermeintlich durch die Wissenschaftlichkeit geschützt und die Autorität der politisch-philosophischen Denker der Vorzeit abgesichert,
Weltanschauungen und ideologische Tendenzen bei bestimmten Policies transportieren, wel-
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che dem demokratischen Freiheitssinn und der Unveräußerlichkeit der Privatsphäre widersprechen.
Beim vorliegenden Beispiel des großen Lauschangriffs müssten also, damit Politiker legitim
im demokratischen, bundesdeutschen Rahmen argumentieren könnten, andere Ideengeschichtler herangezogen werden. Ein besser passendes Beispiel wäre John Locke, welcher
auch ein Kontraktualist ist und mit seiner Konnotation des Individualismus und Privaten eindeutig zu einer Negierung des großen Lauschangriffs käme. Noch einschlägiger für moderne
Demokratien wäre die Rückbesinnung auf moderne Demokratietheoretiker und Staatsvertragstheoretiker wie John Rawls. Auch hier wird die Frage des großen Lauschangriffs abschlägig beschieden und die Unverletzlichkeit der Privatsphäre in den Mittelpunkt Argumentation gestellt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer seiner Entscheidungen ganz deutlich die Unverletzlichkeit der Wohnung hervorgehoben, auch dann, wenn Sicherheitsinteressen und Strafverfolgungsinteressen tangiert sind: „Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates findet nicht statt.“65 Insofern ist es geradezu einer der Grundwerte unserer
Demokratie auf der Unverletzlichkeit der Privatsphäre zu insistieren, auch in Zeiten „terroristischer“ und „krimineller“ Gefahren. Gerade hier zeigt sich die Stärke der Demokratie, welche eben nicht, um sich zu wehren, zu autoritär-diktatorischen Mitteln greift.
Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer, Stuttgart
65
BverfGE 109, S. 279 ff., 2. Leitsatz.
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