Seymour_Ansicht - junges

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schauspiel
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SEYMOUR
ODER ICH BIN NUR
AUS VERSEHEN HIER
ANNE
LEPPER
Benedikt greiner, andri schenardi, stéphane maeder,
milva stark, mona kloos, pascal goffin
SEYMOUR
ODER ICH BIN NUR
AUS VERSEHEN HIER
ANNE
LEPPER
besetzung
regie Dominic Friedel
bühne Olga Ventosa Quintana
kostüme Senta Amacker
licht Christian Aufderstroth
musikalische einstudierung Michael Frei
dramaturgie Sabrina Hofer
regieassistenz und abendspielleitung Claudia Bossard
souflage Gabriele Suremann
inspizienz Miklos Ligeti
bühnenbildassistenz Konstantina Dacheva
kostümassistenz Maya Däster
regiehospitanz Irina Amstutz
bühnenbildhospitanz Nina Nyfeler
leo Benedikt Greiner
robert Milva Stark
heidi Mona Kloos
oskar Stéphane Maeder
max Pascal Goffin
sebastian Andri Schenardi
technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch
merci
leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska
Ambühl
bühnenmeister Jean-Claude Bögli audio/video Marcel Schneider, Sebastian Hundius
requisite Karin Meichtry tapezierer Martin Bieri maske Elke Bardolatzi
Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern
hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei
Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter tapezierer Daniel
Mumenthaler leiter maske Ralph Zaun gewandmeisterinnen Mariette Moser,
Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung
Karl Morawec leiter audio und video Bruno Benedetti
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premiere
14. Dezember 2014, Vidmar 1
dauer der vorstellung
ca. 1h 45min, keine Pause
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benedikt greiner, stéphane maeder, mona kloos,
andri schenardi, pascal goffin
Die autorin
ANNE LEPPER
Anne Lepper stellt in ihren Stücken immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage nach Zugehörigkeit. Ihre Figuren sind entweder ausgestossen, abgeschoben oder eingesperrt
– auf jeden Fall anders. Anders oder, genauer gesagt, ungewöhnlich sind auch die Theatertexte der 36-jährigen in Essen geborenen Dramatikerin, die seit ihrer Entdeckung vor fünf Jahren die
deutschsprachigen Bühnen im Sturm erobert. Sie sei «das grösste
Dialogtalent seit Werner Schwab» attestierte ihr der Theaterkritiker Peter Michalzik nach ihren ersten Erfolgen.
Leppers Theatertexte erzeugen durch ihre nüchterne Sprache eine
eigene Poesie. Die Dramatikerin scheut sich nicht davor, Tabuthemen zu beleuchten. Sie tut dies allerdings nicht auf voyeuristische Weise, sondern zeichnet mit viel psychologischem Feingefühl rührende und zerbrechliche Figuren, die niemals hoffnungslos wirken. In der Juryerklärung des Kulturkreises der deutschen
Wirtschaft, der ihr 2013 den Dramatikerpreis verlieh, heisst es:
«Lepper liefert das Portrait einer Gesellschaft des Selbstbetrugs. Sie
zeigt, dass es ohne Wünsche, Träume, Illusionen nicht geht, auch
wenn man weiss, dass sie nie wahr werden.»
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Mit ihrem Debütstück «Sonst alles ist drinnen», einem düsteren
Familiendrama über Inzest, gewann sie 2009 an den Münchner
Kammerspiele den Publikums- und Förderpreis der «Langen Nacht
der neuen Dramatik». Ein Jahr später erfolgte die Uraufführung
(R: Jessica Glause). Mit ihrem zweiten Stück «Hund wohin gehen
wir» wurde sie zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2011
eingeladen und erhielt den Werkauftrag-Preis. Aus diesem Auftrag
entstand ihr parabelartiger Kommentar zur Leistungsgesellschaft
«Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier», der im Januar 2012
am Schauspiel Hannover (R: Claudia Bauer) zur Uraufführung kam.
Im selben Monat wurde dann auch schon ihr drittes Stück «Käthe
Hermann» am Theater Bielefeld uraufgeführt (R: Daniela Kranz).
Es folgten Einladungen zu den Mülheimer Theatertagen sowie den
Autorentheatertagen in Berlin. Ihre beiden Texte «Seymour» und
«Hund wohin gehen wir» wurden zudem vom WDR als Hörspiele
produziert und ausgestrahlt. Von der Kritikerumfrage des Fachmagazins Theater heute wurde sie zur Nachwuchsdramatikerin 2012
gewählt. Ihr jüngstes Stück, «La Chemise Lacoste», eine bitterböse
Komödie über Reichtum, Besitz und die Ängste von PolohemdträgerInnen, wird am Düsseldorfer Schauspielhaus ab Februar 2015
zu sehen sein (R: Alia Luque).
Bevor Leppers steile Karriere als Dramatikerin begann, studierte sie Philosophie, Literatur und Geschichte in Wuppertal, Köln
und Bonn. Nach Promotionsstudien in Bamberg und Essen schloss
sie bis 2010 ein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in
Biel (HKB) an. Dort entdeckte sie für sich den Reiz am szenischen
Schreiben: «Man kann sich viel mehr erlauben. Ich habe die Freiheit, die Autorenperspektive wegzulassen».
Mit der Inszenierung von «Seymour» am Konzert Theater Bern ist
zum ersten Mal ein Stück von der erfolgreichen Autorin auf einer
Schweizer Bühne zu sehen.
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benedikt greiner, pascal goffin, mona kloos,
stéphane maeder, milva stark
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HAUPTSACHE EINE
GLATTE OBERFLÄCHE
Attraktivere Körper, bessere Jobs, ideale Beziehungen, schlauere
Kinder – der Wunsch nach dem perfekten Leben ist zum Credo des
21. Jahrhunderts geworden. Durch den Prozess der Individualisierung wurde Selbstentfaltung zum Leitbild erhoben und verwandelt
die rasant gestiegenen Chancen in einer freieren, globalisierten
Welt rasch in Pflichten: Schliesslich liegt es nicht an den Möglichkeiten, aus seinem Dasein das Maximum herauszuholen, sondern
am Willen und Ehrgeiz, das Potential zu entdecken und zum Blühen zu bringen. Das suggerieren zumindest die unzähligen, Erfolg
versprechenden Optimierungscoachings, Lebenshilfe-Apps, SelfTracking und Castingshows. Ob im Beruf, im Studium, in der Beziehung oder auch im alltäglichen Konsum – für Erfolg oder Scheitern ist also der Einzelne ganz alleine verantwortlich. Er wird zum
«Unternehmer seiner selbst», der ständig damit beschäftigt ist, die
Eigenrendite zu optimieren. Wer dabei nicht mithalten kann oder
will, muss damit rechnen, ausrangiert zu werden. Makel, Fehler
oder Mangel erinnern gleich wie Alter, Krankheit oder Behinderung
an die Fehlbarkeit und Unvollkommenheit des Menschen. Eine Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft will davon nichts wissen und
schon gar nicht daran erinnert werden. Für den Einzelnen gilt es
also seine Unzulänglichkeiten und Defizite auszumerzen und sich
an den gängigen Normen und Idealen zu orientieren, um ins Raster der Schönheit zu passen, damit auf keinen Fall Irritationen oder
Funktionsstörungen auftreten, die evtl. Kosten verursachen könnten. Abweichungen, Unangepasstheiten und Hässlichkeiten sind das
Gegenteil von perfekt. Sie stören und deuten auf Verletzlichkeit und
schliesslich auf die Vergänglichkeit des Lebens hin.
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Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han machte kürzlich in
einem Interview in Die Zeit eine interessante Feststellung, als er über
Schönheitsideale unserer Epoche sprach: «Das Glatte charakterisiert
unsere Gegenwart». Diesen Befund macht er sowohl am Siegeszug
von Touchscreens fest, als auch am Trend zu Entfernung von Körperbehaarung an allen möglichen Stellen, sowie am enormen Erfolg
des Künstlers Jeff Koons, der seit 2013 mit der Versteigerung einer seiner Balloon Dogs Skulpturen zum Preis von 58,4 Millionen US-Dollar
als der teuerste lebende Künstler der Welt gilt. «Heute entsteht eine
Kultur der Gefälligkeit», meint Han weiter. Weder provoziere Kunst,
noch lasse sich die Politik auf konfliktreiche Debatten ein, aus Angst
davor, irgendjemanden zu verletzen oder selber verletzt zu werden.
Die «glatte» Politik von heute scheue den Konflikt zu Gunsten des
inzwischen zerbrechlich gewordenen neoliberalen Systems und
versuche alle Brüche, Risse und Unregelmässigkeiten zu vermeiden,
damit das System, das auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet
sei, nicht ins Stocken geriete. Dieses «Übermass des Positiven» verhindere das Aufkommen von neuen, vielleicht unbequemen Ideen.
Durch die fehlenden politischen Ideologien bestimme zunehmend
der Markt Ideale und Bedürfnisse: «Das System erschwert es uns, das
eigene Glück zu finden. Denn wir wissen ja nicht einmal, was wir
wollen. Die Bedürfnisse, die ich als meine Bedürfnisse wahrnehme,
sind nicht meine Bedürfnisse. Nehmen Sie den Textildiscounter Primark. Neulich hörte ich von einem Mädchen, dass laut vor Freude
schrie: ‹Mein Leben ist perfekt!›, als es erfuhr, dass ein Primark in der
Nähe ihres Wohnortes eröffnet wird. Ist dieses Leben wirklich ein
perfektes Leben für sie, oder ist es eine Illusion, die diese Konsumkultur erzeugt hat?»
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Die Frage danach, wer oder was Bedürfnisse, Sehnsüchte, Wünsche und Träume beeinflusst oder vorgibt, stellen sich in «Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier» auch Heidi, Max, Oskar, Robert und Leo. Auch ihnen, die «vorübergehend» in ein
Kurhaus hoch oben in den Bergen verbannt wurden, um ihre
Körper in die «richtige» Form zu bringen, wird gedroht: «Was
schlecht ist muss ersetzt werden, was fehlerhaft ist, muss ersetzt werden, was kaputt ist, muss ersetzt werden, was alt ist
muss ersetzt werden». Zuversichtlich beugen sie sich diesem
Diktat und merken dabei nicht, dass sie eigentlich ganz andere Sehnsüchte und Bedürfnisse haben, als in erster Linie abzunehmen: Heidi hadert mit ihrer Identität als Mädchen und
hinterfragt dabei so unbescholten, wie es nur Kinder können,
die Gender-Normen. Max möchte lieber zur Schule gehen und
etwas lernen, anstatt den ganzen Tag über seinen Körper nachzudenken. Oskar geniesst das «Herumbummeln in den Bergen»
und ist glücklich darüber, nicht am Leben unten im Tal teilnehmen zu müssen. Robert testet seine Autorität als selbsternanntes Sprachrohr von Doktor Bärfuss, dem abwesenden Leiter
des Kurhauses, und sorgt dafür, dass die vorgegebenen Regeln
eingehalten werden. Alle zusammen aber sehnen sich, wie alle
Menschen, im Grunde eigentlich nach Anerkennung und Liebe.
Die Gruppe ist sich zwar selbst überlassen, scheint aber trotz
absurder Regeln zu funktionieren. Einziger Hinweis darauf,
dass schon länger kein Erwachsener mehr nach den Kindern
geschaut hat, ist der dünne Sebastian, der regungslos auf dem
Gemeinschaftsdiwan liegt. Er wird für die anderen u.a. wegen
seines «goldenen» Armes als wertvoll angesehen und dient ihnen als perfekte Projektionsfläche. Als allerdings Leo, der Neuankömmling, zu der Gruppe stösst, kommen Zweifel über Sinn
und Zweck dieser Kur auf. Langsam aber sicher begreifen die
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jungen Patienten, dass sie bereits längst ersetzt wurden und die
Gesellschaft im Tal sie ausgeschlossen hat. Im Ausgestossensein
verbirgt sich dennoch eine Chance, denn sie müssen sich zumindest nicht mehr dem vorgegebenen Schönheitsideal und
Leistungsdiktat beugen. Vielleicht ist das tatsächlich die einzige
Möglichkeit, wie man sich der Konsumkultur entziehen kann?
Sabrina Hofer
benedikt greiner, milva stark
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milva stark, pascal goffin
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«DER ERLÖSER
ERSCHEINT ABER NICHT»
EIN GESPRÄCH MIT
REGISSEUR DOMINIC
FRIEDEL
Die Figuren in Anne Leppers Stück sind Überflüssige, die in den Bergen entsorgt wurden. Es geht
also – ähnlich wie bei deiner letzten Theaterproduktion, die du vor zwei Jahren in Bern inszeniert
hast («Das Bekenntnis eines Masochisten» von Roman Sikora) – um Individuen, die nicht in das Raster
der gesellschaftlichen Normen passen. Was interessiert dich an solchen Randexistenzen?
Vielleicht beschäftige ich mich zu meiner Beruhigung damit. Ist es
nicht so, dass wir, die wir uns gefühlt in der Mitte der Gesellschaft
befinden, eine enorme Angst davor haben, plötzlich an den Rand
gedrängt zu werden, weil wir in irgendeiner Form nicht «richtig»
sein könnten oder nicht mehr gebraucht werden? Dies hat zur Folge, dass man partout nicht an die Ränder schauen möchte. Mich
interessiert an solchen Aussenseiterfiguren, dass ihre Abweichungen «normal» werden, je näher man sie beleuchtet. Indem man die
Perspektive wechselt, merkt man, dass die gängigen Normen ziemlich willkürlich sind. Gerade Fehler machen uns doch menschlich.
Sie definieren uns sogar. Daher glaube ich, solange man Angst vor
seinen eigenen Schwächen hat, wird man nie zu seinen Stärken
finden. Menschen haben immer Mängel, so gesehen sind wir also
alle «dicke Kinder».
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Die Autorin legt unterschiedliche Fährten in ihrem
Text. Die Bezüge zu Jean-Paul Sartres Drama
«Geschlossene Gesellschaft» oder Thomas Manns
Roman «Der Zauberberg» sowie einer Verfilmung
von «Dr. Mabuse» aus den Sechziger jahren sind
offensichtlich. Wie bist du mit diesen Hinweisen
und Zitaten umgegangen?
Es war tatsächlich sehr spannend, diesen Hinweisen nachzugehen.
Die unterschiedlichen Anspielungen von Georg Büchner über J. D.
Salinger, Ernst Jünger, Samuel Beckett bis Slavoj Žižek etc. habe ich
als Einladung verstanden, die unsere Phantasie anregen und uns auf
weitere Bilder oder grössere Zusammenhänge stossen lassen sollen.
Für die ZuschauerInnen ist es aber nicht wichtig, diese Bezüge zu
erkennen. Wir haben auch nicht versucht, sie weiter kenntlich zu
machen. Darum geht es meiner Meinung nicht. Es ist vielmehr eine
Veranschaulichung, wie Wissensaneignung funktioniert. Für den
Sprechgestus der SchauspielerInnen allerdings hat das Zitieren eine
grosse Relevanz. Ähnlich wie die Kinder in Leppers Stück nicht immer ihre eigenen Texte sprechen, sondern Floskeln, die offensichtlich von Erwachsenen stammen, übernommen haben, liegen hier die
Verweise auf psychoanalytische Theorien oder literarische Werke als
Folie über der gesamten Handlung. Bereits mit dem Zitat im Prolog
«Desire is a wound of reality» führt uns die Spur über Slavoj Žižek
zum Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Begriff der «symbolischen Ordnung», also jener Ordnung der Sprache und des Diskurses
sowie auch der Macht. Wenn bei diesen Kindern die Künstlichkeit der
Sprache in der Art, wie sie sprechen, deutlich wird, kann die symbolische Ordnung bzw. das Konstrukt der Sprache kenntlich gemacht
werden. Für mich war klar, dass dieses Stück auch als Modell für die
Theorie Lacans gelesen werden kann und nicht 1:1 bebildert werden
muss. Die Figuren Sebastian und der abwesende Dr. Bärfuss geben
klare Hinweise dafür.
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«Die Hölle, das sind die anderen» heisst es bei
Sartre. Wer oder was wird in deiner Inszenierung
für wen zur Hölle?
Zweifellos sind diese dicken Kinder in erster Linie von den Ideologien geprägt, nach denen sich die Menschen unten im Tal richten,
also von den Normen und Idealen ihrer Eltern und Erzieher oder
eben von denen des Dr. Bärfuss. Weil sie auf Grund ihres Dickseins
aus der Gesellschaft gefallen sind, wollen sie alle dünner werden,
um wieder aufgenommen zu werden oder nach Hause gehen zu
können. Das ist natürlich eine Illusion. Es ist nicht sicher, dass alles besser wird, wenn sie dünn sind, und schon gar nicht, dass
sie nach Hause dürfen und wieder geliebt werden. Diese Selbstoptimierungsideologie ruft die falschen Wünsche hervor. Die Hölle oder der fatale Irrtum liegt an ihrem «falschen» Begehren, denn
sie wollen etwas, das vielleicht gar nicht unbedingt ihrem Naturell
oder ihrem wirklichen Wesen entspricht. In gewisser Weise werden sie sich selber zur Hölle.
Die Tragik dieser Figuren liegt also darin, dass
sie nicht imstande sind, ihrem Gegenüber ihr wirkliches Wesen zu vermitteln. Es sind aber Kinder.
Kinder, so könnte man denken, sind doch noch
unbedarft?
Natürlich sind Kinder noch unbeschrieben, und gerade wegen dieses Kunstgriffes funktioniert dieser Text so toll. Lepper generiert
einen Widerspruch, indem sie die Ideologien oder die Logik der
Erwachsenen von Kindern sprechen lässt. Das hört sich zum Teil
wie nachgeplappert an. Für die LeserIn oder ZuschauerIn wird der
Unterschied zwischen den eigenen und den übernommenen Gedanken so überhaupt erst nachvollziehbar. Kinder suchen nach
Erklärungen, haben Fragen und versuchen ständig, sich bei ih-
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rem Gegenüber zu bestätigen. Sie können ihre Individualität oder
Subjektivität nur über die anderen wahrnehmen. Die Herausforderung für uns ist nun, dass die Figuren von erwachsenen SchauspielerInnen gespielt werden. Es ist eine Gratwanderung, denn die
SchauspielerInnen sollen nicht Kinder spielen, sondern vielmehr
offen und direkt wie Kinder sein. Sie sollten mit einer gewissen
Hoffnung und Zuversicht ausgestattet sein, umso schrecklicher ist
es dann nämlich, dass im Laufe des Abends allen nach und nach
diese Hoffnung genommen wird.
Und die Erwachsenen, welche Funktion haben sie?
Über die Erwachsenen wie die Eltern oder Dr. Bärfuss wird zwar
gesprochen, aber sie tauchen in der Inszenierung nie als Figuren
auf. Trotz ihrer Abwesenheit üben sie enorme Macht auf die Kinder aus. Sie repräsentieren die Regeln, an die sich die Kinder halten, weil sie daran glauben. Komplett alleine gelassen warten sie
auf den Doktor und darauf, dass er endlich für die Generaluntersuchung kommt. Der Erlöser erscheint aber nicht.
Welche Rolle spielt der Glaube?
Der Glaube an das von Dr. Bärfuss konzipierte Kurprogramm und
die daran geknüpfte Hoffnung prägt das Leben der Kinder in dieser
Anstalt vor allem zu Beginn. Im Laufe des Stücks wird ihnen dieser
Glaube genommen. Sie verlieren den ursprünglichen Lebenssinn
(den des Abnehmens) und stehen somit vor der Notwendigkeit,
frei von der Bärfussschen Ideologie eigene Ideale und Sehnsüchte
für sich zu bestimmen. Nicht alle Figuren kommen klar mit dieser
nihilistischen Weltsicht, es überfordert die meisten und für einige
ist es sogar der pure Albtraum. Aber ab jenem Zeitpunkt, an dem
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die Kinder begreifen, dass sie niemals mehr abgeholt werden, also
dann, wenn die «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab,
dass kein Gott sei», angedeutet wird, ist das Mündigwerden oder
Erwachsenwerden im Grunde das Einzige, was ihnen übrig bleibt.
Was ist das für ein Ort, an den diese Kinder
verbannt wurden?
Im Stück ist es ein Kurhaus in den Bergen, vielleicht ein ähnlicher
Ort wie die Tuberkulose-Sanatorien aus dem letzten Jahrhundert.
Also eigentlich etwas Altmodisches, was ich auch wieder als einen schönen Widerspruch empfinde – denn die Kinder werden
schliesslich dorthin gebracht, um Fortschritte zu machen. Unsere
Bühnenbildnerin Olga Ventosa Quintana hat dafür eine relativ abstrakte Übersetzung gefunden und packt die SpielerInnen in einen
sterilen, trichterförmigen Raum mit sehr, sehr hohen Mauern. Mir
war wichtig, dass die Unentrinnbarkeit physisch sichtbar wird. Es
ist fast unmöglich, die hohen Seitenwänden zu erklimmen. Die
überdimensionierten Kostüme von Senta Amacker und noch weitere Hindernisse erschweren es den SchauspielerInnen zusätzlich.
Allerdings könnten sie ganz einfach vorne über die offene Seite
zum Zuschauerraum die Bühne verlassen, dies aber entdecken die
Figuren erst viel später.
Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe wurde
in deiner Inszenierung zum zentralen Thema. Was
war dir dabei wichtig?
In diesem Kurhaus hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die nach
ganz eigenen Regeln funktioniert, die zum Teil ziemlich absurd
sind. Das vermeintliche Ziel ist, abzunehmen, und doch tun die
Kinder nichts, damit sie das Ziel erfüllen können. Statt Sport machen sie Liegekuren, statt Diät feiern sie regelmässig Kuchenorgien. Die Ordnung scheint am Anfang noch in Takt zu sein. Der Chor
funktioniert harmonisch. Mit der Ankunft von Leo kommt der
Zweifel auf, das System bekommt langsam Risse. Er sprengt durch
seine Verweigerung die Ordnung. Der Chor löst sich in einzelne Individuen mit unterschiedlichen Wünschen und Sehnsüchten auf.
Robert, der Dr. Bärfuss vertritt, versucht, seine Autorität durch ein
Angstregime aufrecht zu erhalten, wodurch er aber immer mehr
das Vertrauen der anderen verliert, bis er schliesslich gestürzt wird
oder auch entlarvt. Ob Dr. Bärfuss eine Erfindung von ihm selbst
ist, um seinen Machtanspruch zu legitimieren, das bleibt in unserer Inszenierung absichtlich offen.
Wer ist Seymour?
Seymour ist nicht nur der Cousin von Leo, der ihn während seines Kuraufenthaltes zu Hause ersetzt, sondern er ist auch ein Bild
für das, was klüger, leistungsfähiger, schöner etc. ist. Ein besseres
Ich vielleicht. Er ist der konkrete Auslöser für diese diffuse Angst,
plötzlich ersetzt oder ausgewechselt zu werden. Ja und dann ist er
auch noch aus England …
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andri schenardi
nachweise
Impressum
schauspiel
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TEXTNACHWEISE
Die biografische Notiz zur Autorin und der Artikel «Hauptsache eine glatte Oberfläche»
wurden für diese Programmheft geschrieben. Als Grundlage für die Recherche diente
folgende Sekundärliteratur: Zeit-online Nº 38/2012 «Verlorene Kinder – eine Begegnung
mit der Dramatikerin Anne Lepper» von Peter Michalzik. | «Tut mir leid, aber das sind
Tatsachen» Byung-Chul Han im Gespräch mit Niels Boeing und Andreas Lebert In: DIE
ZEIT Wissen Nr. 05/2014. | Klaus Werle: Die Perfektionierer, Frankfurt am Main 2010.
Das Interview mit Dominic Friedel führte Sabrina Hofer am 18. November 2014.
bildnachweise
Portrait der Autorin © Bettina Knoth | Probefotos 08.12.2014: Annette Boutellier
konzert Theater bern
intendant Stephan Märki
schauspieldirektorin Iris Laufenberg
spielzeit 2014.2015
redaktion Sabrina Hofer
konzept & gestaltung formdusche, Berlin
layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern
druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf
redaktionsschluss 08. Dezember 2014 | Änderungen vorbehalten.
der zerbrochne Krug
heinrich von kleist
«Die schauspielerischen Leistungen in Schönsees Inszenierung sind formidabel. Selten wurde eine Klage um
einen zerbrochenen Gegenstand so unterhaltsam vorgebracht, wie dies Sophie Hottinger in der Rolle als
Marthe tut.» Der Bund
«Die Inszenierung pendelt zwischen dem Offensichtlichen und den Zwischentönen, die für Spannung sorgen:
Sünde – und wie sich die Fehlbaren die Haut retten wollen. Einmal mehr ein tadelloser Auftritt des Schauspielensemble von Konzert Theater Bern.» Berner Zeitung
regie Mathias Schönsee – mit Henriette Blumenau, Sophie Hottinger, Mona Kloos, Corinne Steudler,
Pascal Goffin, Benedikt Greiner, Stefano Wenk, Jürg Wisbach
Stadttheater 10., 18., 31. Jan | 07., 28. Feb | 13., 20., 25. Mrz 2015
Preise: Einzelheft: chf 3,– im Vorverkauf und an der Abendkasse
Weitere Termine
finden Sie im Monatsleporello sowie auf
www.konzerttheaterbern.ch
inserat
ziggerli
iff
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