Skript

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Analysis
MA S430 HS 2015
Dr. C. Albertini
ii
Inhaltsverzeichnis
1 Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
1.1 Konvergenz und Grenzwerte von Folgen .
1.1.1 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Die Vollständigkeit von R . . . . . . . . .
1.2.1 Etwas Geschichte...
. . . . . . . . .
√
1.2.2 Die Zahl 2 . . . . . . . . . . . . .
1.2.3 Die Vollständigkeit . . . . . . . . .
1.2.4 Supremum und Infimum . . . . . .
2 Grenzwerte von Funktionen und
2.1 Grenzwerte von Funktionen . .
2.2 Uneigentliche Grenzwerte . . . .
2.3 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . .
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1
1
10
13
13
17
19
22
Stetigkeit
27
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3 Zum Begriff der Ableitung
3.1 Das Änderungsverhalten einer Funktion . . . .
3.2 Die lokale Änderungsrate - ein Beispiel . . . .
3.3 Die Idee von Weierstrass . . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Die Ableitung: Der von h unabhängige
– Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2 Grafische Interpretation . . . . . . . . .
3.3.3 Die lineare Approximation . . . . . . .
3.4 Stetigkeit und Differenzierbarkeit . . . . . . . .
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–
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4 Monotonie und Ableitung
4.1 Das Monotoniekriterium . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Der Schrankensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Der Mittelwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Kettenregel und Ableitung der Umkehrfunktion
4.5 Globale und lokale Extrema . . . . . . . . . . . .
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in
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Bezug
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51
. . . . . . . . . . . 51
. . . . . . . . . . . 56
. . . . . . . . . . . 60
auf h constante
. . . . . . . . . . . 61
. . . . . . . . . . . 62
. . . . . . . . . . . 63
. . . . . . . . . . . 69
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73
73
82
83
85
89
5 Integralrechnung
93
5.1 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.1.1 Nochmals das ICE Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.1.2 Die Verallgemeinerung des ICE-Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
iv
INHALTSVERZEICHNIS
5.2
5.3
5.4
5.1.3 Integrieren heisst Rekonstruieren . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.4 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.5 Flächeninhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.6 Volumen von Rotationskörpern . . . . . . . . . . . . . . . .
Das bestimmte Integral und die Integralfunktion . . . . . . . . . .
5.2.1 Der orientierte Flächeninhalt . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Das Prinzip von Cavalieri . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Hauptsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.1 Näherungsverfahren zur Integration . . . . . . . . . . . . .
5.4.2 Der natürliche Logarithmus und die Exponentialfunktion
A Voraussetzungen aus der Mittelschule
A.1 Arithmetische und geometrische Folgen
A.2 Ableitungsregeln . . . . . . . . . . . . . .
A.3 Integrationsregeln . . . . . . . . . . . . .
A.4 Zusammenfassung wichtiger Funktionen
und einer Stammfunktion F . . . . . . .
A.5 Zusammenfassung Ableitungsregeln
und Integrationsregeln . . . . . . . . . .
A.6 Formelsammlung . . . . . . . . . . . . . .
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f
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98
99
100
102
103
110
112
113
116
116
120
125
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
mit ihrer Ableitungsfunktion f ′
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
B Ergänzungen
137
B.1 Die Betragsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Bibliographie
141
Sachregister
141
Einführung
Bekanntlich ist der Funktionsbegriff eine der tragenden Säulen des Gebäudes der Mathematik. In der Analysis wird das lokale Verhalten von reellen1 Funktionen untersucht. Das
Leitmotiv ist die Frage, wie man lokale und globale Änderungen einer Funktion verstehen,
beschreiben und präzis bestimmen kann. Das Besondere daran ist, dass in der Analysis das
Änderungsverhalten einer Funktion wiederum mit einer Funktion beschrieben wird. Man
betrachtet also immer Paare von Funktionen: Die eine beschreibt das Änderungsverhalten
der anderen, welches wir in der Differentialrechnung untersuchen. Umgekehrt kann man
aus dem Änderungsverhalten die ursprüngliche Funktion (bis auf eine Konstante) rekonstruieren. Dies führt zur Integralrechnung.
Um ein alltägliches Beispiel zu nennen: Wenn ein Objekt sich bewegt, so können wir seine
Geschwindigkeit (d.h. seine ”momentane” Geschwindigkeit) bestimmen, wenn wir zu jedem
Zeitpunkt den zurückgelegten Weg kennen. Kennen wir umgekehrt zu jedem Zeitpunkt
seine Momentangeschwindigkeit, so können wir seinen Bewegungsverlauf “im Grossen” rekonstruieren (d.h. den seit Beginn der Bewegung von ihm zurückgelegten Weg).
Die Differentialrechnung ist entstanden aus einer Anzahl physikalischer und geometrischer
Probleme, die eines gemeinsam haben: Es geht dabei stets um die Änderungsrate einer
zeit- oder ortsabhängigen Grösse, also um Fragen wie
Was ist die Steigung der Tangente an eine Kurve in einem ihrer Punkte?
Was versteht man unter der (momentanen) Geschwindigkeit eines nicht gleichförmig
bewegten Körpers?
Was ist seine (momentane) Beschleunigung?
Was ist die (momentane) Stromstärke eines Flüssigkeitsstromes oder eines elektrischen Stromes?
Was versteht man unter der Dichte eines inhomogenen Körpers in einem seiner Punkte?
1
Wir sprechen von einer reellen Funktion f ∶ A → B, wenn sowohl der Definitionsbereich A als auch die
Zielmenge B Teilmengen von R sind.
vi
INHALTSVERZEICHNIS
In dieser Vorlesung setze ich Analysis-Kenntnisse aus der Mittelschule voraus. Im Anhang
A finden Sie eine Zusammenfassung der Inhalte, welche ich als bekannt annehme.
*******
Ein besonderer Dank geht an Martin Huber, der dieses Skript mit viel Geduld und unter
grosser Sorgfalt gegengelesen hat und mir viele wertvolle Ideen und Hinweise gegeben hat.
Kapitel 1
Konvergenz und Grenzwerte von
Folgen
Der Grenzwert ist der wichtigste Begriff der Analysis1 . Wir werden diesen Begriff zunächst für Folgen einführen. Dies erlaubt uns u.a., die Vollständigkeit der reellen Zahlen
zu beschreiben und untersuchen. Die Vollständigkeit von R ist eine der wesentlichen Eigenschaften, welche R von Q unterscheidet und für den Aufbau der Analysis unabdingbar
ist.
1.1 Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Im Modul “Grundbegriffe der Mathematik” [HAG, S.102] haben wir Folgen als Funktionen
(linkstotal und rechtseindeutig) mit Definitionsbereich N0 definiert. In diesem Modul werden wir ausschliesslich Zahlenfolgen (d.h. die Werte f (n) sind (reelle) Zahlen) betrachten
und den Funktionswert f (n) häufig kürzer mit fn bezeichnen. Also:
Definition 1.1 Eine Zahlenfolge (kurz Folge) ist eine Funktion a ∶ N0 → R ∶ n ↦ an
oder a ∶ N → R ∶ n ↦ an Wir nennen an das n-te Glied der Folge a.
Wie in [HAG] erwähnt, werden Folgen meist explizit oder rekursiv 2 definiert.
1
[HA1, S.5] sagt: “Als das mächtigste und unverzichtbare Hilfsmittel für jede in die Tiefe dringende
Untersuchung” des lokalen Verhaltens einer Funktion “wird sich der Begriff des Grenzwertes in seinen
vielfältigen Formen und Anwendungen erweisen. Es ist das Herzstück und der Kraftquell der Analysis...”
2
Aus [HAG, S.103] wissen Sie, dass jede rekursiv definierte Folge tatsächlich eine Folge (Funktion) ist.
2
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Beispiele 1.2
• Die Folge der natürlichen Zahlen 0, 1, 2, 3, ... wird explizit definiert durch a ∶ N0 →
R ∶ n ↦ n.
• Die Folge der geraden Zahlen 0, 2, 4, 6, ... wird definiert durch b ∶ N0 → R ∶ n ↦ 2n.
• Die Folge der ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, ... wird definiert durch
c ∶ N0 → R ∶ n ↦ 2n + 1.
• Die Folge der Quadratzahlen 0, 1, 4, 9, 16, ... wird definiert durch q ∶ N0 → R ∶ n ↦ n2 .
• Die Fibonacci Folge 0, 1, 1, 2, 3, 5, ... wird rekursiv definiert durch f0 = 0, f1 = 1 und
fn = fn−1 + fn−2 .
• Die harmonische Folge ist gegeben durch h ∶ N → R ∶ n ↦
1
n
.
√ √ √
• Die Folge der Quadratwurzeln 0, 1, 2, 3, 4, ... ist gegeben durch r ∶ N0 → R ∶ n ↦
√
n. Sie kann als “Wurzelschnecke” [SSAA, S. 183] dargestellt werden.
Figur 1: Die Folge der Quadratwurzeln
1.1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
3
Und noch eine Notation...
Anstatt a ∶ N0 → R ∶ n ↦ an werden wir häufig einfach (an )n∈N0 oder auch nur (an )
schreiben.
Bemerkung
Wie im Beispiel der harmonischen Reihe, kann eine Folge erst ab einem bestimmten n > 0
definiert sein. In diesem Fall ist der Definitionsbereich der Folge eine Teilmenge von N0 .
Wie bei jeder Funktion [HAG, S.64], können wir auch bei Folgen den Graph definieren:
Definition 1.3 Der Graph der Folge (an )n∈N0 besteht aus den Punkten (n, an ) für n ∈ N0 .
Beispiele 1.4 Im Folgenden sind einige Graphen von Folgen abgebildet:
Figur√2:
an = 4n2 + 8n − 2n
Figur√3:
bn = n
Figur 4:
cn = n1
Figur√5: d0 = 1,
dn = dn−1 + 5
Figur 6:
en = (−1)n+1 (1 + 10
n)
Figur 7:
gn = sin( n3 )
Wenn wir diese Graphen betrachten, sehen wir, dass in einigen Fällen die Punkte bei wachsendem n sich immer mehr einer horizontalen Gerade nähern.
Die Punkte (n, an ) nähern sich immer mehr der Geraden y = 2, die Punkte des Graphen der
harmonischen Folge (n, cn ) schmiegen sich immer mehr an die x-Achse an und die Punkte
4
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
(n, dn ) nähern sich immer mehr der Geraden3 y =
Figur 8:
lim an = 2
√
1+ 21
2 :
Figur 9:
lim cn = o
n→∞
Figur 10: √
1 + 21
lim dn
n→∞
2
n→∞
Definition 1.5 Die Folge (an )n∈N0 konvergiert gegen a für n gegen unendlich, geschrieben4
lim an = a
n→∞
wenn für jede noch so kleine reelle Zahl ϵ > 0 ein Index nϵ existiert, sodass ∣an − a∣ < ϵ für
alle n ⩾ nϵ gilt. Die Zahl a wird dann Grenzwert der Folge (an ) genannt.
Formal können wir diese Definition wie folgt aufschreiben:
lim an = a
n→∞
:gdw. ∀ϵ > 0
∃nϵ ∈ N0
∀n ⩾ nϵ (∣an − a∣ < ϵ) .
Man kann die Konvergenz von Folgen in den Graphen auch mit Hilfe von ϵ-Streifen
veranschaulichen und untersuchen.
Für jedes ϵ > 0 und jede Zahl a ∈ R können wir im Koordinatensystem den ϵ-Streifen um
die Zahl a definieren:
{(x, y) ∈ R∣ ∣y − a∣ < ϵ}
(1.1)
Wir bemerken, dass ∣y − a∣ < ϵ bedeutet, dass y eine Element des Intervalls ]a − ϵ, a + ϵ[ ist:
∣y − a∣ < ϵ ⇐⇒ −ϵ < y − a < ϵ ⇐⇒ a − ϵ < y < a + ϵ ⇐⇒ y ∈ ]a − ϵ, a + ϵ[ .
3
√
Das diese Folge gegen 1+ 2 21 konvergiert werden wir im Beispiel 1.21 auf Seite 21 zeigen.
4
Lies: “Der Limes von an für n gegen ∞ ist a.”
(1.2)
1.1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
5
Figur 11: ϵ-Streifen5 um a
Definition der Konvergenz mit ϵ-Streifen:
Eine Folge (an ) konvergiert genau dann gegen a, wenn für jedes noch so kleines ϵ > 0 ein
Index nϵ existiert, sodass alle Punkte (n, an ) zum ϵ-Streifen um die Zahl a gehören, sobald
n ⩾ nϵ .
Figur 12: Ab n ⩾ 15 liegen alle Punkte (n, an ) im ϵ-Streifen.
Beispiel 1.6 Wir wollen die Folge an =
5n
2n+8
auf Konvergenz untersuchen.
Zunächst überlegen wir uns, welche Zahl der Grenzwert sein könnte. Dafür betrachten wir
an für einige Zahlen n: a10 ≈ 1.78571, a100 ≈ 2.40385, a1000 ≈ 2.49004 und a1000000 ≈ 2.49999.
Dies führt zur Vermutung, dass die Folge an gegen 2.5 konvergieren könnte.
5
Es ist zu beachten, dass die Punkte auf dem Rand y = a ± ϵ nicht zum ϵ-Streifen um a gehören.
6
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Falls unsere Vermutung richtig ist, sollten wir zu einem gegebenen noch so kleinen ϵ > 0
eine Zahl nϵ finden können, ab der ∣an − 2.5∣ < ϵ gilt:
∣an − 2.5∣ = ∣
−20
10
5n
− 2.5∣ = ∣
∣=
.
2n + 8
2n + 8 n + 4
Also:
10
10
10
<ϵ⇔
<n+4⇔n>
−4
n+4
ϵ
ϵ
Zu jedem ϵ können wir ein nϵ bestimmen: Falls zum Beispiel ϵ = 10−4 ist, dann können wir
nϵ = 105 wählen (wir könnten auch nϵ = 107 wählen, denn bei der Konvergenz geht es nur
um die Existenz eines nϵ , nicht um die Bestimmung eines “optimalen” nϵ ).
∣an − 2.5∣ < ϵ ⇔
Dass die harmonische Folge cn = n1 konvergiert, ist anschaulich klar und wird meistens als
Axiom betrachtet (vgl. Satz des Eudoxus und Archimedisches Axiom S. 16).
An dieser Folge beobachten wir eine sehr wichtige Tatsache: Zwar gilt cn > 0, ∀n ∈ N0 , aber
lim cn = 0. D.h.
n→∞
Aus an > a, ∀n ∈ N0 folgt nur:
lim an ⩾ a .
n→∞
Dass in diesem Fall limn→∞ an nicht kleiner als a sein kann, folgt unmittelbar aus der
Definition des Grenzwerts.
In der Vorlesung werden wir zeigen, dass die Folge (en ) mit en = (−1)n+1 (1 + 10
n ) (vgl. Figur
6) divergent ist und in den Übungen werden Sie die Divergenz der harmonischen Reihe
untersuchen.
Definition 1.7 Eine Folge, die nicht konvergiert, heisst divergent.
Zum Beispiel sind die Folgen (bn ) der Quadratwurzeln (vgl. Figur 3) und die Folge (en )
(vgl. Figur 6) divergent.
1.1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
7
Andere Darstellung der Konvergenz
Wenn eine Folge (an ) gegen a konvergiert, dann befinden sich alle Folgenglieder ab anϵ im
Intervall ]a − ϵ, a + ϵ[:
hier höchstens endlich viele Glieder der Folge
142
hier fast alle Glieder der Folge
4 Mathematische Grundlagen der Analy
Figur 13: Konvergenz einer Folge
1. Die Diagonale im Einheitsquadrat hat – wie die Pythagoräer leidvoll erfahr
√
haben – die Länge 2 ≈ 1,4. In Abb. 4.27 sind im Einheitsquadrat diagona
Beispiele: Grenzen der Anschauung (aus [BHA S.142])
Treppen zunehmender Stufenanzahl gezeichnet.
Wenn die Stufenanzahl geg
√
1. Die Diagonale im Einheitsquadrat hat die Länge 2. In Figur 14 sind im Einheitsunendlich
geht
die Treppe
in die Diagonale
über.dieNun
ist aber die Län
quadrat
diagonalegeht,
Treppen
zunehmender
Stufenzahl
gezeichnet. Wenn
Stufenzahl
gegenjeder
unendlich
geht, unabhängig
geht die Treppevon
in die
Diagonale
ist aberimmer
die Länge
Treppe,
der
Anzahlüber.
ihrerNun
Stufen,
gleich 2!
jeder Treppe, unabhängig von der Anzahl ihrer Stufen, immer gleich 2!
Figur 14: Treppen im Einheitsquadrat
Abb. 4.27: Treppen im Einheitsquadrat
2. Wenden wir nun in Figur 14 dieselbe Idee auf den Flächeninhalt der beiden Flächenstücke
an, in diewir
unsere
Je feiner
die Treppe ist,
2. Wenden
beiTreppe
Abb. das
4.27Einheitsquadrat
dieselbe Ideezerlegt.
auf den
Flächeninhalt
der beiden Fl
desto weniger unterscheiden sich die beiden Flächenstücke. Das kann man genauer
an,istindas
dieobere
unsere
Treppe das
Einheitsquadrat
zerlegt. Je feiner d
sagen:chenstücke
Im linken Bild
Flächenstück
um vier
Quadrate der Seitenlänge
2
1
( 14 ) = 41 des Einheitsquadrats.
als das
um 4 ⋅ unterscheiden
Im mittleren
Treppe
ist,untere,
destoalso
weniger
sich die beiden
Flächenstücke. D
4 grösser
1
obere
also um
Bild sind
sechs genauer
Quadrate der
Seitenlänge
6 , das
kannes man
sagen:
Im linken
Bild
istFlächenstück
das obere ist
Flächenstück
um vi
1
!
"
des
Einheitsquadrats
grösser.
Und
so
geht
das
weiter:
Je
feiner
die
Treppe
ist,
2
6
1
als das untere,
also
um n4 der
· 14 = 14 d
der Seitenlänge
destoQuadrate
weniger unterscheiden
sich die beiden
Flächenstücke;
wenn die
Anzahl
4 größer
Einheitsquadrats. Im mittleren Bild sind es sechs Quadrate der Seitenlän
1
1
6 , das obere Flächenstück ist also um 6 des Einheitsquadrats größer. Und
geht das weiter: Je feiner die Treppe ist, desto weniger unterscheiden sich d
beiden Flächenstücke; wenn die Anzahl n der Treppenstufen gegen unendli
8
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Treppenstufen gegen unendlich geht, werden beide Flächenstücke gleich gross. Wieso
scheint die Anschauung bei den Flächen ein sinnvolles Ergebnis zu ergeben, bei der
Länge aber nicht?
Satz 1.8 Grenzwert von Summe, Differenz, Produkt und Betrag von Folgen
Gegeben seien zwei konvergente Folgen (an ) und (bn ) mit lim an = a und lim bn = b.
n→∞
n→∞
Dann konvergieren auch die Folge der Summen (an + bn ), die Folge der Differenzen (an − bn ) und die Folge der Produkte (an ⋅ bn ) und es gilt:
1. lim (an + bn ) = a + b ,
n→∞
2. lim (an − bn ) = a − b ,
n→∞
3. lim (an ⋅ bn ) = ab ,
n→∞
4. lim ∣an ∣ = ∣a∣ .
n→∞
Satz 1.9 Grenzwert des Quotienten und der Quadratwurzel von Folgen
Gegeben seien zwei konvergente Folgen (an ) und (bn ) mit lim an = a und lim bn = b.
n→∞
n→∞
1. Falls bn ≠ 0, ∀n ∈ N0 und b ≠ 0, so existiert und konvergiert auch die Folge
an a
lim
der Quotienten ( abnn ) und es gilt:
= ,
n→∞ bn
b
2. Falls an ⩾ 0, ∀n ∈ N0 so existiert auch die Folge der Quadratwurzeln und
√
√
es gilt:
lim an = a .
n→∞
Beispiele 1.10
1. Figur 8 (S.4) legt es nahe, dass limn→∞
können wir das nun zeigen:
√
√
4n2 + 8n − 2n = 2. Mit den obigen Sätzen
√
√
2 + 8n − 2n)( 4n2 + 8n + 2n)
(
4n
8n
8
√
4n2 + 8n − 2n =
=√
=√
.
4n2 + 8n + 2n
4n2 + 8n + 2n
4 + n8 + 2
1.1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
9
Da die Folge der Quadratwurzeln und die Folge der Quotienten konvergiert, gilt:
lim √
n→∞
Also:
lim
8
4 + n8 + 2
√
n→∞
=√
8
= 2.
4+2
4n2 + 8n − 2n = 2.
2. Für ∣q∣ < 1 konvergiert die geometrische Folge (an )n∈N0 mit an = q n gegen Null:
lim q n = 0
n→∞
für ∣q∣ < 1 .
(1.3)
Um dies zu zeigen, brauchen wir die Bernoulli Ungleichung6 , welche besagt, dass
für jede natürliche Zahl n ⩾ 2 und alle von Null verschiedenen x > −1 die folgende
Ungleichung gilt:
(1 + x)n > 1 + nx .
(1.4)
Im Fall q = 0 ist nichts zu zeigen.
Wir dürfen also 0 < ∣q∣ < 1 annehmen. Dann ist
gilt nach der Bernoullischen Ungleichung:
∣q n ∣ = ∣q∣n =
1
∣q∣
= 1 + h mit einem h > 0 und somit
1
1
1
<
<
.
n
(1 + h)
1 + nh nh
Sei ϵ > 0. Da die natürlichen Zahlen unbeschränkt sind (Satz des Eudoxos S.16)
existiert eine natürliche Zahl nϵ mit
0<
1
< nϵ .
ϵh
Für alle n ⩾ nϵ gilt
1
<n
ϵh
und damit
1
<ϵ.
nh
Also gilt für alle n ⩾ nϵ
∣q n − 0∣ = ∣q n ∣ <
1
<ϵ.
nh
Damit haben wir gezeigt, dass die Folge (q n ) konvergent ist mit lim q n = 0.
n→∞
6
Sie haben die Bernoulli Ungleichung per vollständiger Induktion in den Übungen bewiesen.
10
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
1.1.1
Reihen
Häufig interessieren wir uns nicht nur für eine Folge, sondern auch für ihre Summenfolge.
Zum Beispiel interessieren wir uns für Summen von natürlichen Zahlen, geraden Zahlen,
ungeraden Zahlen, Quadratzahlen, usw.:
Definition 1.11 Addiert man endlich viele Glieder einer Folge, so erhält man für jedes
n ∈ N0 eine Summe
sn = a0 + a1 + a2 + a3 + ... + an .
Dadurch entsteht aus einer gegebenen Folge (an )n∈N0 wieder eine Folge (sn )n∈N0 gegeben
durch
n
sn = ∑ ak
k=0
Die Folge (sn )n∈N0 heisst die zur Folge (an )n∈N0 gehörige Summenfolge oder Reihe.
e Begriffe und Beispiele
185
ese Formel für die Summe der ersten n natürlichen Zahlen vereine Formel für die
Summe s1.12
n Quadratzahlen
zu
n der ersten
Beispiel
Wie gross
ist die Reihe
also s0 := 0 und
der Quadratzahlen: sn = 02 + 12 + 22 + 32 + 42 +
... + n2 ?
sn = sn−1 + n2
+ 32 + . . . + n2 fürWir
n ∈ IN.
Hierfür einen
wollen wir
einen Term
machen
Umweg
und finden,
berechnen
Berechnung von snzahlen
etwas leichter
fällt
als
mit
(8).
Auf
arabische
[SSAA S.185]:
telalters geht folgende Überlegung zurück (Fig. 2):
t
)
· (2n + 1),
2 ! n(n + 1) − n = n2
!
Figur 15: Geometrische Darstellung
der dreifachen Summe der Quadratzahlen.
"
n2
2n + 1
)(2n + 1)
.
6
eispiel benöormel zur Beolumens einer
yramide.
zuerst das Dreifache der Summe der Quadrat-
n2
#
1 + 2 + ... + n =
n(n + 1)
2
$
"
Fig. 2: Berechnung der Quadratsumme
Es gilt:
1)auf die
der Berechnung des Volumens von Körpern ist n(n
man +oft
3s
=
⋅ (2n + 1)
n
durch Folgen angewiesen, selbst wenn der Körper durch
ebene
2
d.h sn =
n(n + 1)(2n + 1)
.
6
(1.5)
grenzt wird. Wir behandeln als Beispiel den einfachen Fall einer
ischen Pyramide. In der Schule lernt man die Volumenformel
ei G der Inhalt der Grundfläche und h die Höhe der Pyramide
l kann man aber Beispiele
nicht, wie die
analoge Flächeninhaltsformel
1.13
eiecke mit der Grundseite g und der Höhe h, durch Zerschneiden
volumengleiche Teile erhalten; sie lässt sich vielmehr nur mit
• schließen
Schreiben
die Reihe,
welche
Methoden gewinnen: Wir
die Sie
Pyramide
zwischen
einen zur konstanten Folge 3, 3, 3, 3, ... gehört, auf.
DieTreppenkörper
“Reihen” der
und einen einbeschriebenen
ein,Primarschulen
wie es Fig. 3 als können also als Reihen von konstanten Folgen
ellt.
terpretiert werden.
"
!"
! !x : a = ih : h
n
! "
!
"
=⇒
!
"
i · nh
!
"
x = ai
n
!
"
h
in-
1.1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
11
• Es sei (an ) die Folge der Quadrate der Fibonacci-Folge (vgl. S.2). D.h. an = (fn )2 , ∀n ∈
N0 . Berechnen Sie die ersten 6 Glieder der Reihe, welche zu (an ) gehört.
Im folgenden Satz werden geometrische Folgen und Reihen (vgl. Anhang A.1, S.125) auf
ihre Konvergenz untersucht:
Satz 1.14 Konvergenz und Divergenz von geometrischen Folgen und Reihen
Sei a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 ⋅ q n , q ≠ 0, eine geometrische Folge.
1. Für ∣q∣ < 1 haben geometrische Folgen den Grenzwert 0 (vgl. Anhang Abbildung A.2 und A.3, S.127) und die geometrische Reihe hat in diesem Fall den
Grenzwert
a0 ⋅
1
.
1−q
2. Für q = 1 ist die geometrische Folge eine konstante Folge und die dazugehörige
geometrische Reihe ist divergent.
3. Für q = −1 und für ∣q∣ > 1 sind geometrische Folgen und Reihen divergent.
Beweis 1 (Beweis vom Satz 1.14) Wir beweisen nur dass die geometrische Reihe für
∣q∣ < 1 konvergiert.
Nach Satz A.2 im Anhang A (S.126) gilt
n
sn = ∑ ak = a0 ⋅
k=0
also ist
∣sn − a0 ⋅
1 − q n+1
,
1−q
1
∣q∣n+1
∣ = ∣a0 ∣ ⋅
.
1−q
∣1 − q∣
Zu beliebigen noch so kleinen ϵ > 0 kann man nun, wegen Beispiel 1.10.2 ein nϵ1 so
bestimmen, dass ∣q∣n < ϵ1 ∶=
∣sn − a0 ⋅
∣1−q∣⋅ϵ
∣a0 ∣∣q∣
für alle n > nϵ1 ist. Für diese n gilt dann
1
∣a0 ∣
∣a0 ∣
∣1 − q∣ ⋅ ϵ
∣=
⋅ ∣q∣n ∣q∣ <
∣q∣ ⋅
= ϵ.
1−q
∣1 − q∣
∣1 − q∣
∣a0 ∣∣q∣
12
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Definition 1.15 Eine Folge heisst monoton wachsend, wenn an+1 ⩾ an für alle n ∈ N0
gilt.
Gilt jedes Mal sogar “>”, so heisst die Folge streng monoton wachsend.
Analog sind monoton fallend und streng monoton fallend definiert.
Eine Folge heisst beschränkt, wenn es eine positive reelle Zahl c gibt mit ∣an ∣ < c für alle
n ∈ N0 .
Beispiele 1.16 Wenn wir die Graphen auf Seite 3 betrachten, sehen wir, dass die Folge
(bn ) streng monoton wachsend ist und dass die Folge (cn ) streng monoton fallend ist.
Die Folgen (an ) und (dn ) sind monoton wachsend.7 Die Folgen (en ) und (gn ) sind weder
monoton wachsend noch monoton fallend.
Die Folge (bn ) ist nicht beschränkt, alle anderen Folgen im Beispiel auf Seite 3 sind
beschränkt.
Satz 1.17 Konvergente Folgen sind beschränkt
Wenn eine Folge (an ) konvergent ist, dann ist sie beschränkt.
Wie das Beispiel en = (−1)n+1 (1 + 10
n ) (S.3) zeigt, gilt die Umkehrung dieses Satzes nicht.
Zum Schluss dieses Abschnittes definieren wir Cauchy-Folgen. Diese Definition steht im
Zusammenhang mit der Vollständigkeit von R (siehe nächster Abschnitt).
Definition 1.18 Eine Folge (an ) ist eine Cauchy-Folge, wenn für jede noch so kleine
reelle Zahl ϵ > 0 ein Index nϵ existiert, sodass ∣an − am ∣ < ϵ für alle m, n mit n, m > nϵ gilt.
Formal:
∀ϵ > 0
∃nϵ ∈ N0
∀n, m > nϵ (∣an − am ∣ < ϵ)
(1.6)
In den Übungen werden Sie zeigen, dass jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge ist.
Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass die Charakterisierung der Vollständigkeit
von R (vgl. Satz 1.2.3, S.19) die Eigenschaft ist, dass jede Cauchy-Folge konvergent ist.
7
Man kann nachweisen, dass beide Folgen sogar streng monoton wachsend sind, aber das ist im Graph
nicht eindeutig ersichtlich.
1.2. Die Vollständigkeit von R
13
1.2 Die Vollständigkeit von R
Den Umgang mit reellen Zahlen haben wir bisher als bekannt
√ vorausgesetzt und deren
Existenz ebenfalls. Wenn wir irrationale Zahlen wie π oder 2 brauchen, dann tippen
wir sie in den Taschenrechner (oder im Computer) ein und erhalten eine rationale Annäherung der gewünschten Zahl in Form einer Dezimalzahl (und wir können auch mehr oder
weniger angeben auf wie vielen Stellen genau diese Annäherung angegeben werden soll).
D.h. wir arbeiten numerisch8 immer mit rationalen Zahlen.
In der Mathematik werden neue Objekte in der Regel aus schon vorhandenen konstruiert.
In der Schule gewinnt man z. B. die Brüche und die negativen Zahlen aus den natürlichen Zahlen. In Verallgemeinerung der Darstellung der rationalen Zahlen als endliche oder
periodische Dezimalbrüche werden in der Schule die irrationalen (nicht-rationalen)
Zahlen als unendliche, nichtperiodische Dezimalzahlen verstanden. Wieso reichen die rationalen Zahlen nicht aus, obwohl sie dicht auf dem Zahlenstrahl liegen, d. h. obwohl man
zwischen zwei verschiedenen rationalen Zahlen immer unendlich viele weitere rationale
Zahlen finden kann?9
Ein Grund ist sicher die Tatsache, dass es inkommensurable Strecken10 und damit auf dem
Zahlenstrahl irrationale Punkte gibt11 .
Der für uns wichtigere Grund ist, dass wir die reellen Zahlen brauchen, um sicher zu
stellen, dass gewisse Grenzwerte von Folgen oder von Funktionen existieren d.h., dass es
in R eben keine Lücken gibt.
1.2.1
Etwas Geschichte...
Der folgende historische Überblick ist mehr oder
weniger wörtlich aus [BHA] zitiert:
Pythagoras von Samos (570 - 497v.Chr.) und seine
Schüler glaubten in ihrer “rationalen Auffassung” der
Natur, dass die natürlichen Zahlen das Mass aller Dinge sind und dass sich alles auf Verhältnisse natürlicher
Zahlen zurückführen lässt. Aus der philosophischen
Lehre des Pythagoras ergab sich zwingend, dass zwei
beliebige Strecken a und b immer kommensurabel sein
müssen, d.h. sich als ganzzahlige Vielfache einer kleineren Strecke e darstellen lassen: a = n ⋅ e und b = m ⋅ e
Pythagoras von Samos
(570 - 497 v. Chr.)
8
CAS-Taschenrechner arbeiten mit symbolischen Ausdrücken.
9
Wenn s < t zwei rationale Zahlen sind, dann besteht zum Beispiel die Folge (qn = s +
t−s
) aus
n
unendlich vielen rationalen Zahlen, welche für alle n > 1 zwischen s und t liegen.
10
vgl. nächster Abschnitt
√
11
... und wenn man einen einzigen irrationalen Punkt gefunden hat, wie z.B. 2, dann hat man unendlich
√
viele irrationale Punkten gefunden, da für alle q ∈ Q auch q 2 irrational ist.
14
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
eudoxus-1.jpg (JPEG-Grafik, 253x311 Pixel)
mit natürlichen Zahlen n und m. Anders ausgedrückt
müssen die Längen von a und b in einem rationalen
n
Verhältnis stehen: ab = m
.
Die Entdeckung inkommensurabler Strecken (d.h. irrationaler Zahlen) wurde von dem Pythagoräer Hippasos von Metapont im 5. Jahrhundert v. Chr. gemacht, der damit die Grundlage der pythagoräischen
Philosophie erschütterte.
Dass Hyppasos von einer Seereise nicht mehr zurückkam, deuteten seine “Sektenbrüder” als Strafe der
Götter. Mit diesem Ereignis war aber das Problem der
irrationalen Zahlen nicht aus der Welt geschaffen...
Mit der Entdeckung von irrationalen Zahlen steckte die Mathematik, kurz nach ihrer Geburt, in ihrer
“ersten Grundlagenkrise”: Alle Beweise, die auf der
Grundlage kommensurabler Strecken geführt worden
waren, brachen auf einmal zusammen.
Ein Jahrhundert später entwickelte Eudoxos von Knidos (408 - 355 v. Chr.) den pythagoräischen Ansatz in
seiner Grössen- und Proportionenlehre sowie mit der
Exhaustionsmethode weiter und hat damit den ersten
Schritt zu einer Theorie der reellen Zahlen gemacht:
Eudoxos wusste, dass es inkommensurable Strecken
gibt. Er verwendete daher die nach Archimedes benannte, aber auf ihn zurückgehende Idee, dass man
bei zwei gegebenen Strecken auf einer Geraden stets
mit der kleineren die grössere übertreffen kann, wenn
man sie nur oft genug abträgt. Dies ist die adäquate Verallgemeinerung der ursprünglichen pythagoräischen Idee der Kommensurabilität! Wir sprechen dabei heute vom Archimedischen Axiom, das auch wir
bei unserem Theorieaufbau häufig verwenden werden:
Archimedisches Axiom
Zu zwei positiven reellen Zahlen x > y > 0 gibt es
eine natürliche Zahl n mit n ⋅ y > x.
In seiner Grössenlehre subsumierte Eudoxos u. a.
die Konzepte Länge und Zeit, die jeweils ein Kontinuum darstellten und nach Hippasos’ Entdeckung
auch nichtrationale Masszahlen umfassten. Seine Proportionenlehre umfasste dementsprechend auch nichtrationale Grössenverhältnisse. Die Exhaustionsmethode ist aus heutiger Sicht Grundlage jeder Messung.
Insbesondere für die Integralrechnung ist die Exhaustionsmethode (von exhaurire - lat. “herausnehmen”,
“ausschöpfen”, “vollenden”) besonders interessant.
http://www.nndb.com/people/
Eudoxus von Knidos
(408-355 v. Chr.)
archimedes.jpg (JPEG-Grafik, 300x404 Pixel)
Archimedes
newton2.jpg
(JPEG-Grafik, 268x366
(287-212
v.Pixel)
Chr.)
http://crysta.physik.hu-berlin.de/~ines/Experimente/VL_
http://www.mschaad.ch/math
1 von 1
1 von 1
Isaac Newton
(1643-1727)
leibniz.png (PNG-Grafik, 1286x1677 Pixel) - Skaliert (48%)
01.09
http://www.bence10.com/wp-content/uploads/2010/09/leibniz.png
Gottfried Willhelm
Leibniz (1646-1716)
1 von 1
1 von 1
01.09.11 16:25
1.2. Die Vollständigkeit von R
Sie umfasst z. B. das “Ausschöpfen” von nicht elementar bestimmbaren Flächeninhalten mithilfe von
(immer kleiner werdenden) bekannten Figuren. In einer Weiterentwicklung dieses Ansatzes hat Archimedes (287 - 212v.Chr.) bei der “Parabelquadratur” die
Fläche unter einer Parabel durch “Ausschöpfen mit
Dreiecken” exakt bestimmt - und damit bereits eine
wesentliche Kernidee der Integralrechnung in die Welt
gesetzt.
Simon Stevin (1548 - 1620) entwickelte dann im 16.
Jahrhundert die Vorstellung, dass jedem Punkt der
Zahlengeraden genau eine reelle Zahl zugeordnet werden kann. Er führte 1585 die Dezimalschreibweise ein.
Diese wurde für die in derselben Epoche entwickelten
Logarithmen verwendet.
Aufbauend auf den Arbeiten vieler Vorläufer wurde
im 17. Jahrhundert durch Isaac Newton (1643 - 1727)
und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) unabhängig voneinander die Differential- und Integralrechnung entwickelt und gleich mit grossem Erfolg angewandt. Ein bekanntes Beispiel ist Newtons Theorie der Planetenbewegung. Newton war die Natur der
Grundbegriffe wohl nicht bekannt; daher auch der Name “Calculus”: Es funktioniert, aber keiner wusste
so richtig, warum. Von Leibniz lässt sich das wohl
nicht mehr sagen; er nutzte im Prinzip schon den
Cauchyschen Grenzwertbegriff (auch wenn er es so
nicht publiziert hat). Die Analysis entwickelte sich im
18. und 19. Jahrhundert sehr schnell und äusserst erfolgreich, ohne dass ihre Grundlagen (reelle Zahlen,
Grenzwerte) geklärt wurden. Insbesondere Leonhard
Euler (1707 - 1783) ging souverän mit Grenzwerten
und unendlichen Reihen um. Die Vollständigkeit der
reellen Zahlen wurde naiv verwendet, anschauliche,
graphisch motivierte Zwischenwertargumente wurden
angewandt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde
(insbesondere anhand von Funktionen mit höchst unanschaulichen Eigenschaften) klar, dass eine Weiterentwicklung der Theorie nur nach Klärung ihrer fundamentalen Grundbegriffe möglich war.
Nach Vorarbeiten von Carl Friedrich Gauss (1777 1855), Bernhard Bolzano (1781 - 1848) und Augustin
Louis Cauchy (1789 - 1857) lieferten vor allem Eduard Heine (1821 - 1881), Richard Dedekind (1831 1916), Georg Cantor (1845 - 1918) und David Hilbert
(1882 - 1943) wichtige Beiträge zu einer Theorie der
reellen Zahlen und zu den Grundlagen der Analysis.
So entstand die auch heutigen Ansprüchen genügende
Grundlegung der Analysis.
15
Leonhard Euler
(1707-1783)
johann_carl_friedrich_gauss.jpg
(JPEG-Grafik, 299x349 Pixel)
http://www.rare-earth-magnets.com/images2/johann
Carl Friedrich Gauss
(1777-1855)
Bernard_Bolzano.jpg (JPEG-Grafik, 599x689 Pixel)
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9b/Bernard_...
Bernhard Bolzano
Augustin-Louis_Cauchy_1901.jpg
(JPEG-Grafik, 280x388 Pixel)
(1781-1848)
1 von 1
http://en.citizendium.org/images/d/d3/Augustin
01.09.11 16:28
1 von 1
0
Augustin Louis Cauchy
(1789-1857)
16
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Heine_2.jpeg (JPEG-Grafik, 272x326 Pixel)
http://www.learn-math
Die wesentliche mathematische Leistung war die
“Arithmetisierung der Analysis”: Die Grundbegriffe
der Analysis wurden auf den Grenzwertbegriff reduziert. Konvergenz und Grenzwert, bisher anschaulich und dynamisch mit “geht gegen” gesehen, wurden durch die Formulierung exakter, mit Mitteln der
Arithmetik formulierbarer (statischer) Konvergenzkriterien präzisiert. Entsprechend wurde der Stetigkeitsbegriff formalisiert. Grundlegend hierfür war die
exakte Begründung der reellen Zahlen.
Eduard Heine
Dedekind.jpg (JPEG-Grafik, 160x212 Pixel)
image_resize.php (JPEG-Grafik, 265x400 Pixel)http://2.bp.blogspot.com/_Rjp6yFmygYk/TN5b3jLdqSI/AAA...
http://images.ewins.com/digital_asset_manager/image_resize.ph...
225px-Hilbert1912.jpg (JPEG-Grafik, 225x303 Pixel)
http://web.math.hr/~ne
((1821 - 1881)
Richard Dedekind
(1831-1916)
Georg Cantor
(1845-1918)
David Hilbert
(1882-1943)
Der Satz des Eudoxus und das Archimedische Axiom
1 von 1
Als Konsequenz des archimedischen Axioms gilt, dass die harmonische Folge ( n1 ) mit wachsendem n beliebig klein wird, also gegen 0 konvergiert.
Es sei nämlich ϵ > 0. Dann existiert nach dem archimedischen Axiom für 1 > ϵ > 0 ein n ∈ N
mit n ⋅ ϵ > 1. Das ist aber dazu äquivalent, dass n1 < ϵ. Für alle m > n ist dann erst recht
1
1
m < ϵ. (Wenn ϵ ⩾ 1 ist, ist schon 2 kleiner als ϵ.)
Die Eigenschaft, dass die harmonische Folge ( n1 ) gegen 0 konvergiert wird auch Satz des
Eudoxus genannt. Das archimedische Axiom (S. 14) und der Satz des Eudoxus sind äquivalente Aussagen.
Satz des Eudoxus
Für jede reelle Zahl r > 0 gibt es eine natürliche Zahl m mit
1
m
< r.
1 von 1
1 von 1
07.09.11 13:38
1.2. Die Vollständigkeit von R
17
Definition von Konvergenz mit Hilfe der harmonischen Folge ( n1 )
Als Konsequenz aus dem Satz des Eudoxus12 , können wir die Konvergenz von Folgen anstatt
mit ϵ auch wie folgt definieren:
Eine Folge (an ) konvergiert genau dann gegen a, wenn für jedes N ∈ N0 ein Index nN
existiert, sodass
1
für alle n ⩾ nN .
∣a − an ∣ <
N
1.2.2
Die Zahl
√
2
Schon vor mehr als 2000 Jahren benutzten die Babylonier ein Verfahren zur Berechnung
von Quadratwurzeln, das noch heute in einigen
√ Rechnern benutzt wird [DVA S. 187 ff.].
√
Wir werden dieses Verfahren am Beispiel der 2 kennenlernen. Unser Ziel ist also, die 2
zu approximieren.
√
√
Als erste, grobe Abschätzung von 2 wählen wir a1 = 1. Sicher ist 2 etwas grösser als 1:
√
2 = 1 + α2 ,
(1.7)
wo α2 für den noch fehlenden Betrag steht. Um α2 anzunähern, quadrieren wir die Gleichung (1.7) und erhalten:
2 = 1 + 2α2 + α22
(1.8)
oder
α22 + 2α2 − 1 = 0.
Die Lösungen dieser Gleichung sind:
√
√
4+4
= −1 ± 2.
2
√
√
D.h. um α2 zu bestimmen, brauchen wir wieder 2. Für die Berechnung von 2 brauchen
wir α2 ...
−2 ±
Die folgende Idee bringt uns weiter: Der Fehler α2 ist bestimmt kleiner als 1 und sein
Quadrat α22 noch kleiner. Deshalb vernachlässigen wir in (1.8) den Summanden α22 und
schätzen α2 aus
2 ≈ 1 + 2α2 .
(1.9)
√
1
a1 = 1 war unsere erste (grobe) Approximation von 2. Aus (1.9) ergibt sich α2 ≈ 2−1
2 = 2.
1
Wir setzen a2 ∶= 2 und damit ist
s2 = a1 + a2 = 1 +
12
Für jedes ϵ > 0 gibt es ein N ∈ N mit
1
N
< ϵ.
1 3
=
2 2
(1.10)
18
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
√
√
ein nächster Näherungswert für 2. Da s22 = 2.25 ist diese Annäherung von 2 schon etwas
besser
√ als s1 = a1 = 1.
Um 2 noch besser zu approximieren, wiederholen wir das Spiel nochmals mit s2 als
Anfangswert:
√
2 = s2 + α3 .
(1.11)
Wenn wir nun (1.11) quadrieren und auch hier α32 weglassen, erhalten wir:
2 ≈ s22 + 2s2 α3 ,
woraus
α3 ≈
2 − s22
1
=−
2s2
12
(1.12)
2−s2
1
.
folgt. Nun setzen wir a3 ∶= 2s22 = − 12
√
Auf diese Weise finden wir als dritte Annäherung für 2
s3 = a1 + a2 + a3 = 1 +
1 1 17
−
= .
2 12 12
(1.13)
Wir halten hier auch noch fest, dass
s3 = s2 + a3 = s2 +
2 − s22 2 + s22 1
2
=
= (s2 + )
2s2
2s2
2
s2
(1.14)
2
Da ( 17
12 ) = 2.00694 ist, ist diese Annäherung wieder besser als die Vorangehende.
Man kann zeigen, dass wenn man so weiterfährt, die Glieder dieser Reihe rekursiv durch
sn+1 =
2 + s2n 1
2
= (sn + ) ,
2sn
2
sn
∀n ∈ N
(1.15)
bestimmt werden können und dass diese Reihe konvergiert [DVA S. 189].
Die Reihe
1,
3
,
2
17
,
12
577
,
408
665857
...
470832
besteht also ausschliesslich aus rationalen Zahlen und approximiert
(1.16)
√
2 beliebig gut.
√
Aus der Vorlesung “Grundbegriffe der Mathematik” [vgl. HAG, S. 27] wissen wir, dass 2
irrational ist. Wir haben also eine Folge, welche aus Elementen von Q besteht aber deren
Grenzwert in der Menge Q nicht existiert! Genau um die Existenz solcher Grenzwerte
geht es im nächsten Abschnitt.
1.2. Die Vollständigkeit von R
1.2.3
19
Die Vollständigkeit
Es gibt verschiedene Möglichkeiten R zu beschreiben13 . Wir können leider in dieser Veranstaltung aus Zeitgründen nicht auf dieses spannende Gebiet der Mathematik eingehen.
Die für uns wichtigste Eigenschaft von R ist das Axiom der Vollständigkeit:
Vollständigkeit von R
Jede Cauchy-Folge hat einen Grenzwert.
Mit der Vollständigkeit von R können wir zeigen, dass monotone und beschränkte Folgen
konvergent sind:
Satz 1.19 Konvergenz von monotonen und beschränkten Folgen
1. Jede monoton wachsende, beschränkte Folge hat einen Grenzwert.
2. Jede monoton fallende, beschränkte Folge hat einen Grenzwert.
Beweis 2 Sei (an ) eine monoton wachsende beschränkte Folge. Wir werden zeigen, dass
(an ) eine Cauchy-Folge ist. Da die Folge beschränkt ist, ∃M ∈ R mit an ⩽ M für alle n ∈ N0 .
Wir führen diesen Beweis per Widerspruch: wir nehmen an, dass (an ) keine Cauchy-Folge
ist. D.h.:
∃ϵ > 0 ∀N ∈ N0
∃n, m ⩾ N (∣an − am ∣ > ϵ).
(1.17)
Die Idee dieses Beweises ist, dass wir eine Teilfolge (bm ) von (an ) konstruieren, welche nicht
beschränkt ist. Dann ist aber auch die Folge (an ) nicht beschränkt, was ein Widerspruch ist.
Nach (1.17) gibt es für N = 0 natürliche Zahlen n1 , n0 ⩾ 0 mit ∣an1 − an0 ∣ > ϵ . Ohne Einschränkung der Allgemeinheit können wir n1 > n0 annehmen. Da (an ) monoton wachsend
ist, ist dann an1 > an0 und somit gilt ∣an1 − an0 ∣ = an1 − an0 > ϵ .
Wir setzen b0 ∶= an0 und b1 ∶= an1 und halten fest
b1 − b0 > ϵ .
Auch für N = n1 gibt es nach (1.17) natürliche Zahlen n3 > n2 ⩾ n1 mit an3 − an2 > ϵ .
13
Z.B. mit Dedekindsche Schnitte [HA1, S. 30-32] oder mit Intervallschachtelung [BHA, S.105] oder man
kann R auch axiomatisch definieren [HA1, S. 35-37].
20
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Wir setzen b2 ∶= an2 und b3 ∶= an3 und es gilt:
b3 − b2 > ϵ .
Wir konstruieren auf diese Weise rekursiv weitere Glieder der Folge (bm ) bis zu einem14
ungeraden k ∈ N0 mit k ⩾ 2ϵ (M − b0 ).
Dann gilt:
bk = bk − bk−1 + bk−1 − bk−2 +bk−2 − ... + ... + b3 − b2 + b2 − b1 + b1 − b0 +b0
´¹¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹¸¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹¶ ´¹¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¸¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¶
´¹¹ ¹ ¸ ¹ ¹ ¶ ´¹¹ ¹ ¸ ¹ ¹ ¶ ´¹¹ ¹ ¸ ¹ ¹ ¶
>ϵ
⩾0
>
k
⋅ ϵ + b0
2
⩾
2
1
⋅ ϵ ⋅ (M − b0 ) + b0
2
ϵ
>ϵ
⩾0
>ϵ
= M.
Also ist bk = ank > M und das ist ein Widerspruch zur Beschränktheit der Folge (an ).
(an ) ist also eine Cauchy-Folge und damit konvergent.
Der Beweis für monoton fallende Folgen ist analog.
Bemerkung
Man kann zeigen: wenn jede monoton wachsende beschränkte Folge konvergiert, dann konvergiert auch jede Cauchy-Folge. D.h. man kann zeigen, dass diese Eigenschaft äquivalent
zur Vollständigkeit von R ist.
Im Folgenden werden wir zeigen, dass die Vollständigkeit von R auch mit Intervallschachtelungen charakterisiert werden kann15 .
Eine Intervallschachtelung ([ak , bk ])k∈N0 ist eine Folge von Intervallen
[a0 , b0 ] ⊇ [a1 , b1 ] ⊇ [a2 , b2 ] ⊇ ... ,
14
Da die Folge der natürlichen Zahlen unbeschränkt ist (Satz des Eudoxos S.16) ist es möglich ein solches
k zu finden.
15
Sogar R selber kann als �quivalenzklasse von Intervallschachtelungen beschrieben werden.
1.2. Die Vollständigkeit von R
21
wobei die Intervallenden an und bn für jedes n ∈ N0 reelle Zahlen sind und die Intervalllängen
bn − an gegen 0 konvergieren.
Es gilt also
a0 ⩽ a1 ⩽ a2 ⩽ ... ⩽ b2 ⩽ b1 ⩽ b0 .
Da (an ) und (bn ) monotone beschränkte Folgen sind, sind sie nach dem vorherigen Satz
konvergent. Da die Intervalllängen gegen Null konvergieren müssen beide Folgen gegen
denselben Grenzwert c konvergieren16 . Es gilt:
an ⩽ c und
c ⩽ bn
für alle n ∈ N0
sowie
lim an = c = lim bn .
n→∞
n→∞
Diesen gemeinsamen Grenzwert c nennen wir Grenzwert der Intervallschachtelung
([ak , bk ])k∈N0 .
Damit haben wir gezeigt:
Satz 1.20 Grenzwerte von Intervallschachtelungen
Jede Intervallschachtelung in R hat einen Grenzwert.
Bemerkung
Auch diese Eigenschaft ist äquivalent zur Vollständigkeit von R.
Man kann zeigen, dass wenn das archimedische Axiom gilt und jede Intervallschachtelung
einen Grenzwert hat, dann ist jede Cauchy-Folge konvergent.
Beispiel 1.21
√
In Figur 10 S. 4√wird behauptet, dass die rekursiv durch d0 = 1 und dn+1 = dn + 5 definierte
Folge gegen 1+ 2 21 konvergiert. Erst jetzt sind wir in der Lage dies zu zeigen.
Zuerst zeigen wir mit
√ vollständiger Induktion, dass (dn ) eine monoton wachsende Folge ist.
Da d0 = 1 und d1 = 6 ist die Verankerung richtig. Nun nehmen wir an, dass dn ⩾ dn−1 für
ein beliebiges aber festes n ∈ N0 ist.
16
Dies kann man per Widerspruch zeigen. Annahme: die zwei Folgen konvergieren gegen verschiedenen
Zahlen a = limn→∞ an und b = limn→∞ bn . Da 0 = limn→∞ (bn − an ) ist und nach der Definition von a und
b, existiert für ϵ = ∣b − a∣ > 0 ein Nϵ mit ∣an − a∣ < 3ϵ , ∣b − bn ∣ <
ϵ = ∣b − a∣ ≤ ∣b − bn ∣ + ∣bn − an ∣ + ∣an − a∣ < 3 ⋅
ϵ
3
ϵ
3
und ∣an − bn ∣ <
ϵ
3
= ϵ. Also ϵ < ϵ, was ein Widerspruch ist.
für alle n ⩾ Nϵ . D.h.
22
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Da die Quadratwurzelfunktion monoton wachsend ist17 , gilt nach der Induktionsannahme:
√
√
dn + 5 ⩾ dn−1 + 5.
Also gilt:
dn+1 =
√
dn + 5 ⩾
√
dn−1 + 5 = dn .
Wir zeigen nun, ebenfalls per vollständiger Induktion, dass (dn ) beschränkt ist und zwar
zeigen wir, dass dn < 3 gilt, ∀n ∈ N0 .
Da d0 = 1, ist die Verankerung bestimmt richtig. Wir nehmen an, dass dn < 3 sei für ein
beliebiges aber festes n ∈ N0 . Nach der Induktionsannahme ist
√
√
√
dn+1 = dn + 5 ⩽ 3 + 5 = 8 < 3.
Nach dem Satz über die Konvergenz von monotonen und beschränkten Folgen (Satz 1.19)
gibt es ein d ∈ R mit d = limn→∞ dn . Aber natürlich gilt auch d = limn→∞ dn+1 . Also:
√
d = lim dn = lim dn+1 = lim dn + 5.
n→∞
n→∞
n→∞
Nach Satz 1.8 S. 8 gilt
d2 = lim
Die positive Lösung d =
der Folge (dn ).
1.2.4
√
n→∞
√
1+ 1+20
2
√
dn + 5 dn + 5 = lim (dn + 5) = d + 5.
n→∞
der quadratischen Gleichung d2 −d−5 = 0 ist der Grenzwert
Supremum und Infimum
Wir wollen noch eine weitere Eigenschaft, die aus der Vollständigkeit von R folgt, untersuchen. Dazu brauchen wir einige Begriffe.
Sei M eine nicht-leere Teilmenge von R. Man nennt M nach oben beschränkt wenn es
ein w ∈ R gibt, so dass x ⩽ w für alle x ∈ M gilt. Jedes derartige w heisst dann obere
Schranke von M . Entsprechend heisst M nach unten beschränkt wenn es ein v ∈ R
gibt, so dass x ⩾ v für alle x ∈ M gilt. Jedes derartige v heisst dann untere Schranke
von M .
M heisst beschränkt, wenn es sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt ist.
Eine Zahl S ∈ R heisst Supremum von M oder kleinste obere Schranke von M , falls
x ⩽ S ⩽ w für alle x ∈ M und für jede obere Schranke w von M .
17
Um zu zeigen, dass die Quadratwurzelfunktion monoton wachsend ist, nehmen wir an, dass es zwei
√
√
√
Zahlen 0 < a < b gibt, mit a > b. Wenn man diese Ungleichung mit a multipliziert, erhält man
√
√ √
√ √
√ √
√ √
a ⋅ a > a ⋅ b und wenn man sie mit b multipliziert a ⋅ b > b ⋅ b. Aber dann wäre a > b, denn
√ √
√ √ √ √
a = a ⋅ a > a ⋅ b > b ⋅ b = b und das ist ein Widerspruch.
1.2. Die Vollständigkeit von R
23
In Zeichen:
S = sup M .
Analog definieren wir:
Eine Zahl s in R heisst Infimum von M oder grösste untere Schranke von M , falls
v ⩽ s ⩽ x für alle x ∈ M und für jede untere Schranke v von M gilt.
In Zeichen:
s = inf M .
Das sup M bzw. inf M müssen nicht zu M gehören. Gilt jedoch sup M ∈ M , so ist dies das
grösste Element von M und wird mit
max M
bezeichnet. Gilt inf M ∈ M , so handelt es sich entsprechend um das kleinste Element
von M und wird mit
min M
bezeichnet.
Satz 1.22 Satz vom Supremum und Infimum beschränkter Mengen
1. Jede nicht-leere nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum.
2. Jede nicht-leere nach unten beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Infimum.
Dieser Satz gilt nicht für eine Menge M rationaler Zahlen. Die Menge M = {x ∈ Q ∣ x2 ⩽ 2}
besitzt kein Supremum in Q.
Beweis 3 (Beweis des Satzes vom Supremum und Infimum beschränkter Mengen)
Sei M eine nicht-leere Teilmenge von R, a ∈ M und w eine obere Schranke von M . Auch
diesmal konstruieren wir eine Intervallschachtelung: Ist die Mitte von [a, w] eine obere
Schranke von M , so nehmen wir die linke Intervallhälfte und setzen
a0 = a
und b0 =
a+w
,
2
sonst die rechte und setzen
a+w
und b0 = w .
2
Nach dieser Vorschrift entsteht durch fortgesetzte Intervallhalbierung eine Folge ineinander
a0 =
geschachtelter Intervalle [an , bn ], wobei bn für jedes n ∈ N eine obere Schranke von M ist
24
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
und jedes dieser Intervalle Elemente aus M enthält. Da die Intervalllänge immer halbiert
wird, konvergiert diese Folge der Intervallängen gegen Null. Diese Intervallschachtelung
besitzt, da R vollständig ist, einen Grenzwert x mit
an ⩽ x ⩽ bn und x = lim an = lim bn .
n→∞
n→∞
Nun müssen wir zeigen, dass x das Supremum von M ist. D.h. wir müssen zeigen, dass
(i) x eine obere Schranke von M ist und dass
(ii) x die kleinste obere Schranke von M ist .
Zu (i): Wäre x keine obere Schranke, gäbe es ein c ∈ M mit c > x. Da bn − an beliebig klein
wird, gäbe es dann ein bn < c,
im Widerspruch zur Konstruktion der Intervallschachtelung, nach der bn obere Schranke
von M ist.
Zu (ii): Sei x′ < x, dann gibt es, da bn − an gegen Null konvergiert, ein an mit x′ < an ⩽ x
und da es in jedem Intervall [an , bn ] nach Konstruktion Elemente aus M gibt, gibt es ein
a′ ∈ M welches zu [an , bn ] gehört. Dann ist aber x′ < an ⩽ a′ und dann ist x′ keine obere
Schranke von M .
Bemerkung
Auch diese Eigenschaft ist äquivalent zur Vollständigkeit von R.
Ich möchte nun eine Eigenschaft von R erwähnen, die insbesondere zeigt, wieso wir uns
“im Alltag” mit den rationalen Zahlen meistens zufrieden geben:
1.2. Die Vollständigkeit von R
25
Satz 1.23 Die rationalen Zahlen sind dicht in R
Sei r eine reelle Zahl (insbesondere kann r also auch eine irrationale Zahl sein).
Dann gibt es zu jedem auch noch so kleinen ϵ > 0 eine rationale Zahl q, die zwischen
r − ϵ und r + ϵ liegt. D.h. ∃ q ∈ Q mit q ∈]r − ϵ, r + ϵ[ bzw. ∣r − q∣ < ϵ.
Bemerkungen
Man sagt dafür, dass Q dicht in R liegt oder, dass jede reelle Zahl sich beliebig gut durch
rationale Zahlen approximieren lässt. “Beliebig gut” ist eine Kurzfassung für “bis auf einen
Fehler, der kleiner ist als eine beliebige, fest vorgegebene (positive) Fehlerschranke ϵ > 0”.
Aus diesem Satz folgt insbesondere, dass zwischen zwei verschiedenen reellen Zahlen immer mindestens eine rationale Zahl liegt. Wenn s und t zwei beliebige reelle Zahlen sind,
t−s
mit t > s und wir r = s+t
2 und ϵ = 2 setzen, dann gilt s = r − ϵ und t = r + ϵ und nach dem
obigen Satz existiert eine rationale Zahl zwischen s und t.
Beweis 4 (Beweis vom Satz 1.23) Sei ϵ > 0. Wir wählen gemäss Satz des Eudoxus
zunächst eine natürliche Zahl m mit
1
m
< ϵ. Wir betrachten zuerst den Fall, dass r ⩾ 0 ist.
Die Idee dieses Beweises ist nun, dass wir das Intervall [r − m1 , r + m1 ] “aufblasen”, d.h. mit
m ∈ N multiplizieren: [rm − 1, rm + 1].
Zu diesem “aufgeblasenen” Intervall der Länge 2 gehören18 zwei ganze Zahlen k und k − 1
mit der Eigenschaft
rm − 1 < k − 1 ⩽ rm < k ⩽ rm + 1 .
Dann dividieren wir wieder alles durch m und es gilt:
1 k−1
k
1
r− <
⩽r<
⩽r+
.
m
m
m
m
k
Für q = m
∈ Q gilt somit:
1
1
q ∈ [r − , r + ] ⊂]r − ϵ, r + ϵ[ .
m
m
Im Beweis haben wir sogar gezeigt, dass es im Intervall ]r − ϵ, r + ϵ[ eine rationale Zahl
q1 =
k
m
gibt mit q1 > r, sowie eine rationale Zahl q2 =
k−1
m
mit q2 ⩽ r.
Falls r < 0 ist, können wir −r betrachten und es gibt nach dem eben Bewiesenen eine
rationale Zahl q welche im Intervall ] − r − ϵ, −r + ϵ[ liegt, aber dann ist −q ∈]r − ϵ, r + ϵ[ die
gesuchte rationale Zahl.
18
Nach dem archimedischen Axiom, gibt es natürliche Zahlen n, welche grösser als rm sind. Nach dem
Wohlordnungsprinzip hat die Menge dieser Zahlen ein kleinstes Element k.
26
1. Konvergenz und Grenzwerte von Folgen
Ist r reell, so gibt es, da die rationalen Zahlen dicht in R sind (Satz 1.23), für jedes n ∈ N
eine rationale Zahl qn mit ∣qn − r∣ < n1 . Die so konstruierte rationale Folge (qn ) konvergiert
gegen r. Wir haben damit gezeigt, dass:
Satz 1.24 Jede reelle Zahl ist Grenzwert einer Folge rationaler Zahlen.
Man könnte nach diesem Satz auf die Idee kommen, dass es “wenige” irrationalen Zahlen
gibt, aber:
Satz 1.25 Die irrationalen Zahlen sind dicht in R
Sei r eine reelle Zahl (insbesondere kann r also auch eine rationale Zahl sein). Dann
gibt es zu jedem auch noch so kleinen ϵ > 0 eine irrationale Zahl s, die zwischen r − ϵ
und r + ϵ liegt: D.h. s ∈]r − ϵ, r + ϵ[ bzw. ∣r − s∣ < ϵ.
Beweisidee: Der Beweis erfolgt analog dem Beweis vom Satz 1.23. Man “bläst” das Intervall mit einer geeigneten natürlichen Zahl
auf und findet
im aufgeblasenen Intervall eine
√
√
2
2
irrationale Zahl (z.B. ein Vielfaches von 2 , da 0 < 2 < 1). Dann lässt man das Intervall
wieder “schrumpfen”.
Da auch die irrationalen Zahlen dicht in R sind, gilt auch für irrationale Zahlen der analoge
Satz zu Satz 1.24:
Satz 1.26 Jede reelle Zahl ist Grenzwert einer Folge irrationaler Zahlen.
Nun könnte man auf die Idee kommen, dass es gleich viele rationale wie irrationalen Zahlen gibt: dem ist nicht so. Die rationalen Zahlen sind abzählbar (d.h. man kann eine Folge
angeben, welche alle rationalen Zahlen enthält), die irrationalen Zahlen sind hingegen überabzählbar (es ist unmöglich eine Folge anzugeben, welche alle irrationalen Zahlen enthält).
Beispiele von
√ irrationalen Zahlen sind bekanntlich π, die Eulersche Zahl e19und die Quadratwurzel n jeder natürlichen Zahl n ∈ N0 , welche keine Quadratzahl ist .
19
Eine Zahl n ∈ Z ist genau dann keine Quadratzahl, wenn in der Primfaktorzerlegung von
n = pn1 1 pn2 2 pn3 3 pn4 4 ... (alle pi verschieden) mindestens ein Exponent ni ungerade ist.
Kapitel 2
Grenzwerte von Funktionen und
Stetigkeit
In dieser Veranstaltung werden wir grundsätzlich nur reelle Funktionen f ∶ A → B betrachten, d.h. Funktionen bei denen sowohl der Definitionsbereich A als auch die Zielmenge B
Teilmengen von R sind [vgl. HAG, Kap. 3]. Zudem werden wir uns auf reelle Funktionen
beschränken bei denen der Definitionsbereich ein Intervall ist oder als Vereinigung endlich
vieler Intervalle dargestellt werden kann. Einige der wenigen Ausnahmen diesbezüglich sind
die Folgen, welche N0 als Definitionsbereich haben.
Vereinbarung:
Wenn in diesem Skript eine Funktion f ∶ A → B betrachtet wird, dann ist damit wenn nicht explizit anders erwähnt - immer eine reelle Funktion gemeint und A ist
ein Intervall oder eine Vereinigung endlich vieler Intervalle.
2.1 Grenzwerte von Funktionen
Wir haben bei Folgen nur untersucht, was geschieht wenn n immer grösser wird (limn→∞ ).
Bei reellen Funktionen f ∶ A → B wird es insbesondere auch von Interesse sein, was mit
f (x) geschieht, wenn x sich einer bestimmten Zahl a nähert1 .
Als Nächstes betrachten wir vier Beispiele, die solche Untersuchungen nahe legen:
Beispiele 2.1 Die folgenden vier Funktionen haben Definitionslücken:
1. f ∶ R ∖ {−1} → R ∶ x ↦
1
x2 − 1
,
x+1
a kann zu A gehören oder auch ”Randpunkt” des Definitionsbereiches A sein.
28
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
1
,
(x − 2)3
√
x2
3. h ∶ R ∖ {0} → R ∶ x ↦
,
x
√
1 − 1 − x2
4. k ∶ [−1, 1] ∖ {0} → R ∶ x ↦
.
x2
2. g ∶ R ∖ {2} → R ∶ x ↦
Es ist schwierig, sich vorzustellen wie sich diese Funktionen verhalten, insbesondere ist es
sehr schwierig herauszufinden was in der Nähe der Definitionslücken geschieht. Um eine
erste Vorstellung zu erhalten wie die Funktionen sich dort verhalten, können wir die Graphen betrachten2 .
2
Figur 16: Graph der Funktion f
Figur 17: Graph der Funktion g
Figur 18: Graph der Funktion h
Figur 19: Graph der Funktion k
Figur 27 S.49 zeigt uns allerdings, dass man sich nicht ausschliesslich auf die Anschauung verlassen
kann.
2.1. Grenzwerte von Funktionen
29
• Die Funktion f ist an der Stelle x = −1 nicht definiert. Für x ≠ −1 kann die Funkti2 −1
onsgleichung xx+1
= (x−1)(x+1)
= x − 1 gekürzt werden. Nähert sich x irgendeiner Zahl
x+1
a ≠ −1, so nähert sich f (x) der Zahl a − 1. Nähert sich x der Zahl a = −1, wobei x
ungleich −1 ist, so nähert sich f (x) der Zahl −1 − 1 = −2. Eigentlich kann man also
den Graphen über die Definitionslücke hinweg zeichnen und diese künstliche Lücke
beseitigen! Egal, welcher Zahl sich x nähert, es gibt immer einen (anschaulich klaren)
2 −1
Grenzwert. Die Funktionen f ∶ R ∖ {−1} → R ∶ x ↦ xx+1
und f˜ ∶ R → R ∶ x ↦ x − 1
sind aber zwei verschiedene Funktionen, da sie zwei verschiedene Definitionsbereiche
haben (vgl. [HAG, S.79]).
• Die Definitionslücke der Funktion g ist wesentlich. Nähert sich x der Zahl 2 von
rechts, so wächst der Wert g(x) über alle Grenzen. Nähert sich x der Zahl 2 von
links, so wird der Wert g(x) immer kleiner genauer: g(x) wächst über alle Grenzen.
• Auch in h ist die Definitionslücke bei 0 wesentlich. Für positives x ist h(x) = 1, für
negatives x ist h(x) = −1. Ist x nahe einer Zahl a ≠ 0 und nähert sich dieser, dann ist
je nach Vorzeichen von a stets h(x) = 1 bzw. h(x) = −1. Nähert sich dagegen x der
Zahl a = 0, so tritt verschiedenes Verhalten auf: Bei Annäherung von rechts ist h(x)
stets 1, bei Annäherung von links ist h(x) stets −1, bei wechselseitiger Annäherung3
springt h(x) zwischen 1 und −1 hin und her. Man kann in diesem Fall für x gegen
Null nicht von einem Grenzwert sprechen.
• Anhand des Graphen sehen wir, dass an der Stelle der Definitionslücke, egal ob
wir uns von links oder rechts dieser Stelle annähern, sich der Wert von k(x) der
Zahl 0.5 annähert. Es fällt uns aber schwerer, im Gegensatz zur Funktion f , eine
Termumformung zu finden, die uns das zeigt.
Wie wir an diesen Beispielen gesehen haben, ist es nicht immer einfach, das Verhalten
einer Funktion an einer bestimmten Stelle zu untersuchen. Wir haben uns auf die Graphen
gestützt, aber das ist nicht immer möglich und wie wir später sehen werden auch oft
trügerisch.
Wir wollen nun die anschaulich-dynamische Redewendung “f (x) strebt gegen b, wenn x
gegen a geht” mathematisch sauber definieren. Wir stützen uns dabei zunächst auf die Idee
der Konvergenz von Folgen:
3
) mit den Gliedern −1, 12 , − 13 , 14 , ... springt die Folge h ( (−1)
) von −1 zu 1.
Z.B. für die Folge ( (−1)
n
n
n
n
30
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Definition 2.2 Die Funktion f ∶ A → B hat für x → a den Grenzwert b, wenn es zu
jedem noch so kleinen ϵ > 0 ein δ > 0 gibt, so dass4
∣f (x) − b∣ < ϵ für alle x ∈ A mit 0 < ∣x − a∣ < δ .
Für diesen Sachverhalt schreiben wir:
lim f (x) = b .
x→a
Bemerkungen
1. Zunächst versuchen wir diese Definition geometrisch zu verstehen und illustrieren Sie
an einem Graphen.
Anschaulich ist in diesem konkreten Beispiel klar, dass lim f (x) = b gilt.
x→a
Figur 20: ϵ-Streifen um b und δStreifen um a. Wir sehen, dass für
δ1 die Bedingung erfüllt ist: für alle
x ∈ ]a − δ1 , a − δ1 [ gilt ∣g(x) − b∣ < ϵ.
Der δ-Streifen hätte sogar etwas grösser gewählt werden können, wie δ2 in der folgenden Figur zeigt.
δ3 ist hingegen zu gross gewählt worden.
4
Ganz formal kann man diese Definition wie folgt aufschreiben:
∀ϵ > 0
∃δ > 0
∀x ∈ A (0 < ∣x − a∣ < δ Ð→ ∣f (x) − b∣ < ϵ)
2.1. Grenzwerte von Funktionen
31
Figur 21: δ2 - und δ3 -Streifen
Dass es in hier mit δ3 nicht geht, heisst nicht, dass die Funktion nicht konvergiert.
Verlangt wird nur ein δ. Für δ = δ1 oder δ = δ2 ist die Bedingung für das vorgegebene
ϵ erfüllt.
2. Als zweites wollen wir uns Gedanken machen, welches die Beziehung von a zur Menge
A ist.
In der Definition des Grenzwertes einer Funktion:
∣f (x) − b∣ < ϵ für alle x ∈ A mit 0 < ∣x − a∣ < δ
müssen die x-Werte zu A gehören, die betrachtete Stelle a aber nicht unbedingt.
Wir haben zu Beginn des Kapitels gesagt, dass wir uns auf reelle Funktionen beschränken werden, deren Definitionsbereich ein Intervall ist oder als Vereinigung endlich vieler Intervalle dargestellt werden kann.
Wie im obigen Beispiel kann a ein Element von A sein. Aber a kann auch ein Randpunkt eines der Intervalle sein, aus denen der Definitionsbereich besteht. Das ist zum
Beispiel der Fall bei der Funktion
√
1 − 1 − x2
k ∶ [−1, 1] ∖ {0} → R ∶ x ↦
x2
im einführenden Beispiel 4, S. 28. Hier ist die Funktion k an der Stelle 0 nicht definiert,
0 ist aber ein Randpunkt beider Intervalle, aus denen der Definitionsbereich von f
zusammengesetzt ist:
[−1, 1] ∖ {0} = [−1, 0[ ∪ ]0, 1]
32
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
3. Für die Funktion
f ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ {
x − 1 für x ⩽ 0
x + 1 für x > 0 .
gehört a = 0 zum Definitionsbereich von f ,
aber diese Funktion hat für lim keinen Grenzx→a
wert.
Denn für irgend eine reelle Uahl b ∈ R und
z.B. für ϵ = 12 gibt es kein δ > 0, so dass
∣f (x) − b∣ < ϵ für alle 0 < ∣x∣ < δ gilt.
Figur 22: Graph der Funktion f .
Beispiel 2.3 Wir möchten nun anhand der Definition des Grenzwertes einer Funktion
zeigen, dass lim x2 = 1, was anschaulich klar ist.
x→1
Sei also ϵ > 0. Wir müssen versuchen ein δ zu finden mit ∣x2 − 1∣ < ϵ, falls 0 < ∣x − 1∣ < δ.
Es gilt: ∣x2 − 1∣ = ∣x − 1∣∣x + 1∣. Wir wissen ∣x − 1∣ < δ. Nun müssen wir versuchen auch eine
Abschätzung von ∣x + 1∣ zu finden:
∣x + 1∣ = ∣x + 1 − 1 + 1∣ ⩽ ∣2∣ + ∣x − 1∣ < 2 + δ (Dreiecksungleichung, vgl. Anhang B S.137).
Also ist ∣x2 − 1∣ = ∣x − 1∣∣x + 1∣ < δ(2 + δ). Da δ eine kleine Zahl ist, können wir verlangen,
dass δ < 1 gilt. Dann haben wir: ∣x2 − 1∣ = ∣x − 1∣∣x + 1∣ < 3δ.
Jetzt sehen wir, wie δ gewählt werden kann: Es muss einerseits gelten, dass δ < 1 ist und
anderseits, dass 3δ < ϵ ist. Also: sei δ < min {1, 3ϵ }, dann gilt:
∣x2 − 1∣ = ∣x − 1∣∣x + 1∣ < 3δ < ϵ.
Das Rechnen mit Grenzwerten wird einfacher, wenn wir die nachkommende Sätze zur
Verfügung haben.
Für die folgenden Sätze erinnere ich daran, dass der Definitionsbereich A eine Vereinigung
endlich vieler Intervalle ist, und a entweder zu A gehört oder ein Randpunkt von A ist.
2.1. Grenzwerte von Funktionen
33
Satz 2.4 Grenzwerte bei Summen, Differenzen, Produkten und Beträgen
von Funktionen
Seien f ∶ A Ð→ R und g ∶ A Ð→ R Funktionen.Gilt nun: lim f (x) = b und lim g(x) =
x→a
x→a
c, so gilt:
1. lim(f (x) + g(x)) = b + c ,
x→a
2. lim(f (x) − g(x)) = b − c ,
x→a
3. lim(f (x) ⋅ g(x)) = bc ,
x→a
4. lim(k ⋅ f (x)) = k ⋅ b für jede Konstante k ,
x→a
5. lim ∣f (x)∣ = ∣b∣ .
x→a
Bemerkung
Die Eigenschaften 1. und 4. besagen, dass die Limesbildung ein lineares Operator ist.
Satz 2.5 Grenzwerte bei Quotienten und Quadratwurzeln von Funktionen
Seien f ∶ A Ð→ R und g ∶ A Ð→ R Funktionen mit lim f (x) = b und lim g(x) = c.
x→a
x→a
1. Falls c ≠ 0 und g(x) ≠ 0 für alle x in einer Umgebung von a ist, dann gilt
f (x)
b
lim (
)= .
x→a g(x)
c
√
√
2. Falls f (x) ⩾ 0 für alle x ∈ A ist, dann ist die Funktion f ∶ A → R; x ↦ f (x)
√
√
definiert und es gilt: lim f (x) = b .
x→a
Unter einer Umgebung oder genauer einer ϵ-Umgebung von a in A verstehen wir eine
Teilmenge ]a − ϵ, a + ϵ[ ∩ A des Definitionsbereichs A (ϵ > 0).
34
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Beispiel 2.6
1−
√
1 − x2
Im Beispiel 2 S.31 haben wir die Funktion k ∶ [−1, 1] ∖ {0} → R ∶ x ↦
betrachtet
x2
√
1 − 1 − x2 1
und am Graph “erkannt”, dass lim
= .
x→0
x2
2
Mit den vorherigen Sätzen können wir jetzt zeigen, dass unsere Vermutung stimmt:
1−
√
√
√
1 − x2 (1 − 1 − x2 )(1 + 1 − x2 )
x2
1
√
√
√
=
.
=
=
x2
x2 (1 + 1 − x2 )
x2 (1 + 1 − x2 ) 1 + 1 − x2
Für x → 0 konvergiert 1 +
√
1 − x2 → 2 und somit gilt nach Satz 2.4
lim
1−
√
x→0
1 − x2 1
= .
x2
2
Satz 2.7
Seien f ∶ A Ð→ R, g ∶ A Ð→ R und h ∶ A Ð→ R Funktionen.
1. Gilt nun: lim f (x) = b und lim g(x) = b und f (x) ⩽ h(x) ⩽ g(x) für alle x
x→a
x→a
in einer Umgebung von a, so folgt
lim h(x) = a
x→a
2. Falls g beschränkt ist und lim f (x) = 0, so gilt auch lim (g(x)f (x)) = 0.
x→a
x→a
Konvergenz für ±∞
Auch bei Funktionen, deren Definitionsbereich ein unbeschränktes Intervall enthält, stellt
sich die Frage nach dem Randverhalten. Salopp gesagt, fragen wir nach dem Verhalten
einer Funktion ”im Unendlichen”.
Ein solches Beispiel zeigt Figur 23:
2.1. Grenzwerte von Funktionen
35
Figur 23: lim f (x) = b.
x→∞
Die Definition solcher Grenzwerte ist ähnlich wie im Fall der Folgen. Neu ist hier, dass
auch Grenzwerte für x → −∞ untersucht werden können.
Definition 2.8 Sei f ∶ A Ð→ R eine Funktion und A enthalte ein rechts unbeschränktes
Intervall (d.h. es gibt eine Zahl a mit ]a, ∞[ ⊆ A).
Die Funktion f konvergiert gegen b für x → ∞, falls es zu jedem noch so kleinen ϵ > 0
ein rϵ ⩾ a gibt, so dass für jedes x > rϵ gilt
∣f (x) − b∣ < ϵ .
Und analog:
Sei g ∶ B Ð→ R eine Funktion und B enthalte ein links unbeschränktes Intervall (d.h.
] − ∞, a[ ⊆ A).
Die Funktion g konvergiert gegen c für x → −∞, falls es zu jedem noch so kleinen ϵ > 0
ein rϵ ⩽ a gibt, so dass für jedes x < rϵ gilt
∣g(x) − c∣ < ϵ .
Wir schreiben
lim f (x) = b und lim g(x) = c .
x→∞
x→−∞
36
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Satz 2.9
Seien f ∶ A Ð→ R und g ∶ A Ð→ R Funktionen und A enthalte ein rechts unbeschränktes Intervall.
Gilt nun: lim f (x) = a und lim g(x) = b, so gelten die analogen Eigenschaften wie
x→∞
x→∞
im Satz 2.4, Satz 2.5 und Satz 2.7.
Falls A ein links unbeschränktes Intervall enthält, dann gelten die analogen Eigenschaften für lim .
x→−∞
Beispiel 2.10
Wir betrachten die Funktion h ∶ R ∖ {0} → R ∶ x ↦
sin(x)
=0
x→∞
x
sin(x)
x
Figur 24: lim
Im Folgenden zeigen wir, dass lim
x→∞
sin(x)
= 0.
x
Da der Zähler immer zwischen −1 und 1 liegt gilt:
1 sin(x) 1
− ⩽
⩽ , ∀x ∈ R.
(2.1)
x
x
x
1
1
sin(x)
Da sowohl lim − = 0 als auch lim = 0 gilt5 , muss auch lim
= 0 gelten (Satz 2.9).
x→∞ x
x→∞ x
x→∞
x
Zeigen Sie:
1. lim 2x = 0
x→−∞
2. lim
x→∞
5
x+1
=1
x−1
Vgl. Satz des Eudoxus und Archimedischer Axiom S. 16.
2.2. Uneigentliche Grenzwerte
37
Beispiele 2.11
Man kann z.B. zeigen, dass
sin(x)
= 1 [BHA S. 178] und
x→0
x
1. lim
2. lim xx = 1 [BHA S. 180] gilt.
x→0
Satz 2.12 Folgenkriterium
Gegeben seien reelle Zahlen a und b. Die Funktion f ∶ A → R hat für x → a genau
dann den Grenzwert b, wenn für jede Folge (xn )n∈N0 in A mit lim xn = a und
n→∞
xn ≠ a ∀n ∈ N0 , die zugehörige Wertefolge (f (xn ))n∈N0 gegen b konvergiert.
Bemerkung
In vielen Beispielen ist das Folgenkriterium sehr hilfreich um zu zeigen, dass an einer
bestimmten Stelle kein Grenzwert existiert.
2.2 Uneigentliche Grenzwerte
Sei f ∶ A Ð→ R eine Funktion und A ein Randpunkt von A, der nicht zu A gehört.
Wir sagen f divergiert bestimmt gegen ∞ für
x → a, falls es für jedes noch so grosse r ∈ R ein
δ > 0 gibt, so dass f (x) > r ist für alle x ∈ A mit
0 < ∣x − a∣ < δ
In Zeichen:
lim f (x) = ∞ .
x→a
38
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Analog definieren wir: f divergiert bestimmt
gegen −∞ für x → a, falls es für jedes noch so
grosse r ∈ R ein δ > 0 gibt, so dass f (x) < −r ist
für alle x ∈ A mit 0 < ∣x − a∣ < δ. In Zeichen:
lim f (x) = −∞ .
x→a
Falls A ein rechts unbeschränktes Intervall enthält
und für jedes noch so grosse r ∈ N0 ein xr existiert,
so dass f (x) > r für alle x > xr ist, so sagen wir f
divergiere bestimmt gegen ∞ für x → ∞. In
Zeichen:
lim f (x) = ∞ .
x→∞
Und analog definieren wir f divergiert bestimmt gegen −∞ für x → ∞, falls A ein
rechts unbeschränktes Intervall enthält und für jedes noch so grosse r ∈ R ein xr existiert, so dass
f (x) < −r für alle x > xr . In Zeichen:
lim f (x) = −∞ .
x→∞
Definieren Sie entsprechend und skizzieren Sie ein Bild dazu:
lim f (x) = ∞ ,
x→−∞
lim f (x) = −∞ .
x→−∞
2.3. Stetigkeit
39
Bemerkung
∞, bzw. −∞ werden in diesen Situationen uneigentliche Grenzwerte der Funktion f
für x → a bzw. x → ±∞ genannt.
Von ihnen wollen wir jedoch niemals sagen, dass sie gegen +∞ bzw. −∞ konvergieren.
Ganz ausdrücklich: Mit b = limx→a f (x) ist immer eine wohlbestimmte Zahl gemeint, ein
eigentlicher Grenzwert, niemals eines der Zeichen +∞ oder −∞.
Die Symbole +∞ und −∞ sind keine Zahlen, infolgedessen kann man auch nicht mit ihnen
rechnen.
Zeigen Sie:
1. Für die Funktion ln ∶]0, ∞[→ R ∶ x ↦ ln(x) gilt:
lim ln(x) = −∞ ,
x→0
2. Für die Funktion f ∶ R ∖ {1} → R ∶ x ↦
x+1
gilt:
x−1
3. Für die Funktion g ∶] − ∞, 0[→ R ∶ x ↦
1
gilt:
x
4. Für die Funktion p ∶ R → R ∶ x ↦ 2x gilt:
lim ∣
x→1
x+1
∣=∞ ,
x−1
1
= −∞ ,
x→0 x
lim
lim 2x = ∞ ,
x→∞
5. Für die Funktion ln ∶]0, ∞[→ R ∶ x ↦ ln(x) gilt:
lim ln(x) = ∞ .
x→∞
2.3 Stetigkeit
Definitionen 2.13 Die Funktion f ∶ A → R heisst stetig in x0 , wenn x0 in der Definitionsmenge A von f liegt und wenn
f (x0 ) = lim f (x)
x→x0
Gemäss Definition 2.2 S.30 ist die Funktion f ∶ A → R genau dann stetig in x0 ∈ A , wenn
es zu jedem noch so kleinen ϵ > 0 ein δ > 0 gibt, sodass6 :
∣f (x) − f (x0 )∣ < ϵ für alle x ∈ A mit 0 < ∣x − x0 ∣ < δ.
6
Formal können wir dies wie folgt aufschreiben:
∀ϵ > 0 ∃ δ > 0 ∀x ∈ A (0 < ∣x − x0 ∣ < δ Ð→ ∣f (x) − f (x0 )∣ < ϵ) .
40
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Ist f in jedem Punkt eines Intervalls I ⊆ A stetig, so heisst f stetig in I.
Ist f in jedem Punkt der Definitionsmenge A stetig, so heisst f stetig (bzw. stetige
Funktion).
Bemerkung
Bei der Definition der Stetigkeit einer Funktion an einer Stele x0 muss x0 zum Definitionsbereich der Funktion f gehören. Da wir uns in diesem Skript auf reelle Funktionen
beschränken, deren Definitionsbereich ein Intervall ist oder als Vereinigung endlich vieler
Intervalle dargestellt werden kann, bedeutet das, dass x0 immer aus Elementen x ∈ A angenähert werden kann. D.h. insbesondere, dass die Menge {x ∈ A∣0 < xa < δ} für alle δ > 0
nicht leer ist.
Beispiele 2.14
• Die Funktion q ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ x2 ist stetig.
x2 + 1
ist stetig. Die ”kritische Stelle” x = −1
x+1
gehört nicht zum Definitionsbereich von r.
• Die Funktion r ∶ R ∖ {−1} Ð→ R ∶ x ↦
• Die Funktion p ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ 2x ist stetig.
Wir zeigen exemplarisch die Stetigkeit dieser Funktionen an je einer Stelle:
• Wir zeigen, dass die Funktion q ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ x2 an der Stelle x0 = 3 stetig ist.
Wir müssen nach Definition der Stetigkeit zeigen, dass für jedes ϵ > 0 ein δ > 0
existiert, mit
∣q(x) − q(3)∣ < ϵ für alle x mit ∣x − 3∣ < δ .
∣q(x) − q(3)∣ = ∣x2 − 32 ∣ = ∣x − 3∣∣x + 3∣. Unser Ziel ist nun zu zeigen, dass das Produkt
von ∣x − 3∣ und ∣x + 3∣ kleiner als das vorgegebene ϵ ist. ∣x − 3∣ können wir “beliebig
klein machen”, da ∣x − 3∣ < δ und δ können wir so klein bestimmen wie wir wollen.
Jetzt müssen wir noch zeigen, dass der Faktor ∣x + 3∣ beschränkt ist.
Der Abstand zwischen x und 3 ist höchstens δ. Wenn wir δ < 1 wählen, dann gilt:
−1 < x − 3 < 1 (vgl. (1.2) S. 4) und somit 2 < x < 4.
Mit der Dreiecksungleichung gilt:
∣x + 3∣ < ∣x∣ + ∣3∣ < 4 + 3 = 7 .
Wählen wir jetzt δ ∶= min{ 7ϵ , 1}, dann ist ∣x − 3∣∣x + 3∣ < δ ⋅ 7 ≤ 7ϵ ⋅ 7 = ϵ. Also:
∣q(x) − q(3)∣ < ϵ für alle
x
mit ∣x − 3∣ < δ .
4.3 Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
181
wobei „>“ gilt, da alle Summanden der ausmultiplizierten Summe positiv sind.
Die Division der (Un-)Gleichungskette durch n liefert für alle n ∈ N
2.3. Stetigkeit
1>
n−1 2
· hn , also
2
• Wird in der Vorlesung gezeigt.
2
n−1
! "# $
> h2n (> 0).
41
→0 für n→∞
Da h2n zwischen einer Nullfolge und Null eingeschlossen ist, ist (h2n ) selbst und
√
• Wir
zeigen,
dassNullfolge.
die Funktion
p ∶gilt
R Ð→
x ↦ 2xn→∞
an der Stelle x0 = 0 stetig ist.
n
damit
auch
(hn ) eine
Damit
nR
= ∶1+h
n −→ 1 und gleichermaßen
Zuallerst müssen wir zeigen, dass
für den Kehrwert
% & n1
1
1 1
1
n→∞
für1 alle
n ⩾ 2.
(2.2)
√
=2 n − 1 < −→
,
n
n
n
n
Genau
wir jetzt
den gewünschten
nur fürAxiom
die speziSei genommen
ϵ > 0. Nachhaben
der zweiten
Folgerung
aus demGrenzwert
Archimedischen
und dem Satz
1
1
1
Eudoxus
(S. bewiesen.
16) existiert
mit 0 < nϵ < weiterer
ϵ. Wir setzen
δ = nϵaller)
.
elle des
Nullfolge
( n )n∈N
Aufein
einenϵUntersuchung
(eigentlich:
x
Sei x ∈ zur
R mit
∣x − 0∣ =des
∣x∣Grenzwerts
< δ.
Nullfolgen
Sicherung
x → 1 für x → 0 und x > 0 wollen wir
1.
Fall
x
⩾
0:
Da
die
Exponentialfunktion
eine monoton wachsende Funktion ist, gilt:
hier aber verzichten.
1
1 = 20 ≤ 2x ≤ 2δ = 2 nϵ und mit (2.2) erhalten wir:
Bemerkung zu Satz 4.13: Beachten Sie, dass es beim Beweis des Satzes ent1
1
scheidend darauf ankommt, dass
∣2xBasis
− 20 ∣ und
= 2xExponent
− 1 ≤ 2 nϵ gleich
− 1 < sind!
< ϵWir
. haben hiernϵ 0
mit also keinen weiteren Beitrag zur sinnvollen Definition von 0 geleistet. Wenn
x 2x < 20 = 1 und
Fall
x < 0: Da
monoton
ist
man2.die
zumindest
fürdie
x ≥Exponentialfunktion
0 definierten Funktionen
g undwachsend
h mit g(x)ist,
=a
und
1
−x
da
−x
b > 0 ist nach dem 1. Fall ∣1 − 2 ∣ < n . Diese zwei Eigenschaften brauchen wir
h(x) = x mit a, b > 0 betrachtet, so kann man ϵjeweils die Funktionswerte g(0)
derbetrachten
nächsten Zeile:
und in
h(0)
und danach nach einem Grenzwert für a → 0 ((bzw. b → 0)
1
0
fragen: Es gilt einerseits
0,∣ und
∣2x −g(0)
20 ∣ ==∣2ax ∣ ⋅=∣1 1− →
2−x1∣ <für1 ⋅a∣1→− 0,
2−xaber
∣ = ∣1a−&=2−x
< anderer<ϵ
ϵ
seits h(0) = 0b = 0 → 0 für b → 0, aber b &= 0. Eine allgemein sinnvolle nDefinition
von In
„00beiden
“ ist also
nichtist
möglich!
Fällen
also ∣2x − 20 ∣ < ϵ.
Alle
elementaren
Funktionen sind stetig: Polynome, rationale Funktionen, Exponential4.3.3
Stetigkeit
funktion, Logarithmusfunktion, Potenzfunktionen, trigonometrische Funktionen und Betragsfunktion
sind heutzutage
ausnahmslos
jeder Stelle ihres
stetig. Zudem ist
„Stetigkeit“ wird
im an
Analysisunterricht
derDefinitionsbereichs
Sekundarstufe II zumeist
7
dieauf
Komposition
vonBarockzeit
stetigen Funktionen,
existiert,
stetig.
dem Niveau der
gehandhabt:falls
Einesie
Funktion,
diewieder
(zumindest
prinzipiell) mit dem Bleistift durchgezeichnet werden kann, ist stetig. Damit liegen einfache Beispiele von Funktionen nahe, die zumindest an einer Stelle nicht stetig sind.
Ein typisches[aus
Beispiel
ist die
in ganz R definierte Funktion k mit k(x) = |sgn(x)|
Bemerkung
BHA
S. 181-186]:
in Abb. 4.48 (d). Die Funktion hat den Grenzwert 1 für x → 0, jedoch ist der
“Stetigkeit” wird heutzutage im Analysisunterricht der Sekundarstufe II zumeist auf dem
Funktionswert k(0) = 0. Weitere typische Beispiele für anschaulich stetige und
Niveau der Barockzeit gehandhabt: Eine Funktion, die (zumindest prinzipiell) mit dem
unstetige Funktionen zeigt Abb. 4.55:
Bleistift ohne abzusetzen, gezeichnet werden kann, ist stetig.
Abb. 4.55: Stetigkeitsbetrachtungen an Funktionsgraphen
Für stetige Funktionen gilt der sogenannte Zwischenwertsatz:
7
Es gibt allerdings auch in “Wirklichkeit” Funktionen, die nicht stetig sind: Z.B. sind alle diskreten
Funktionen in Abhängigkeit der Zeit, wie die Anzahl Einwohner eines Dorfes, keine stetigen Funktionen.
42
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Satz 2.15 Zwischenwertsatz von Bolzano
Die Funktion f sei stetig auf dem abgeschlossenen Intervall I = [a, b]. Dann nimmt
f jeden Wert zwischen f (a) und f (b) an.
Das folgende Bild zeigt, dass die Stetigkeit eine notwendige Voraussetzung dieses Satzes ist:
Figur 25: Wenn die Funktion nicht
stetig ist, dann werden nicht alle
Werte zwischen f (0) und f (4) angenommen.
Wieder zeigt ein weiteres Bild, dass es neben der Stetigkeit darauf ankommt, dass der Definitionsbereich zusammenhängend ist, d.h. ein Intervall ist:
Figur 26: Wenn der Definitionsbereich nicht zusammenhängend ist,
dann werden, obwohl die Funktion
stetig ist, nicht alle Werte zwischen
f (0) und f (4) angenommen.
Mit Hilfe des folgenden Nullstellensatzes werden Sie in den Übungen den Zwischenwertsatz
von Bolzano beweisen:
2.3. Stetigkeit
43
Satz 2.16 Nullstellensatz
Die Funktion f sei stetig auf dem Intervall I = [a, b] und es gelte f (a) < 0 sowie
f (b) > 0. Dann gibt es eine Zahl c mit a < c < b und f (c) = 0.
Beweis 5 Wir werden die Eigenschaft nützen, dass jede reelle Intervallschachtelung einen
Grenzwert hat.
a+b
Wir halbieren das Intervall und betrachten die zwei Intervalle [a, a+b
2 ] und [ 2 , b]. Ist
a+b
f ( a+b
2 ) = 0 so sind wir fertig. Ist f ( 2 ) > 0 so betrachten wir das Intervall [a0 , b0 ] mit a0 = a
und b0 =
a+b
2 ,
sonst betrachten wir das Intervall [a0 , b0 ] mit a0 =
a+b
2
und b0 = b. Fährt man
so fort mit den Intervallen [a0 , b0 ], [a1 , b1 ], usw. so erhält man eine Intervallschachtelung
([an , bn ]).
Nach dem Satz über die Existenz von Grenzwerten bei Intervallschachtelungen (Satz 1.20
S.21) hat diese Intervallschachtelung einen Grenzwert c. Nach Konstruktion gilt:
f (an ) < 0 < f (bn )
für jedes n. Jetzt kommt die Stetigkeit von f im Spiel: Da an → c und bn → c, folgt
f (an ) → f (c) und f (bn ) → f (c), daher
f (c) ⩽ 0 ⩽ f (c) d.h.
f (c) = 0 .
Folgerungen aus dem Zwischenwertsatz von Bolzano
Hier folgen zwei Sätze, welche Folgerungen des Zwischenwertsatzes von Bolzano sind.
Satz 2.17
Sei f ∶ [a, b] Ð→ R stetig. Dann ist f ([a, b]) ebenfalls ein abgeschlossenens Intervall
und es gilt:
f ([a, b]) = [α, β]
mit α = min f ([a, b])
und
β = max f ([a, b])
Beweis 6 f nimmt, nach Satz 2.44 sein Minimum α = min f ([a, b] und sein Maximum
β = max f ([a, b]) an. D.h. es gibt Zahlen c ∈ [a, b] und d ∈ [a, b] mit α = f (c) und β = f (d).
Nach dem Zwischenwertsatz nimmt f auch alle Werte zwischen α und β an.
44
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Satz 2.18
Sei f ∶ [a, b] Ð→ R stetig. Genau dann ist f injektiv, wenn f streng monoton
(wachsend oder fallend) ist.
In diesem Falle ist die inverse Funktion f −1 ∶ f ([a, b]) Ð→ R ebenfalls stetig und mit
f streng monoton wachsend bzw. streng monoton fallend.
Bemerkung
Wir haben die obige invektive Abbildung f ∶ [a, b] → R als Bijektion f ∶ [a, b] → f ([a, b])
interpretiert (obwohl es zwei verschiedene Funktionen sind, da sie zwei verschiedene Zielbereiche haben) und deren Inverse der Einfachheit halber mit f −1 bezeichnet.
Beweis 7 (Beweis der 2. Folgerung) Sei zuerst f injektiv. Dann ist entweder f (a) <
f (b) oder f (b) < f (a). Wir betrachten nur den ersten Fall (der zweite folgt analog). Wir
behaupten, dass dann f (a) < f (x) < f (b) für jedes x ∈]a, b[ gilt. Wäre f (x) < f (a), so
gäbe es nach dem Zwischenwertsatz von Bolzano ein c ∈ [x, b] mit f (c) = f (a), was ein
Widerspruch zur Injektivität von f ist.
Wäre f (b) < f (x) (wegen der Injektivität kann Gleichheit nicht sein) so gäbe es nach dem
Zwischenwertsatz von Bolzano ein c ∈ [a, x] mit f (c) = f (b), was ebenfalls ein Widerspruch zur Injektivität von f ist. Damit haben wir gezeigt, dass f (a) < f (x) < f (b) für
jedes x ∈]a, b[ gilt.
Nochmalige Anwendung desselben Schlusses liefert f (x) < f (y) für a < x < y < b.
Umgekehrt ist jede streng monotone Funktion natürlich injektiv.
Nun wollen wir den zweiten Teil dieses Satzes beweisen.
Wir betrachten nur den Fall einer streng monoton wachsenden stetigen Funktion f ∶ [a, b] →
f ([a, b]) (der zweite Fall, wenn f streng monoton fallend ist, folgt analog) und zeigen, dass
f −1 ∶ f ([a, b]) → R ebenfalls streng monoton wachsend und stetig ist.
Seien y0 , y1 ∈ f ([a, b]) mit y0 < y1 . Es existieren Zahlen x0 , x1 ∈ [a, b] mit f (x0 ) = y0 und
f (x1 ) = y1 . Da f streng monoton wachsend ist, folgt aus f (x0 ) = y0 < y1 = f (x1 ), dass
x0 < x1 gelten muss und somit f −1 (y0 ) = f −1 (f (x0 )) = x0 < x1 = f −1 (f (x1 )) = f −1 (y1 ).
Damit ist gezeigt, dass f −1 streng monoton wachsend ist.
2.3. Stetigkeit
45
Es bleibt zu zeigen, dass f −1 stetig ist.
Sei y0 ∈ f ([a, b]) und sei (yn ) eine Folge in f ([a, b]) mit
lim yn = y0 ,
n→∞
wobei yn ≠ y0 für alle n ∈ N. Nach Definition 2.28 S.51 müssen wir zeigen, dass
lim f −1 (yn ) = f −1 (y0 ).
n→∞
Da f stetig und streng monoton wachsend ist, ist f ([a, b]) = [f (a), f (b)] ein abgeschlossenes
Intervall.
Sei
zn ∶= f −1 (yn ) .
(zn ) ist eine Folge in [a, b]. Wir werden als nächstes zeigen, dass (zn ) eine konvergente
Folge ist. Dafür konstruieren wir zwei Intervallschachtelungen.
] und Y ∶= [ a+b
Wir betrachten I ∶= [a, a+b
2
2 , b]. Falls beide Intervalle I und Y unendlich viele
Glieder der Folge enthalten, dann nehmen wir das linke Teilintervall I sonst das Intervall,
welches unendlich viele Glieder enthält. Wir bezeichnen die Grenzen des neuen Intervalls
mit a0 und b0 und fahren so weiter. Für jedes k ∈ N0 konstruieren wir damit ein Intervall
[ak , bk ], welches unendlich viele Glieder der Folge enthält, und so, dass links davon im
Intervall [a, ak ] h�chstens endlich viele Glieder der Folge existieren.
Da die Länge der Intervalle immer halbiert wird, ist dies eine Intervallschachtelung und
besitzt einen Grenzwert c. Wir definieren (nach dem Wohlordnungsprinzip)
nk ∶= min {n ∣ zn ∈ [ak , bk ] ∧ n > nk−1 }
für jedes k ∈ N0 .
Es giltznk ∈ [ak , bk ] und somit limk→∞ znk = c.
Analog konstruieren wir eine Intervallschachtelung ([a′k , b′k ]) mit der Eigenschaft, dass für
jedes k ∈ N0 das Intervall [a′k , b′k ] unendlich viele Glieder der Folge enthält und so dass
es rechts davon, im Intervall [b′k , b], h�chstens endlich viele Glieder der Folge gibt. Auch
diese Intervallschachtelung besitzt einen Grenzwert, den wir mit s bezeichnen. Es gilt stets
ak ⩽ a′k und bk ⩽ b′k . Wir definieren auch hier mk ∶= min {m ∣ zm ∈ [a′k , b′k ] ∧ m > mk−1 } für
jedes k ∈ N0 . Es gilt: liml→∞ zmk = s.
Es gilt also
c = lim znk
k→∞
und
lim zmk = s .
k→∞
46
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
Da f stetig ist, gilt:
f (c) = lim f (znk )
k→∞
und
lim f (zmk ) = f (s) .
k→∞
Somit gilt
y0 = lim ynk = lim f (f −1 (ynk )) = lim f (znk ) = f (c)
k→∞
k→∞
k→∞
und ebenfalls
y0 = lim ymk = lim f (f −1 (ymk )) = lim f (zmk ) = f (s) ,
k→∞
k→∞
k→∞
also gilt
f (c) = f (s) und da f injektiv ist, folgt daraus
c = s.
Nun zeigen wir, dass nicht nur die zwei Teilfolgen (znk ) und (zmk ) gegen c konvergieren,
sondern, dass auch
lim zn = c
(2.3)
l→∞
gilt.
Sei ϵ > 0. Sei N ∈ N0 mit ϵ >
1
N.
So wie wir die zwei Intervallschachtelungen ([ai , bi ]) und ([a′i , b′i ]) konstruiert haben, und
da beide denselben Grenzwert c (= s) haben, ist
lim ak = lim bk = lim a′k = lim b′k = c .
k→∞
k→∞
k→∞
Sei k so gewählt, dass die Intervalllänge b′k − ak <
k→∞
1
2N .
Links von ak und rechts von b′k hat es nach der Konstruktion der Intervallschachtelung nur
endlich viele Glieder der Folge (zn ).
Sei
nϵ ∶= max{n ∣ zn < ak ∨ zn > b′k } .
Dann gilt zn ∈ [ak , b′k ] für alle n > nϵ , und somit
∣zn − c∣ ⩽ ∣zn − ak ∣ + ∣ak − c∣ < 2 ⋅
1
1
=
<ϵ
2N N
für alle n > nϵ .
Damit haben wir (2.3) gezeigt und daraus folgt:
lim f −1 (yn ) = lim zn = c = f −1 (y0 )
n→∞
und somit ist f −1 stetig.
n→∞
2.3. Stetigkeit
47
Bemerkung
Man kann zeigen: wenn jede stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall [a, b]
jeden Wert zwischen f (a) und f (b) annimmt, dann ist jede Cauchy-Folge konvergent. Dies
bedeutet, dass die ‘Zwischenwerteigenschaft’ äquivalent ist zur Vollständigkeit von R.
Satz 2.19 Eigenschaften stetiger Funktionen
Die Funktion f sei auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] stetig. Dann gilt:
1. f ist beschränkt auf [a, b]. D.h. es gibt eine Zahl M so, dass
∣f (x)∣ ⩽ M, ∀x ∈ [a, b] .
2. f nimmt auf [a, b] ihr Minimum und Maximum an. D.h. es gibt Zahlen c und
d aus dem Intervall [a, b] so, dass
f (d) ⩽ f (x) ⩽ f (c), ∀x ∈ [a, b] .
f (c) ist das Maximum der Funktion f im Intervall [a, b] und f (d) ist das Minimum der
Funktion f im Intervall [a, b].
Beweis von Satz 2.19
1. Wir führen einen Widerspruchsbeweis, indem wir annehmen, dass die auf [a, b] stetige
Funktion f unbeschränkt sei.
Wir konstruieren nun eine Intervallschachtelung: Sei dazu a0 = a und b0 = b. Jetzt
halbieren wir das Intervall [a0 , b0 ] in die Intervalle
[a0 ,
a 0 + b0
]
2
und
[
a 0 + b0
, b0 ] .
2
In mindestens einem dieser Intervalle muss f unbeschränkt sein. Nehmen wir an, es
sei das linke Teilintervall. Dann setzen wir a1 = a0 und b1 = a0 2+b0 . Dieses Verfahren
setzen wir fort. Da in jedem Schritt die Intervallbreite halbiert wird, erhalten wir eine
Intervallschachtelung, wobei in jedem Teilintervall die Funktion f unbeschränkt ist.
Dies bedeutet, dass in jedem dieser Intervalle [an , bn ] ein cn existiert, mit ∣f (cn )∣ > n.
Diese Intervallschachtelung besitzt einen Grenzwert c und es gilt: c = limn→∞ cn , aber
lim f (cn ) ≠ f (c) .
n→∞
Das ist ein Widerspruch zur Stetigkeit von f .
48
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
2. Wir haben in 1 gezeigt, dass f ([a, b]) ∶= {f (x)∣x ∈ [a, b]} eine beschränkte Menge ist.
Dann existiert S ∶= sup(f ([a, b])) (vgl. Satz vom Supremum und Infimum beschränkter Mengen (Satz 1.22 S.23). Nun halbieren wir das Intervall [a, b]. Wegen des ersten
a+b
′
Teils dieses Satzes existieren S1 ∶= Sup(f ([a, a+b
2 ])) und S1 ∶= Sup(f ([ 2 , b])). Nun
gilt S = S1 oder S = S1′ . Wir nehmen das entsprechende Teilintervall und fahren so
weiter. Damit haben wir eine Intervallschachtelung [an , bn ] konstruiert. Diese Intervallschachtelung besitzt einen Grenzwert c. Für jedes n ∈ N existiert ein cn ∈ [an , bn ]
mit S − f (cn ) < n1 .
Damit gilt:
c = lim an = lim cn = lim bn
n→∞
n→∞
n→∞
und da f stetig ist, gilt:
f (c) = lim f (cn ) = S .
n→∞
Bemerkungen
1. Dass die Stetigkeit eine notwendige Voraussetzung ist, damit das Maximum von der
Funktion angenommen wird, zeigt die folgende Funktion:
f ∶ [0, 1] Ð→ R ∶ x ↦ {
x für 0 ⩽ x < 1
0 für x = 1 .
2. Dass das Intervall abgeschlossen sein muss, damit die Funktion beschränkt ist und
damit sie wiederum das Maximum annehmen kann, zeigt die Funktion
f ∶]0, 1] Ð→ R ∶ x ↦
1
.
x
Beispiele 2.20
Wir werden nun einige Funktionen betrachten, die nicht stetig sind:
• In Figur 27 zeigt das erste Bild den Graphen einer Funktion, der ja nun wirklich stetig aussieht! Erst beim Vergrössern “an der richtigen Stelle“ (aber wo ist die jeweils?)
merkt man irgendwann, dass die Funktion bei 0 unstetig ist.
2.3. Stetigkeit
4 Mathematische Grundlagen der Analysis
186
49
Abb. 27:
4.58:
graphische
„Evidenz“
fürman,
Stetigkeit
Figur
Beim
Vergrössern
sieht
dass die Funktion an der Stelle 0 nicht stetig
ist.
Die verwendete Funktionsvorschrift
!
f (x) =
x2
x2 x+2 0,00001
f (x) = {
x2
für x ≤ 0
x 0⩽ 0
fürfür
x>
+ 0.00001 für x > 0
zeigt die Unstetigkeit bei 0 natürlich sofort, nicht jedoch der Graph! Bei jedem
zeigt
Unstetigkeit
bei 0 natürlich
nicht Trugschlüsse
jedoch der Graph!
Bei jedem
vom die
Computer
gezeichneten
Graphen sofort,
sind analoge
möglich.
" vom
Computer gezeichneten Graphen sind analoge Trugschlüsse möglich.
Beispiel 4.3 („Kammfunktion“ & Co.)
Die folgenden drei in ganz R definierten Funktionen f , g und h sind etwas künstlich, zeigen aber, wie komplex und unanschaulich die reellen Zahlen sind. So kom1 für x ∈ Q
(x)
{ R definierte Funktionen gibt, die an keiner
plex und unanschaulich, dassfes
in =ganz
0 für x ∈ R ∖ Q .
oder nur einer Stelle stetig sind oder nur für alle irrationalen Zahlen und 0:
• Die Kammfunktion wurde 1829 von Dirichlet angegeben; sie ist definiert durch
Für jede Stelle a ∈ R kann man wegen der Dichtheit der rationalen Zahlen Folgen aus
rationalen
Zahlen angeben,
gegen
konvergieren
und stets
Funktionswert
1
1. Die Kammfunktion
wurdedie
1829
von aDirichlet
angegeben;
sie istden
definiert
durch
haben, und Folgen aus irrationalen!Zahlen, die gegen a konvergieren und somit stets
den Funktionswert 0 haben. Damit gibt
1 es
fürkeinen
x ∈ Q Grenzwert, und diese Funktion ist
f (x)
=
an keiner Stelle stetig. (Diese
Funktion
ist
die
Funktion der Menge
0 für x Charakteristische
∈ R\Q .
Q [vgl. HAG].)
Für jede Stelle a ∈ R kann man wegen der Dichtheit der rationalen Zahlen Folgen aus rationalen Zahlen angeben, die gegen a konvergieren und stets
den Funktionswert 1 haben, und Folgen aus irrationalen Zahlen, die gegen a
x für x ∈ Q
g(x)den
= {Funktionswert 0 haben. Damit gibt es keinen
konvergieren und somit stets
0 für x ∈ R ∖ Q .
Grenzwert, und diese Funktion ist an keiner Stelle stetig. Aus heutiger Sicht ist
Die Funktion
g ist übrigens
stetig ankein
der „Monster“,
Stelle 0, sonst
unstetig.
diese Funktion
sondern
die Charakteristische FunktiZumon
Beweis
betrachten
wir
eine
beliebige
rationale
Stelle
x ≠ 0 und geben zwei Folgen
der Menge Q (vgl. 2.4.6).
mit
x an, deren zugehörige Bildfolgen aber unterschiedlichen Grenzwerte
2. Grenzwert
Auf derselben
p Grundidee basiert die Definition der folgenden Funktion:
haben. Sei x = q , eine gekürzte Bruchdarstellung von x. Die Folge
!
p
fürpn
x = pq ∈ Q
g(x) = xqn =
qn x+ ∈1 R\Q .
0 für
• Auf derselben Grundidee basiert die Definition der folgenden Funktion:
50
2. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit
besteht aus rationalen Zahlen und konvergiert gegen x = pq .
Die Folge
pn
√
yn =
qn + 2
besteht aus irrationalen Zahlen und konvergiert ebenfalls gegen x = pq .
Es gilt:
lim g(xn ) = lim xn = x
n→∞
n→∞
und
lim g(yn ) = 0 .
n→∞
Damit ist g an jeder rationalen Stelle x ≠ 0 unstetig.
Es bleibt noch zu zeigen, dass g an der Stelle 0 stetig ist. Aber in diesem Fall liefert
jede Nullfolge, egal ob aus rationalen Zahlen oder aus irrationalen Zahlen bestehend,
eine ebenfalls gegen Null konvergente Bildfolge, und somit ist die Funktion g stetig
bei 0.
Kapitel 3
Zum Begriff der Ableitung
Wir beginnen diese Kapitels mit der Betrachtung des Änderungsverhaltens elementarer
Funktionen.
Die sogenannte ”Änderungsrate” führt uns dann durch Grenzübergang zum Begriff der
Ableitung. Ein Beispiel dafür ist die Momentangeschwindigkeit als Ableitung der Wegfunktion (vgl. Abschnitt 3.2 Die lokale Änderungsrate - ein Beispiel).
Durch die Idee von Weierstrass1 wird der Ableitungsbegriff schlussendlich präzisiert und
geometrisch fassbar gemacht.
3.1 Das Änderungsverhalten einer Funktion
In Anlehnung an Strang [SC, S.1] möchte ich zuallererst drei Beispiele betrachten, die zeigen sollen, was mit dem Änderungsverhalten einer Funktion gemeint ist:
Die lineare Funktion
l(x) = 2x,
die quadratische Funktion
q(x) = x2 ,
und die Exponentialfunktion
h(x) = 2x .
1
Karl Theodor Wilhelm Weierstrass (* 31. Oktober 1815 in Ostenfelde bei Ennigerloh/Münsterland; †
19. Februar 1897 in Berlin) war ein deutscher Mathematiker, der sich vor allem um die logisch fundierte
Aufarbeitung der Analysis verdient gemacht hat.
52
3. Zum Begriff der Ableitung
Figur 28: l(x) = 2x
Gerade
Figur 29: q(x) = x2
Parabel
Figur 30: h(x) = 2x
Exponentialkurve
Alle drei Funktionen sind im positiven Bereich der x-Achse wachsend, aber die Art und
Weise wie sie wachsen ist ganz verschieden: In der Nähe von x = 0 ist die erste Funktion diejenige, welche am schnellsten wächst, aber die anderen holen bald nach. Alle drei
Funktionen haben für x = 2 denselben Funktionswert y = 4. Für x-Werte grösser als 2 und
kleiner als 4 ist die quadratische Funktion f (x) = x2 die grösste: bei x = 4 sind beide Funktionswerte 42 und 24 gleich, aber anschliessend wächst die Exponentialfunktion schneller
als die quadratische Funktion, bei x = 10 gilt bereits: 102 = 100 und 210 = 1024.
Wir haben hier drei Funktionsgleichungen welche von x und 2 abhängig sind, aber ein sehr
unterschiedliches Änderungsverhalten zeigen.
Als Nächstes überlegen wir uns, wie wir das Änderungsverhalten solcher Funktionen in
einem bestimmten Punkt x0 am besten beschreiben können und betrachten dazu
Die absolute Änderung, die mittlere Änderungsrate, die lokale Änderungsrate
Die Graphen dieser Funktionen sind eine Gerade, eine Parabel und eine Exponentialkurve.
Wenn wir das Änderungsverhalten dieser Funktionen in einer bestimmten Stelle x0 beschreiben wollen, dann reicht es nicht, die absolute Änderung
f (x1 ) − f (x0 )
für zwei Stellen x0 und x1 zu betrachten, welche nahe2 bei einander liegen. Vielmehr muss
man diesen Wert in Relation zur Distanz zwischen x0 und x1 setzen. Aussagekräftiger ist
somit bestimmt die absolute Änderung f (x1 ) − f (x0 ) pro Distanz x1 − x0 , also
f (x1 ) − f (x0 )
,
x1 − x0
welchen Term man die mittlere Änderungsrate von f auf dem Intervall [x0 , x1 ] nennt.
2
Was “nahe” bedeutet ist relativ. Sind x0 und x1 nahe wenn ∣x1 − x0 ∣ = 1 oder ∣x1 − x0 ∣ =
∣x1 − x0 ∣ =
1
?
1000000
1
100
oder
3.1. Das Änderungsverhalten einer Funktion
53
Im Intervall [x0 , x1 ] = [1, 6] wachsen die
Werte f (x) pro x-Einheit im Mittel um
f (x1 ) − f (x0 ) f (x1 ) − f (x0 )
=
.
x1 − x0
5
Die gerade Verbindung (Sekante vgl. S.64)
zwischen (x0 , f (x0 )) und (x1 , f (x1 )) geht
durch die Punkte
(2, f (x0 ) + m),
(3, f (x0 ) + 2m),
(4, f (x0 ) + 3m),
(5, f (x0 ) + 4m),
(6, f (x0 ) + 5m) = (x1 , f (x1 )).
m=
Figur 31: Graph von f
Die mittlere Änderungsrate gibt die Steigung m der Geraden3 an, welche durch die Punkte
(x0 , f (x0 ) und (x1 , f (x1 )) geht. Auch diese Steigung variiert beträchtlich je nach dem, wie
gross man x1 wählt. Da wir das Ziel haben, das Änderungsverhalten der Funktion an der
Stelle x0 zu beschreiben, ist es natürlich sinnvoll, x1 nahe bei x0 zu wählen. ”Nahe” ist wie
schon gesagt sehr relativ4 .
Als nächsten Schritt kann man sich überlegen, was geschieht, wenn man diese Differenz
immer kleiner werden lässt, und deren Grenzwert betrachten.
Der wichtigste und erfolgreichste Ansatz der Analysis ist, dass nicht nur die mittlere sondern die lokale Änderungsrate
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
x − x0
von f an der Stelle x0 betrachtet wird. Dieser Ausdruck wird traditionellerweise die erste
Ableitung von f an der Stelle x0 genannt und mit f ′ (x0 ) bezeichnet.
Bemerkung
Ist f ∶ A → R eine beliebige reelle Funktion und x0 ∈ A, so ist es im Allgemeinen nicht klar,
(x0 )
dass die Ableitung limx→x0 f (x)−f
existiert.
x−x0
3
4
Sekante vgl. S.64
Vgl. Fussnote 2
54
3. Zum Begriff der Ableitung
Definition 3.1 Die Funktion f ∶ A → R heisst differenzierbar auf A, falls die Ableitung
f (x) − f (x0 )
x→x0
x − x0
f ′ (x) = lim
für alle x0 ∈ A existiert. In diesem Fall heisst die Funktion, die jedem x ∈ A den Wert f ′ (x)
zuordnet die Ableitungsfunktion (oder kurz die Ableitung) von f .
Bezeichnungen
Wir verwenden auch die folgende Begriffe:
f ′ (x0 ) =
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
x − x0
´¹¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹¸¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¶
(3.1)
mittlere Änderungsrate
oder Differenzenquotient
´¹¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¸ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¹ ¶
lokale Änderungsrate
oder Ableitung
oder Differentialquotient
In unseren Beispielen hat die lineare Funktion eine konstante, die quadratische eine lineare
und die Exponentialfunktion wieder eine exponentielle Ableitungsfunktion (vgl. Anhang
A):
Graph der Funktion
Graph der Ableitung
3.1. Das Änderungsverhalten einer Funktion
Figur 32: Funktionen und ihre Ableitungen
55
56
3. Zum Begriff der Ableitung
An einem angewandten Beispiel veranschaulichen und untersuchen wir die Bedeutung der
absoluten Änderung sowie der mittleren und lokalen Änderungsrate:
3.2 Die lokale Änderungsrate - ein Beispiel
Betrachten wir das folgende Diagramm, welches den zurückgelegten Weg eines ICE-Zuges
in den ersten 400 Sekunden nach dem Start darstellt. Was wir in Figur 33 sehen, ist der
Graph der Wegfunktion
s ∶ [0, 400] → R
t ↦ s(t)
wobei t in Sekunden und s(t) in Metern angegeben wird.
Figur 33: Weg-Zeit-Diagramm eines ICE-Zuges in den ersten 400 Sekunden
Was ist hier die absolute Änderung s(t1 ) − s(t0 )? Wenn wir zum Beispiel t0 = 100 und
t1 = 150 betrachten, dann ist
s(150) − s(100) ≈ 3300
Meter.
(3.2)
Wenn wir t0 = 0 und t1 = 100 betrachten, dann ist
s(100) − s(0) ≈ 3400 Meter.
(3.3)
Die absolute Änderung sagt uns wie viele Meter in der Zeit zwischen t0 und t1 zurückgelegt
wurden. In diesem Beispiel können wir aus diesen Angaben bereits erkennen, dass die
Geschwindigkeit des Zuges zugenommen haben muss, denn in den ersten 100 Sekunden
wird eine kürzere Strecke zurückgelegt als in den nächsten 50 Sekunden.
Für t0 = 100 und t1 = 400 gilt:
s(t1 ) − s(t0 ) = s(400) − s(100) ≈ 27800 − 3400 = 24400.
(3.4)
3.2. Die lokale Änderungsrate - ein Beispiel
57
D.h in diesen 300 Sekunden werden 24.4 Kilometer zurückgelegt.
Da die Zeitdifferenzen t1 −t0 immer verschieden sind (zuerst war t1 −t0 = 50, dann t1 −t0 = 100
und nun t1 − t0 = 300), ist es schwierig die Angaben zu vergleichen. Ob die Geschwindigkeit
ab 200 oder ab 250 Sekunden nach dem Start immer noch zugenommen hat, können wir
aufgrund der absoluten Änderungen in (3.2) und (3.3) nicht sagen.
Wenn wir (3.2), (3.3) und (3.4) vergleichen wollen, ist es besser, wenn wir die mittlere
Änderungsrate, d.h. die Durchschnittsgeschwindigkeit betrachten:
3400
Im Zeitintervall [0, 100] werden im Mittel in einer Sekunde
≈ 34 Meter zurückgelegt.
100
Im Zeitintervall [100, 150] werden im Mittel in einer Sekunde
3300
≈ 66 Meter zurückgelegt.
50
24400
Im Zeitintervall [100, 400] werden im Mittel in einer Sekunde
≈ 91 Meter zurückge300
legt.
Die mittlere Geschwindigkeit (Durchschnittsgeschwindigkeit) in einem beliebigen Zeitintervall [t0 , t1 ] findet man, indem man die Wegdifferenz s(t1 ) − s(t0 ) auf die zugehörige
Zeitdifferenz t1 − t0 bezieht, d.h. durch sie dividiert:
Die mittlere Geschwindigkeit im Intervall [t0 , t1 ] ist wie folgt definiert:
s(t1 ) − s(t0 )
.
t1 − t0
Wir haben also für dieses Beispiel eine konkrete Interpretation der mittleren Änderungsrate
als Durchschnittsgeschwindigkeit im Intervall [t0 , t1 ].
Damit wissen wir aber noch nicht wie gross die Geschwindigkeit (Momentangeschwindigkeit) in einem bestimmten Zeitpunkt, z.B. im Zeitpunkt t0 = 100 ist.
Die Momentangeschwindigkeit v(to ) ist wie folgt definiert:
s(t) − s(t0 )
.
t→t0
t − t0
v(t0 ) = lim
Wir möchten im folgenden die Momentangeschwindigkeit des Zuges nach 100 Sekunden
schätzen. Dazu sollten wir das Weg-Zeit-Diagramm in der Nähe von 100 etwas genauer
betrachten:
58
3. Zum Begriff der Ableitung
t
50
80
90
95
100
105
110
150
200
300
400
s(t)
980
2290
2820
3095
3380
3680
3980
6650
10440
18860
27770
Figur 34: Weg-Zeit-Diagramm eines ICE-Zuges in der Nähe des Zeitpunktes t0 = 100
Neben dem Diagramm sind nun einige Werte tabellarisch angegeben (es ist schwierig diese
Werte aus der Tabelle genau abzulesen).
In der folgenden Tabelle betrachten wir, wie sich die mittlere Geschwindigkeit ändert, wenn
wir uns immer mehr dem Zeitpunkt t = 100 annähern:
Zeitintervall [t0 , t1 ]
mittlere Geschwindigkeit
s(t1 )−s(t0 )
t1 −t0
im Zeitintervall [t0 , t1 ]
[100, 400]
27770−3380
300
≈ 81.3
[100, 200]
10440−3380
100
≈ 70.6
[100, 110]
3980−3380
10
≈ 60
[100, 105]
3680−3380
5
≈ 60
Wir stellen fest, dass in Intervallen der Form [100, t1 ] die mittlere Geschwindigkeit desto
kleiner wird, je mehr sich t1 dem Zeitpunkt 100 nähert. Je kleiner wir das Zeitintervall
zwischen t0 = 100 und t1 wählen, desto genauer wird die Momentangeschwindigkeit durch
die mittlere Geschwindigkeit angenähert.
Was geschieht, wenn wir Intervalle der Form [t1 , 100] wählen?
3.2. Die lokale Änderungsrate - ein Beispiel
Zeitintervall [t1 , t0 ]
59
mittlere Geschwindigkeit
s(t1 )−s(t0 )
t1 −t0
im Zeitintervall [t0 , t1 ]
[50, 100]
[80, 100]
≈ 48
980−3380
−50
2290−3380
−20
≈ 54.5
[90, 100]
2820−3380
−10
≈ 56
[95, 100]
3095−3380
−5
≈ 57
Nun stellen wir fest, dass in Intervalle der Form [t1 , 100] die mittlere Geschwindigkeit desto
grösser wird, je kleiner die Differenz zwischen 100 und t1 wird.
Die Momentangeschwindigkeit des Zuges 100 Sekunden nach dem Start können wir mit
diesen Angaben nicht genau bestimmen, aber diese muss nach unseren Überlegungen zwischen 57 und 60 km/h liegen.
In diesem Beispiel ist also die lokale Änderungsrate (die Ableitung) die Momentangeschwindigkeit des Zuges.
Mit diesem Vorgehen, können wir die Geschwindigkeit des Zuges an jeder Stelle approximieren und so erhalten wir eine Funktion
v ∶ [0, 400] → R
t ↦ v(t),
wobei t in Sekunden und v(t) in m/s gegeben ist.
Der Graph von v schaut ungefähr so aus:
Figur 35: Graph der Geschwindigkeit des ICE: Die Geschwindigkeit nimmt zu Beginn rasant zu.
60
3. Zum Begriff der Ableitung
3.3 Die Idee von Weierstrass
In diesem Abschnitt werden wir die Überlegungen von Weierstrass5 kennenlernen, die das
Ziel habeneine nicht lineare Funktion durch eine lineare Funktion zu approximieren:
Das folgende Zitat stammt aus einer Vorlesung, die Weierstrass im Sommersemester 1861
am Königlichen Gewerbeinstitut zu Berlin gehalten hat und die von H.A. Schwarz aufgezeichnet wurde:
“Die vollständige Veränderung f (x + h) − f (x), welche eine Funktion f (x)
dadurch erfährt, dass x in x+h übergeht, lässt sich im allgemeinen in zwei Teile
zerlegen, von denen der eine der Aenderung h des Argumentes proportional ist,
also aus h und einem von h unabhängigen – in Bezug auf h constanten – Faktor
besteht, ... der andere aber nicht bloss an und für sich unendlich klein wird,
wenn h unendlich klein wird, d.h. noch unendlich klein wird, wenn man ihn mit
h dividiert. ” [DVD, S.81]
Um diese Ausführung von Weierstrass besser zu
verstehen, bezeichnen wir die Stelle x wieder mit
x0 (was deutlicher macht, dass wir uns auf eine
feste Stelle x0 konzentrieren).
Weierstrass betrachtet die “vollständige Veränderung“ (die “vollständige Veränderung” ist das, was
wir die absolute Änderung nennen) zwischen dem
Wert von f an der Stelle x0 und dem Wert von f
an der Stelle x0 + h (x0 + h haben wir x genannt):
Figur 36: Karl Weierstrass (1815-1897)
Figur 37: Die “vollständige Veränderung” (die absolute Änderung)
5
Vgl. Fussnote 1 S. 51
3.3. Die Idee von Weierstrass
61
Zuerst sagt Weierstrass, dass man die “vollständige Veränderung” f (x0 + h) − f (x0 ) “im
Allgemeinen” in zwei Summanden zerlegen kann und dass der erste Summand “eine der
Aenderung h des Argumentes proportional ist” und also dargestellt werden kann in der
Form
α⋅h
für eine geeignete Konstante α, (welche unabhängig von h ist). Er sagt weiter, dass der
zweite (Rest-)Summand der Zerlegung, den wir jetzt mit r(h) (noch besser wäre die Bezeichnung r(x0 , h), da r von der Stelle x0 und von h abhängig ist) bezeichnen, “noch
unendlich klein wird, wenn man ihn mit h dividiert”. Also strebt r(h)
h gegen Null, wenn h
r(h)
gegen Null strebt. Formal aufgeschrieben: lim
= 0.
h→0 h
Die Beschreibung von Weierstrass lautet formal:
f (x0 + h) − f (x0 ) = α ⋅ h + r(h),
wobei
r(h)
= 0.
h→0 h
lim
(3.5)
Wir gehen jetzt davon aus, dass die gegebene Funktion f auf einem Intervall definiert und
dort differenzierbar ist6 .
Als nächstes wollen wir die Formel (3.5) genauer betrachten und folgende drei Aspekte
vertiefen:
• Die Ableitung: Der von h unabhängige – in Bezug auf h constante – Faktor
• Grafische Interpretation
• Die lineare Approximation
3.3.1
Die Ableitung: Der von h unabhängige – in Bezug auf h
constante – Faktor
In diesem Abschnitt zeigen wir, dass der von h unabhängige – in Bezug auf h constante
– Faktor, den wir mit α bezeichnet haben, nichts anderes als die Ableitung von f an der
Stelle x0 ist.
6
Sämtliche elementare Funktionen wie Polynome, rationale Funktionen, Exponentialfunktion, Lo-
garithmusfunktion, Potenzfunktionen, trigonometrische Funktionen und Betragsfunktion sind auf ihren
Definitionsbereichen differenzierbar, allenfalls mit Ausnahme von einzelnen Stellen (z.B. die Betragsfunktion oder die Wurzelfunktion).
62
3. Zum Begriff der Ableitung
Wegen der Eigenschaft (3.5) gilt nämlich:
f ′ (x0 )
S.54
=
=
(3.5)
=
=
=
(3.5)
=
f (x) − f (x0 )
x − x0
f (x0 + h) − f (x0 )
lim
h→0
h
α ⋅ h + r(h)
lim
h→0
h
r(h)
lim (α +
)
h→0
h
r(h)
α + lim
h→0 h
(3.6)
lim
x→x0
(mit h = x − x0 )
(3.7)
(3.8)
(3.9)
(3.10)
(3.11)
α.
Also:
f ′ (x0 ) = α.
3.3.2
(3.12)
Grafische Interpretation
Wegen (3.12) können wir die Formel (3.5) von Weierstrass wie folgt umformen:
f (x0 + h) − f (x0 ) = f ′ (x0 ) ⋅ h + r(h)
Dazu gehört die nachstehende grafische Darstellung:
Figur 38: f (x0 + h) − f (x0 ) = f ′ (x0 ) ⋅ h + r(h)
mit
r(h)
= 0.
h→0 h
lim
(3.13)
3.3. Die Idee von Weierstrass
3.3.3
63
Die lineare Approximation
Als Nächstes wollen wir die lineare Funktion t angeben, deren Graph die in Figur 38 rot
markierte Strecke enthält.
Dieser Graph muss durch die Punkte
(x0 , f (x0 ))
und (x0 + h , f (x0 + h) − r(h))
(3.14)
gehen.
Die Funktion t ist gegeben durch
t ∶ x ↦ f ′ (x0 )(x − x0 ) + f (x0 ) ,
denn t ist linear und erfüllt
t(x0 ) = f (x0 )
(3.15)
und
t(x0 + h)
=
f ′ (x0 )(x0 + h − x0 ) + f (x0 )
=
f ′ (x0 )h + f (x0 )
(3.16)
f (x0 + h) − r(h).
(3.17)
(3.13)
=
Insbesondere gilt also auch
f (x0 + h) = t(x0 + h) + r(h) .
(3.18)
Die Formel (3.5) von Weierstrass besagt, dass die Differenz r(h) zwischen f (x0 + h) und
t(x0 + h) in der Nähe von x0 sehr klein ist, nämlich sogar schneller als h selbst gegen Null
geht7 .
Das bedeutet, dass die Funktion f in der Nähe8 von x0 durch die lineare Funktion t sehr
gut approximiert9 wird:
3.18
f (x0 + h) = t(x0 + h) + r(h) ≈ t(x0 + h) .
(3.19)
Die Funktion
t(x) = f ′ (x0 )(x − x0 ) + f (x0 ) ,
(3.20)
welche die Funktion f in der Nähe von x0 linear approximiert, nennt man, nach Weierstrass,
die lineare Approximation von f an der Stelle x0 .
Wir werden bald sehen, dass die lineare Approximation t diejenige lineare Funktion ist,
welche die Funktion f am besten approximiert. (Vgl. S. 66.)
Im Folgenden werden wir einige Eigenschaften und Anwendungen der linearen Approximation betrachten, nämlich:
Da sogar limh→0 r(x)
= 0 gilt, muss r(h) für h → 0 sehr schnell gegen Null konvergieren!
h
8
Wie nahe der Punkt “in der Nähe von x0 ” gewählt werden muss, hängt von der gewünschten Genau7
igkeit ab. Je kleiner h ist, desto besser ist die Approximation bzw. desto kleiner ist der Fehler.
9
Das Symbol für eine Approximation ist ≈ und bedeutet “ist ungefähr gleich”.
64
3. Zum Begriff der Ableitung
• Die Tangente; d.h. die Gerade, welche den Graphen der Funktion f in der Nähe von
x0 am besten annähert
• Näherungsweise Berechnung von Funktionswerten
• Fehlerrechnung
Die Tangente
Die mittlere Änderungsrate
f (x) − f (x0 )
x − x0
kann geometrisch interpretiert werden als die Steigung der Geraden, welche durch die
Punkte (x0 , f (x0 )) und (x, f (x)) geht.
Figur 39: Sekanten
Die Geraden s1 , s2 , s3 und s4 nennen wir (in Anlehnung an den entsprechenden Begriff für
den Kreis) Sekanten.
Ist der Graph von f eine “glatte” Kurve und lässt man x gegen x0 gehen, so streben die
Sekanten (sn ) gegen eine Gerade, die den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )) berührt.
Dies ist genau dann der Fall, wenn die lokale Änderungsrate von f in x0 , also die Ableitung
f ′ (x0 ) existiert.
Die Gerade, welche durch den Punkt (x0 , f (x0 )) geht und die Steigung f ′ (x0 ) hat, nennen
wir Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )) .
3.3. Die Idee von Weierstrass
65
Figur 40: Die Tangente im Punkt (x0 , f (x0 ))
Die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )) hat die Gleichung10
y = f ′ (x0 )(x − x0 ) + f (x0 ) .
(3.21)
Die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )) ist also nichts anders als der
Graph der linearen Approximation von f an der Stelle x0 .
Aufgrund dieser Definition, kann man die Ableitung einer Funktion an verschiedenen Punkten von Auge approximieren [BHA, S.89] und diese Punkte verbinden, um daraus eine grobe
Annäherung der Ableitungsfunktion zu gewinnen. Euler11 nannte dieses Vorgehen “in libero manus ductu” (mit freier Hand geführt).
Bemerkung
Diese Gerade heisst Tangente in Anlehnung an den Begriff der Tangente am Kreis. Die
Tangente im Punkt P eines Kreises k ist definiert als diejenige Gerade g, welche durch den
Punkt P geht und den Kreis k berührt d.h.: g ∩ k = {P }.
Die Tangente an eine Kurve so wie wir sie soeben definiert haben, kann jedoch die Kurve im selben Punkt gleichzeitig schneiden und berühren und hat häufig mehr als einen
Schnittpunkt mit der Kurve.
10
Jede Gerade, welche durch den Punkt (x0 , f (x0 )) geht, hat eine Gleichung der Form
y = m(x − x0 ) + f (x0 ), wobei m die Steigung der Geraden ist (vgl. Übungen).
11
Leonhard Euler (* 15. April 1707 in Basel; † 18. September 1783 in Sankt Petersburg) war ein Schweizer
Mathematiker und Physiker, der wegen seiner Beiträge zur Analysis, zur Zahlentheorie und zu vielen
weiteren Teilgebieten der Mathematik als einer der bedeutendsten Mathematiker gilt.
66
3. Zum Begriff der Ableitung
Figur 41: Die Tangente t0 an der Stelle
0 schneidet und berührt die Kurve im
Punkt (0, f (0))
Figur 42: Die Tangente t0.5 an der Stelle 0.5 berührt die Kurve im Punkt
(0.5, f (0.5)) und schneidet sie im Punkt
(−1, 0)
Zudem gibt es im Allgemeinen keine Analogie dazu, dass die Tangente an einem Kreis
senkrecht steht zum Radius durch den Kreispunkt P 12 .
Die Tangente ist die Gerade, welche den Graphen der Funktion f
in der Nähe von x0 am besten annähert
Im Titel dieses Abschnittes wird behauptet, dass die Tangente unter allen möglichen Geraden, welche durch den Punkt (x0 , f (x0 )) gehen, diejenige Gerade ist, welche den Graphen
von f im Punkt x0 am besten annähert. Wie ist das genau zu verstehen?
Jede lineare Funktion, deren Graph durch den Punkt (x0 , f (x0 )) geht, hat eine Funktionsgleichung der Form13
gm (x) = m(x − x0 ) + f (x0 ) .
12
(3.22)
Es lässt sich jedoch oft ein sogenannter Krümmungskreis definieren, der im betreffenden Punkt unter
anderem dieselbe Tangente hat.
13
vgl. Übungen.
3.3. Die Idee von Weierstrass
67
Figur 43: Graph der Funktion f und verschiedene Geraden, welche durch den Punkt
(x0 , f (x0 )) gehen
Der Fehler der Approximation von f durch die Funktion gm an der Stelle x0 + h ist
F (h) = f (x0 + h) − gm (x0 + h) = f (x0 + h) − f (x0 ) − mh
(3.23)
Für h → 0 strebt diese Differenz bei jeder Funktion gm gegen Null. Für den relativen Fehler
F (h)
gilt hingegen
h
F (h)
f (x0 + h) − f (x0 ) − mh
= lim
h→0
h→0
h
h
f (x0 + h) − f (x0 )
= lim
−m
h→0
h
lim
= f ′ (x0 ) − m .
(3.24)
(3.25)
(3.26)
Der relative Fehler konvergiert also nur dann gegen Null, wenn m = f ′ (x0 ) ist. Dies ist
genau dann der Fall, wenn es sich um die Tangente handelt.
′
Da die Bedingung limh→0 F (h)
h = 0 viel stärker ist und da t(x) = f (x)(x − x0 ) + f (x0 ) die
einzige Funktion ist, welche diese Bedingung erfüllt, nennt man die Tangente die Gerade,
welche den Graphen der Funktion f in der Nähe von x0 am besten annähert.
Anders ausgedrückt gilt, wie bereits erwähnt: für die gegebene Funktion f ist die weiter
oben eingeführte lineare Approximation die beste lokale Annäherung durch eine lineare
Funktion.
68
3. Zum Begriff der Ableitung
Näherungsweise Berechnung von Funktionswerten
Die Idee der lokalen linearen Annäherung einer Funktion gibt uns die Möglichkeit Funktionen näherungsweise zu berechnen. Kennt man von einer Funktion f den Funktionswert
und die Ableitung14 an einer Stelle x0 , so ist es möglich wegen
f (x0 + h) ≈ t(x0 + h) = f ′ (x0 ) ⋅ h + f (x0 )
(3.27)
die Funktionswerte in der Umgebung von x0 näherungsweise zu berechnen:
Beispiel 3.2 Näherungsweise Berechnungen
1. Wie gross ist
√
16.3 ?
Wir wenden (3.27) auf die Funktion f ∶ [0, ∞[→ R; x ↦
x > 0 ist
f ′ (x)
=
1
√
2 x
√
Der Wert von
√
x, x0 = 16 und h = 0.3. Für
(vgl. Anhang A). Darum gilt:
√
1
1
16 + 0.3 ≈ √ ⋅ 0.3 + 16 = ⋅ 0.3 + 4 = 4.0375
8
2 16
√
16.3 auf 6 wesentlichen Ziffern gerundet ist: 4.03733
2. Wie gross ist (−2.98)3 ? Wir wenden (3.27) auf die Funktion g ∶ R → R; x ↦ x3 ,
x0 = −3 und h = 0.02. Wegen g ′ (x) = 3x2 gilt:
(−2.98)3 ≈ 3 ⋅ (−3)2 ⋅ (0.02) + (−3)3 = 27 ⋅ (−0.02) − 27 = −26.46
Der Wert von (−2.98)3 auf 6 wesentlichen Ziffern gerundet ist: -26.4636
Fehlerrechnung
Die Idee der lokalen linearen Annäherung einer Funktion gibt uns auch die Möglichkeit
das Ausmass von Fehlern zu berechnen.
Typischerweise geht es dabei um zwei Grössen, welche voneinander funktional abhängig
sind (z.B. durch eine Formel). Wenn die eine Grösse falsch gemessen oder angegeben wird,
hat das natürlich eine Auswirkung auf die andere:
14
ist.
Auch hier wird also stillschweigend vorausgesetzt, dass die Funktion an der Stelle x0 differenzierbar
3.4. Stetigkeit und Differenzierbarkeit
69
Beispiel 3.3 Kugelvolumen
Das Volumen einer Kugel wird mit der Formel V (r) = 43 r3 π berechnet. Nehmen wir an,
dass wegen eines Messfehlers für den Radius der Kugel anstatt des wahren Wertes r0 der
Wert r0 + h gemessen wird. Statt V (r0 ) erhalten wir das Volumen V (r0 + h). Der Fehler h
führt also zum Fehler V (r0 + h) − V (r0 ). Nach (3.27) kann dieser Fehler durch V ′ (r0 ) ⋅ h
approximiert werden.
Wie goss ist näherungsweise dieser Fehler, wenn der prozentuale Fehler z.B. h = ±1% ist?
V (r0 + h ⋅ r0 ) − V (r0 ) ≈ V ′ (r0 ) ⋅ h ⋅ r0
= 4πr02 ⋅ h ⋅ r0
4 3
=
r π ⋅ 3h.
3 0
Der Fehler bei der Volumenberechnung beträgt für h = ±1% also ungefähr ±3%.
V ′ (r0 ) = 4πr02 ist nichts anderes als der Inhalt der Kugeloberfläche der Kugel mit Radius
r0 . Die Formel V ′ (r0 ) ⋅ h ⋅ r0 bedeutet geometrisch, dass die Kugelschale (der Dicke h ⋅ r0
durch “Oberfläche der Kugel” × “Radiusdifferenz” approximiert werden kann.
3.4 Stetigkeit und Differenzierbarkeit
Ist f in x0 differenzierbar, so ergibt sich aus (3.1) sofort
f (x) − f (x0 ) =
f (x) − f (x0 )
(x − x0 )
x − x0
Ð→
x→x0
f ′ (x0 ) ⋅ 0 = 0.
(3.28)
Also ist
lim f (x) = f (x0 ) ,
x→x0
d.h. f ist in x0 stetig.
Damit haben wir gezeigt:
Satz 3.4
1. Wenn eine Funktion an einer Stelle differenzierbar ist, dann ist sie dort auch
stetig.
2. Falls eine Funktion in einem Intervall differenzierbar ist, so ist sie dort auch
stetig.
70
3. Zum Begriff der Ableitung
Wir haben im Abschnitt 3.3 S.60 die Idee von Weierstrass untersucht und bereits gesehen,
dass “der von h unabhängige - in Bezug auf h constante- Faktor” nichts anders als die Ableitung ist, also insbesondere, dass eine Funktion, welche die Weierstrassschen Bedingungen
erfüllt differenzierbar ist. Im folgenden Satz werden wir zeigen, dass diese Bedingungen
auch notwendig für Differenzierbarkeit sind:
Satz 3.5 Satz von Weierstrass
Genau dann ist die Funktion f ∶ I → R an der Stelle x0 differenzierbar, wenn die
lokale �Änderung f (x0 + h) − f (x0 ) in der Form
f (x0 + h) − f (x0 ) = α ⋅ h + r(h),
mit
r(h)
=0
h→0 h
lim
(3.29)
dargestellt werden kann. In diesem Fall ist α = f ′ (x0 ).
Beweis 8 Falls die Funktion f im Punkte x0 differenzierbar ist, definieren wir
r(h) ∶= f (x0 + h) − f (x0 ) − f ′ (x0 )h .
Dann gilt:
f (x0 + h) − f (x0 ) = f ′ (x0 )h + r(h)
und
lim
h→0
r(h)
f (x0 + h) − f (x0 )
= lim (
− f ′ (x0 )) = 0 .
h→0
h
h
Ist hingegen (3.29) erfüllt, dann gilt
f (x0 + h) − f (x0 )
r(h)
= lim (α +
)=α
h→0
h→0
h
h
lim
(3.30)
also existiert f ′ (x0 ) und ist gleich α.
Bemerkung
Dieser Satz macht den Unterschied zwischen Differenzierbarkeit und Stetigkeit besonders
sinnfällig: Stetigkeit von f in x0 bedeutet nur, dass f (x0 + h) − f (x0 ) → 0 für h → 0. Wählt
man irgendeine Zahl α und setzt man f (x0 +h)−f (x0 ) = αh+r(h), so ist f genau dann in x0
r(h)
= 0,
stetig, wenn limh→0 r(h) = 0 ist. Für Differenzierbarkeit braucht man jedoch lim
h→0 h
was bei stetigen Funktionen nicht erfüllt zu sein braucht.
3.4. Stetigkeit und Differenzierbarkeit
71
Beispiele 3.6
1. Die Betragsfunktion f ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ ∣x∣ ist an der Stelle 0 stetig aber nicht
differenzierbar.
2. Die Funktion g ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ ∣ sin(x)∣ ist für alle n ∈ Z an den Stellen nπ stetig aber
nicht differenzierbar.
3. Die Funktion s ∶ [0, ∞[Ð→ R ∶ x ↦
√
x ist an der Stelle 0 stetig aber nicht differen-
zierbar.
Figur 44: Graph der Betragsfunktion
Figur 45: Graph der Funktion g ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ ∣ sin(x)∣
Figur 46: Graph der Wurzelfunktion
72
3. Zum Begriff der Ableitung
Kapitel 4
Monotonie und Ableitung
In der Mittelschule haben Sie mit Hilfe der Ableitung den Verlauf von Kurven untersucht und damit insbesondere Extremwertaufgaben und Kurvendiskussionen durchgeführt.
In diesem Kapitel werden wir uns mit den theoretischen Hintergründen dieser Art von
Untersuchungen beschäftigen.
4.1 Das Monotoniekriterium
In Anlehnung an [DVA, S. 56] betrachen wir das folgende Beispiel, welches stellvertretend für viele ähnlich gelagerte Zusammenhänge steht.
Eine zylindrische 33 cl-Dose aus Aluminium kann sehr verschiedene Formen haben:
Figur 47: Verschiedene Zylinder mit demselben Inhalt
Da man meistens möglichst wenig Aluminium für die Verpackung aufwenden will, suchen
wir nun den Zylinder mit der kleinsten Oberfläche. Die Oberfläche hängt von der Wahl
des Radius r der Grundfläche und von der Höhe h ab. Sie setzt sich zusammen aus Boden,
74
4. Monotonie und Ableitung
Deckel und Mantel:
0(r, h) = 2πr2 + 2πrh
(4.1)
3
Da wir cl schlecht mit cm3 oder mit dm verglichen können, arbeiten wir mit ml und cm
(1 cm3 = 1ml).
Nun variieren r und h nicht unabhängig voneinander; da der Doseninhalt 330 ml betragen
soll, gilt:
πr2 h = 330 .
(4.2)
Löst man (4.2) nach h auf und setzt dies in (4.1) ein, so erhält man:
0(r) = 2πr2 +
660
.
r
(4.3)
Da mit grösser werdendem r der Summand 2πr2 zunimmt, der Summand 660
r aber abnimmt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen, wie die Oberfläche vom Radius abhängt. Einen
ersten Einblick gibt der Graph, den man sich etwa über eine Wertetabelle verschaffen kann.
Figur 48: Oberfläche der Dose in cm2 in Abhängigkeit des Radius in cm
Wir erkennen, dass mit wachsendem Radius die Oberfläche zunächst abnimmt und dann
wieder zunimmt. Wie lässt sich die Stelle r0 bestimmen, an der die Funktion aufhört abzunehmen und wieder zuzunehmen beginnt?
4.1. Das Monotoniekriterium
75
Aus der Anschauung entnehmen wir:
In den Bereichen, wo O′ (r) negativ ist, nimmt O(r) streng monoton ab. Dort, wo O′ (r)
positiv ist, wächst O(r) streng monoton1 .
Damit brauchen wir nur die Stelle zu finden, an der die Ableitung weder positiv noch
negativ, also Null ist.
660
r2
(4.4)
165
≈ 3.74
π
(4.5)
O′ (r) = 4πr −
Für
√
r0 =
3
ist O′ (r) = 0. Für r0 ≈ 3.74 cm ist die Höhe h0 ≈ 7.50 cm. (Die üblichen Getränke-Dosen
mögen wohl schön sein, verschwenden aber einiges an unnötigem Aluminium. Nicht zu
vergessen ist allerdings, dass Boden und Mantel nicht dieselbe Materialdicke haben und
noch weitere Faktoren, wie z.B. Handlichkeit eine Rolle spielen.)
Wir haben in diesem Beispiel den folgenden Satz verwendet:
Satz 4.1 Monotoniekriterium (hinreichendes Kriterium für Monotonie)
Eine auf einem Intervall differenzierbare Funktion mit überall positiver Ableitung ist
streng monoton wachsend. Analoges gilt für streng monotones Fallen.
Bemerkung
Das folgende Beispiel zeigt, wieso es wichtig ist, dass die Funktion auf einem Intervall
differenzierbar sein muss.
Wir definieren die Funktion f auf A ∶= [1, 2] ∪ [3, ∞[ wie folgt:
⎧
⎪
⎪
⎪
f ∶ A Ð→ R ∶ f (x) = ⎨
⎪
⎪
⎪
⎩
x2
4
für 0.5 ⩽ x ⩽ 2
(x−2.5)2
4
für x ⩾ 3
f ist auf ganz A differenzierbar, mit f ′ (x) = x2 > 0 für alle 0.5 ⩽ x ⩽ 2 und f ′ (x) =
für alle x ⩾ 3 aber f ist nicht monoton wachsend wie der Graph zeigt:
1
Anschaulich ist auch klar, dass im Minimum die Tangente horizontal ist.
(4.6)
x−2.5
2
>0
76
4. Monotonie und Ableitung
Figur 49: Graph der Funktion f
Beweis 9 (Beweis von Satz 4.1) Wir führen einen Widerspruchsbeweis: Wir nehmen
an, dass es eine auf einem Intervall I differenzierbare Funktion f gibt, mit f ′ (x) > 0 für
alle x in I, welche nicht streng monoton wachsend ist. Dann gibt es wenigstens zwei Zahlen
x0 und z0 in I mit
x 0 < z0
und
f (x0 ) ⩾ f (z0 ) .
(4.7)
Die Sekante durch die Punkte (x0 , f (x0 )) und (z0 , f (z0 )) hat also eine nicht positive Steigung.
Wir nennen in diesem Beweis ein Zahlenpaar (a, b) ∈ I × I mit der Eigenschaft a < b und
f (a) ⩾ f (b) ein Ausnahmepaar.
Figur 50: Ausnahmepaar (x0 , z0 ); Die Sekante hat eine nicht positive Steigung
Egal welchen Wert f an der Stelle m =
x0 +z0
2
in der Mitte der zwei Zahlen x0 und z0
annimmt, wenigstens eine der beiden neuen Sekanten wird ebenfalls eine nichtpositive
4.1. Das Monotoniekriterium
77
Steigung haben, denn sonst wäre f (x0 ) < f (m) < f (z0 ) im Widerspruch zu f (x0 ) ⩾ f (z0 ).
Figur 51: Eine der beiden Sekanten muss eine nicht positive Steigung haben
Falls (x0 , m) ein Ausnahmepaar ist, dann setzen wir x1 ∶= x0 und z1 ∶= m, ansonsten setzen
wir x1 ∶= m und z1 ∶= z0 . Wir fahren so fort und erhalten so eine Intervallschachtelung
bestehend aus Ausnahmepaaren (xn , zn ). Wegen der Vollständigkeit von R konvergiert diese
Intervallschachtelung gegen eine Zahl c.
Es gilt jeweils auch für jedes Intervall [xn , zn ], dass entweder (xn , c) oder (c, zn ) ein Ausnahmepaar ist, denn sonst wäre f (xn ) < f (c) < f (zn ) im Widerspruch dazu, dass (xn , zn )
ein Ausnahmepaar ist.
Nun bilden wir die Folge (yn ):
⎧
⎪
⎪ xn falls (xn , c) Ausnahmepaar ist,
yn ∶= ⎨
⎪
⎪
⎩ zn falls (c, zn ) Ausnahmepaar ist.
Dann ist
f (yn ) − f (c)
⩽0
yn − c
für jedes n ∈ N und da yn gegen c konvergiert, folgt (vgl. S. 6):
f (yn ) − f (c)
⩽0
n→∞
yn − c
f ′ (c) = lim
in Widerspruch zu f ′ (x) > 0.
Die zweite Hälfte des Satzes beweist man mit der folgenden Idee: man betrachtet anstatt
78
4. Monotonie und Ableitung
der Funktion f mit negativem f ′ , die Funktion (−1) ⋅ f mit positiver Ableitung. Hier kann
man die bereits bewiesene erste Hälfte des Satzes anwenden.
Die kubische Normalparabel f (x) = x3 wächst auf ganz R streng monoton. Dennoch ist
f ′ (0) = 0!
Das Monotoniekriterium besagt nur, dass die Positivität der Ableitung hinreichend dafür
ist, dass die Funktion streng monoton wachsend ist und das Beispiel der kubischen Normalparabel zeigt, dass es nicht notwendig ist.
Immerhin gilt:
Satz 4.2 Falls f streng monoton wachsend und differenzierbar auf einem Intervall
I ist, dann ist f ′ auf ganz I nicht negativ.
Beweis 10 Wir können diesen Satz beweisen in dem wir die Tatsache nutzen, dass für
jede Stelle x0 in I die Differenzenquotienten positiv sind: Aus x > x0 folgt, da f streng
monoton wachsend ist, dass f (x) > f (x0 ) und somit ist
ebenfalls
f (x)−f (x0 )
x−x0
f (x)−f (x0 )
x−x0
> 0 . Aus x < x0 folgt
> 0 , da sowohl Zähler wie auch Nenner negativ sind.
Daraus folgt (vgl. S. 6):
f (x) − f (x0 )
⩾ 0,
x→x0
x − x0
f ′ (x) = lim
Diese zwei Sätze können wie folgt zusammengefasst werden:
Sei f eine auf einem Intervall I differenzierbare Funktion. Dann gilt:
Satz 4.1: Wenn f ′ (x) > 0 für alle x ∈ I ist, dann ist f streng monoton wachsend auf I.
Satz 4.2: Wenn f streng monoton wachsend auf I ist, dann ist f ′ (x) ⩾ 0 für alle x ∈ I.
Man könnte versucht sein anzunehmen, dass eine Funktion, deren Ableitung an einer Stelle
x0 positiv ist, in einer genügend kleinen Umgebung von x0 auch streng monoton wächst.
D.h. man könnte versucht sein die Bedingung im Satz 4.1, dass f ′ auf einem ganzen Intervall
I positiv sein muss etwas abzuschwächen. Dass dem nicht so ist, wird das folgende Beispiel
zeigen. Wir betrachten die folgende Funktion:
f (x) = {
x + 2x2 sin( x1 ) ∶ x ≠ 0
0
∶ x=0
(4.8)
4.1. Das Monotoniekriterium
79
Figur 52: Graph von f
f oszilliert um so schneller zwischen den einhüllenden Kurven (y1 = x+2x2 und y2 = x−2x2 ),
je näher sich x dem Punkt 0 nähert. Es gilt:
1
1
1
1
f ′ (x) = 1 + 2 (2x ⋅ sin ( ) − cos ( )) = 1 + 4x ⋅ sin ( ) − 2 cos ( )
x
x
x
x
für
x ≠ 0.
(4.9)
Um die Ableitung von f an der Stelle 0 zu bestimmen betrachten wir den Differenzenquotienten
1
f (x) − f (0) x + 2x2 ⋅ sin ( x )
1
=
= 1 + 2x ⋅ sin ( ) .
(4.10)
x−0
x
x
Nach Satz 2.7 S.34 folgt aus −x ⩽ x ⋅ sin ( x1 ) ⩽ x, dass
1
lim x ⋅ sin ( ) = 0 .
x→0
x
Es gilt also:
1
f ′ (0) = lim (1 + 2x ⋅ sin ( )) = 1.
x→0
x
Wir haben also gezeigt:
f ′ (x) = {
1 + 4x ⋅ sin ( x1 ) − 2 cos ( x1 ) für x ≠ 0
1
für x = 0
(4.11)
Wir zeigen nun, dass die Funktion f ′ in beliebiger Nähe von Null sowohl positive als auch
negative Werte annimmt.
Dazu konstruieren wir zwei Nullfolgen (xn ) und (yn ) mit der Eigenschaft
lim f ′ (xn ) < 0
n→∞
und
lim f ′ (yn ) > 0 .
n→∞
80
4. Monotonie und Ableitung
Wir definieren
xn =
Da
sin (
1
2nπ
und
1
) = sin(2nπ) = 0
xn
yn =
und
1
.
(2n + 1)π
cos (
1
) = cos(2nπ) = 1
xn
gilt für alle n ∈ N
f ′ (xn ) = 1 + 4xn ⋅ sin (
1
1
) − 2 cos ( ) = 1 − 2 ⋅ 1 = −1 .
xn
xn
Andererseits, da
sin (
1
) = sin((2n + 1)π) = 0
yn
und
cos (
1
) = cos((2n + 1)π) = −1
yn
gilt für alle n ∈ N
f ′ (yn ) = 1 + 4yn ⋅ sin (
Es gilt:
1
1
) − 2 cos ( ) = 1 − 2 ⋅ (−1) = 3 .
yn
yn
lim f ′ (xn ) = −1 ≠ lim f ′ (yn ) = 3 .
n→∞
n→∞
f′
Wir haben damit gezeigt, dass
in beliebiger Nähe von Null sowohl positive, wie auch
negative Werte annimmt und zudem dass f ′ an der Stelle 0 nicht stetig ist.
Wegen der Kontraposition von Satz 4.2 ist f in keiner auch noch so kleinen Umgebung von
Null streng monoton wachsend obwohl f ′ (0) = 1 also positiv ist (4.11).
Bemerkung
Das Monotoniekriterium kann geometrisch wie folgt interpretiert werden:
Wenn in einem Intervall alle Tangenten positive Steigung haben (f ′ ist positiv) so gilt das
auch für alle in diesem Intervall gebildeten Sekanten.
Definitionen 4.3 Wir erinnern daran: Eine Funktion f ∶ A → R hat an der Stelle x0 ∈ A
ein lokales Minimum, wenn eine Umgebung U ⊆ A von x0 existiert, in welcher der
Funktionswert f (x0 ) am kleinsten ist, d.h: f (x) > f (x0 ) ∀x ∈ U ∖ {x0 }.
Lokale Maxima sind entsprechend definiert.
Nimmt f in x0 ∈ A ein lokales Maximum oder Minimum an, so nennen wir x0 eine lokale
Extremalstelle .
f hat an der Stelle x0 ein globales Minimum, wenn der Funktionswert f (x0 ) auf ganz
A am kleinsten ist, d.h: f (x) > f (x0 ) ∀x ∈ A ∖ {x0 }.
Entsprechend werden globale Maxima und globale Extremalstellen definiert.
4.1. Das Monotoniekriterium
81
Es gilt:
Satz 4.4 Notwendige Bedingung für Extrema
Hat f ∶ [a, b] → R im Punkt x0 ∈]a, b[ ein lokales Extremum und ist f in einer
Umgebung von x0 differenzierbar, dann gilt f ′ (x0 ) = 0.
Lokale oder auch globale Extrema können auch am Rande von [a, b] auftreten. An diesen
Stellen muss die Ableitung nicht unbedingt Null sein:
Figur 53: An den Stellen xi hat die Funktion lokale Extremstellen. An den Stellen x1 bis
x4 ist die Ableitung Null, an den Randpunkten x0 und x5 jedoch nicht. x2 und x5 sind
globale Extremstellen.
Beweis 11 (Beweis von Satz 4.4) Wir betrachten den Fall, dass f (c) ein Maximum
ist, wobei c ∈ U und U eine ϵ-Umgebung von c in [a, b] ist, in welcher f differenzierbar und
f (c) in dieser Umgebung am grössten ist. Dann gilt f (x) − f (c) ⩽ 0, ∀x ∈ U und
f (x) − f (c)
⩾ 0 für alle x < c und
x−c
Daraus folgt:
f (x) − f (c)
⩽ 0 für alle x > c.
x−c
f (x) − f (c)
= 0.
x→c
x−c
Analog beweist man den Fall, wo f (c) das Minimum ist.
f ′ (c) = lim
82
4. Monotonie und Ableitung
4.2 Der Schrankensatz
Wenn Sie mit dem Zug fahren und Ihre Geschwindigkeit (Momentangeschwindigkeit) während einer bestimmten Zeitspanne gewisse Werte nicht über- bzw. unterschreitet, so gilt
dies auch für die Durchschnittsgeschwindigkeit.
Wir verallgemeinern diese Aussage:
Satz 4.5 Schrankensatz
Ist f auf einem Intervall I differenzierbar und gilt für jedes x ∈ I
m < f ′ (x) < M,
so ist für je zwei Werte x1 , x2 ∈ I mit x1 < x2
m<
f (x2 ) − f (x1 )
< M.
x2 − x1
Beweis 12 Der Schrankensatz ist eine Folgerung des Monotoniekriteriums:
Die Voraussetzung m < f ′ (x) lässt sich schreiben in der Form
0 < f ′ (x) − m
oder
0 < (f − m ⋅ I)′ (x)
wobei I(x) = x
(I ist die Identitätsabbildung auf R vgl. [HAG, S.79]).
Nach dem Monotoniekriterium ist f − m ⋅ I streng monoton wachsend auf I, d.h. aus x1 < x2
folgt
f (x1 ) − mx1 < f (x2 ) − mx2
oder m(x2 − x1 ) < f (x2 ) − f (x1 ).
Dividiert man durch x2 − x1 , so folgt die linke Seite der Ungleichung. Die rechte Seite wird
analog gezeigt.
Der Schrankensatz ist ein wichtiges Hilfsmittel der Analysis. Mit seiner Hilfe lässt sich das
globale Wachstum von Funktionen abschätzen. Den Schrankensatz kann man geometrisch
wie folgt interpretieren:
4.3. Der Mittelwertsatz
83
Figur 54: Der Graph der Funktion f verläuft für je zwei Punkte x1 und x2 zwischen den
zwei Geraden durch den Punkt
(x1 , f (x1 )) mit den Steigungen
m und M
4.3 Der Mittelwertsatz
Wenn Sie mit dem Zug fahren und Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit während einer bestimmten Zeitspanne 80 km/h beträgt, so sind Sie sicher irgendwann zwischendurch genau
80 km/h gefahren.
Auch diese Aussage verallgemeinern wir:
Satz 4.6 Mittelwertsatz
Ist f eine auf dem Intervall [a, b] differenzierbare Funktion, so gibt es eine Stelle
x0 ∈]a, b[ mit der Eigenschaft
f (b) − f (a)
= f ′ (x0 ).
b−a
Geometrisch lässt sich dieser Satz wie folgt veranschaulichen:
84
4. Monotonie und Ableitung
Figur 55: Die Tangente an der Stelle x0 hat die selbe Steigung wie die Sekante zwischen
(a, f (a)) und (b, f (b))
Beweis 13 (Beweis des Mittelwertsatzes) Wir beweisen zunächst den Spezialfall wo
f (a) = f (b) gilt und führen danach den allgemeinen Fall auf diesen Spezialfall zurück.
Sei also f (a) = f (b). Wenn f eine konstante Funktion ist, dann ist die Ableitung von f
überall Null und der Satz ist trivial. Wenn f nicht konstant ist, dann nimmt f als stetige
Funktion (differenzierbare Funktionen sind stetig) nach Satz 2.19 S.47 auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] sein Minimum und sein Maximum an. Es gibt also zwei verschiedene
Zahlen c1 , c2 ∈ [a, b] so dass f an der Stelle c1 das Maximum und an der Stelle c2 das
Minimum annimmt. Da diese zwei Stellen verschieden sind und f (a) = f (b) gilt, muss
mindestens eine davon im Inneren des Intervalls liegen. O.B.d.A. nehmen wir an, dass
c1 ∈]a, b[ und f (c1 ) das Maximum ist. Dann gilt nach Satz 4.4 f ′ (c1 ) = 0.
Für den allgemeinen Fall betrachten wir die Funktion g ∶ [a, b] → R gegeben durch
g(x) = f (x) −
f (b) − f (a)
(x − a).
b−a
g ist differenzierbar und es gilt: g(a) = g(b) = f (a). Somit wissen wir aus dem obigen
Spezialfall, dass es ein c ∈]a, b[ gibt mit g ′ (c) = 0. Da
g ′ (x) = f ′ (x) −
f (b) − f (a)
b−a
4.4. Kettenregel und Ableitung der Umkehrfunktion
85
für alle x ∈ [a, b], gilt insbesondere:
f ′ (c) −
f (b) − f (a)
= g ′ (c) = 0
b−a
und somit
f ′ (c) =
f (b) − f (a)
.
b−a
Bemerkung
Der Mittelwertsatz besagt, dass für eine auf [a, b] differenzierbare Funktion die mittlere
�nderungsrate von f auf [a, b] mit mindestens einer lokalen �nderungsrate von f auf ]a, b[
übereinstimmt.
Eine Folgerung aus dem Mittelwertsatz ist:
Satz 4.7 Ist f eine auf dem Intervall I ∶= [a, b] differenzierbare Funktion und ist
f ′ in einer Umgebung U =]x0 − ϵ, x0 + ϵ[ ∩ I von x0 überall Null, so ist f in dieser
Umgebung konstant.
Beweis 14 Wir beweisen diesen Satz indirekt: wir nehmen an, dass f in U nicht konstant
ist. Dann gibt es zwei Zahlen c und d in U mit f (c) ≠ f (d) . Nach dem Mittelwertsatz gibt
dann eine Zahl v, die zwischen c und d liegt und für die gilt
0 = f ′ (v) =
f (c) − f (d)
≠0
c−d
Dies ist ein Widerspruch!
4.4 Kettenregel und Ableitung der Umkehrfunktion
Satz 4.8 Kettenregel
Seien f ∶ I Ð→ R und g ∶ Y Ð→ R zwei stetige reelle Funktionen mit f (I) ⊆ Y .
Sind f bei x0 ∈ I und g bei y0 = f (x0 ) ∈ Y differenzierbar, so ist g ○ h an der Stelle
x0 differenzierbar, und es gilt:
(g ○ f )′ (x0 ) = g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 ) .
86
4. Monotonie und Ableitung
Beweis 15 Nach Weierstrass (vgl. Satz 3.5 S.70) gilt
f (x) − f (x0 ) = f ′ (x0 ) ⋅ (x − x0 ) + rf (x)
und
g(y) − g(y0 ) = g ′ (y0 ) ⋅ (y − y0 ) + rg (y) .
Für die Restsummanden rf und rg gilt:
lim
x→x0
rf (x)
=0
x − x0
mit
lim
y→y0
rg (y)
= 0.
y − y0
Für x ∈ I mit x ≠ x0 halten wir fest:
(g ○ f )(x) − (g ○ f )(x0 ) = g(y) − g(y0 )
(4.12)
= g ′ (y0 ) ⋅ (y − y0 ) + rg (y)
(4.13)
= g ′ (y0 ) ⋅ (f (x) − f (x0 )) + rg (f (x))
(4.14)
= g ′ (f (x0 )) ⋅ (f ′ (x0 )(x − x0 ) + rf (x)) + rg (f (x)) (4.15)
Da
rg (f (x))
rg (y)
= lim
=0
x→x0 f (x) − f (x0 )
y→y0 y − y0
lim
und da
f (x) − f (x0 )
= f ′ (x0 ) ,
x→x0
x − x0
lim
also insbesondere beschränkt ist, folgt aus Satz 2.7.2 S.34:
lim
x→x0
rg (f (x))
rg (f (x))
f (x) − f (x0 )
= lim
= 0.
⋅
x→x
0 f (x) − f (x0 )
x − x0
x − x0
Für den Differenzenquotienten
g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 )(x − x0 ) + g ′ (f (x0 )) ⋅ rf (x) + rg (f (x))
(g ○ f )(x) − (g ○ f )(x0 )
=
x − x0
x − x0
rf (x) rg (f (x))
= g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 ) + g ′ (f (x0 )) ⋅
+
(4.16)
x − x0
x − x0
gilt also:
(g ○ f )(x) − (g ○ f )(x0 )
= g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 )
x→x0
x − x0
lim
4.4. Kettenregel und Ableitung der Umkehrfunktion
87
Satz 4.9 Ableitung der Umkehrfunktion
Sei f ∶ [a, b] Ð→ R injektiv und stetig und sei f −1 ∶ f ([a, b]) Ð→ [a, b] die Umkehrfunktion.
Falls f differenzierbar in x0 ∈ [a, b] ist mit f ′ (x0 ) ≠ 0, so ist f −1 an der Stelle f (x0 )
differenzierbar, und es gilt
(f −1 )′ (f (x0 )) =
1
f ′ (x0 )
.
Bemerkungen
1. Wir interpretieren die injektive Abbildung f ∶ [a, b] → R als Bijektion f ∶ [a, b] →
f ([a, b]) und bezeichnen deren Umkehrfunktion der Einfachheit halber mit f −1 .
2. Wir wissen, dass für eine bijektive Funktion der Graph der Umkehrfunktion durch
Spiegelung an der ersten Winkelhalbierenden entsteht. Besitzt nun die Ausgangsfunktion im Punkt (x0 , f (x0 )) eine Tangente (ist sie dort also differenzierbar), so
geht diese Eigenschaft beim Spiegeln meistens2 nicht verloren. f −1 hat im Punkt
(f (x0 ), x0 ) = (y0 , f −1 (y0 )) eine Tangente, deren Steigung den Kehrwert der Steigung
der Tangente von f im Punkt (x0 , f (x0 )) ist (vgl. Figur).
Figur 56: Steigung der Tangente von f und von f −1
2
Im Fall einer horizontalen Tangente ist das Spiegelbild eine vertikale Gerade. Die Umkehrfunktion
kann an der betreffenden Stelle somit nicht differenzierbar sein.
88
4. Monotonie und Ableitung
Beweis 16 (Beweis vom Satz über die Ableitung von Umkehrfunktionen) Nach
der 2. Folgerung des Zwischenwertsatzes von Bolzano ist f −1 stetig und als bijektive Funktion insbesondere injektiv.
Sei y0 ∶= f (x0 ) und sei (yn ) eine Folge in f ([a, b]), mit y0 = limn→∞ yn und mit yn ≠ y0 für
alle n ∈ N.
Wir setzen xn ∶= f −1 (yn ) für alle n ∈ N0 . Dann ist xn ≠ x0 für alle n ∈ N, da f −1 injektiv ist
und limn→∞ xn = x0 , da f −1 stetig ist.
Dann gilt:
f −1 (yn ) − f −1 (y0 )
xn − x0
= lim
= lim
n→∞
n→∞
yn − y0
f (xn ) − f (x0 ) n→∞
(f −1 )′ (f (x0 )) = lim
1
f (xn )−f (x0 )
xn −x0
=
1
f ′ (x0 )
Beispiele 4.10
• Die Voraussetzungen von Satz 4.9 sind für die Exponentialfunktion exp ∶ R → R ∶ x ↦
ex auf jedem abgeschlossenen Intervall erfüllt. Also ist die Inverse der Exponentialfunktion, d.h.
ln ∶]0, ∞[→ R
überall auf ]0, ∞[ differenzierbar und für y = exp(x) = ex gilt
ln′ (y) = ln′ (exp(x)) =
1
1
1
=
= .
′
exp (x) exp(x) y
• Um zu sehen, dass für jedes r ∈ R die Funktion
f ∶]0, ∞[→ R ∶ x ↦ xr
differenzierbar ist, mit
(xr )′ ∶= f ′ (x) = r ⋅ xr−1 ,
schreiben wir
xr = exp(ln(xr )) = exp(r ⋅ ln(x))
und erhalten mit der Kettenregel:
f ′ (x) = exp′ (r ⋅ ln(x)) ⋅ (r ⋅ ln(x))′ = exp(ln(xr )) ⋅ r ⋅
1
1
= xr ⋅ r ⋅ = r ⋅ xr−1 .
x
x
4.5. Globale und lokale Extrema
89
• Für jedes feste a > 0 ist die Funktion
g ∶ R → R ∶ x ↦ ax
differenzierbar mit
(ax )′ ∶= g ′ (x) = ax ⋅ ln(a)
für alle x ∈ R .
Um das zu sehen, schreiben wir ax = exp(ln(ax )) = exp(x ⋅ ln(a)).
Nach der Kettenregel gilt:
g ′ (x) = exp′ (x ⋅ ln(a)) ⋅ (x ⋅ ln(a))′ = exp(ln(ax )) ⋅ ln(a) = ax ⋅ ln(a) .
4.5 Globale und lokale Extrema
Wir erinnern an die Notwendige Bedingung für lokale Extrema (Satz 4.4 S.81): Hat f ∶
A → R im Punkt x0 im Inneren von A ein lokales Extremum und ist f in einer Umgebung
von x0 differenzierbar, dann gilt f ′ (x0 ) = 0.
Nun ist leider nicht automatisch jede Nullstelle von f ′ auch eine lokale Extremstelle von
f , wie das Beispiel der kubischen Funktion f (x) = x3 an der Stelle Null zeigt3 .
Figur 57: f (x) = x3
Wie wir die Nullstellen von f ′ finden, welche tatsächlich Extremstellen von f sind, zeigt
der folgende Satz:
3
Die Bedingung f ′ (x0 ) = 0 ist also für ein lokales Extremum notwendig aber nicht hinreichend.
90
4. Monotonie und Ableitung
Satz 4.11 Hinreichende Bedingung für Extrema: Vorzeichenwechsel
Ist f ∶ A → R im Punkt x0 im Inneren von A differenzierbar mit f ′ (x0 ) = 0 und
wechselt f ′ bei x0 das Vorzeichen von + nach −, so hat f bei x0 ein lokales Maximum,
bei Vorzeichenwechsel von − nach + ein lokales Minimum.
Bemerkung
Die Redewendung f ′ wechselt bei x0 das Vorzeichen von − nach + bedeutet, dass es für
ein ϵ > 0 ein Intervall I =]x0 − ϵ, x0 + ϵ[ ⊆ A gibt mit der Eigenschaft, dass f ′ (x) < 0 ∀x ∈
]x0 − ϵ, x0 [ und f ′ (x) > 0 ∀x ∈ ]x0 , x0 + ϵ[.
Beweis 17 Ein Vorzeichenwechsel von − nach + bedeutet nach dem Monotoniekriterium
(Satz 4.1), dass f im Intervall I bis x0 streng monoton fällt und ab x0 streng monoton
wächst. Dies ist jedoch die Charakterisierung für ein lokales Minimum.
Dieser Satz ist anschaulich selbstverständlich:
Figur 58: f ′ wechselt von
von + nach −
Figur 59: g ′ wechselt von
von − nach +
Figur 60: q ′ ist immer positiv (x0 ist keine lokale Extremstelle)
Wenn f ′ anders als in der Voraussetzung des obigen Satzes auf beiden Seiten von x0
dasselbe Vorzeichen hat, (mit f ′ (x0 ) = 0), dann ist x0 keine Extremstelle (vgl. Figur 60).
4.5. Globale und lokale Extrema
91
An dieser Stelle muss dann ein sogenannter Sattelpunkt vorliegen. Und noch zwei weitere
Fälle sind möglich:
• f ′ ist in einer Umgebung von x0 überall Null: dann ist f in dieser Umgebung konstant
(vgl. �bungen).
• f ′ nimmt in jeder Umgebung links (bzw. rechts) von x0 sowohl positive wie auch
negative Werte an (vgl. das folgende Beispiel).
Beispiel 4.12 Auch der Vorzeichenwechsel ist eine hinreichende aber nicht notwendige
Bedingung für lokale Extrema. Betrachten wir die folgende Funktion:
⎧
1
⎪
⎪ 2x2 + x2 sin ( x ) für x ≠ 0
f ∶ R Ð→ R ∶ f (x) = ⎨
⎪
für x = 0
⎪
⎩ 0
f ist differenzierbar auf ganz R und insbesondere gilt f ′ (0) = 0 (vgl. �bungen).
(4.17)
Figur 61: Graph der Funktion f
Der Graph dieser Funktion liegt zwischen den Parabeln mit den Gleichungen y = x2 und y =
3x2 . Die Funktion f hat an der Stelle x = 0 ein lokales Minimum. Die Steigung des Graphen
von f wechselt aber um so rascher von positiven zu negativen Werten, je näher man dem
Punkt (0, 0) kommt. Also gibt es keine Umgebung von Null in der ein Vorzeichenwechsel
stattfindet: d.h. es gibt kein Intervall I ∶=] − ϵ, ϵ[, so dass für alle x ∈ I gilt
f ′ (x) < 0 für alle x < 0
f ′ (x) > 0 für alle x < 0
und
und
f ′ (x) > 0 für alle x > 0 oder
f ′ (x) < 0 für alle x > 0 .
Dieses Beispiel werden Sie in den �bungen genauer untersuchen.
92
4. Monotonie und Ableitung
Bemerkung
Das Vorzeichenwechsel-Kriterium hat eine weitere Schwäche: Man kann sich bei der Untersuchung von f ′ nicht auf die Stelle x0 beschränken, sondern muss eine ganze Umgebung
von x0 einbeziehen, was in der Praxis oft mühsam ist.
Falls f in einer Umgebung von x0 zweimal differenzierbar ist, dann kann man allerdings
aus dem vorherigen Satz ein weiteres Kriterium herleiten, der diese Schwachstelle nicht
mehr hat:
Satz 4.13 Hinreichende Bedingung für Extrema mit Hilfe der zweiten
Ableitung
Ist f ∶ A → R im Punkt x0 im Inneren von A zweimal differenzierbar, so folgt aus
f ′ (x0 ) = 0
und
f ′′ (x0 ) < 0,
dass f in x0 ein lokales Maximum besitzt.
Entsprechend folgt aus
f ′ (x0 ) = 0 und
f ′′ (x0 ) > 0
die Existenz eines lokalen Minimums in x0 .
Am Beispiel der biquadratischen Funktion f (x) = x4 sehen wir, dass auch diese Bedingungen nicht notwendig sind.
Beweis 18 Für den Differenzenquotienten von f ′ gilt
f ′ (x) − f ′ (x0 ) f ′ (x)
=
,
x − x0
x − x0
da f ′ (x0 ) = 0. Es sei nun f ′′ (x0 ) < 0. Wegen
f ′ (x)
= f ′′ (x0 ) < 0
x→x0 x − x0
lim
muss folglich in einer Umgebung von x0 gelten, dass f ′ (x) < 0 für x > x0 , und f ′ (x) > 0
für x < x0 , und f ′ hat, wie behauptet, einen Vorzeichenwechsel. Analog argumentiert man
bei f ′′ (x0 ) > 0.
Kapitel 5
Integralrechnung
In der Einführung in diesen Skriptes steht, dass die Ableitungsfunktion das Änderungsverhalten einer Funktion beschreibt und dass man aus dem Änderungsverhalten der Funktion
die ursprüngliche Funktion wieder rekonstruieren kann. Genau dieser zweiten Aufgabe werden wir uns in diesem Kapitel widmen. Integrieren kommt von integrare, was wieder ganz
machen bedeutet, also Rekonstruieren.
Zuallererst betrachten wir wieder das Beispiel des ICEs und rekonstruieren aus der Geschwindigkeit den zurückgelegten Weg. Dann werden wir allgemein untersuchen, wie man
aus dem Änderungsverhalten (Ableitung) einer Funktion die ursprüngliche Funktion rekonstruieren kann und weitere Beispiele betrachten, welche auf die selben mathematischen
Überlegungen führen, wie die Rekonstruktion der ursprünglichen Funktion. Wir werden
feststellen, dass die rekonstruierte Funktion geometrisch mit dem orientierten1 Flächeninhalt zwischen dem Graphen und der x-Achse übereinstimmt.
Umgekehrt werden wir vom orientierten Flächeninhalt F unter dem Graphen einer beliebigen stetigen Funktion ausgehen und zeigen, dass F als Funktion der oberen Intervallgrenze
differenzierbar und die Ableitung von F genau die Funktion f ist (Hauptsatz).
5.1 Beispiele
5.1.1
Nochmals das ICE Beispiel
Wir versuchen nun aus der Geschwindigkeit des ICE in den ersten 400 Sekunden nach dem
Start den zurückgelegten Weg zu rekonstruieren.
Zunächst berechnen wir den zurückgelegten Weg zwischen t1 = 100 Sekunden und t2 = 150
Sekunden.
1
Das Wort orientiert, bedeutet, dass wenn die Fläche oberhalb der x-Achse ist, der orientierte Flächen-
inhalt positiv ist; jedoch wenn die Fläche unterhalb der x-Achse ist, der orientierte Flächeninhalt negativ
ist.
94
5. Integralrechnung
Die gemessenen Geschwindigkeiten sind:
x
100
110
120
130
140
150
v(x) in m/s
58.2
61.4
64.3
67.0
69.3
71.5
Wäre die Geschwindigkeit ab 100 Sekunden konstant, so würde der Zug in den nächsten
50 Sekunden
v(100) ⋅ 50 = 58.2 ⋅ 50 = 2910 Meter
(5.1)
zurücklegen. Hätte der ICE ab 100 Sekunden die konstante Geschwindigkeit v(150) =
71.5 m/s so würde der Zug in diesen 50 Sekunden
v(150) ⋅ 50 = 71.5 ⋅ 50 = 3575 Meter
(5.2)
2910 = v(100) ⋅ 50 ⩽ s(150) − s(100) ⩽ v(150) ⋅ 50 = 3575.
(5.3)
zurücklegen. Sicher gilt:
Da wir die Angabe der Geschwindigkeit alle 10 Sekunden haben, können wir diese Idee
fortsetzen und den zurückgelegten Weg approximieren in dem wir annehmen, dass der Zug
für je 10 Sekunden eine konstante Geschwindigkeit hat:
v(100) ⋅ 10 + v(110) ⋅ 10 + v(120) ⋅ 10 + v(130) ⋅ 10 + v(140) ⋅ 10
= 58.2 ⋅ 10 + 61.4 ⋅ 10 + 64.3 ⋅ 10 + 67.0 ⋅ 10 + 69.3 ⋅ 10 = 3202.
(5.4)
(5.5)
Wir könnten auch hier die Geschwindigkeit am Schluss der 10 Sekunden als konstant annehmen, also z.B. annehmen, dass zwischen 100 und 110 Sekunden der Zug mit konstanter
Geschwindigkeit v(110) fährt und wiederum diese zurückgelegten Strecken addieren:
v(110) ⋅ 10 + v(120) ⋅ 10 + v(130) ⋅ 10 + v(140) ⋅ 10 + v(150) ⋅ 10
= 61.4 ⋅ 10 + 64.3 ⋅ 10 + 67.0 ⋅ 10 + 69.3 ⋅ 10 + 71.5 ⋅ 10 = 3335.
(5.6)
(5.7)
Sicher gilt:
3202 ⩽ s(150) − s(100) ⩽ 3335.
(5.8)
Aus (3.2) S.56 im Kapitel 3 wissen wir, dass der zurückgelegte Weg s(150) − s(100) ≈ 3300
Meter beträgt. Also haben wir aus der Geschwindigkeit den zurückgelegten Weg wieder
approximieren können.
Betrachten wir nochmals unseren Prozess: In (5.1) haben wir den zurückgelegten Weg mit
v(100) ⋅ 50 angenähert. Dargestellt im Graph der Funktion
v ∶ [0, ∞[ → R
t ↦ v(t),
ist v(100)⋅50 die Fläche des roten Rechtecks und v(150)⋅50 die Fläche des blauen Rechtecks
in der folgenden Figur:
5.1. Beispiele
Figur 62: Zurückgelegter Weg bei konstanter Geschwindigkeit v(100) als Fläche
s(150) − s(100) ≈ v(100) ⋅ 50
95
Figur 63: Zurückgelegter Weg bei konstanter Geschwindigkeit v(150) als Fläche
s(150) − s(100) ≈ v(150) ⋅ 50
(5.4) und (5.6) können graphisch wie folgt dargestellt werden:
Figur 64: Zurückgelegter Weg approximiert durch stückweiser konstante Geschwindigkeit
s(150) − s(100) ≈ ∑4k=0 v(100 + k ⋅ 10) ⋅ 10
Figur 65: Zurückgelegter Weg approximiert durch stückweiser konstante Geschwindigkeit
s(150) − s(100) ≈ ∑5k=1 v(100 + k ⋅ 10) ⋅ 10
In diesem Beispiel ist es also möglich, aus der Geschwindigkeit (Ableitung) den zurückgelegten Weg (ursprüngliche Funktion, die sogenannte Stammfunktion vgl. S.113) in einem
Zeitintervall approximativ zu rekonstruieren.
Um den gesamten zurückgelegten Weg nach 150 Sekunden zu bestimmen (oder allgemein
um s(t) und nicht nur um s(t2 ) − s(t1 ) zu berechnen, müssen wir den zurückgelegten Weg
96
5. Integralrechnung
in den ersten 100 Sekunden dazu addieren:
4
5
k=0
k=1
s(100) + ∑ v(100 + k ⋅ 10) ⋅ 10 ⩽ s(150) ⩽ s(100) + ∑ v(100 + k ⋅ 10) ⋅ 10.
(5.9)
Wie gross s(150) ist, wissen wir nicht, da unsere Abschätzungen (5.9) von s(100) abhängen.
Wenn wir die obige Idee fortsetzen erhalten wir:
14
s(0) + ∑ v(k ⋅ 10) ⋅ 10 ⩽ s(150)
⩽
15
s(0) + ∑ v(k ⋅ 10) ⋅ 10 .
(5.10)
k=1
k=0
In diesem konkreten Beispiel wissen wir aber, dass der zurückgelegte Weg für t = 0 Null
sein muss (wir wissen, dass s(0) = 0). Es gilt
14
∑ v(k ⋅ 10) ⋅ 10 ⩽ s(150)
k=0
⩽
15
∑ v(k ⋅ 10) ⋅ 10,
da s(0) = 0.
(5.11)
k=1
In diesem Beispiel hatten wir sehr wenige Angaben über die Geschwindigkeit (nur alle 10
Sekunden).
5.1.2
Die Verallgemeinerung des ICE-Beispiels
Im Folgenden überlegen wir allgemein [in Anlehnung an STO, S. 128 ff.], wie die zurückgelegte Strecke s ∶ [0, T ] Ð→ R eines Körpers rekonstruiert werden kann, wenn die
Geschwindigkeit als Funktion v ∶ [0, T ] Ð→ R in jedem Punkt von [0, T ] gegeben ist.
Wäre die Geschwindigkeit konstant v0 , so wäre die Lösung des Problems sehr einfach: Die
zurückgelegte Strecke im Intervall [0, T ] ist gleich ”Geschwindigkeit mal Zeit”:
s(T ) = v0 ⋅ T .
Hier geht es aber um die Situation, in welcher sich die Geschwindigkeit v(t) mit der Zeit
ändert.
Wir wollen die Überlegungen vom vorherigen Abschnitt verallgemeinern: Der ganze Vorgang läuft im Zeitintervall [0, T ] ab. Wir denken uns nun dieses Intervall in viele, im
Vergleich zur Gesamtdauer, kleine Teilintervalle zerlegt. Während einer solchen kurzen
Zeitspanne ändert sich die Geschwindigkeit nur wenig: wir dürfen sie ohne allzu grossen
Fehler als konstant annehmen. Dann lässt sich aber die in diesem kurzen Teil-Zeitintervall
zurückgelegte Teilstrecke nach der Formel ”Geschwindigkeit mal Zeit” ausrechnen.2 Addiert
man all diese Teilstrecken, so erhält man die bis zum Zeitpunkt T zurückgelegte Strecke
zumindest näherungsweise. Da wir jetzt, im Gegensatz zum ICE-Beispiel, die Geschwindigkeit zu jedem Zeitpunkt als bekannt voraussetzen, können wir die Intervalle so klein
2
Zu beachten ist, dass wohl die Geschwindigkeit im einzelnen Intervall als konstant angenommen wird,
dass sie sich aber von Teilintervall zu Teilintervall ändert.
5.1. Beispiele
97
wählen wie wir wollen. Die Näherung wird umso besser sein, je kleiner die Teilintervalle
gewählt werden. Die tatsächlich zurückgelegte Strecke s(T ) wird sich ergeben, wenn man
mit einem Grenzübergang die Länge der Teilintervalle gegen Null streben lässt.
Diese sprachlich formulierte Idee können wir etwas formaler wie folgt aufschreiben.
Wir zerlegen zunächst das Zeitintervall [0, T ] in Teilintervalle [ti−1 , ti ] gemäss folgender
Skizze:
In Verallgemeinerung zum ICE-Beispiel, wird hier nicht vorausgesetzt, dass die Teilintervalle alle gleich lang sind. Als nächstes wählen wir in jedem Teilintervall [ti−1 , ti ] einen
”Zwischenpunkt” τi .
Es ist also ti−1 ≤ τi ≤ ti . Auch hier verallgemeinern wir das ICE-Beispiel: Die τi können,
müssen aber nicht, mit den Randpunkten ti−1 oder ti des Teilintervalls zusammenfallen.
Wenn wir die Teilintervalle klein genug wählen, so darf man ohne allzu grosse Ungenauigkeit
annehmen, die Geschwindigkeit sei in diesem Teilintervall annähernd konstant, nämlich
ungefähr gleich v(τi ):
v(t) ≈ v(τi ) für t ∈ [ti−1 , ti ] .
Da dieses Teilintervall die Länge ti − ti−1 =∶ ∆ti hat, legt unser Gegenstand in dieser Zeit
ungefähr die Strecke
v(τi )(ti − ti−1 ) = v(τi )∆ti ≈ s(ti ) − s(ti−1 )
zurück3 .
Wir führen nun diese Überlegung für jedes Intervall [ti−1 , ti ] durch und erhalten durch
Addition einen ungefähren Wert für die gesuchte Grösse s(T ):
n
s(T ) ≈ ∑ v(τi )∆ti .
i=1
Wir betrachten daher jetzt eine Folge von Zerlegungen mit der Eigenschaft, dass die maximale Länge der Teilintervalle mit wachsendem n abnimmt und für n → ∞ gegen 0 strebt.
Wir erwarten4 , dass die Folge der Approximationen gegen den Grenzwert s(T ) strebt:
3
Nach dem Mittelwertsatz wissen wir, dass in jedem Intervall [ti−1 , ti ] eine Stelle ηi ∈ ]ti−1 , ti [ existiert
mit v(ηi )(ti − ti−1 ) = s(ti ) − s(ti−1 ).
4
Unter welchen Bedingungen dies der Fall ist, werden wir in diesem Kapitel untersuchen.
98
5. Integralrechnung
n
s(T ) = lim ∑ v(τi )∆ti .
∆ti →0 i=1
Die Frage, wie man denn einen solchen Limes berechnet, werden wir im Verlauf dieses
Kapitels genau untersuchen und soll uns im Moment noch nicht kümmern. Vorläufig ist
nur wichtig, dass s(T ) als Grenzwert einer ganz bestimmten Art beschrieben werden kann.
Im nächsten Abschnitt werden wir uns der Frage widmen ob es immer möglich ist, die
Funktion zu rekonstruieren.
5.1.3
Integrieren heisst Rekonstruieren
Im Kapitel 3 haben wir im ICE-Beispiel die Geschwindigkeit v als Ableitung des zurückgelegten Weges s berechnet. Im vorherigen Abschnitt haben wir versucht aus der Geschwindigkeit v den zurückgelegten Weg s zu ”rekonstruieren”.
In diesem Abschnitt untersuchen wir weiter die Frage, ob man aus der Änderungsrate (Ableitung) einer Funktion die Funktion wiedergewinnen kann.
Wir stehen also vor dem folgenden Problem: Gegeben ist eine Funktion f ′ ∶ [a, b] Ð→ R
von der wir wissen, dass sie die Ableitung einer (unbekannten) Funktion f ist. Gesucht ist
f.
Nehmen wir zudem an, dass wir wissen wie gross der Wert von f an einer bestimmten Stelle5 ist, z.B. an der Stelle a. Wir wollen nun den Wert von f an der Stelle b rekonstruieren.
Wir zerlegen das Intervall [a, b] in Teilintervalle gemäss folgender Figur:
Nach dem Mittelwertsatz 4.6 S.83 existiert ein η1 ∈ [x0 , x1 ] mit
f ′ (η1 ) =
f (x1 ) − f (x0 )
.
x1 − x0
Daraus folgt:
f (x1 ) = f ′ (η1 )(x1 − x0 ) + f (x0 ) = f ′ (η1 )(x1 − x0 ) + f (a)
(x0 = a) .
(5.12)
Ebenso existiert ein η2 ∈ [x1 , x2 ] mit
f ′ (η2 ) =
5
f (x2 ) − f (x1 )
.
x2 − x1
Im ICE-Beispiel konnten wir s(150) bestimmen erst als wir verwendet haben, dass wir wissen, dass
s(0) = 0 ist.
5.1. Beispiele
99
Daraus folgt:
(5.12)
f (x2 ) = f ′ (η2 )(x2 − x1 ) + f (x1 ) = f ′ (η2 )(x2 − x1 ) + f ′ (η1 )(x1 − x0 ) + f (a) .
(5.13)
Wir können so weiter verfahren und erhalten
n
f (b) = f (xn ) = ∑ f ′ (ηk )(xk − xk−1 ) + f (a) .
(5.14)
k=1
Wenn wir die Länge der Teilintervalle [xk−1 , xk ] ”hinreichend klein” wählen, können wir
annehmen, dass selbst bei völlig willkürlicher Wahl eines Zwischenpunktes ξk ∈ [xk−1 , xk ]
der Term f ′ (ξk )(xk − xk−1 ) sich nur wenig von f ′ (ηk )(xk − xk−1 ) unterscheidet und dass
n
f (b) ≈ ∑ f ′ (ξk )(xk − xk−1 ) + f (a) .
(5.15)
k=1
Diese Annäherung dürfte um so besser sein, je kleiner die Länge der Teilintervalle ist.
Auch hier erwarten wir, dass falls wir die Zerlegung immer weiter verfeinern so, dass die
Intervalllänge gegen Null strebt, dass dann
n
∑ f ′ (ξk )(xk − xk−1 ) + f (a)
gegen
f (b)
strebt.
k=1
Auch in diesem Beispiel sehen wir, dass die ursprüngliche Funktion als Grenzwert einer
bestimmten Art von Reihen rekonstruiert werden kann.
5.1.4
Arbeit
Eine einseitig befestigte Schraubenfeder wird gespannt. Ihr loses Ende sei am Anfang an der Stelle
0, am Ende des Vorganges an der Stelle b auf der xAchse:
#" $"
!"
Wie gross ist die geleistete Arbeit (W)? Wäre die Federkraft konstant, z.B. gleich F , also
unabhängig von der Lage x des Feder-Endes, so würde wegen der Definition
”Arbeit = Kraft mal Weg”
100
5. Integralrechnung
gelten:
W = Fb.
Nun hängt jedoch die Federkraft von der Dehnung der Feder ab6 : F = F (x). Wir können
daher die Beziehung ”Arbeit = Kraft mal Weg” nicht einfach auf das ganze Intervall [0, b]
anwenden.
Ähnlich wie im Falle der Verallgemeinerung des ICE-Beispiels 5.1.2 teilen wir deshalb das
Intervall [0, b] in Teilintervalle [xi−1 , xi ] ein und wählen in jedem solchen Intervall einen
Zwischenpunkt ξi .
Ohne allzu grossen Fehler darf man annehmen, die Kraft im Intervall [xi−1 , xi ] sei ungefähr
gleich F (ξi ), so dass für die dort geleistete Arbeit gilt
Wi ≈ F (ξi )∆xi .
Um die Genauigkeit zu erhöhen, lassen wir die Teilintervalle immer kleiner werden und
erhalten schliesslich
n
W (b) = lim ∑ F (ξi )∆xi
∆xi →0 i=1
5.1.5
Flächeninhalt
Wir betrachten den Graphen einer stetigen Funktion f ∶ [a, b] → R mit f (x) ⩾ 0 , ∀x ∈ [a, b].
Wir möchten den Inhalt A des gefärbten Flächenstücks bestimmen.
6
In einem gewissen Bereich gilt, dass die Federkraft proportional zu x ist. Da es hier aber nicht auf
diese spezielle Form der Kraft ankommt, verwenden wir weiterhin die allgemeine variable Kraft F (x).
5.1. Beispiele
101
Figur 66: Fläche A
Zu diesem Zweck unterteilen wir [a, b] wie vorher und wählen in jedem [xi−1 , xi ] einen
Zwischenpunkt ξi .
Der Ausdruck f (ξi )∆xi hat hier eine einfache Bedeutung: Es handelt sich um den Flächeninhalt des in Figur 67 hervorgehobenen Rechtecks. Die Summe
n
∑ f (ξi )∆xi
i=1
ist dann der Inhalt der aus den einzelnen Rechtecken zusammengesetzten Fläche und demzufolge eine Approximation der Fläche A:
Figur 67: Fläche A durch Rechtecksflächen approximiert
102
5. Integralrechnung
Um den gesuchten Flächeninhalt A zu erhalten, wird man nun - wie schon in den vorangegangenen Beispielen - die Länge ∆xi der Teilintervalle gegen 0 streben lassen. Man erhält
dann:
n
A = lim ∑ f (ξi )∆xi
∆xi →0 i=1
.
5.1.6
Volumen von Rotationskörpern
Wir betrachten den Graphen einer stetigen Funktion f ∶ [a, b] → R mit f (x) ⩾ 0 für jedes
x ∈ [a, b].
Nun stellen wir uns vor, dass dieser Graph um die x-Achse rotiert und möchten das Volumen
des Rotationskörpers bestimmen. Wir betrachten zunächst einen schmalen Streifen mit
Breite ∆xi und Länge f (ξi ). Beim Rotieren entsteht daraus ein Zylinder mit Radius f (ξi )
und Höhe ∆xi und somit vom Volumen Vi = πf (ξi )2 ∆xi
Führen wir dies für alle i durch und summieren, so erhalten wir eine Approximation des
Rotationskörpers durch viele zylinderförmige Scheiben, und für sein Volumen V gilt:
5.2. Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
103
n
V ≈ ∑ πf (ξi )2 ∆xi .
i=1
Dieser Ausdruck ist ganz ähnlich wie die bisher betrachteten, allerdings steht unter dem
Summenzeichen nicht die Funktion f , sondern die Funktion, welche durch x ↦ πf (x)2
gegeben ist.
Zum Schluss führen wir auch hier den Grenzübergang durch: Je feiner man die Unterteilung
der x-Achse wählt, desto genauer wird die Approximation des gesuchten Volumens durch
diese Summe von dünnen, zylinderförmigen Scheiben und man erhält die Formel
n
V = lim ∑ πf (ξi )2 ∆xi .
∆xi →0 i=1
5.2 Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
Wir haben in den vorherigen Beispielen gesehen, dass in ganz verschiedenen Situationen
dieselbe mathematische Konstruktion auftritt. In diesem Abschnitt wollen wir diese Idee
losgelöst von speziellen Beispielen durchführen.
Gegeben sei eine beschränkte Funktion f ∶ [a, b] → R mit a < b.
Zuerst zerlegen wir, wie in den Beispielen, das Intervall [a, b] durch endlich viele Teilpunkte
a = x0 < x1 < x2 < x3 < ... < xn = b
in (nicht notwendigerweise gleich grosse) Teilintervalle. Eine solche Folge ζ = (xi )ni=1 nennt
man Zerlegung von [a, b].
Sind ζ = (xi )ni=0 und ζ ′ = (yi )m
i=0 Zerlegungen von [a, b] mit {x0 , ..., xn } ⊆ {y0 , ..., ym }, so
heisst ζ ′ eine Verfeinerung7 von ζ.
Zu zwei beliebigen Zerlegungen ζ = (xi )ni=0 und ζ ′ = (yi )m
i=0 von [a, b] gibt es stets eine
Zerlegung, die feiner ist als beide: man bilde etwa die Vereinigung ζ ∨ ζ ′ = (zk )lk=0 , wobei
{zo , ..., zl } = {x0 , ..., xn }∪{yo , ..., ym } gilt und die Numerierung so gewählt ist, dass zk−1 < zk
für alle 1 ⩽ k ⩽ l gilt.
Sei ζ = (xi )ni=0 eine Zerlegung von [a, b].
ρ(ζ) ∶= max{xi − xi−1 ∣ 1 ⩽ i ⩽ n}
heisst Maschenweite von ζ.
7 ′
ζ entsteht aus ζ durch ”Einschiebung von Zwischenpunkten”.
104
5. Integralrechnung
Eine Folge (ζn ) von Zerlegungen eines Intervalls [a, b] heisst Zerlegungsnullfolge, wenn
die Maschenweite ρ(ζn ) gegen Null konvergiert.
Sei also f ∶ [a, b] → R eine beschränkte Funktion und ζ = (xi )ni=0 eine Zerlegung von [a, b].
Dann existieren
mi ∶= inf{f (x) ∣ xi−1 ⩽ x ⩽ xi }
und
Mi ∶= sup{f (x) ∣ xi−1 ⩽ x ⩽ xi }
für jedes 1 ⩽ i ⩽ n.
Setzen wir
n
U (f, ζ) ∶= ∑ mi (xi − xi−1 )
n
und
O(f, ζ) ∶= ∑ Mi (xi − xi−1 ),
i=1
(5.16)
i=1
so haben wir:
U (f, ζ) ⩽ O(f, ζ) .
(5.17)
U (f, ζ) heisst Untersumme von f bezüglich ζ und O(f, ζ) heisst Obersumme von f
bezüglich ζ.
Figur 68: Untersumme: die Flächenstücke zwischen x-Achse und Kurve werden
von unten angenähert.
Es gilt sogar
Figur 69: Obersumme: die Flächenstücke zwischen x-Achse und Kurve werden
von oben angenähert.
U (f, ζ) ⩽ O(f, ζ ′ )
für zwei beliebige Zerlegungen ζ und ζ ′ von [a, b]. Um das zu sehen, muss man sich nur
überlegen, dass die Untersummen U (f, ζ) bei Verfeinerung von ζ höchstens grösser werden und entsprechend die Obersummen O(f, ζ) bei Verfeinerung von ζ höchstens kleiner
werden.
5.2. Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
105
Diese Aussage ist geometrisch intuitiv klar:
Figur 70: Untersumme
und
Figur 73: Obersumme
Figur 71: Untersumme
bei
Verfeinerung
der
Zerlegung in Figur 70
Figur 72: Untersumme
bei
Verfeinerung
der
Zerlegung in Figur 71
Figur 74: Obersumme
bei
Verfeinerung
der
Zerlegung in Figur 73
Figur 75: Obersumme
bei
Verfeinerung
der
Zerlegung in Figur 74
Die Behauptung U (f, ζ) ⩽ O(f, ζ ′ ) folgt dann aus
U (f, ζ) ⩽ U (f, ζ ∨ ζ ′ ) ⩽ O(f, ζ ∨ ζ ′ ) ⩽ O(f, ζ ′ ) .
Bezeichnen wir also mit Z die Menge aller Zerlegungen von [a, b], so existieren also
sup{U (f, ζ) ∣ ζ ∈ Z}
und
inf{O(f, ζ) ∣ ζ ∈ Z}
für jede beschränkte Funktion f ∶ [a, b] → R.
Offenbar gilt stets
I(f ) ⩽ I(f ) .
Nun definieren wir:
106
5. Integralrechnung
Definition 5.1 Die beschränkte Funktion f ∶ [a, b] → R heisst Riemann-integrierbar,
wenn sogar I(f ) = I(f ) gilt. In diesem Fall heisst
b
∫a f (x)dx ∶= I(f ) = I(f )
das Riemann-Integral von f .
Aus der Definition des Riemann-Integrals folgt
Satz 5.2 Seien f ∶ [a, b] → R und g ∶ [a, b] → R Riemann-integrierbare Funktionen,
dann gilt
1. Die Funktion f + g ∶ [a, b] → R ∶ x ↦ f (x) + g(x) ist ebenfalls Riemannintegrierbar und es gilt:
b
∫a
f (t) + g(t) dt = ∫
b
a
f (t) dt + ∫
b
g(t) dt
a
2. Die Funktion λ ⋅ f ∶ [a, b] → R ∶ x ↦ λ ⋅ f (x) ist für jedes λ ∈ R ebenfalls
Riemann-integrierbar und es gilt:
b
b
∫a λ ⋅ f (t) dt = λ ⋅ ∫a f (t) dt
Bemerkung
Die Integrationsregeln 1 und 2 besagen, dass das Riemann-Integral über [a, b] ein linearer
Operator ist. Das bedeutet, dass die Abbildung Φ, welche jeder integrierbaren Funktion f
auf [a, b] so eine Zahl zuordnet, die Eigenschaft besitzt, dass
Φ(λf + µg) = λΦ(f ) + µΦ(g)
für integrierbare Funktionen f , g auf [a, b] und λ, µ ∈ R.
Im folgenden Satz werden weitere Eigenschaften des Riemann-Integrals aufgeführt, welche
das Berechnen von Integralen wesentlich vereinfacht:
5.2. Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
107
Satz 5.3 Seien f ∶ [a, b] → R und g ∶ [a, b] → R Riemann-integrierbare Funktionen,
dann gilt
1. Die Funktion f ∣[d,e] ∶ [d, e] → R ∶ x ↦ f (x) mit [d, e] ⊆ [a, b] ist ebenfalls
Riemann-integrierbar,
b
d
b
2. ∫ f (t) dt = ∫ f (t) dt + ∫ f (t) dt für alle d ∈ [a, b],
a
a
d
b
b
3. ist g(x) ⩽ f (x) für alle x ∈ [a, b], so ist ∫ g(t) dt ⩽ ∫ f (t) dt,
a
a
b
b
4. ist f (x) = c eine konstante Funktion, so ist ∫ f (t) dt = ∫ c dt = c(b − a).
a
a
Definitionen 5.4 Falls f [a, b] → R Riemann-integrierbar ist mit a < b, definieren wir:
a
1. ∫ f (t) dt ∶= 0, und
a
a
b
2. ∫ f (t) dt ∶= − ∫ f (t) dt.
a
b
Bemerkung
Es gibt beschränkte Funtkionen, die nicht Riemann-integrierbar sind. Ein Beispiel dafür
ist die Kammfunktion f ∶ [a, b] → R, die wir bereits in Kapitel 1 S.49 betrachtet haben und
definiert ist durch
1 für x ∈ Q
f (x) ∶= {
.
0 für x ∈ R ∖ Q .
Für diese Funktion gilt:
I(f ) = 0
und
I(f ) = b − a .
Auf der anderen Seite ist die Menge der Riemann-integrierbaren Funktionen doch recht
umfangreich, wie der folgende Satz zeigt:
108
5. Integralrechnung
Satz 5.5 Stetige und monotone Funktionen sind Riemann-integrierbar
1. Ist f eine im abgeschlossenen Intervall [a, b] monoton wachsende (oder monoton fallende) Funktion, dann existiert das Riemann-Integral von f über [a, b].
2. Ist f eine im abgeschlossenen Intervall [a, b] stetige Funktion, dann existiert
das Riemann-Integral von f über [a, b].
Beweis.
1. Wir führen den Beweis nur für monoton wachsende Funktionen.8
Es sei im Folgenden also f auf [a, b] monoton wachsend. Dann ist f durch f (a) nach
unten und durch f (b) nach oben beschränkt und damit sind I(f ) und I(f ) definiert.
Wir müssen zeigen, dass sie gleich sind.
m
O(f, ζ) − U (f, ζ) = ∑(Mi − mi ) ⋅ (xi − xi−1 )
i=1
m
⩽ ρ(ζ) ⋅ ∑(Mi − mi )
i=1
m
= ρ(ζ) ⋅ ∑(f (xi ) − f (xi−1 ))
(da f monoton wachsend ist)
i=1
= ρ(ζ) ⋅ (f (b) − f (a)) .
Also:
O(f, ζ) − U (f, ζ) ⩽ ρ(ζ) ⋅ (f (b) − f (a)) .
(5.18)
Wir wählen nun eine Zerlegungsnullfolge (ζn ). Dann gilt nach (5.18)
lim (O(f, ζn ) − U (f, ζn )) = 0 .
n→∞
Da
I(f ) − I(f ) ⩽ O(f, ζn ) − U (f, ζn )
für alle n ∈ N gilt,
folgt
I(f ) − I(f ) = 0
und somit ist f Riemann-integrierbar.
2. Als stetige Funktion ist f auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] beschränkt (vgl.
Satz 2.19 S.47) und damit sind auch in diesem Fall I(f ) und I(f ) definiert.
8
Der Fall einer monoton fallender Funktion f lässt sich hierauf zurückführen, indem man die Funktion
−f betrachtet.
5.2. Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
109
Sei ϵ > 0. Man kann zeigen, dass für eine stetige Funktion f auf einem abgeschlossenen
Intervall [a, b] für jedes ϵ > 0 ein δ > 0 existiert, so dass9
∣f (x) − f (y)∣ < ϵ ist für alle
x, y ∈ [a, b]
mit
∣x − y∣ < δ .
(5.19)
Sei ζ = (xi )m
i=1 eine Zerlegung von [a, b] mit ρ(ζ) ⩽ δ. Ferner seien ξi , ηi ∈ [xi−1 , xi ] mit
mi = f (ξi ) und Mi = f (ηi ) für alle 1 ⩽ i ⩽ m (als stetige Funktion nimmt f auf dem
abgeschlossenen Intervall [xi−1 , xi ] ihr Minimum und Maximum an). Dann gilt:
m
O(f, ζ) − U (f, ζ) = ∑(Mi − mi ) ⋅ (xi − xi−1 )
i=1
m
= ∑(f (ηi ) − f (ξi )) ⋅ (xi − xi−1 )
i=1
m
< ϵ ⋅ ∑(xi − xi−1 )
i=1
= ϵ(b − a) .
Für jedes n ∈ N sei für
ϵn ∶=
(5.20)
1
>0
n ⋅ (b − a)
nach (5.19) δn > 0 so gewählt, dass
∣f (x) − f (y)∣ < ϵn
ist für alle
x, y ∈ [a, b]
mit ∣x − y∣ < δn
.
Wir können nun für jedes n ∈ N eine Zerlegung ζn wählen mit Maschenweite ρ(ζn ) <
δn . Dann gilt:
(5.20)
1
O(f, ζn ) − U (f, ζn ) < ϵn (b − a) =
(5.21)
n
und daraus folgt
lim (O(f, ζn ) − U (f, ζn )) = 0 .
n→∞
Da
I(f ) − I(f ) ⩽ (O(f, ζn ) − U (f, ζn ) für alle n ∈ N
gilt, haben wir gezeigt, dass
I(f ) − I(f ) = 0
und somit ist f Riemann-integrierbar.
Beweis 19 ()
9
Diese Eigenschaft ist stärker als Stetigkeit, da das δ nicht von einer gewählten Stelle x0 abhängig ist
sondern ”global” für das ganze Intervall gilt. Man sagt f ist gleichmässig stetig auf [a, b].
110
5. Integralrechnung
Beispiele 5.6 Im Abschnitt 5.1 haben wir jeweils stetige Funktionen betrachtet und somit
gilt:
• Der zurückgelegte Weg s zwischen 0 und T ist das Integral der Geschwindigkeitsfunktion v
s=∫
T
v(t) dt .
(5.22)
0
• Die geleistete Arbeit W von 0 bis b ist das Integral der Kraft F
W =∫
b
0
F (x) dx .
(5.23)
• Der orientierte Flächeninhalt F von a bis b zwischen dem Graph von f und der
x-Achse ist das Integral
b
F = ∫ f (x) dx .
a
(5.24)
• Das Volumen des Rotationskörpers, welches entsteht, wenn der Graph einer positiven
stetigen Funktion f ∶ [a, b] → R um die x-Achse rotiert ist
b
V = ∫ πf (x)2 dx .
a
5.2.1
(5.25)
Der orientierte Flächeninhalt
Als wir im Abschnitt 5.1.5 den Flächeninhalt A unterhalb des Grafen einer stetigen Funktion f ∶ [a, b] Ð→ R berechnet haben, haben wir vorausgesetzt, dass die Funktion f positiv
ist. Da f stetig ist, existiert das Integral von f über [a, b] und wir definieren
A ∶= ∫
b
b
a
f (x) dx .
Das Integral ∫a f (x)dx ist aber auch für Funktionen definiert, welche negative Werte annehmen. Wenn der Graph der Funktion unterhalb der x-Achse verläuft (f (x) < 0), ist das
Produkt f (ξi ) ⋅ ∆xi negativ.
5.2. Das bestimmte Integral und die Integralfunktion
111
Geometrisch gesehen, macht es keinen Sinn von einer negativen Fläche zu sprechen. In der
Analysis ist es jedoch sehr wichtig, solche negative Produkte zu betrachten. Wir werden
dafür den Begriff ”orientierter Flächeninhalt” verwenden und meinen damit, dass solche Flächen sowohl positiv wie auch negativ sein können je nachdem ob sie oberhalb oder
unterhalb der x-Achse liegen.
b
Figur 76: ∫ f (x)dx
a
b
Für das Integral ∫a f (x) dx werden die Flächenstücke oberhalb der x-Achse positiv und diejenigen unterhalb der x-Achse negativ gerechnet. Dies nennen wir die orientierte Fläche
112
5. Integralrechnung
zwischen dem Graphen von f und der x-Achse.
Beispiel 5.7
2π
Figur 77: ∫0 sin(x)dx = 0
5.2.2
Das Prinzip von Cavalieri
Nun soll das Volumen eines Körpers berechnet werden, der in ein räumliches rechtwinkliges kartesisches Koordinatensystem (xyz-Koordinatensystem) eingebettet ist. Die zur yzEbene parallele
Ebene durch den Punkt (x, 0, 0) schneidet den Körper
in einer Fläche. Wir nehmen an, dass für jeden Wert
von x der Inhalt q(x) dieser Fläche existiert und dass
dabei q eine stetige Funktion auf dem Intervall [a, b]
ist. Dann gilt für das Volumen V des Körpers
V =∫
b
q(x)dx .
a
Daraus folgt das Prinzip von Cavalieri:
Liegen zwei Körper zwischen zueinander parallelen
Ebenen und werden sie von jeder zu diesen parallelen
Ebene so geschnitten, dass gleich grosse Schnittflächen
entstehen, so haben die Körper das gleiche Volumen.
Figur 78:
Bonaventura Cavalieri
1598-1647
5.3. Der Hauptsatz
113
5.3 Der Hauptsatz
In diesem Abschnitt wird der Zusammenhang zwischen Ableitung und Integral untersucht.
Definition 5.8 Seien f und F Funktionen [a, b] → R. Falls F differenzierbar ist und
F ′ (x) = f (x) für alle x ∈ [a, b]
gilt, so heisst F Stammfunktion von f .
Mit F ist dann auch F + c für jedes c ∈ R eine Stammfuntkion von f . Stammfunktionen
sind also nicht eindeutig bestimmt. Sind andererseits F und G Stammfunktionen von f , so
ist (F − G)′ = f − f = 0 und deswegen10 F − G = c mit einem c ∈ R. Zwei Stammfunktionen
von f unterscheiden sich also um eine additive Konstante, oder:
Satz 5.9 Ist F eine Stammfunktion von f auf einem Intervall [a, b], so ist
{F + c ∣ c ∈ R}
die Menge aller Stammfunktionen von f auf [a, b].
Natürlich stellt sich die Frage nach denjenigen Funktionen f , die Stammfunktionen besitzen.
10
Sie haben in den Übungen gezeigt: wenn die Ableitung einer Funktion auf einem Intervall Null ist,
dann ist die Funktion auf diesem Intervall konstant.
114
5. Integralrechnung
Satz 5.10 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
1. Ist f ∶ [a, b] → R stetig, so ist die zugehörige Integralfunktion
F ∶ [a, b] → R ∶ x ↦ ∫
x
a
f (t) dt
für jedes x ∈ [a, b] differenzierbar und es gilt:
F ′ (x) = (∫
x
a
′
f (t) dt) = f (x)
2. Ist f ∶ [a, b] → R stetig und ist G eine Stammfunktion von f , so gilt
b
∫a f (t) dt = G(b) − G(a)
Beweis
1. Sei x0 ∈ [a, b]. Wir müssen zeigen, dass
lim ∣
x→x0
F (x) − F (x0 )
− f (x0 )∣ = 0 .
x − x0
Sei ϵ > 0.
Da f stetig ist, gibt es ein δ > 0 so, dass ∣f (t) − f (x0 )∣ < ϵ für alle t mit ∣t − x0 ∣ < δ.
Sei also x ∈ [a, b] mit ∣x − x0 ∣ < δ:
x0
RRR x
RRR
R
RR
f
(t)
dt
−
f (t) dt
∫
∫
RRR a
F (x) − F (x0 )
R
a
∣
− f (x0 )∣ = RRR
− f (x0 )RRRR
RRR
RRR
x − x0
x − x0
RR
RR
R x
R
RR
RR
RRRR
RRRR ∫ f (t) dt
x0
R
R
− f (x0 )RRRR
= RR
RR
RR x − x0
RR
RR
RR
RR
= ∣
x
1
(∫ f (t) dt − f (x0 )(x − x0 ))∣
x − x 0 x0
5.3. Der Hauptsatz
115
Satz 5.3.4
=
∣
x
x
1
(∫ f (t) dt − ∫ f (x0 ) dt)∣
x − x0 x0
x0
Satz 1.5.2
∣
x
1
f (t) − f (x0 ) dt∣
x − x0 ∫x0
Satz 5.3.3
x
1
∣f (t) − f (x0 )∣ dt
∣x − x0 ∣ ∫x0
Satz 5.3.3
x
1
ϵ dt
∫
∣x − x0 ∣ x0
Satz 5.3.3
=
1
⋅ ϵ (x − x0 )
∣x − x0 ∣
=
ϵ
=
⩽
⩽
2. Nach 1 ist F eine Stammfunktion von f . Für diese gilt: F (a) = 0 und F (b) =
b
∫a f (t) dt. Ist G irgendeine Stammfunktion von f so gilt (nach Satz 5.9 S.113)
G(x) = F (x) + c für eine additive Konstante c. Dann ist:
G(b) − G(a) = F (b) − F (a) = ∫
b
a
f (t) dt .
Beweis 20 ()
Bemerkung
Insbesondere folgt aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, dass für eine
stetige Funktion f ∶ [a, b] → R die zugehörige Integralfunktion
F ∶ [a, b] → R ∶ x ↦ ∫
x
a
stetig ist, da differenzierbare Funktionen stetig sind.
f (t) dt
278
X DifferenzialX Differenzialund Integralrechn
und Integ
278
X.7 NX.7
äherungsverfahren
Näherungsverfahren
zur Integration
zur Integration
116
In vielenInFvielen
ällen lässt
Fällen
sich
lässt
dassich
Integral
das Integral
einer stetigen
einer stetigen
Funktion
Funktion
f über einem
f über(ne
5. Integralrechnung
zu großen)
zu großen)
IntervallIntervall
[a; b] näherungsweise
[a; b] näherungsweise
durch (bdurch
− a) ·(bη −
angeben,
a) · η angeben,
wobei w
!
"
!
f (a) + ff(b)
(a) + f (b)
a+b a+b
5.4 Anwendungen
oder ηoder
=f η=f
η = f (a)
η =oder
f (a) ηoder
=
η=
"
2
2
2
2
5.4.1 Näherungsverfahren zur Integration
ist. Diese
ist.Absch
Dieseätzung
Abschätzung
wird wesentlich
wird wesentlich
besser, wenn
besser,man
wenn
dasman
Intervall
das Interva
in n T
b
−
a
b
−
a
In vielen Fällen lässt sich das Integral einer stetigen Funktion f über einem (kleinen)
intervalle
intervalle
[xi−1 ; xi[x
] der
xänge
] derhL:=
änge h :=
zerlegt und
zerlegt
in jedem
und indieser
jedemTeilinterv
dieser T
i−1 ; L
Intervall [a, b] näherungsweise
durch i(b − a) ⋅ η angeben,
n wobein11
diese Näherung
diese Näherung
verwendet.
verwendet.
Man gelangt
Man gelangt
so zu folgenden
so zu folgenden
Regeln:Regeln:
η = f (a)
#b
#b
vgl. Figur 79
(5.26)
(b)
Das Integral
Das Integral
f (x)
dxff(a)
hat
(x)+ fn
dx
äherungweise
hat
näherungweise
den Wert
den Wert
vgl. Figur 80
η =
a
2
a
n−1
$
(5.27)
(5.28)
n−1
$
·
h(x· i ) f (x
fwesentlich
(Rechtecksregel,
Fig. 1) Fig. 1)
i ) wenn man das Intervall
Diese Abschätzungenhwerden
besser,
in(Rechtecksregel,
n Teilintervalle
b−a
i=0
[xi−1 , xi ] der Länge ∆ ∶=i=0
n zerlegt und in jedem dieser Teilintervalle diese Näherung
oder
oder
! zu den !
"
"
verwendet. Man gelangt so
folgenden Regeln:
n−1
n−1
h·
b
f (a) + ff(b)
(a) + $
f (b) $
h·
+
f (x
+ i ) f (xi(Trapezregel,
)
(Trapezregel,
Fig. 2) Fig. 2)
n−12
2 i=1
i=1
(x)dx ≈ ∆ ⋅ ∑ f (xi )
oder∫a foder
h·
b
n
$
i=0 n
%
$
Rechtecksregel
% &
xi−1 + xxii−1 + xi
fh ·
f
n−1
f
(a)
+
2
2
i=1
i=1 f (b)
∫a f (x)dx ≈ ∆ ⋅ (
2
&
+ ∑ f (xi ))
(5.29)
(Tangentenregel,
(Tangentenregel,
Fig. 3). Fig. 3
Trapezregel
(5.30)
i=1
y = f (x)y = f (x)
y = f (x)y = f (x)
y = f (x)y = f
............... ...............
....
....
....................................................................
......................................................................................... .......
................................................................ ............
.
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............. . . .. ......................... .. .
................ .. ............................. .. . . . . . ....
..............................................................................................
.
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.... ... . . . ........................... . . . . . . ...
.... ... . . . ........................... .. . . . . . ...
.... ... . . . ............................... .... .
.
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.. .. . . . ... . . ............... . . . . . . ...
.. .. . . . ... . .. ............... .. .
... ... . . ..... . . ................ . . . . . . ...
.. . . . .. ... .. .. .... .. . . . ...
.
.
.. . . . ... .. .. .... . . . ...
.. . . . ... .. ...f.(x. . )..f (x ) ... . . . . . ... ................. ... .
.. . . . . . . .............. . . . . . . ..
. .. ............... .. . .i+1
. . . .. i+1 ... . . . . . .. ................ .. .
. . .) ... .. ... . . . .. f (x ) ... . .f. (x
.
.
)
f (xi ) ... . .f. (x
f (xi ) .. . f. (x. i.)... .. .. ... . .
.
.
.
i . . . . i.. .. .. .. ... .. . . . ...
.. . . . . . .. .............. .. . . . . . ..
.. . . . . . i. ................... . . . . . . ....
.. . . . . . .. ............... .. .
.. . . .. ... .. ... .. . . ..
.. . . . . .... ... ...... . . . . . . ...
.. . . .. ... .. .... ..
. .
.
.. . . . . ... .. .. ... . . . . ..
.. . . . ... .. .. .. . . . .
.
................................................................................................................................................................................................................................ .........................................................................................
"
xi
"!
h xi xi+1h
!
xi+1
"
xi
"!
h xi xi+1h
!
xi+1
"
xi
"!
h xi xi+1h
Fig.
Zur
Fig.
1:
Zur Rechtecksregel
Fig. 2: Zur
Fig.Trapezregel
2:
Fig.Tangentenr
3: Zur Tan
Figur1:79:
ZurRechtecksregel
Rechtecksregel
Figur
80:Zur
Zur Trapezregel
TrapezregelFig. 3: Zur
Die Approximation
Die Approximation
eines Integrals
eines Integrals
wird i. Allg.
wird besser,
i. Allg. besser,
wenn man
wenn
dieman
Funk
d
Die Approximation eines Integrals wird im Allgemeinen noch besser, wenn man die Funktif über
f[a;über
b] eine
durch
[a;
b]eine
durch
Polynomfunktion
eine Polynomfunktion
p vom Grad
p2.vom
2 Grad
(Parabel)
2 (Parabel)
annähert,
an
on f über
[a, b] durch
quadratische
Funktion
p (Polynomfunktion
Grades)
annähert,
welche welche
für welche
!
"
!
!"
"
!
"
a+b a+b a+b a+b
p(a) = fp(a)
(a),= fp(a), p = f
= f , p(b) ,= fp(b)
(b) = f (b)
2
2
2
2
11
Diegilt
Abschätzung
η =und
f (a)das
haben
wirdas
in diesem
Kapitel
bei
der Herleitung
desdas
Integrals
immer
undgilt
dann
dann
Integral
Integral
über
f über
durch
f das
durch
Integral
Integral
über
p wieder
über
annähert
p ann
(Fig
äh
verwendet.
a+b
a+b
b−a
b−a
und h :=und gehen
und
Zur Bestimmung
Zur Bestimmung
von p(x)
von
setzen
p(x) wir
setzen
m=
wir m =und h :=
2
2
2
2
dem Ansatz
dem Ansatz
p(x) = rp(x)
+ s(x
= r−+a)s(x
+ t(x
− a)
−+
a)(x
t(x−
−m)
a)(xaus.
− m)
Mitaus.
p(a)Mit
= fp(a)
(a),=p(m
f(
f (m), p(b)
f (m),
= fp(b)
(b) erh
= fält
(b)man
erhält
fürman
p(x)für
denp(x)
Term
den Term
5.4. Anwendungen
117
p(a) = f (a) ,
p(
a+b
a+b
) = f(
)
2
2
(5.31)
und
p(b) = f (b)
X.7 Näherungsverfahren zur Integration
(5.32)
(5.33)
279
gilt und dann das Integral über f durch das Integral über p annähert (vgl. folgende Figur):
y
"
.. .......
y = p(x) .............. y = f (x)
.......!
.......... .....
.
.
.
..
.... ... . . ..
........... . . . .....
.
.
........ . . . .
.....
............. .. . .. . .. . .....
.
.
.
.
.
.
.
.
...
........!........
.......... . .. . .. . .. . .. . .. .....
...... ...................................................................!
..... . . . . . . . .. . . . ...... . . . . . . . . . . . . ...
.... . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . . . ....
...
..
..
!
a+b
a
x
b
2
Fig.Simpsonregel
4: Zur Simpson-Formel
Figur 81: Zur
f (a) +
Für
f (a + 2h) − 2f (a + h) + f (a)
f (a + h) − f (a)
(x − a) +
(x − a)(x − a − h).
h
2h2
a+2h
!
Wir werden im Folgenden zeigen, dass für diese Annäherung gilt:
p(x) dx ergibt sich dann
a
a + f (a) 2
a+b
f (a + h) − f (a)
f (a + 2h) − 2f (ab+−h)
(f (a) ·+ 4f
(5.34)
f (a) · 2h +
· 2h2 + ∫ f (x)dx ≈2
h3 . ( 2 ) + f (b)) .
6
a
h
2h
3
Also ist
a+2h
!
h
Diese Approximationsformel
Keplersche
Fassregel (nach Johannes Kepler, 1571h) + f (a
+ 2h)).
f (x) dx ≈ (f (a) + 4f (a + heisst
3
1630).
a
b
Die damit gewonnene Approximationsformel
!b
"
Da f (x) dx ≈ b − a f (a) + 4f
6
a
b
"
#
#
a+b
+ f (b)
2
1 dx = b − a =
b−a
⋅ (1 + 4 + 1)
(5.35)
∫a
heißt Simpson-Formel (nach Thoy
6...........M
...".......... . ..
.. .. .......
"
mas Simpson, 1716–1761). Diese Re-b
...........
a+b
1 2 ................2..... .....b −....a
...........
. a ) = ...
...........+
⋅
(a
+ b)
(5.36)
gel heißt auch keplersche Fassregel
A .....−
B4
∫a x dx = 2 (b
.
...."...... 2
".. .....................................6
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
............. .........
(nach Johannes Kepler, 1571–1630).
..
.. . .
2 + 2ab + b2
b
................
...... ... ...
..........
............ ...3..
3....... ... b...− a ...... ....2...... y =af (x)
Kepler gab den Inhalt eines Fasses x2 dx = .1
.
(5.37)
(b
−
a
)
=
⋅
(a
+
4
+ b2 )
.
.
.
.
.
.
.
∫
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. ..
. .
.3
der Höhe H mit
4
a
............ .... ....6 ............ ... ........
........ .... ....
!
b
1......... a 4... 4.............. m b ...− a ............... b3 ...... a3 x+ 3a2 b + 3ab2 + b3
H
3
....(b .. − a ..)..... = ..
⋅ .(a
+ b3 )
(5.38)
x
dx
=
(A + 4M + B)
.......... ....+ 4
∫a
........
.
6
4....................
6
8
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
................. ........ . .................
.
.
(5.39)
.........................................................................................................................
an (Fig. 5), wobei A und B die
H
Flächeninhalte des Grund- bzw.
und und
da das
Integral
Deckkreises sind
M der
Inhalt über [a, b] ein linearer Operator ist (vgl. S.106), gilt für PolynomfunkFig. 5: Keplersche Fassregel
des Schnittkreises in halber Höhe ist.
. ...........
.
.
y = p(x) ...... y = f (x)
.
............!
.
.
.
.
..
............ . ....
.
.
.
... .... . . ..
118............ . . . . ...
.... . . . .
............. .. . .. . .. . .. ...
.
.
.
...............
.
... . . . . . ..
. .........................................................!
......tionen
. . . p(x)
. . .=.. ax3 + bx2 + cx + d bis zum dritten Grad:
. . . . . . . . . . . ..... . . .. . .. . .. . .. . .. . ...
. . . . . . .... . . . . . . ...
!
a+b
b
b x
2
∫a p(x)dx =
5. Integralrechnung
b−a
) + p(b)) ,
(p(a) + 4p ( a+b
2
6
(5.40)
Fig. 4: Zur Simpson-Formel
also−gilt
für die quadratische Funktion q:
f (a + 2h)
2finsbesondere
(a + h) + f (a)
− a) +
(x − a)(x − a − h).
2h2
b
∫a q(x) dx =
h dann
− f (a)
x≈
· 2h2 +
f (a + 2h) − 2f (a + h) + f (a) 2 3
· h.
2h2
3
Aus (5.31),(5.32),(5.33)
folgt
h
(f (a) + 4f (a + h) + f (ab + 2h)).
3
f (x) dx ≈
∫a
roximationsformel
"
b−a
≈
f (a) + 4f
6
ach ThoDiese ReFassregel
71–1630).
nes Fasses
d B die
nd- bzw.
der Inhalt
Höhe ist.
b−a
(q(a) + 4q ( a+b
) + q(b)) .
2
6
y
"
"
#
b
∫a q(x) dx =
b−a
(f (a) + 4f ( a+b
) + f (b)) .
2
6
#
a+b
+ f (b)
2
M
.
....."............. .
.
.
.
.
.
.
..
.
.
.
.
.
.
.
....... ......
............
.
..
.
.
.
.
.
...........
....
.
.
.
.
.
.
...........B
A....
.
.
.
.. ....."........................................................................................"................
..... .. ..
.
.............
............ .
......... ... ....
......... ... ......... y = f (x)
........ ... ....
. .... .. ..
...... .. .....
...... .. ..
........... .. ....
........ .. ...
............ .. ......
!
......... b ....
......... m ..
...... a .
x
.
.
.
.
......... ....
.........
...... ..
.
......... ....
...... ..
.........
..
. .
............
.................. ............... .... ..............................
......................................................................................................................
H
Kepler gab den Inhalt eines Fasses
der Höhe H mit
H
(A + 4M + B)
6
an, wobei A und B die Flächeninhalte des Grund- bzw. Deckkreises
sind und M der Inhalt des Schnittkreises in halber Höhe ist.
Figur 82: Keplersche Fassregel
Fig. 5: Keplersche Fassregel
Die Ergebnisse seiner Überlegungen veröffentlichte Kepler in dem Büchlein Neue Stereometrie der Fässer. Gleich zu Beginn beschrieb er, wie er auf das Problem stiess: ”Als ich
im vergangenen November eine neue Gattin in mein Haus eingeführt hatte, gerade zu der
Zeit, da nach einer reichen und ebenso vorzüglichen Weinernte viele Lastschiffe die Donau
5.4. Anwendungen
119
herauffuhren und �sterreich die Fülle seiner Schätze an unser Norikum verteilte,
sodass das ganze Ufer in Linz mit Weinfässern, die zu erträglichem Preis ausgeboten wurden, belagert war, da verlangte es meine Pflicht als Gatte und guter
Familienvater, mein Haus mit dem notwendigen Trunk zu versorgen. Ich liess
daher etliche Fässer in mein Haus schaffen und daselbst einlegen. Vier Tage hernach kam nun der Verkäufer mit einer
Messrute, die er als einziges Instrument
benutzte, um ohne Unterschied alle Fässer auszumessen, ohne Rücksicht auf ihre
Form zu nehmen oder irgendwelche Berechnung anzustellen.
Figur 83: Messung des Inhalts eines Fasses
Er steckte nämlich die Spitze des Eisenstabes in die Einfüllöffnung des vollen Fasses schief
hinein bis zum unteren Rand der beiden kreisförmigen Holzdeckel, die wir in der heimischen Sprache die Böden nennen. Wenn dann beiderseits diese Länge vom obersten Punkt
des
Image
http://www.mediaculture-online.de/index.php?eID
Fassrunds bis zum untersten Punkt der beiden
kreisförmigen Bretter gleich erschien, dann gab er
nach der Marke, die an der Stelle, wo diese Länge
aufhörte, in den Stab eingezeichnet war, die Zahl
der Eimer an, die das Fass hielt, und stellte dieser
Zahl entsprechend den Preis fest. Mir schien es
verwunderlich, ob es möglich sei, aus der durch
den Körper des halben Fasses quer gezogenen Linie
den Inhalt zu bestimmen, und ich zweifelte an der
Zuverlässigkeit dieser Messung.”
Kepler rechnete nach und stellte fest, dass der Inhalt
der Fässer, welche zu dieser Zeit in �sterreich üblich
waren, mit dieser Methode tatsächlich gut abschätzbar war.
Figur 84: Kepler 1627
120
5. Integralrechnung
Simpson-Regel
Wenn wir das Intervall [a, b] in n gleich lange Teilintervalle [xi−1 , xi ] zerlegen, wobei wir n
gerade wählen und auf jedem Intervall [xi−1 , xi+1 ] der Länge 2 ⋅ b−a
n die Keplersche Fassregel
anwenden erhalten wir:
b
∫a f (x)dx
≈
b−a
(f (a) + 4f (x1 ) + 2f (x2 ) + 4f (x3 ) + 2f (x4 ) + ... + 4f (xn−1 ) + f (b))
6 n2
X.5 Stammfunktionen und Flächeninhalte
≈
n
−1
2
263
n
2
⎞
b−a⎛
f (a) + 2 ∑Beispiel
f (x2k )3+(zur
4 ∑partiellen
f (x2k−1Integration):
) + f (b)
!
!
3n ⎝
⎠
k=1
k=1
xex dx = xex −
a)
Diese Regel heisst
ex dx = xex − ex
!
!
!
x
dx = x 1716-1761).
ln x − x
b)
ln
x
dx
=
1
·
ln
x
dx
=
x
ln
x
−
Simpson-Regel (nach Thomas Simpson,
x
Beispiel 4 (zur Integration durch Substitution):
a)
5.4.2
!
f ! (x)
dx = ln f (x)
f (x)
b)
!
1
f (x) · f ! (x) dx = (f (x))2
2
Der natürliche
und die Exponentialfunktion
Für alle α ∈ IRLogarithmus
mit α #= −1 gilt
!
xα dx =
1
xα+1 ,
α+1
Im folgenden Abschnitt werden wir einen alternativen Zugang zur Logarithmus- und zur
wie man sofort durch Differenziation findet. Der Ausnahmefall α = −1 kann beExponentialfunktion
finden
[nach
SSAA
S. 263ff.].
nutzt
werden,
um die
natürliche
Logarithmusfunktion ln zu definieren. Man kann
damit also einen neuen Zugang zu den Exponential- und Logarithmusfunktionen
finden:Definition: Für x > 0
Wir beginnen mit einer
Für x > 0 sei
sei
!x
x 1
1
dt
ln x ∶= ∫
dt ln
. x := t (5.41)
1 t
1
Nach Definition ist(Fig. 3). Dann ist ln eine auf IR+ differenzierbare Funktion mit
ln(1) = 0 (ln x)! = 1 >(5.42)
0,
x
und
..
1
...
x
...
...
ln a
#
...
...
#
.....
1..
............ #
......................#$..#....................
.....
................ ....................................................!
x
a
1
y
.
".... y =
also ist ln umkehrbar auf IR+ . Die UmFig.85:
3: Natürlicher
Logarithmus
Natürlicher
Logarithmus
kehrfunktion von ln nennen wir exp Figur
(Fig
4). Ihre
ln ∶]0, ∞[Ð→
ln(]0,
∞[)Definitionsmenge
(5.43) ist die
Bildmenge von ln (also IR, wie wir soy
..
x
.Wir
ist eine streng monoton
Funktion
undUmsomit umkehrbar.
werden
auch gleich
gleich wachsende
sehen werden).
Nach der
"
.. y = e
....
.
.
.
.
.
kehrregel der
Differenziation
zeigen, dass die Bildmenge
ln(]0,
∞[) ganzgilt
R ist.
.
...
..
.....
........................
.
e
.
.
1
...
...
exp! = !
= exp,
... ..... .....
y = ln x
.
.
+
ln ◦auf
exp R differenzierbare Funktion
. . ..
Nach Definition ist ln zudem eine
... ...........mit ..........................
.
.
.
1................................................................
die Funktion exp stimmt also mit ihrer
....... . ..... ..... .............. .....
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
.......
..
Ableitungsfunktion überein.
!
.... ........
.
.
e
x
.
.
1
.
.
.
1
′
.
.
.
.
.
(ln x)
= 0 gilt
>0.
(5.44)
Für x > 0 und ein festes
a >
.
.
.
.
.
.
x
ln ax = ln a + ln x, denn
.....
...
1
1
(ln ax)! =
· a = = (ln x)! .
Fig. 4: Die Funktionen ln und exp
ax
x
...
ln a
...
#
...
#
....
#
.............
1..
.........................#............
................#$................................................................
. !
x
a
1
1
(Fig. 3). Dann ist ln eine auf IR+ differenzierbare Funktion mit
1
(ln x)! = > 0,
x
also ist ln umkehrbar auf IR+ . Die Um-
Fig. 3: Natürlicher Logarithmus
5.4. Anwendungen
kehrfunktion von ln nennen wir exp
(Fig 4). Ihre Definitionsmenge ist die
Bildmenge von ln (also IR, wie wir sogleich sehen werden). Nach der UmDie Umkehrfunktion
vonder
ln Differenziation
nennen wir exp:
kehrregel
gilt
1
−1!
exp
= .!
=(5.45)
exp,
exp(x) ∶= ln
(x)
ln ◦ exp
Nach der Umkehrregel
der Differenziation
die Funktion exp stimmt also mit ihrer
gilt
Ableitungsfunktion überein.
exp′ (x) =
′
Für1 x > 05.44
und ein festes a > 0 gilt
exp
, (5.46)
ln ax = ln a =
+ ln
x, x
denn
ln (exp(x))
1
1
ax)! = also
·a=
= (ln x)! .
die Funktion exp (ln
stimmt
mit
ax
x ihrer
Ableitung überein.
121
.
x
..
... y = e
....
....
.
...
...
e .......................
...
.
.
.
. ..
..
y = ln x
... ... ......
.
.
.. ... .....
..............
.
.
1..................................................................................
.
..
........ ...... .... ............. ....
................
..
. .....
.
!
.
e
x
.... .....1
.
.
.
...
.
.
.
.
..
....
...
y
"
Figur
Graphen
der
Funktionen
Fig.86:
4: Die
Funktionen
ln und
exp
ln und exp
Für x > 0 und ein festes a > 0 gilt
ln′ (ax) =
1
1
⋅ a = = ln′ (x) .
ax
x
ln(ax) und ln(x) sind also beide Stammfunktionen von
um eine additive Konstante:
ln(ax) = ln(x) + c
1
x
(5.47)
und unterscheiden sich somit nur
und da
5.42
ln(a) = ln(a ⋅ 1) = ln(1) + c = c
gilt
ln(ax) = ln(x) + ln(a) .
Es gilt also ganz allgemein:
ln(x1 x2 ) = ln(x1 ) + ln(x2 )
∀x1 , x2 > 0 .
(5.48)
Aus dieser Beziehung folgt, dass 0 = ln(1) = ln( xx ) = ln(x) + ln( x1 ) und somit
1
ln ( ) = − ln(x) ∀x > 0 .
x
(5.49)
122
5. Integralrechnung
Da die harmonische Reihe unbeschränkt ist und da
n
n 1
1
ln(n) = ∫
dx ⩾ ∑
1 x
k=2 k
(5.50)
(vgl. Figur 87) ist auch ln unbeschränkt.
n
n 1
1
Figur 87: ∫
dx ⩾ ∑
1 x
k=2 k
Da ln als Integralfunktion stetig ist, nimmt sie wegen des Zwischenwertsatzes von Bolzano (Satz 2.15 S.42) auch alle Zwischenwerte an und hat also wegen (5.49) die Bildmenge R.
Mit y1 = ln(x1 ) und y2 = ln(x2 ) erhält man
5.48
exp(y1 + y2 ) = exp(ln(x1 ) + ln(x2 )) = exp(ln(x1 x2 )) = x1 x2 = exp(y1 ) exp(y2 ) .
(5.51)
Für festes x > 0 und festes a ∈ R gilt:
ln′ (xa ) =
1
a
⋅ axa−1 = = a ⋅ ln′ (x) ,
a
x
x
also ist
ln(xa ) = a ln(x) + c
und die additive Konstante c ergibt12 sich als 0, wenn man x = 1 einsetzt. Es gilt also:
ln(xa ) = a ln(x) .
(5.52)
Dies bedeutet für die Funktion exp, dass13
exp(ay) = exp(y)a
∀a, y ∈ R .
Es folgt für alle a ∈ R dass exp(a) = exp(1)a .
12
0 = ln(1) = a ⋅ ln(1) + c = 0 + c
13
Für y = ln(x) gilt: exp(ay) = exp(a ln(x))
(5.52)
=
exp(ln(xa )) = xa = exp(y)a .
(5.53)
5.4. Anwendungen
123
Wenn wir
e ∶= exp(1)
(5.54)
exp(a) = ea
(5.55)
ln(e) = 1 .
(5.56)
setzen, dann ergibt sich
und
Damit haben wir einen völlig neuen Zugang zur Exponentialfunktion gefunden.
Nach der Definition von ln als Integral gilt (vgl. Figur 88):
1
1+ n 1
1
n
1
1
1
=
⋅ <∫
dt = ln (1 + ) < ⋅ 1 .
n+1 n+1 n
t
n
n
1
Figur 88: ∫
1
1
1+ n
1
1
dt = ln (1 + )
t
n
(5.57)
124
5. Integralrechnung
Wenn wir die vorherigen Ungleichungen mit n multiplizieren erhalten wir14 mit der Formel
(5.52):
1
n
1 n
1−
=
< ln ((1 + ) ) < 1
(5.58)
n+1 n+1
n
und damit, da mit ln auch exp monoton wachsend und stetig ist, (vgl. 2. Folgerung aus
dem Zwischenwertsatz von Bolzano in Kapitel 2):
exp (1 −
1
1 n
) < (1 + ) < exp(1) = e .
n+1
n
(5.59)
D.h.
1 n
e = lim (1 + ) .
n→∞
n
Die oben definierte Zahl e ist tatsächlich die Eulersche Zahl!
14 n
n+1
=
n+1−1
n+1
=1−
1
n+1
(5.60)
Anhang A
Voraussetzungen aus der Mittelschule
A.1
Arithmetische und geometrische Folgen
Definitionen A.1 Arithmetische Folgen a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 + n ⋅ d sind differenzengleich, d. h. die Differenz zweier aufeinander folgender Glieder ist konstant. Ein Beispiel
ist die Folge 7, 14, 21, 28, 35, . . . der Vielfachen von 7. Eine arithmetische Folge ist
eindeutig definiert, wenn man ihr erstes Glied a0 und die konstante Differenz d = an+1 − an
(für alle n ∈ N0 ) kennt:
a0 , a1 = a0 + d, a2 = a1 + d = a0 + 2d, a3 = a2 + d = a0 + 3d
Allgemein: an = a0 + n ⋅ d.
Geometrische Folgen a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 ⋅ q n , q ≠ 0, sind dagegen quotientengleich,
d. h der Quotient zweier aufeinander folgender Glieder ist konstant. Insbesondere sind alle
Folgenglieder ungleich Null. Ein Beispiel ist die Folge1, 2, 4, 8, 16, 32,.... Eine geometrische Folge ist somit bekannt, wenn man ihr erstes Glied a0 und den konstanten Quotienten
an+1
(für alle n ∈ N0 ) kennt: a0 , a1 = a0 ⋅ q, a2 = a1 ⋅ q = a0 ⋅ q 2 , a3 = a2 ⋅ q = a0 ⋅ q 3 , ...
q=
an
Allgemein: an = a0 ⋅ q n .
126
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
Satz A.2
1. Die Folge (sn )n∈N0 sei die aus der arithmetischen Folge (an )n∈N0 gebildete Reihe.
Dann gilt
n
sn = ∑ ak = (n + 1) ⋅ a0 +
k=0
n(n + 1)
a0 + an
⋅d=
⋅ (n + 1)
2
2
2. Die Folge (sn )n∈N0 sei die aus der geometrischen Folge (an )n∈N0 gebildete Reihe.
Dann gilt für q ≠ 1
n
sn = ∑ ak = a0 ⋅
k=0
1 − q n+1
1−q
Für q = 1 ist die geometrische Folge konstant; für das n-te Glied der zugehörigen
Reihe gilt also sn = (n + 1)a0 .
Eine arithmetische Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 +nd ist eine Teilfunktion der linearen Funktion
fa ∶ R → R ∶ x ↦ a0 + xd.
Eine geometrische Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 ⋅ q n , q ≠ 0, ist für q > 0 eine Teilfunktion der
Exponentialfuntkion fa ∶ R → R ∶ x ↦ a0 ⋅ q x .
Im Graph schaut das so aus:
Abbildung A.1: Graph der arithmetischen Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ −1 + 2n und der linearen
Funktion fa ∶ R → R ∶ x ↦ −1 + 2x
A.1. Arithmetische und geometrische Folgen
127
Abbildung A.2: Graph der geometrischen Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ 5 ⋅ 0.9n und der Exponentialfunktion fa ∶ R → R ∶ x ↦ 5 ⋅ 0.9x
Für negative Quotienten q und nicht ganze Zahlen x ist q x nicht definiert und somit ist die
Exponentialfunktion a0 ⋅ q x nicht definiert. Die geometrische Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ a0 ⋅ q n
ist hingegen auch für negative Quotienten definiert:
Abbildung A.3: Graph der geometrischen Folge a ∶ N0 → R ∶ n ↦ 5 ⋅ (−0.9)n
128
A.2
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
Ableitungsregeln
Summenregel
Mit f und g ist auch ihre Summe f + g in x0 differenzierbar und es gilt:
(f + g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) + g ′ (x0 )
(A.1)
Faktorrelgel
Mit f ist auch das Produkt c ⋅ f für c ∈ R in x0 differenzierbar und es gilt:
(c ⋅ f )′ (x0 ) = c ⋅ f ′ (x0 )
(A.2)
Produktregel
Mit f und g ist auch das Produkt f ⋅ g in x0 differenzierbar und es gilt:
(f ⋅ g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) ⋅ g(x0 ) + f (x0 ) ⋅ g ′ (x0 )
(A.3)
Kettenregel
Ist f in x0 und g in f (x0 ) differenzierbar, so ist auch Verkettung g ○ f in x0 differenzierbar
und es gilt:
(g ○ f )′ (x0 ) = g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 )
(A.4)
Quotientenregel
Falls g(x0 ) ≠ 0 so ist mit f und g auch ihr Quotient
f
g
in x0 differenzierbar und es gilt:
f
f ′ (x0 ) ⋅ g(x0 ) − f (x0 ) ⋅ g ′ (x0 )
(x0 ) =
g
g(x0 )2
(A.5)
Potenzregel
Für f (x) = xr , r ∈ R und x > 0 gilt:
f ′ (x) = rxr−1
(A.6)
A.2. Ableitungsregeln
129
Trigonometrische Funktionen
Für alle x ∈ R gilt:
Für alle x ∈ Rgilt:
sin′ (x) = cos(x)
(A.7)
cos′ (x) = sin(x)
(A.8)
Für alle x ∈ R ∖ { π2 + k ⋅ π ∣ k ∈ Z} gilt:
tan′ (x) =
1
cos2 (x)
= 1 + tan2 (x)
(A.9)
Für alle x ∈ R ∖ {k ⋅ π ∣ k ∈ Z} gilt:
cot′ (x) = −
1
= −1 − cot2 (x)
sin (x)
2
(A.10)
130
A.3
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
Integrationsregeln
Summenregel
Mit f und g ist auch ihre Summe f + g in x0 integrierbar und es gilt:
b
b
b
∫a f + g dx = ∫a f (x) dx + ∫a g(x) dx .
(A.11)
Faktorrelgel
Mit f ist auch das Produkt c ⋅ f für c ∈ R integrierbar und es gilt:
b
∫a
cf dx = c ⋅ ∫
b
a
f (x) dx .
(A.12)
Partielle Integration
Die Produktregel (f ⋅ g)′ = f ′ ⋅ g + f ⋅ g ′ wird beiseitig integriert und liefert:
b
b
′
′
∫a f (x) ⋅ g(x) dx = f (x) ⋅ g(x) − ∫a f (x) ⋅ g (x) dx .
(A.13)
Substitutionsregel
Aus der Kettenregel der Ableitung folgt die Substitutionsregeln:
g(b)
b
′
∫a f (g(x)) ⋅ g (x) dx = ∫g(a) f (t) dt
und
b
∫a
f (x) dx = ∫
g‘−1(b)
g −1 (a)
f (g(s)) ⋅ g ′ (s) ds .
(A.14)
(A.15)
A.4. Zusammenfassung wichtiger Funktionen f mit ihrer Ableitungsfunktion
f ′ und einer Stammfunktion F
131
A.4
Zusammenfassung wichtiger Funktionen f mit ihrer Ableitungsfunktion f ′ und einer Stammfunktion F
[Aus LSA, S. 329]
132
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
A.5. Zusammenfassung Ableitungsregeln
und Integrationsregeln
A.5
Zusammenfassung Ableitungsregeln
und Integrationsregeln
[Aus LSA, S. 330]
133
134
A.6
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
Formelsammlung
A.6. Formelsammlung
135
136
A. Voraussetzungen aus der Mittelschule
Anhang B
Ergänzungen
B.1
Die Betragsfunktion
Die Betragsfunktion
∣ ∣ ∶ R Ð→ R ∶ x ↦ ∣x∣
ist gegeben durch
∣x∣ ∶= {
∶ x⩾0
∶ x<0
x
−x
oder durch
∣x∣ =
√
(B.1)
x2 .
Die Betragsfunktion hat unter anderem folgende Eigenschaften:
Satz B.1
1. Es gilt die Dreiecksungleichung:
∣a∣ − ∣b∣ ⩽ ∣a + b∣ ⩽ ∣a∣ + ∣b∣
2.
Beweis 21
und
∣ab∣ = ∣a∣ ⋅ ∣b∣.
1. Wir zeigen zuerst ∣a + b∣ ⩽ ∣a∣ + ∣b∣. Da 2ab ⩽ 2∣a∣∣b∣ gilt auch a2 + 2ab + b2 ⩽
2
2
a2 + 2∣a∣∣b∣ + b2 . Also gilt (a + b) ⩽ (∣a∣ + ∣b∣) , wenn wir die Quadratwurzel auch beiden
Seiten der Ungleichung ziehen erhalten wir: ∣a + b∣ ⩽ ∣a∣ + ∣b∣.
Jetzt zeigen wir ∣a∣−∣b∣ ⩽ ∣a+b∣. Die Ungleichheit, die wir gerade gezeigt haben, können
138
B. Ergänzungen
wir anwenden: ∣a∣ = ∣a + b − b∣ ⩽ ∣a + b∣ + ∣ − b∣ = ∣a + b∣ + ∣b∣. Wenn wir ∣b∣ auf beiden Seiten
dieser Ungleichung subtrahieren erhalten wir die gewünschte Formel.
2. Um diese Gleichheit zu beweisen brauchen wir die Definition (B.1) der Betragsfunktion und die Tatsache, dass die Quadratwurzel mit der Multiplikation kommutiert:
√
√
√
√
∣a∣∣b∣ = a2 ⋅ b2 = a2 ⋅ b2 = (ab)2 = ∣ab∣.
B.1. Die Betragsfunktion
139
Summenregel
Mit f und g ist auch ihre Summe f + g in x0 differenzierbar und es gilt:
(f + g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) + g ′ (x0 )
(B.2)
Faktorrelgel
Mit f ist auch das Produkt c ⋅ f für c ∈ R in x0 differenzierbar und es gilt:
(c ⋅ f )′ (x0 ) = c ⋅ f ′ (x0 )
(B.3)
Produktregel
Mit f und g ist auch das Produkt f ⋅ g in x0 differenzierbar und es gilt:
(f ⋅ g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) ⋅ g(x0 ) + f (x0 ) ⋅ g ′ (x0 )
(B.4)
Kettenregel
Ist f in x0 und g in f (x0 ) differenzierbar, so ist auch Verkettung g ○ f in x0 differenzierbar
und es gilt:
(g ○ f )′ (x0 ) = g ′ (f (x0 )) ⋅ f ′ (x0 )
(B.5)
Quotientenregel
Falls g(x0 ) ≠ 0 so ist mit f und g auch ihr Quotient
f
g
in x0 differenzierbar und es gilt:
f
f ′ (x0 ) ⋅ g(x0 ) − f (x0 ) ⋅ g ′ (x0 )
(x0 ) =
g
g(x0 )2
(B.6)
Potenzregel
Für f (x) = xr , r ∈ R und x > 0 gilt:
f ′ (x) = rxr−1
(B.7)
140
B. Ergänzungen
Trigonometrische Funktionen
Für alle x ∈ R gilt:
Für alle x ∈ Rgilt:
sin′ (x) = cos(x)
(B.8)
cos′ (x) = sin(x)
(B.9)
Für alle x ∈ R ∖ { π2 + k ⋅ π ∣ k ∈ Z} gilt:
tan′ (x) =
1
cos2 (x)
= 1 + tan2 (x)
(B.10)
Für alle x ∈ R ∖ {k ⋅ π ∣ k ∈ Z} gilt:
cot′ (x) = −
1
= −1 − cot2 (x)
sin (x)
2
(B.11)
Bibliographie
[BHA 2010] A. Büchter & H. W. Henn, Elementare Analysis, Spektrum, 2010.
[Cauchy 1836] A. L. Cauchy, Vorlesung ”uber die Differenzialrechnug, Braunschwieg, 1836.
[DVA 2005] R. Danckwerts & D. Vogel, Elementare Analysis, Spektrum, 2005.
[DVD 2010] R. Danckwerts & D. Vogel, Analysis verständlich unterrichten, Spektrum,
2010.
[Dugac 1973] P. Dugac, Eléments d’analyse de Karl Weierstrass, Berlin, 1973.
[Fundamentum] DMK & DPK, Fundamentum Mathematik und Physik, Formeln, Begriffe,
Tabellen für die Sekundarstufe I und II, Orell Füssli, 2003.
[HAG 2011] M. Huber & C. Albertini, Grundbegriffe der Mathematik, Skript zur gleichnamigen Vorlesung, 2011.
[HA1 1986] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis, Teil I, Teubner, 1986.
[HA2 1986] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis, Teil II, Teubner, 1986.
[Klein 1928] A. L. Cauchy, Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus (3 Bände),
Springer, 1928.
[LSA 1999] A. Schmid& W. Schweizer, Analysis Leistungskurs, Gesamtausgabe, Klett,
1999.
[SC 2010] G. Strang, Calculus, Wellesley-Cambridge Press, 2010.
[PDSZ 2001] F. Padberg& R. Danckwerts & M. Stein, Zahlbereiche, Spektrum, 2001.
[SSAA 2009] H. Scheid & W. Schwarz , Elemente der Linearen Algebra und der Analysis,
Springer, 2009.
[STO 2010] H. H. Storrer, Einführung in der mathematische Behandlung der Naturwissenschaften I, Birkhäuser, 2010.
Sachregister
Ableitung
Umkehrfunktion, 85
Ableitungsfunktion, 54
absolute Änderung, 52
Approximation
linear, 63
Archimedische Axiom, 14
arithmetische Folge, 125
Axiom
archimedisch, 14
Axiom der Vollständigkeit, 19
Bedingungen
Weierstrass, 61
Bernoulli Ungleichung, 9
beschränkt
Folge, 12
Funktion, 47
Menge, 22
Cauchy
Folge, 12
Definitionslücken, 28
dicht, 25, 26
Differentialquotient, 54
Differenzenquotient, 54
differenzierbar, 54
divergente Folge, 6
Dreiecksungleichung, 137
elementare Funktionen, 61
Eudoxus, 16
Satz des, 16
Eulersche Zahl, 124
Exponentialfunktion, 120
Extremalstelle
global, 80
Extremum
lokal, 80
Fassregel, 117
Kepler, 117
Fehlerrechnung, 68
Fibonacci Folge, 2
Flächeninhalt
orientiert, 93
Folge, 1
beschränkt, 12
konsant, 10
arithmetisch, 125
Cauchy, 12
divergent, 6
Fibonacci, 2
geometrisch, 9, 11, 125
Graph, 3
harmonisch, 2
monoton fallend, 12
monoton wachsend, 12
streng monoton fallend, 12
streng monoton wachsend, 12
Funktion
beschränkt, 47
Funktionen
elementar, 61
geometrische Folge, 9, 11, 125
Konvergenz, 11
geometrische Reihe, 11
Konvergenz, 11
Glied einer Folge, 1
globale Extremalstelle, 80
globales Maximum, 80
globales Minimum, 80
Graph einer Folge, 3
Grenzwert, 33
uneigentlich, 39
SACHREGISTER
143
Grenzwert der Intervallschachtelung, 21
Grenzwert einer Funktion, 37
Obersumme, 104
orientiert
Fläche, 111
harmonische Folge, 2
orientierte Fläche, 111
Hauptsatz der Differential- und Integralrech- orientierter Flächeninhalt, 93, 111
nung, 114
Satz, 114
Rechtecksregel, 116
reelle Funktionen, 27
Infimum, 23
Reihe, 10
Intervallschachtelung, 20
geometrisch, 11
irrationale Zahlen, 13
Kettenregel, 85
konstante Folge, 10
Konvergenz einer Folge, 4
lineare Approximation, 63
lineare Approximierung, 60
Logarithmus, 120
lokale Extremalstelle, 80
lokale Änderungsrate, 56
lokales Maximum, 80
lokales Minimum, 80
Maschenweite, 103
Maximum
global, 80
lokal, 80
Menge
beschränkt, 22
Minimum
global, 80
lokal, 80
Mittelwertsatz, 83
Satz, 83
mittlere Änderungsrate, 52
monoton fallende Folge, 12
monoton wachsend, 75
monoton wachsende Folge, 12
Monotoniekriterium, 73, 75, 80
Schranke
obere, 22
untere, 22
Schrankensatz, 82
Satz, 82
Sekante, 64, 80
Simpson-Regel, 120
Stammfunktion, 113
stetig, 69
streng monoton wachsende Folge, 12
Summenfolge, 10
Supremum, 22
Tangente, 64
Trapezregel, 116
Umgebung, 33
Umkehrfunktion, 85, 87
Ableitung, 87
uneigentliche Grenzwerte, 39
Ungleichung
Bernoulli, 9
untere Schranke, 22
Untersumme, 104
vollständige Veränderung, 60
Vollständigkeit
Axiom, 19
Vorzeichenwechsel, 90
n-te Glied einer Folge, 1
natürlicher Logarithmus, 120
Nullstellensatz, 43
Satz, 43
näherungsweise Berechnung, 68
Weierstrass, 60, 70
Bedingungen, 61
Satz, 70
Wertefolge, 37
obere Schranke, 22
Zahlenfolge, 1
144
Zerlegung, 103
Zerlegungsnullfolge, 104
Zwischenwertsatz von Bolzano, 42
Satz, 42
Änderung, absolute, 52
Änderungsrate, mittlere, 52
SACHREGISTER
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