Stadt Freiburg im Breisgau Dokumentation

Werbung
Stadt Freiburg im Breisgau
Landkreis
Breisgau-Hochschwarzwald
Dokumentation
Fachtagung am 08. Oktober 2004
im Glashaus Rieselfeld in Freiburg
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Herausgeber und Veranstalter:
Stadt Freiburg
Sozial- und Jugendamt
Jugendförderung und Jugendhilfeplanung
Jacob-Burckhardt-Str. 1
79098 Freiburg
Landratsamt
Breisgau-Hochschwarzwald
Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe
Stadtstr. 2
79104 Freiburg
AK Jungen Freiburg
AK Jungen
Breisgau-Hochschwarzwald
Freiburg, Februar 2005
2
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Inhalt
Tagungsprogramm
4
Begrüßung durch Bürgermeister Ulrich von Kirchbach
Dezernent für Kultur, Jugend und Soziales, Stadt Freiburg
6
Begrüßung durch Harald Rombach,
Leiter Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe
Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald
7
Vortrag von Prof. Dr. Albert Scherr
Pädagogische Hochschule Freiburg
8
Forum 1: „Einladung zur Gratwanderung:
„Konzepte in der Jugendarbeit – so verschieden, so gleich“
Lothar Wegner, Referent für Gewaltprävention
Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg
17
Forum 2: „Blockaden, Schwierigkeiten und gelingende Momente“
Prof. Dr. Albert Scherr
Pädagogische Hochschule Freiburg
18
Forum 3: „Herangehensweisen aus der Praxis“
Uwe Herm, Dipl. Sozialarbeiter und Psychodramaleiter
LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg
19
Forum 4: „Frauen in der Arbeit mit Jungen – Rollenklärung im Austausch“
Doris Leber, Dipl. Psychologin
Wissenschaftliches Institut des Jugendhilfswerks Freiburg e. V.
an der Universität Freiburg
20
Markt der Möglichkeiten
21
Schlusswort von Meik Haselbach, AK Jungen Breisgrau-Hochschwarzwald
22
Fazit
23
3
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Tagungsprogramm
08.45 Uhr
Anmeldung
09.15 Uhr
Begrüßung durch Bürgermeister Ulrich von Kirchbach
Dezernent für Kultur, Jugend und Soziales, Stadt Freiburg
Begrüßung durch Harald Rombach
Leiter des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe
Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald
09.30 Uhr
Vortrag von Prof. Dr. Albert Scherr: „Wozu Jungenarbeit?“
10.30 Uhr
Pause
10.45 Uhr
Foren
Forum 1:
„Einladung zur Gratwanderung: Konzepte in der Jungenarbeit –
so verschieden, so gleich“,
Lothar Wegner, Referent für Gewaltprävention
Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg
Forum 2:
„Blockaden, Schwierigkeiten und gelingende Momente“
Prof. Dr. Albert Scherr
Pädagogische Hochschule Freiburg
Forum 3:
„Herangehensweisen aus der Praxis“,
Uwe Herm, Dipl. Sozialarbeiter und Psychodramaleiter
LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg
Forum 4:
„Frauen in der Arbeit mit Jungen – Rollenklärung im Austausch“,
Doris Leber, Dipl. Psychologin
Wissenschaftliches Institut des Jugendhilfswerks Freiburg e. V.
an der Universität Freiburg
12:45
Gallery walk, Imbiss und Getränke
13:30
Präsentation der Thesen zur Weiterentwicklung von Jungenarbeit
Schlusswort von Meik Haselbach
Moderation der Veranstaltung
Roman Götten, Leiter Jugendtreff Brühl-Beurbarung
Meik Haselbach, Jugendreferat Staufen
4
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Vorbereitungsteam der Fachtagung
Stadt Freiburg
Sozial- und Jugendamt
Frank Faller, Jugendförderung und Besondere Soziale Dienste
Martina Leder, Jugendförderung und Besondere Soziale Dienste
Bernd Metzler, Kindertageseinrichtung Landwasser
Beate Schauer, Jugendhilfeplanung
Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald
Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe
Uschi Kiesgen
AK Jungen Stadt Freiburg
Johannes Dilger, JHW Freiburg
Roman Götten, Jugendtreff Brühl-Beurbarung
Wendepunkt Freiburg e. V.
Christoph Bösch
AK Jungen Breisgau-Hochschwarzwald
Meik Haselbach
Rolf Schempp
5
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Begrüßung durch Bürgermeister Ulrich von Kirchbach
Dezernent für Kultur, Jugend und Soziales, Stadt Freiburg
Wir haben uns in Freiburg in jüngster Zeit das Thema
Gender Mainstreaming zum Schwerpunkt gesetzt. Zur
Umsetzung wurde ein Konzept entwickelt, das Ansprechpersonen für Gender-Fragen in allen Ämtern der Stadtverwaltung vorsieht. In der Jugendarbeit ist die Sensibilität
für geschlechtsspezifische Belange schon seit langem ein
wichtiger fachlicher Standard.
Die gesetzliche Grundlage dafür ist der § 9 des Kinder- und
Jugendhilfegesetz, demzufolge die unterschiedlichen
Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen
und Benachteiligungen abzubauen sind, sowie die
Gleichberechtigung zu fördern ist.
Bis vor einigen Jahren ist der Jugendarbeit gelegentlich
vorgeworfen worden, sie sei Jungenarbeit. Darin enthalten
war der Vorwurf, dass die Angebote der Jugendarbeit zu
wenig auf Mädchen ausgerichtet sind.
Doch es gilt auch: Jungenarbeit ist nicht automatisch qualifizierte Arbeit mit Jungen. In den
vergangenen Jahren wurde einige Mühe darauf verwendet, Inhalte und Ziele von Jungenarbeit
zu erfassen. Jungenarbeit ist die pädagogische Unterstützung bei der Entwicklung einer
zeitgemäßen männlichen Identität. Doch Jungenarbeit ist vor allem eine Frage des
Bewusstseins, nicht der Methode.
Konzepte einer geschlechtsspezifischen Pädagogik sind immer stärker zum Thema geworden –
sowohl in der sozialpädagogischen Arbeit als auch bei der wissenschaftlichen Betrachtung
dieses Feldes - bei Veröffentlichungen, Fortbildungen und Arbeitskreisen etc. Doch während die
Mädchenarbeit ihre langjährig bestehenden Leitlinien feiert, stehen wir mit der Jungenarbeit erst
am Anfang. So gibt es seit 9 Jahren den „Arbeitskreis Jungen“, eine Arbeitsgruppe des
Koordinierungskreises der Freiburger Kinder- und Jugendbegegnungsstätten. Der Arbeitskreis
Jungen hat sich 1995 gegründet. Er hat das Ziel, den geschlechtsspezifischen Arbeitsansatz für
Jungen zu sichern und weiterzuentwickeln.
Seit März 2000 gibt es eine Konzeption und heute sind im AK Jungen Freiburg 16 Einrichtungen
vertreten. Damit zeigt sich bereits eine vorsichtige Entwicklung bzw. erste Schritte in der
Jungenarbeit.
2002 veranstaltete der AK Jungen erstmalig einen „Jungentag“ unter Beteiligung zahlreicher
Jugendbegegnungsstätten. Am 08. Mai 2004 fand der 2. Freiburger Jungentag statt. Beide
wurden mit finanzieller Unterstützung des Sozial- und Jugendamtes durchgeführt. Auch im
Bereich der Kindertagesstätten arbeitet man mittlerweile an Standards zum Thema Mädchenund Jungenarbeit.
Geschlechtsbezogene und geschlechtsspezifische Arbeitsformen werden in der gesamten
Kinder- und Jugendhilfe mehr und mehr zum Standard-Repertoire.
Das Ziel dieser Fachtagung ist eine Bestandsaufnahme zum Stand der Jungenarbeit - sowohl
konzeptionell als auch in der praktischen Umsetzung in den verschiedenen Feldern der Jugendund Erziehungshilfe. Es muss das Bewusstsein gestärkt werden, dass die Jungenarbeit
unverzichtbar ist, denn es gibt noch immer große Unterschiede in der Kinder- und Jugendhilfe
bei der Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Belange von Jungen. Ein Vergleich
zwischen Ansätzen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und in den Kindertageseinrichtungen macht das deutlich.
Jungenarbeit braucht eine Etablierung auf breiterer Basis, eine größere Bekanntschaft und auch
größere Selbstverständlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Deshalb sind neben einer
Bestandsaufnahme bei der heutigen Tagung, auch die Vernetzung, die Kooperation und die
Weiterentwicklung von Jungenarbeit zentrale Anliegen.
Über die Ergebnisse dieser Fachtagung werden wir den Kinder- und Jugendhilfeausschuss in
Freiburg am 09.12. dieses Jahres informieren.
6
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Begrüßung durch Harald Rombach
Leiter des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe, Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald
Jugendarbeit ist Jungenarbeit, bis vor wenigen Jahren war dies,
vor allem im Hinblick auf die Anzahl der Jungen in den
Jugendräumen eine oft getroffene Feststellung.
Mitte der 90er Jahre, um genauer zu sein, 1996 gab es im
Landratsamt im Rahmen der Jugendhilfeplanung ein erstes
Experten-Hearing
zum
Thema
„Geschlechtsbezogene
Pädagogik“. Daraufhin wurde auch im Kreisjugendplan des
Landkreises festgelegt, dass geschlechtsspezifische Aspekte in
den Bereichen der Jugendarbeit konzeptionell verankert und
entsprechende Methoden entwickelt werden sollen. Dies fand seit
dieser Zeit vornehmlich in der Mädchenarbeit statt.
Jungenarbeit ist bis heute nicht in diesem Maße, weder in den
Konzeptionen noch in der praktizierten Arbeit mit Jungen im
Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zu finden.
Eher im Gegenteil, die Jungenarbeit führt bis jetzt noch ein Schattendasein. Es gibt zwar
Erfahrungen in den verschiedensten Feldern der Jugendhilfe, unterschiedliche Projekte und
konzeptionelle Ideen, die selbstverständliche Verankerung von Jungenarbeit als Standard blieb
aber aus.
Dies ist umso unverständlicher, wenn es darum geht ein gleichberechtigtes Miteinander
zwischen Jungen und Mädchen zu fördern.
Aber erste Schritte sind bereits getan. Es gibt im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald einen
Arbeitskreis Jungenarbeit, der sich aus den Vertretern der offenen Kinder- und Jugendarbeit
zusammensetzt. Und auch diese Tagung wird ein weiterer Schritt sein, Jungenarbeit in den
Feldern der Jugendhilfe zu etablieren.
Jungenarbeit ist eine Frage des Bewusstseins, wie wir heute schon gehört haben.
Aber was bedeutet dies konkret?
Wie ist diese Arbeit mit pädagogischen Konzepten zu füllen?
Welche Angebote der Jungenarbeit passen auf die jeweilige Einrichtung und wie wird diese
Arbeit dort verortet und weiter entwickelt?
Sicher werden Sie heute Antworten auf diese Fragen erhalten, sei es im Vortrag von Herrn Prof.
Albert Scherr, aber auch in den unterschiedlichen Foren.
Wir wünschen uns mit dieser Tagung, den Pädagogen und Pädagoginnen aus der Jugendhilfe
Anstöße, Ideen und Lust für die Jungenarbeit zu vermitteln:
•
Jungen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und in ihrer Entwicklung zu fördern.
•
Akzeptanz, Toleranz, Interesse und Neugier gegenüber vielfältigen Männlichkeitsentwürfen zu wecken und zu festigen,
•
aber auch Schutzräume für Jungen zu bieten, sollten, wie beispielhaft aufgeführt,
inhaltliche Ziele von Jugendarbeit sein.
7
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Vortrag von Prof. Dr. Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg
(Dieser Text gibt den Vortrag von Prof. Dr. Albert Scherr nicht wörtlich wieder, sondern ist ein
Grundlagetext zum Vortrag)
Geschlechterdifferenzierung in der Kinder- und Jugendhilfe. Ein kritischer Blick1
Geschlechterdifferenzierung als Querschnittsaufgabe – Normalisierung und Marginalisierung
Wer gegenwärtig die Forderung nach einer geschlechtsspezifischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen formuliert,
provoziert - zumindest in Fachkreisen - gewöhnlich längst nicht
mehr Erstaunen, sondern eher gelangweiltes Kopfnicken. Zu dieser
Thematik scheint längst alles Erforderliche gesagt zu sein, und
ohnehin gelten „frauenbewegte Emanzen“ und „männliche Softis“
inzwischen vielfach als Figuren aus der Mottenkiste der sozialen
Bewegungen der 70er und frühen 80er Jahre. Was also kann
gegenwärtig noch einen weiteren Aufsatz über die Notwendigkeit
von Geschlechterdifferenzierung in der Kinder- und Jugendhilfe
legitimieren?
Wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, sind die für die sozialpädagogische Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen aus der Geschlechterforschung zu ziehenden Konsequenzen noch
lange nicht hinreichend theoretisch ausbuchstabiert - und schon gar nicht in eine angemessene
Praxis umgesetzt. Das KJHG (§ 9) formuliert für die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe die
Anforderung, "die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen,
Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu
fördern". Dieser Paragraph war in dieser Form ein Novum für die Jugendhilfe und spiegelt die
Debatten und Kämpfe um die Geschlechterfrage wider, wie sie seit den 70er Jahren auch in der
Jugendhilfe geführt wurden: Das Projekt einer feministischen Gesellschaftskritik wird hiermit
institutionalisiert, in ein pädagogisches Programm transformiert, das sich im Kern auf die
Forderung nach gesellschaftlicher Gleichberechtigung konzentriert. Gesetzlich festgeschrieben
sind jetzt - nimmt man den Text des Paragraphen beim Wort - die Prinzipien der Geschlechterdifferenzierung und Gleichberechtigung als Querschnittsaufgaben für alle Angebote der Kinderund Jugendhilfe. Der Blick auf die Praxis der Jugendhilfe und Jugendarbeit zeigt jedoch, dass
es mit der Umsetzung dieser umfassenden Querschnittsaufgabe nicht weit her ist. Es ist zwar
relativ selbstverständlich geworden, den Paragraphen als Aufforderung und Begründung zur
Einrichtung von eigenständigen Mädchengruppen und Mädchenprojekten, insbesondere in der
Jugendarbeit, zu verstehen. Diese Maßnahmen sind inzwischen fachöffentlich, aber auch in der
medialen und politischen Öffentlichkeit kaum mehr strittig - was nicht heißt, dass immer wieder
um Finanzierungsgrundlagen gerungen werden muss. Es gibt vordergründig einen offiziellen
Konsens zur Mädchenarbeit - im Sinne einer "political correctness" - die es verbietet, sich gegen
Mädchenarbeit auszusprechen, der jedoch hintergründig dennoch gelegentlich unterlaufen wird.
In zahlreichen anderen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, so in den Kindergärten, den
Horten, der Heimerziehung, der Behindertenarbeit, der Schulsozialarbeit oder auch der
Jugendberufshilfe sind mädchenspezifische Ansätze zudem noch eher gering ausgeprägt.
Während die Notwendigkeit und Legitimität von Mädchenarbeit gleichwohl prinzipiell also nicht
strittig ist, sieht es für die Jungenarbeit anders aus. Hier kann - obwohl inzwischen eine große
Zahl einschlägiger Veröffentlichungen vorliegt (s. etwa Armbruster u. a. 1995; Böhnisch/Winter
1993; Hoffmann 1995; Sielert 1989; Winter/Willems 1991) - nach wie vor nicht davon
ausgegangen werden, dass die Notwendigkeit einer geschlechtsspezifischen Jungenarbeit
gesellschaftlich und fachöffentlich anerkannt ist, sowie dass Konsens darüber besteht, was es
heißt, den Lebenslagen von Jungen gerecht zu werden. Die bestehenden Ansätze der
Jungenarbeit sind quantitativ eng begrenzt und sie werden faktisch kaum als Impulsgeber für
eine Neuorientierung der Jugendarbeit und Jugendhilfe wirksam. Dies ist - distanziert betrachtet
- erstaunlich. Denn zentrale Probleme, mit denen die Jugendhilfe gegenwärtig befasst ist - so
1
Der vorliegende Text basiert auf einem gemeinsamen mit Lotte Rose verfassten Manuskript.
8
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
insbesondere Jugendgewalt, Rechtsextremismus, Aggressivität und Jugendkriminalität - sind
offenkundig Phänomene mit geschlechtsspezifischen Ausprägungen und Ursachen. Es sind
bekanntlich überwiegend Jungen, die als Straftäter in Erscheinung treten, die in der
Öffentlichkeit sowie in pädagogischen Einrichtungen durch ärgerliches, irritierendes und
abweichendes Verhalten auffallen. Dass die Normalisierung geschlechtsdifferenzierender
Standards in der Kinder- und Jugendhilfe so mühselig verläuft hat zweifellos vielfältige Gründe.
Wir sind der Meinung, dass einer der Gründe in der Form des Diskurses zur
geschlechterdifferenzierten Jugendhilfe liegt. Die Muster, in denen über Mädchen- und Jungenwelten, das Geschlechterverhältnis und über darauf bezogene sozialpädagogische Konzepte
gesprochen wird, schaffen ihre eigenen inneren Begrenzungen. Auch wenn sie dieses niemals
beabsichtigen, so kanalisieren und regulieren sie doch in gewisser Weise "unter der Hand"
Wahrnehmung, Denken und Handeln, verstellen sie ungewollt die Entfaltung von neuen
Entwürfen und Weiterentwicklungen. Was für Diskurse grundsätzlich gilt, trifft auch für jenen zur
geschlechterdifferenzierenden Jugendhilfe zu: Er konstruiert einen Gegenstand, indem er das
Denken und Sprechen über ihn reguliert, reglementiert und normiert. Er legt spezifische
Wahrnehmungsraster, Deutungen und Argumentationsstile nahe, andere schließt er aus,
verbietet sie vielleicht sogar, er macht spezifische Erkenntnisse zu Wahrheiten, während
anderes sprachlos und damit undenkbar bleibt. So produziert jeder Diskurs seine eigenen
Denkblockaden, die Innovationen verhindern. Gerade dann, wenn Situationen und Debatten
festgefahren erscheinen, praktizierte Lösungsstrategien sich als wenig effektiv erweisen - und
dies lässt sich wohl für die Debatte zur geschlechterdifferenzierenden Jugendhilfe mit
Abstrichen behaupten -, kann es von daher lohnenswert sein, solche "Denkblockaden"
aufzuspüren. Im Folgenden möchten wir einige dieser Blockaden, die wir zu erkennen meinen,
skizzieren und zur Diskussion stellen. Wir verzichten bewusst darauf, sie konkreten Autoren,
Autorinnen und Texten zuzuordnen, denn es handelt sich überwiegend nicht um explizite
Positionen einzelner Fachleute, die in dieser Form fachöffentlich vertreten werden, sondern eher
um Hintergrundannahmen und Selbstverständlichkeiten, die in der Regel nicht (mehr)
ausgesprochen werden, aber den Diskussions- und Argumentationsstil beeinflussen, und eben
auch eingrenzen. Es sind vielfältige und heterogene Lektüre- und Diskussionserfahrungen, die
uns veranlasst haben, zu versuchen, pointiert zu bestimmen, an welchen Stellen in der
Geschlechterdebatte Selbstverständlichkeiten entstanden sind, die mittlerweile Kontraproduktives erzeugen. Welche Paradigmen stecken den Diskurs ab mit welchen bedenklichen
Folgen?
Nur Mädchen haben geschlechtsspezifische Probleme
Bisher wurde die Geschlechterfrage in der Jugendhilfe vorwiegend als Mädchenfrage diskutiert,
und so kommt es immer wieder zur synonymen Verwendung der Begriffe "Geschlechtsspezifik"
und "Mädchenspezifik". So können wir beobachten, dass es sich in Fachkreisen durchaus
eingebürgert hat, immer wieder auf die besondere Situation und Bedürfnisse der Mädchen zu
verweisen. In kaum einer Abhandlung, Fachtagung oder Konzeptplanung tauchen nicht auch die
Mädchen in einem Extraabschnitt auf, während ansonsten der Diskurs geschlechtsneutral,
geschlechtslos gehalten ist: Nach den Ausführungen zur Jugend im Allgemeinen, dann
routinemäßig die über die Mädchen im Besonderen. Diese unterstellt: Mädchen haben
Probleme aufgrund ihres Geschlechts, Jungen nicht; Mädchenalltag ist durch ihr Geschlecht
geprägt, Jungenalltag nicht. Was wir darin wiederentdecken können, ist das Muster:
Mann=Normalfall - Frau=Abweichung. Es sagt uns: Jungen haben immer nur allgemeine
Probleme; sie leiden als Jugendliche an den Modernisierungsrisiken, nicht als Jungen. Dabei
bringen die gesellschaftlichen Umbrüche, die Krise der Arbeitsgesellschaft, die Erosion der
bürgerlichen Familienstrukturen wie auch die weiblichen Emanzipationsprozesse immer
massiver männliche Identitätskonzepte unter Druck, weil traditionelle "Pfeiler", auf denen
männlicher Selbstwert bis dahin aufbaute, in Frage gestellt werden. Was trotz Jungenarbeit und
Jungenforschung bis heute nicht stattgefunden hat, ist eine jungenspezifische Qualifizierung der
Jugendhilfe im Sinne eines Normalstandards für alle ihre Leistungen. Wie Jungen heute eine
zeitgemäße männliche Identität ausbilden können, woran Jungen als Jungen leiden, welchen
Normalitätszwängen sie ausgesetzt sind (vgl. dazu Gilmore 1993, 9 ff.; Schnack/Neutzling 1990)
bleibt in der sozialen Arbeit in der Regel als Thema ausgegrenzt. Wir haben es hier
9
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
offensichtlich parallel zum "weiblichen Verdeckungs-zusammenhang" (Bitzan 1995, Funk u. a.
1993) mit einem ebenso hartnäckigen "männlichen Verdeckungszusammenhang" zu tun. Und
vielleicht ist es gerade auch die so intensiv und kämpferisch geführte Mädchendebatte, die
immer wieder auf die besondere Brisanz der geschlechtlichen Entwicklung von Mädchen
verweist, die ungewollt an diesem männlichen Verdeckungszusammenhang mitbaut. Je mehr
und je dramatischer über Mädchen und ihre Geschlechtsproblematik gesprochen wird, desto
eher entsteht der Eindruck, dass nur für Mädchen sich Konflikte aufgrund ihres Geschlechts
ergeben und dass Jungenleben keine geschlechtlichen Irritationen enthält. Was also fehlt, ist
der Begriff einer doppelseitig angelegten und wechselseitig verwobenen Geschlechterfrage, der
die Herstellung einer geschlechtlichen Identität als riskante biographische Anforderung für beide
Geschlechter begreift und anerkennt - wie dies im Grunde genommen auch im § 9, 3 KJHG
angelegt ist. Hier heißt es ja gerade, dass die geschlechtsspezifischen Lebenslagen von
Mädchen und Jungen in den Blick zu nehmen sind.
Jugendarbeit ist Jungenarbeit
Diese als Kritik an der Benachteiligung von Mädchen formulierte Formel ist mittlerweile aus
verschiedenen Gründen fragwürdig geworden. Denn, dass Angebote der Jugendhilfe und der
Jugendarbeit die besondere Situation von Mädchen vernachlässigen, lässt keineswegs den
Umkehrschluss zu, dass sie den spezifischen Problemen, Bedürfnissen und Interessen
männlicher Jugendlicher gerecht werden. Vielmehr heißt dies nur, dass sie auf dem
Sachverhalt, dass es Menschen/Jugendliche nicht als geschlechtsindifferente Wesen gibt,
abstrahieren, und damit der Bestimmtheit Jugendlicher der ihre Geschlechtszugehörigkeit (im
Sinne von Gender) weder bei weiblichen noch bei männlichen Jugendlichen Rechnung tragen.
Eine geschlechtsindifferente Jugendarbeit ist nur insofern Jungenarbeit, wie es männlichen
Jugendlichen gelingt, in geschlechtsneutral konzipierten Angeboten und Maßnahmen ihre
Interessen, Handlungsstile usw. stärker durchzusetzen - so wie sie diese auf der Grundlage
gesellschaftlicher Festlegungen von Männlichkeit interpretieren. D. h. aber gerade nicht, dass
Jugendhilfe und Jugendarbeit damit zugleich männlichen Jugendlichen dazu verhilft,
angemessene Lösungen ihrer altersspezifischen Entwicklungsaufgaben und ihrer
Alltagsprobleme zu finden, sondern nur, dass sie systematisch ignoriert, worin die spezifischen
Problematiken männlicher Jugendlicher liegen. Insofern gilt es, sich von dem Mythos,
konventionelle Jugendhilfe, Jugendarbeit sei Jungenarbeit, zu verabschieden und
anzuerkennen, dass eine geschlechtsneutral konzipierte Sozialarbeit einen zentralen Aspekt der
Lebenssituation von Mädchen und von Jungen theoretisch und praktisch ignoriert. Was an
dieser Stelle zudem anzumerken ist: Die Formel von der Jugendarbeit als Jungenarbeit ist nicht
nur in einem qualitativen Sinne nicht haltbar, sie sollte auch quantitativ einer kritischen
Überprüfung unterzogen werden. Sie entstand in der Szenerie der offenen Jugendarbeit der
70er Jahre und hatte hier zweifellos auch ihre Berechtigung allein schon dadurch, dass wenig
Mädchen in Jugendzentren zu finden waren. Was dann jedoch passierte, war, dass dieses Bild
das gesamte Jugendhilfesystem flächendeckend ergriff und sich als unumstößliches Faktum
verewigte. Wir wollen hier nicht anzweifeln, dass Jugendarbeit und andere Teilbereiche der
Jugendhilfe tendenziell mehr Jungen erreichen und betreuen - dazu wäre es erforderlich,
Zahlenmaterial aus den einzelnen Jugendhilfebereichen systematisch zu sichten, was sicherlich
auch noch eine spannende Aufgabe wäre. Entscheidend ist hier aber, dass die Pauschalformel
von der jungenorientierten Jugendhilfe einen differenzierenden Blick verstellt - und zwar in
zweifacher Hinsicht:
• Zum einen werden zahlenmäßige Verschiebungen zwischen Mädchen und Jungen in
einzelnen Jugendhilfeangeboten, also Veränderungen in den Mädchen- und Jungenwelten
nicht realitätsgerecht registriert. Unter der Formel "Jugendarbeit ist Jungenarbeit" werden
Zustände, die einmal gegolten haben, für alle Zeiten festgeschrieben, Wandlungen ignoriert.
Wer wüsste z. B., dass sich in der katholischen Ministrantenarbeit, die die meisten von uns
wohl als erzmännlich assoziieren würden, sich derzeit etwa zur Hälfte Mädchen befinden
(Rath 1998).
10
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
• Zum anderen können wir auf diese Weise nicht sehen, wie die Geschlechterverteilung denn
im Detail aussieht. Die Kaprizierung auf das Paradigma einer jungenorientierten Jugendhilfe
unterschlägt die mädchenlastigen Jugendhilfeangebote, die es doch auch gibt, denken wir z.
B. an musisch-kreative Angebote, Jugendbildungswerke, Jugendbüchereien, spezifische
Sportangebote. Die Mädchenlastigkeit hier ist im Grunde genommen bekannt, wird aber für
oft für bedeutungslos erklärt, weil diese Angebote quantitativ nicht die jungenlastigen
ausgleichen oder entsprechende Angebote werden abschätzig kommentiert, weil sie
geschlechtsrollenkonform sind. Eine solche Sichtweise verstellt den Blick für die qualitativen
Feinheiten, verdrängt etwas Wichtiges. Die Abweichungen, so selten und so konservativ sie
auch sein mögen, liefern uns spannendes Material zu heutigen Mädchenrealitäten. Wo sind
denn mehr Mädchen zu finden? Und warum? Was sagt dieses über Mädchen und die
Angebote? Was sollten wir daraus für die Gestaltung der Jugendhilfe schlussfolgern?
• Und ein letztes: Die Formel von der jungenorientierten Jugendhilfe unterstellt, dass dies
immer eine Bevorzugung von Jungen bedeutet. Doch lässt sich dies tatsächlich so
undifferenziert aufrechterhalten? Klientel der Jugendhilfe zu werden, ist doch gerade an
vielen institutionellen Orten mit Stigmatisierungen verbunden, öffentlich sichtbarer Ausdruck
eines gescheiterten Lebenslaufs. Soziale Arbeit macht Benachteiligung und Scheitern
sichtbar. Wo sind Jungen Gewinner, wenn sie in den sozialen Trainingskursen, in den
Heimen, in der Jugendberufshilfe zahlenmäßig überwiegen? Stempelt es sie nicht deutlich
als Verlierer ab? Kann die Forderung sein, hier im Sinne der Gleichberechtigung für
Geschlechterparitäten zu sorgen?
Das patriarchalisch geprägte Geschlechterverhältnis macht Jungen zu Privilegierten,
Mädchen zu Benachteiligten
Die Vorstellung, dass moderne Gesellschaften eine in ihren Grundzügen patriarchalische
Ordnung der Geschlechterverhältnisse aufweisen, die ökonomisch, kulturell, rechtlich und im
Common Sense verankert ist, ist als generalisierende Charakterisierung zweifellos nicht
unzutreffend. Es handelt sich jedoch um eine Gesellschaftsbeschreibung, die dazu tendiert zu
vernachlässigen, dass Ungleichheit zwischen den Geschlechtern „nur“ eine Dimensionen der
Strukturen von Macht, Herrschaft und sozialer Ungleichheit ist, die mit den Ungleichheit
erzeugenden Strukturen der gesellschaftlichen Teilsysteme, des Arbeitsmarktes, des
Bildungssystems, des Rechtssystems, des politischen Systems usw. sowie Prozessen der
ethnischen Diskriminierung im komplexer Weise verschränkt ist (vgl. dazu Kreckel 1992, 212
ff.). D.h.: Die Geschlechtszuordnung bestimmt das Leben von Einzelnen nicht umfassend und
legt weder die je konkreten Arbeitsbedingungen noch die Höhe des Einkommens und auch nicht
fest, über welchen politischen Einfluss man/frau verfügt. Es ist auch keineswegs so, dass
Jungen/Männer in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gegenüber Mädchen/Frauen privilegiert
sind und von der gesellschaftlichen Geschlechterordnung durchgängig profitieren. Ihre
Integration ins schulische Bildungssystem erweist sich als anfälliger, eine ganze Reihe
psychischer und psychosomatischer Erkrankungen tritt bei Jungen - zumindest im Kindesalter deutlich häufiger auf, sie verunglücken mehr, (Schnack/Neutzling 1993), sie geraten erheblich
häufiger in die Mühlen des Strafrechts und der Strafjustiz als Mädchen und schließlich: ihre
Lebenserwartung ist niedriger. Es ist letztlich müßig, weibliche und männliche Belastungen
gegeneinander aufzurechnen. Der Vergleich soll nur deutlich machen: Die Gleichung "Jungen
sind Privilegierte, Mädchen Benachteiligte" geht nicht glatt auf. Männlichkeit und Weiblichkeit
existieren nicht als Abstraktum, sondern nur in konkreten sozialen Kontexten und in der Form
von spezifischen Männlichkeiten und Weiblichkeiten der sozialen Klassen und Milieus (Connell
1995). Die Lebenswelten und Erfahrungsräume von Jungen unterscheiden sich in den sozialen
Klassen, Schichten und Milieus gerade auch in der Frage, ob, wann und wie man sich als
privilegiert und mächtig erlebt, oder aber als unterprivilegiert und ohnmächtig. Im Verhältnis zu
Mädchen der gleichen sozialen Lage mächtige und privilegierte männliche Jugendliche sind
vielfach zugleich Erfahrungen der Benachteiligung und Diskriminierung im Verhältnis zu Jungen
und Mädchen, Männern und Frauen anderer Sozialgruppen ausgesetzt. Zudem sind
Jugendliche als Angehörige einer Altersgruppe, die insbesondere in den Organisationen des
Bildungssystems und des Arbeitsmarktes, aber auch in der Familie Macht- und
11
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Herrschaftsverhältnisse unterworfen sind, die von erwachsenen Männern und Frauen
repräsentiert werden. Soziale Wirklichkeit wird deshalb von männlichen Jugendlichen nur in eng
begrenzten Teilbereichen als eine Wirklichkeit erfahren, in der die Ordnung der
Geschlechterverhältnisse das dominante, die eigenen Erfahrungen bestimmende Strukturprinzip
ist. Eine Jungenarbeit, die darauf zielt, an den Erfahrungen von Jungen anzusetzen, kann
insofern nicht davon ausgehen, dass die Erfahrung patriarchaler Dominanz die subjektiv
bestimmende ist. Vielmehr hat sie die widersprüchlichen Erfahrungen aufzugreifen, die
männliche Jugendliche mit Dominanz und Benachteiligung machen. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass eine Definition der eigenen Identität als Mann, eine demonstrative, auf
Dominanz und Sexismus im Verhältnis zu Frauen basierende Männlichkeit für solche
Jugendliche in besonderer Weise attraktiv ist, die über keine anderen positiven Bezugspunkte
für die Bestimmung ihrer sozialen Identität verfügen - für solche Jugendliche also, die
Erfahrungen eigener Stärke nicht in Auseinandersetzung mit den Anforderungen von Schule
und Arbeitsmarkt, sondern mangels anderer Ressourcen nur über ihre Geschlechtsidentität
gewinnen können (Messerschmidt 1993, 87ff.). Männliche Dominanz ist hier kein Ausdruck
gesellschaftlicher Privilegierung, sondern als Form der Bearbeitung von Benachteiligungen und
Entwertungen bedeutsam und nur also solche auch in Kontext einer Pädagogik anzugehen, die
darauf zielt, die „unterschiedlichen Lebensverhältnisse von Jungen und Mädchen“ zu
berücksichtigen. Das subtil und offen gehandelte Bild von den Jungen als Gewinnern in dieser
Gesellschaft wie in der Jugendhilfe pflegt von daher eher Idealisierungen als es ihren
Lebensrealitäten tatsächlich gerecht wird. Es verstellt uns so den Blick für die Hilfe- und
Unterstützungsbedarfe von Jungen wie es auch parallel unsere Wahrnehmung von Mädchen
verzerrt. Denn dieses gehört ja zwingend zusammen: Der Entwurf von den männlichen
Profiteuren des patriarchalischen Geschlechterverhältnisses geht einher mit dem Entwurf der
weiblichen Verliererinnen. Der Begriff von der Mädchenbenachteiligung hat sich zwar
mittlerweile fachliche Anerkennung verschafft und ist zu einer Standardformel geworden, die
nicht mehr Widerspruch erregt, und dennoch handelt es sich auch hierbei letztlich um eine
Idealisierung - wenn auch eine negative. Hier gilt das gleiche wie oben für die männliche
Lebenswelt analysiert wurde: Die bestehende gesellschaftliche Machthierarchie zwischen den
Geschlechtern kann nicht einfach auf die einzelnen Individuen runtergebrochen werden,
sondern sie ist vielfach verworfen durch anderweitige Machtstrukturen. D. h. jede Biographie ist
durchzogen von einem Nebeneinander von Macht- und Ohnmachtserfahrungen, Grandiosität
und Irritation, Wohlbefinden und Leiden. Da kann z. B. das pubertierende Mädchen, das sich
Jungen gegenüber ausgeliefert fühlt oder auch neidvoll zu ihnen aufblicken mag, sich sehr wohl
auch als Überlegene fühlen, weil ihre gleichaltrigen männlichen Klassenkameraden noch
kindlich-unterentwickelt sind, weil sie die schlechteren Schulnoten haben und beim
Lesewettbewerb sowieso ohne Chance sind. Beide Bilder, das von den benachteiligten
Mädchen wie auch das von den bevorteilten Jungen verkürzen, vereindeutigen, verfälschen die
Ambivalenzen jugendlicher Lebenswelten. Pädagogische Konzeptionen, die hierauf fußen,
müssen im Grunde genommen immer wieder an ihren Zielen scheitern, weil sich die Adressaten
und Adressantinnen letztlich nicht verstanden fühlen können. So kennt die Mädchenarbeit doch
z. B. die Meldungen von den Mädchen, die sich über Benachteiligungsbilder der Feministinnen
empören, und die es als Kränkung erleben, wenn ihnen eigene Gruppen zum Schutz vor den
dominierenden Jungen angeboten werden. Dass sie sich stark genug fühlen, hat wohl weniger
mit "falschem Bewusstsein" zu tun als vielmehr mit einem Selbsterleben, das eben nicht nur
durch Benachteilungserfahrungen geprägt ist.
Es gibt eine homogene und in der psychischen Tiefenstruktur stabil verankerte
Geschlechtsidentität.
Ein gängiger Ausgangspunkt von Theorien und Konzepten der Jungen- bzw. Mädchenarbeit ist
die implizite Annahme, dass der gesellschaftlichen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit zwei
unterschiedliche Sozialgruppen entsprechen, die jeweils typische und sie vom anderen
Geschlecht unterscheidende Persönlichkeitseigenschaften aufweisen. Begründet wird dies mit
wissenschaftlichen und alltäglichen Beobachtungen typisch männlicher und weiblicher
Verhaltensweisen sowie mit entwicklungspsychologischen, insbesondere psychoanalytischen
Theorien über die Entstehung von Geschlechtsidentität in der frühen Kindheit. Damit entsteht
12
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
das Problem der Reifikation, d. h. der Verdinglichung von Individuen zu Trägern von sozial
typischen Eigenschaften einer Menschengruppe, dem ein Verständnis von Sozialisation als
Prägung entspricht. Soziale Phänomene werden dann als Persönlichkeitseigenschaften
wahrgenommen (vgl. dazu kritisch: Bilden 1991). Die notwendige Unterscheidung zwischen
Männlichkeit und Weiblichkeit als sozialem Phänomen und der je individuellen biographischen
Aneignung gesellschaftlich angebotener und verfügbarer Entwürfe von legitimer
Geschlechtsidentität wird dann tendenziell unterlaufen, womit den Schwierigkeiten, die es
Einzelnen bereitet, der gesellschaftlich auferlegten Definition ihrer Geschlechtsidentität gerecht
zu werden, aus dem Blick treten. Demgegenüber ist es m. E. hilfreich, davon auszugehen, dass
Männlichkeit und Weiblichkeit weder ein homogenes Phänomen noch eine fixe
Persönlichkeitseigenschaft sind, sondern ein in der Kultur der Zweigeschlechtlichkeit
eingeschriebener Komplex intern differenzierter und intern widersprüchlicher Erwartungen, die
man dann - und nur dann - erfüllen muss - wenn man sich veranlasst sieht, sich in sozialen
Kontexten als Mann oder Frau darzustellen - entsprechend dem situativ gültigen Verständnis
von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit als
komplexen sozialen Phänomenen hat gegenüber der Vorstellung einer homogenen und in der
psychischen Binnenstruktur verankerten Geschlechtsidentität eine Reihe von Vorteilen:
• Sie bietet die Chance, Männlichkeiten und Weiblichkeiten als soziales Phänomen, als einen
von der eigenen Person unabhängigen Gegenstand von Lernprozessen zu konzipieren.
Gerade für Jungenarbeit heißt das: sie ist nicht von vornherein als quasi-therapeutische
Arbeit an psychischen Tiefendispositionen zu konzipieren, sondern als Bildungsarbeit.
• Sie sensibilisiert für die Analyse und Auseinandersetzungen mit den in jeweilige soziale
Kontexte eingelassen Festlegungen der Kriterien legitimer Männlichkeit und Weiblichkeit und
eröffnet so die pädagogische Chance, Gelegenheiten zu schaffen, in denen dominante
Festlegungen an Bedeutung verlieren und Darstellungszwänge reduziert sind, in denen
Distanz eingenommen werden kann. Deutlich wird damit die genuin pädagogische
Bedeutung geschlechtshomogener Gruppen. Denn in diesen treten solche
Darstellungszwänge zurück, die in der Interaktion zwischen den Geschlechtern reproduziert
werden.
• Sie sensibilisiert für Formen des Leidens an dem Zwang, Junge oder Mädchen zu sein, d. h.
sich in den sozial vorgegebenen Formen akzeptierter Männlichkeit und Weiblichkeit
darstellen zu müssen. Denn es ist nicht zu unterstellen, dass „typisch männliche/weibliche“
Verhaltensweisen Ausdruck psychischer Dispositionen sind, sondern subjektive Bedürfnisse
können in den dominanten Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit gerade nicht
angemessen gelebt werden.
• Sie erlaubt es, heterogene Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit empirisch zur Kenntnis
zu nehmen, ohne unterstellen zu müssen, dass diese nur Varianten einer im Kern
homogenen psychischen Disposition sind, was eine quasi pathologisierende Sichtweise
untypischer Männlichkeiten und Weiblichkeiten einschließt.
• Sie ermöglicht es, Individuen als Subjekte anzuerkennen, die aufgefordert sind, sich in Bezug
auf gesellschaftliche Vorgaben als Mann und Frau zu bestimmen, was der Möglichkeit nach
Lernprozesse, also Formen der bewussten Neubestimmung der eigenen Geschlechtsidentität
einschließt.
Jungenarbeit und Mädchenarbeit sind vor diesem Hintergrund aufgefordert, sich mit den
gesellschaftlichen, d. h. kulturellen, ökonomischen, rechtlichen, sozialen Konstruktionsprozessen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten, mit den in diesen Prozessen hervorgebrachten sozialen Formen sowie den Prozessen ihrer aktiven Aneignung durch Jugendliche
auseinander zu setzen. Es gilt sich theoretisch und praktisch gründlich von stereotypen
Vorstellungen über typisch Männliches und typisch Weibliches zu verabschieden, statt diese
Stereotype weiterhin zu kultivieren.
13
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Geschlechterdifferenzierung in der Jugendhilfe bedeutet Geschlechtertrennung
Die Geschichte um die Geschlechterdiffererenzierung in der Jugendhilfe ist gekennzeichnet von
der Geschichte der feministischen Mädchenarbeit. In dieser spielte und spielt die Leitlinie der
Geschlechtertrennung und Geschlechtshomogenität eine zentrale Rolle - eine Rolle, die
historisch wie praktisch gut nachvollziehbar ist. Nach den Zeiten der Proklamierung der
Chancengleichheit in der Koedukation, in der Geschlechterdifferenzen sich vernebelten und
einem Zugriff entzogen, bedeutete die Einrichtung von Mädchengruppen einen radikal-kritischen
und deutlich sichtbaren politischen und pädagogischen Gegenimpuls. Auf diese Weise war nicht
nur gesichert, dass Mädchen tatsächlich einmal über einen kulturellen Ort verfügten, an dem sie
sich ungehindert entfalten konnten, ohne dass sie in der Gefahr standen, von Jungen wieder
verdrängt zu werden. Auf diese Weise war auch gewährleistet, dass sich Pädagoginnen ihnen
uneingeschränkt zuwenden konnten. Dieses geschlechtertrennende Konzept machte und macht
unter bestimmten Voraussetzungen Sinn. Dass es sich so nachhaltig durchsetzen konnte, lässt
sich wohl auch mit seiner "Einfachheit" und gleichzeitigen "Effektivität" erklären: Mit der
räumlichen Ausgrenzung der Jungen aus der pädagogischen Situation war für die Mädchen ein
zentraler Konfliktfaktor aus dem Feld geräumt, was in der Folge tatsächlich enorme
Veränderungen bei den Mädchen bewirkte. Die Fachliteratur bietet zahlreiche beeindruckende
Beschreibungen, in welcher Weise Mädchen "über sich hinauswuchsen", wenn sie unter
Mädchen waren. Diese Wirkungen sollen keineswegs kleingeredet werden, doch die enormen
Erfolge des geschlechtshomogenen Ansatzes brachten es mit sich, dass die Frage einer
geschlechterdifferenzierenden Jugendhilfe auf das Prinzip der Geschlechtertrennung reduziert
wurde. So kommt es dann soweit, dass die mädchenspezifische Versorgungslage anhand der
Auszählung von Mädchengruppen und Mädchenprojekten überprüft wird, dass sich die
Forderung nach Realisierung des § 9,3 KJHG in der Forderung nach eigenständigen
Mädchenangeboten, in neuerer Zeit auch Jungengruppen erschöpft. Die Frage blieb relativ
vernachlässigt, ob und wie es möglich ist, geschlechterdifferenzierende Grundsätze auch in
koedukativen Kontexten umzusetzen. Modelle für eine koedukative soziale Arbeit unter
qualitativ neuen, nämlich geschlechtsbewussten Vorzeichen blieben bisher aus. So sind
Mädchenarbeit und Jungenarbeit bis heute immer noch ein Synonym für die Arbeit in
geschlechtshomogenen Gruppen und für die formale Ausgrenzung des jeweils anderen
Geschlechts. Diese Reduktion schafft vor allem in jenen institutionellen Kontexten
Schwierigkeiten, wo sich geschlechtsspezifische Gruppentrennungen weniger leicht
organisieren lassen, z. B. in der Schule, im Kindergarten, in den öffentlichen Spielräumen. Sie
ist auch insofern zu problematisieren, als der pädagogische Alltag und die gesamte
Lebensrealität eine Vielzahl von Situationen bereithalten, in denen Mädchen und Jungen
zusammen sind und in denen Mädchen wie Jungen nicht ausschließlich unter sich sein wollen,
sondern gerade den Kontakt zum anderen Geschlecht suchen und wünschen. Zu bedenken ist
auch, dass eine solcherart konzipierte Mädchen- und Jungenarbeit immer die Gruppenarbeit zur
Grundlage hat - ein Setting also, mit dem einzelne Jugendliche bis heute nicht erreicht werden
konnten (Krafeld 1996). Und außerdem: Die Gleichsetzung von geschlechtsspezifischer Arbeit
mit Mädchen- und Jungengruppen lässt unter der Hand die Vorstellung mitschwingen, als ließe
sich die Bearbeitung von geschlechtsspezifischen Problemlagen auf spezifische Orte, Settings
und Zeiten fixieren - nämlich die homogene Gruppenarbeit - und aus anderen Alltagssituationen
raushalten. Die Idee dabei ist zwar immer, dass die in der homogenen Gruppenarbeit initiierten
Lernprozesse dann Transfereffekte in den Alltag haben. Doch zu bedenken ist: Solange
Geschlechtlichkeit ein ganzheitliches und integrales Element jugendlicher Biographie darstellt,
das immer und überall präsent ist, muss auch der pädagogische Alltag durchgängig, eben im
Sinn einer Querschnittsaufgabe, geschlechtspezifisch qualifiziert werden. Es erscheint somit
relativ absurd, geschlechtsspezifische Arbeit auf einen Arbeitsansatz zu begrenzen, genauso
absurd wie wenn wir das Prinzip der Lebensweltorientierung auf einzelne Programme
reduzieren wollten. Was somit noch aussteht, ist die Entwicklung von geschlechtsdifferenzierenden, intregralen Konzepten für die Jugendhilfe - Konzepten, die beiden
Geschlechtern als Geschlechtern gerecht werden und sie in ihrer Verschiedenheit
gleichberechtigt zum Zuge kommen lässt. Ob hierzu ein geschlechtsgetrenntes oder
koedukatives Setting hergestellt wird, ist letztlich dann wohl kaum die allein entscheidende
Frage.
14
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Nur Frauen können Mädchenarbeit machen, nur Männer Jungenarbeit
Die Dominanz des geschlechtshomogenen Ansatzes brachte schließlich auch die Forderung mit
sich, dass die pädagogischen Fachkräfte gleichgeschlechtlich sein müssen. Auch hier setzte die
feministische Mädchendebatte als älterer Zweig der Geschlechterdebatte in der Jugendhilfe mit
ihren Begründungen die entscheidenden Weichen - auch für die nachfolgende Jungenarbeit, in
der dieser Grundsatz fast reflexartig selbstverständlich übernommen wurde. Dass Frauen für
Mädchen in der professionellen Beziehung aufgrund ihres gleichen Geschlechts qualitativ
anderes bieten als Männer, dass sie etwas bieten können, was Männer aufgrund ihres anderen
Geschlechts nicht können - und umgekehrt -, soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. So
macht es denn für Mädchen und Jungen einen entscheidenden Unterschied, ob sie im
Kindergarten nur von Frauen umgeben sind oder auch von Männern, ob sie nur weibliche
Familienhelferinnen erleben oder auch männliche oder ob sie in einem erlebnispädagogischen
Projekt nur männliche Betreuer sehen oder auch eine kompetente Erlebnispädagogin.
Problematisch wird es jedoch, wenn undifferenziert Dogmen entstehen. Warum denn können
angeblich nur Frauen Mädchen das "Richtige" bieten und nur sie das Vertretungsrecht für
Mädchen "richtig" wahrnehmen? Und warum sollen nur Männer für Jungen das "Richtige" sein?
Wie kommt es zu der Unterstellung, dass männliche Pädagogen für Mädchen Bedenkliches
bedeuten und weibliche Pädagoginnen Gutes - und dieses automatisch qua Geschlecht? Was
könnten Pädagoginnen nicht auch für Jungen und Pädagogen für Mädchen bedeuten? Wäre es
nicht längst an der Zeit, dass Pädagoginnen auch offensiv darüber nachdenken, welche
Botschaften sie Jungen über ihr Jungesein vermitteln, welche "verdeckten" Normalitätszwänge
sie als Frauen für Jungen errichten, und wie hier Entgrenzungen für Jungen durch
Handlungsweisen von Frauen möglich wären? Heißt Mädchenparteilichkeit, Jungen als
Hilfesuchende selbst zu ignorieren und sie männlichen Fachkräften zu überweisen? Böte ein
geschlechtsgemischtes pädagogisches Team nicht auch die Chance, Mädchen und Jungen
eine andere, gleichberechtigte Geschlechterordnung im direkten Miteinander vorzuleben? Dies
sind nur einige Fragen. Sicherlich ist zu reflektieren, dass die Geschlechtlichkeit der Fachkräfte
immer die pädagogische Situation mitbestimmt. Dieses beinhaltet je eigene Fallen, Probleme,
Konflikte, aber auch Chancen. Eindimensionale Schwarz-Weiß-Trennungsmuster scheinen hier
jedoch mehr zu idealisieren als dass sie zur Entwicklung von realitätsgerechten Jugendhilfekonzeptionen beitragen.
Jungenarbeit ist erforderlich, damit ein dem Ziel der Gleichberechtigung gemäßes
Verhalten männlicher Jugendlicher gefördert wird
In den Diskursen sowohl der Mädchenarbeit als auch der Jungenarbeit finden sich im Kern zwei
einflussreiche Begründungen der Notwendigkeit von Jungenarbeit: Die eine akzentuiert, dass
Jungenarbeit erforderlich sei, um eine solche Veränderung des männlichen Selbstverständnisses in Gang zu setzen, die den Emanzipationsbestrebungen von Mädchen
entgegenkommt; die andere verweist auf problematische männliche Verhaltensweisen Dominanz, Gewalt, Sexismus - die angemessen nur im Rahmen einer geschlechtsbewussten
Pädagogik angegangen werden können. Beide Begründungen schaffen ein gemeinsames
Grundproblem: Männliche Jugendliche werden - auf der normativen Grundlage von
Vorstellungen darüber, wie Männer eigentlich sein sollten - von vornherein als Problemgruppe
und als Erziehungsobjekt in den Blick genommen. Jungenarbeit wird folglich als klassisches
Erziehungsprogramm verstanden: Mit den Mitteln der Pädagogik sollen den Absichten des
Erziehungspersonals entsprechende Veränderungen der Adressaten bewirkt werden. Etabliert
ist damit einerseits das Problem der Verdoppelung der Ablehnungsmotive: Jugendliche können
sich nicht nur veranlasst sehen, die konkreten inhaltlichen Erwartungen von Pädagogen
abzulehnen, sondern sich auch gegen die Zumutung wehren, sich erziehen lassen zu sollen.
Diesem Problem kommt im Bereich der geschlechtsspezifischen Pädagogik deshalb eine
besondere Bedeutung zu, weil Infragestellungen der eigenen Geschlechtsidentität die basale
habituelle Sicherheit im Umgang mit sich selbst berühren können. D. h.: Die eigene
Geschlechtlichkeit in Frage zu stellen bzw. in Frage stellen zu lassen, bedeutet, sich selbst in
basalen Dimensionen der eigenen Identität in Frage zu stellen. Und dies ist bekanntlich hoch
riskant. Insofern haben Jugendliche gute Gründe, ohne dass ihnen diese notwendig bewusst
sein müssen, sich einer erzieherischen - oder gar einer quasi psychotherapeutischen -
15
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Jungenarbeit zu verweigern. Andererseits stellt eine von den erwähnten Begründungen
ausgehende Jungenarbeit nicht die Subjektivität männlicher Jugendlicher selbst, ihre Stärken,
Bedürfnisse, Schwierigkeiten, Konflikte, Interessen usw. ins Zentrum, sondern eine - wie immer
auch gut begründete - Infragestellung ihrer Geschlechtsidentität, ihrer als typisch männlich
wahrgenommenen Bedürfnisse und Interessen. Auf einer solchen Grundlage kann es nur dann
gelingen, Jungenarbeit attraktiv zu machen, wenn sie sich an solche Jugendliche wendet, die
subjektiv bereits eine deutliche Unzufriedenheit mit ihrer Geschlechtsidentität verspüren und
deshalb an einer Neubestimmung interessiert sind bzw. solche Jugendliche, die mit Entwürfen
einer anderen Männlichkeit, wie sie in männerbewegten Kontexten spezifischer sozialer Milieus
diskutiert bzw. gelebt werden, sympathisieren. Dies trifft aber nur für eine begrenzte Teilgruppe
männlicher Pädagogen und Jugendlicher zu. Demgegenüber ist die Jugendhilfe überwiegend
mit solchen männlichen Jugendlichen konfrontiert, die nicht bereits ein reflexiv gebrochenes
Verhältnis zu der ihnen gesellschaftlich angebotenen Geschlechtsidentität einnehmen, sondern
diese eher selbstverständlich als Bezugspunkt und Quelle ihres Selbstverständnisses
akzeptieren. Eine Kritik und normativ negative Bewertung konventioneller Männlichkeit muss bei
solchen Jugendlichen auf Abwehr und Widerstand stoßen. Demgegenüber gilt es, eine
Jungenarbeit zu entwickeln, die von den Lebenswelten, Erfahrungen, Bedürfnissen und
Interessen ihrer Adressaten ausgeht sowie von den Problemen, die sie haben, nicht von denen,
die sie machen. Es kommt insofern darauf an, Angebote zu entwickeln, die für männliche
Jugendliche im Prozess der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität einen für sie erkennbaren
Gebrauchswert haben, und das heißt vor allem: Angebote, die ihnen dazu verhelfen, mit den
konkreten Schwierigkeiten des Heranwachsens erfolgreich umzugehen. Zentrale Aufgaben der
Jungenarbeit wären demnach, Jungen dabei zu helfen, Probleme in Schule, Berufsausbildung
und beim Übergang in den Arbeitsmarkt, Probleme im Umgang mit Sexualität und im Verhältnis
zu Mädchen und Frauen in einer Weise zu lösen, dass sie einerseits den Bedürfnissen nach
Selbstbehauptung, Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls und nach sozialer Wertschätzung
gerecht werden, und andererseits eine solche positive Bestimmung der eigenen Männlichkeit
ermöglichen, die nicht auf Dominanz und Unterdrückung anderer angewiesen ist. Wie solche
Problemlösungen aussehen können, kann nun m. E. nicht allgemeinverbindlich und normativ
entschieden werden, sondern bedarf einer genauen Auseinandersetzung mit der konkreten
sozialen Lebenssituation jeweiliger Jugendlicher. Für die fachliche Weiterentwicklung wäre ein
Jugendbericht, der analog zum 6. Jugendbericht als Bericht über die Lebenslage, Sozialisation
usw. von Jungen konzipiert ist, außerordentlich hilfreich. Jungenarbeit ist demnach als eine
bedürfnis- und subjektorientierte Pädagogik mit Jugendlichen, nicht als ein pädagogisches
Erziehungsprogramm für Jugendliche weiterzuentwickeln.
Literatur:
Armbruster, L.C./U.Müller/M.Stein-Hilbers (Hrsg.) (1995): Neue Horizonte? Sozialwissenschaftliche Forschung über
Geschlechter und Geschlechterverhältnisse. Opladen
Bilden, H. (1991): Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: K. Hurrelmann/D. Ulich (Hrsg.) Neues Handbuch der
Sozialisationsforschung
Bitzan, M. (1995): Geschlechterdifferenzierung als Qualifizierung der Jugendhilfeplanung. In: Ministerium für Familie,
Frauen, Weiterbildung und Kunst Baden-Württemberg (Hg.): Abschlussbericht des Praxisforschungsprojektes "Mädchen in
der Jugendhilfeplanung". Stuttgart, 179 - 193
Böhnisch, L. & R. Winter (1993): Männliche Sozialisation. Weinheim und München, Connell, B. (1995): Masculinities.
Cambridge
Daniel, C. (1981): Theorien der Subjektivität. Frankfurt/ New York
Funk, H.; Schmutz, E.; Stauber, B. (1993): Gegen den alltäglichen Realitätsverlust. Sozialpädagogische Frauenforschung
als aktivierende Praxis. In: Rauschenbach u. a. (Hg.): Der sozialpädagogische Blick. Lebensweltorientierte Methoden in der
Sozialen Arbeit. Weinheim, München, 155 - 175
Gilmore, D. (1993): Mythos Mann. München
Hoffmann, B. (1995): Geschlechterpädagogik. Münster
Krafeld; F-J. (1996): Mädchengruppenarbeit als Leitmuster. In: sozial extra 3, 17- 18
Messerschmidt, J. W. (1993): Masculinities and Crime. Maryland: Rowman & Littlefield
Rath, J.: Kirchliche Jugendarbeit und Präventionsfunktion. Diplomarbeit an der Fachhochschule Frankfurt 1998
Schnack, D./ Neutzling, R. (1990): Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek
Scherr, A. (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim und München
Sielert, U. (1989): Jungenarbeit. Weinheim und München
Treibel, A. (1993); Geschlecht als soziale Konstruktion. In: Diess., Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart.
Opladen, S. 131-152
Winter, R./H. Willems (1991): Was fehlt sind Männer. Ansätze praktischer Jungen- und Männerarbeit. Tübingen
16
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Forum 1: „Einladung zur Gradwanderung:
„Konzepte in der Jugendarbeit – so verschieden, so gleich“
Lothar Wegner, Referent für Gewaltprävention, Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg
Etwa die Hälfte die Teilnehmer/innen des Workshops
gaben an, konzeptionell zu arbeiten, weniger als ein
Drittel sehen ihre Jungenarbeit in ihrem Team/Träger
konzeptionell verankert.
Ein Konzept gibt Antworten auf die Fragen Wozu?
Wohin? und Warum?. Seiner (Jungen)Arbeit ein
Konzept zu Grunde zu legen, bedeutet, zu wissen,
was Hintergrund(e) und Ziel(e) der Angebote und
des Agierens sind. Theorie wird aufbereitet,
konkretisiert und in Handlung umgesetzt.
Die Konkretion bezieht sich auf die jeweilige Zielgruppe: Was ist die Lebenswelt, was sind die
Themen, Kompetenzen, Fragen und Probleme der Jungen, die von mir begleitet/betreut werden
(Prinzip: „Es gibt nicht DEN Jungen!“). Ein Konzept hat immer den Charakter des Vorläufigen:
An der Reaktion der Zielgruppe kann u. a. abgelesen werden, ob die Prämisse(n) der Arbeit
zutreffen. Entsteht Kontakt? Wie kommen die Jungen mit den Angeboten klar? Änderungen an
Konzepten ergeben sich aus der täglichen Arbeit.
Ein Konzept bildet die Grundlage für die Auswahl der Methode(n).
Vier Aspekte erscheinen zentral:
1. Wozu soll Jungenarbeit angeboten werden? Diese Frage nach den Begründungen kann
zugespitzt werden: Welchen Gebrauchswert hat sie für Jungen?
2. Welche Ziele sollte Jungenarbeit verfolgen? Welche sind für Jungen interessant?
Welche für die Einrichtung(en)? Wo gibt es Überschneidungen und Differenzen?
3. Wer führt die Jungenarbeit vor Ort durch? Jungen brauchen Männer als Modelle
reflektierter Männlichkeit und Weiblichkeit. Jungen können von Frauen, die ihr Bild von
Männlichkeit und Weiblichkeit reflektiert haben, lernen.
4. Strukturen: Wie ist Jungenarbeit eingebettet in ein Gesamtkonzept? (z. B.
„Jugendsozialarbeit unter Berücksichtigung von Geschlecht, Lebenswelt und Kultur“)
Im Workshop zeichneten die Teilnehmer/innen in Gruppen die (historische) Entwicklung von
Konzepten in der Jungenarbeit anhand von drei Typisierungen (nach Walter 2001) nach. Die
dort formulierten Prinzipien wurden auf die aktuelle Arbeit mit Jungen bezogen.
Aus der anschließenden Präsentation ergab sich eine Diskussion, bei
Gratwanderungen zum Vorschein kamen, die die Arbeit mit Jungen durchziehen:
•
•
•
•
•
•
der
einige
Jungen zwischen Kompetenz und Defizit
Jungen machen Probleme – haben Probleme
Jungen als Profiteure und Betroffene herrschender Geschlechterverhältnisse
Jungen als Täter und Opfer
Jungenarbeit zwischen Parteilichkeit und Grenzsetzung
Jungenarbeit zwischen Sonderfall und Mainstream
Was in der Praxis ganz ähnlich umgesetzt werden kann, beruht häufig auf unterschiedlichen
Begründungszusammenhängen. Diese sind von Bedeutung, um Jungenarbeit nach innen wie
nach außen klar darstellen zu können. Nur so lässt sich die Wirkung der eigenen Arbeit
überprüfen.
17
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Und nur so lassen sich sowohl Geldgeber als auch neue Kollegen für diesen Ausschnitt
professioneller Pädagogik finden. Dafür sind die Zielformulierungen vieler Angebote zu unklar.
Als Grundannahme für eine Konzeption kann gelten: Jungenarbeit muss unterschiedliche
Erfahrungen aufgreifen, die Jungen mit Dominanz und Benachteiligung machen.
Undiskutiert blieb die Frage, worauf geachtet werden muss, damit Jungenarbeit in der jeweiligen
Gesamteinrichtung besser verankert werden kann.
These zur Weiterentwicklung von Jungenarbeit:
Jungenarbeit muss unterschiedliche Erfahrungen aufgreifen, die Jungen mit Dominanz und
Benachteiligungen machen.
Forum 2: „Blockaden, Schwierigkeiten und gelingende Momente“
Prof. Dr. Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg
Ein wesentlicher Aspekt in diesem Forum war die Körperlichkeit von Jungen.
Die Körperlichkeit von Jungen ist eine positiv
anerkannte männliche Eigenschaft und kann
in der Jungenarbeit aufgegriffen werden z.B.
durch sportliche Aktivitäten wie Boxen,
Fußball, Tanzen, usw. oder durch kreative
Aktivitäten, wie Theater oder ShiatsuMassage.
Ein Ziel von Jungenarbeit ist es, die positive
Körperlichkeit von Jungen zu erweitern.
Um dieses Ziel zu erreichen, sind folgende Fragen abzuklären:
- Durch welche Methoden und Mittel ist diese Erweiterung möglich?
- In welchem Setting (Einstellung) kann dies gemacht werden?
- Wie wird dies umgesetzt und für welche Altersgruppe?
- Wie stark darf die Gruppe durchmischt sein?
- Wo ist die Grenzziehung?
- Ab wann kann man über eine Selbstregulierung der Jugendlichen reden?
Thesen zur Weiterentwicklung von Jungenarbeit:
1. Jungen stehen heute einem stärkeren ausgeprägten Anpassungsdruck gegenüber.
2. Ziele von Jungenarbeit sind das Erweitern der Fähigkeiten und ein bewusstes
Selbstkonzept.
18
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Forum 3: „Herangehensweisen aus der Praxis“
Uwe Herm, Dipl. Sozialarbeiter und Psychodramaleiter,
LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg
Folgende Beispiele aus der Praxis wurden als
Diskussionsgrundlage im Forum vorgestellt:
1. Gruppen im Jugendzentrum (Fussballgruppe von
Reiner Kiehlneker-Kaufmann )
Zielgruppe: 11 – 14 jährige Jungen aus dem offenen
Bereich des Jugendzentrums. Das Angebot ist zeitlich
nicht begrenzt. Die Gruppe entscheidet mit dem Leiter
über weitere Mitglieder.
Grundidee: „Fußball“ ist das Thema, um das sich die
Gruppe strukturiert und damit Raum für soziales Lernen und für jungenspezifische Themen
eröffnet.
Ziele: Soziales Lernen; Auseinandersetzung mit eigenem Rollenverständnis und
Unsicherheiten; Umgang mit Sieg und Niederlage; Regeln und Fairplay; Solidarität.
Arbeitsweise: Ergebnisoffener Prozess, der stark auf die Beziehung der Jungen zum Leiter baut.
Typische Übungen: Gesprächskreis, Turnier
2. Kreativ-orientierte Gruppen (Theaterprojekt in Tübingen von Tobias Ballnus)
Zielgruppe: Jungen im Alter von 11-14 Jahren aus bürgerlicher Schicht. Verlässlichkeit ist ein
wichtiges Thema für die Gruppe und stellt ein Kriterium für die Zugehörigkeit dar. Nach der
Gruppenfindungsphase waren keine Neuzugänge mehr möglich.
Grundidee: Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle (Rollenvielfalt).
Ziele: Gefühle und Gedanken formulieren; Mut finden, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen;
soziale Kompetenz in der Gruppe; Empathie; Eigenverantwortung; Körperlichkeit.
Arbeitsweise: Ergebnisoffen, aber mit der Zielvorgabe, ein Theaterstück zum Thema „Junge
sein - Mann werden“ zu entwickeln.
Typische Übungen: Körperorientierte Spiele (Hahnenkämpfe, versteckte Büroklammer beim
Gegenüber blind finden) und Improvisationen (Banküberfall, Fallschirmspringen...).
3. Keep-Cool-Gruppe an einer Schule (nach Weidner, Kilb, Kreft in „Gewalt im Griff“ Band 1)
Zielgruppe: 5 - 6 Schüler im Alter von 13-16 Jahren. Die Gruppe umfasst manipulierende Leitfiguren, gewaltbereite Mitläufer und aggressive Einzelgänger. Gearbeitet wird mit 2 Leitern
einmal wöchentlich (90 Min.) über ein halbes Schuljahr.
Grundidee: Konfrontation mit vergangenen und aktuellen Konfliktsituationen.
Ziele: Schuldeinsicht; Kosten-Nutzenanalyse des eigenen Verhaltens; Wahrnehmungstraining;
Auseinandersetzung mit Täter- und Opferstrategien; Einübung adäquaterer Verhaltensweisen
bei Konflikten.
Arbeitsweise: Standardisiert durch Curricula*, die Beziehung zu den Trainern tritt in den
Hintergrund. Typische Übungen: Rollenspiele und Heißer Stuhl
* Das Curriculum des Coolness-Trainings, eine Handreichung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
zum Umgang mit schwierigen Situationen (Rainer Gall in „Gewalt im Griff“, Weidner, Kilb, Kreft, Beltz
Verlag, Band 1, S. 169 ff)
4. Selbstbehauptungstraining an Grundschulen
Zielgruppe: Grundschüler im Alter von 8 - 11 Jahren. Ein Selbstbehauptungstraining umfasst 3
Einheiten von je 3 Stunden.
19
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Grundidee: Jungen brauchen Schutz vor sexuellen Übergriffen und benötigen Übung, um mit
alltäglichen Grenzüberschreitungen umgehen zu können (Gewaltprävention).
Ziele: Training von Eigen- und Fremdwahrnehmung; Stärkung des Selbstvertrauens;
Informationen über sexuellen Missbrauch; Vermittelung von Strategien zur Konfliktbewältigung;
Selbsterfahrung in Kämpfen.
Arbeitsweise: Schematisiert mit standardisierten Inhalten und Reaktionsweisen. Die Beziehung
zu den Trainern ist nachrangig. Eine standardisierte Ergebnisdokumentation erfolgt durch
Fragebögen.
Typische Übungen: „Nein-Sagen“; Kämpfe mit Batakas
Die anschließende Diskussion im Forum reflektierte die Praxis der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer.
Thesen zur Weiterentwicklung von Jungenarbeit:
1. Jungenarbeit muss in die Erzieherinnen- und Erzieherausbildung stärker integriert
werden. (Schwerpunkt: Soziale Kompetenz)
2. Jungenarbeit sollte die gleiche Aufmerksamkeit bekommen wie Mädchenarbeit.
3. Jungenarbeit soll ein Thema in allen sozialen Einrichtungen werden.
4. Im Elementarbereichen sollen mehr Männer tätig sein.
Forum 4: „Frauen in der Arbeit mit Jungen – Rollenklärung im Austausch“
Doris Leber, Dipl. Psychologin,
Wissenschaftliches Institut des Jugendhilfswerks Freiburg e. V. an der Universität Freiburg
Frauen in der Arbeit mit Jungen sind oft konfrontiert
mit eigenen und anderen Erwartungen an ihr
Rollenverständnis und ihre Haltung gegenüber den
Jungen. Mit den Teilnehmer/innen des Workshops
wurden diese beleuchtet und in Bezug gesetzt zu
kritischen Situationen in ihrer Arbeit, um sich
gemeinsam auszutauschen über Möglichkeiten des
Umgangs.
Die Teilnehmer/innen (überwiegend Frauen, ein
Mann) formulierten folgende Fragestellungen:
Was kann ich als Frau (Pädagogin) tun, damit Jungen eine eigene Identität finden?
Wie stehe ich als Frau in Gewaltsituationen Jungen gegenüber?
Wie kann ein Umgang mit Störungen von Jungen aussehen?
Wie kann ein partnerschaftlicher Umgang zwischen den Geschlechtern vermittelt werden?
Wie ist unser Selbstverständnis in der Arbeit mit Jungen?
Wie gelingt es, Aktivitäten von Jungen zu akzeptieren?
Ihre Rolle in der Arbeit mit Jungen beschrieben die Teilnehmer/innen mit folgenden Adjektiven:
Korrigierend, gefordert, eindeutig, dominant, motivierend/fördernd, unterstützend, humorvoll,
führsorglich (mütterlich), neutral, zulassend, respektierend, partnerschaftlich, akzeptierend.
Dies bedeutet die Verkörperung folgender Rollen: Mutter, Partnerin, Lehrerin, Vater, Freundin,
Kumpel, Chefin/Autoritätsperson, Pädagogin, Dienstleisterin.
Dabei sehen sich die Teilnehmer/innen mit folgenden Erwartungen konfrontiert:
(Mann)ersetzend, Männerrolle übernehmend, verständnisvoll, wertschätzend, zuwendend,
sozialisierend, Orientierung gebend, (heraus-)fordernd, fördernd, souverän, entlastend.
Beim Vergleich der Eigen- und Fremdsicht fiel auf, dass die fremden Erwartungen höher
angesetzt scheinen. Dies kann im Austausch mit dem Team, den Kollegen/innen reflektiert
werden.
20
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Die Rolle „Frau“ (mit Sexualität) wurde aus Zeitgründen auch hier nur kurz gestreift. Dies wäre
ein Thema für einen ergänzenden Rahmen.
Was benötigen die Teilnehmer/innen, um ihren und anderen Erwartungen noch besser gerecht
zu werden?
Institutionell:
Anerkennung,
Fortbildungen
(auch
Reflektionsmöglichkeiten (z.B. zum Männerbild), Supervision
für
Eltern,
Lehrer/innen),
Team: Unterstützung durch ein gutes Team, regelmäßiger Austausch zum Thema
Privat: Ausgleich, Klarheit
Gesellschaft: größere Toleranz/Akzeptanz unterschiedlicher Ausdrucksformen von Jungen,
weniger Vorurteile
Thesen zur Weiterentwicklung von Jungenarbeit :
1. Frauen in der Arbeit mit Jungen müssen als pädagogische Fachkräfte anerkannt
werden.
2. Kenntnisse in der Jugendarbeit müssen durch Öffentlichkeitsarbeit und Fortbildungen
sowohl in Fachkreisen als auch in die Gesellschaft transportiert werden.
Während der gesamten Tagung gab es einen Markt der Möglichkeiten
unter Beteiligung von:
Æ Kindertageseinrichtungen der
Stadt Freiburg
Æ AK Jungen Freiburg
Æ Wendepunkt e.V.
Æ Fluss e.V.
Æ Jugendhilfezentrum
St. Anton, Riegel
Æ N.E.W. e.V.
Æ Stiftungsverwaltung Freiburg,
die Waisenhausstiftung
21
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Schlusswort von Meik Haselbach, AK Jungen Breisgau-Hochschwarzwald
In den dargestellten Ausarbeitungen und Thesen der einzelnen
Arbeitsgruppen wurden nun zahlreiche Anforderungen für eine
erfolgreiche Jungenarbeit deutlich herausgearbeitet. Berücksichtigt man
nun, dass diese zahlreichen Anforderungen nur einen kleinen Ausschnitt
(nämlich unsere etwa 3-stündige Arbeit in dieser Fachtagung) des ganzen
Feldes abbilden, dann wird deutlich welch intensive vielschichtige
Diskussion und Bearbeitung noch in dieser Thematik stecken mag, bis wir
gemeinsam eine Ahnung von sinnvollen pädagogischen Handlungsplänen
der Jungenarbeit haben mögen. Es bedarf also noch viel Bewegung,
damit wir großräumig sinnvolle und gute Jungenarbeit durchführen
können. Diese Tagung ist somit auch als Startschuss zu sehen, damit wir
uns zukünftig intensiver dem Arbeitsauftrag von Jungenarbeit widmen.
Eine differenzierte Auseinandersetzung ist vor allem auch deswegen von
Nöten, da es keine „Standard-Konzepte“ geben kann, die wir uns wie in
einem Supermarkt für Pädagogen/-innen „einkaufen“ können. Konzepte und Konzeptionen von
Jungenarbeit bauen auf der individuellen Analyse von Zielgruppe, Lebenslagen, Zielsetzungen
und nicht zuletzt auch der Kompetenzen der Pädagogen/-innen auf, die die Jungenarbeit an den
vielen unterschiedlichen Orten durchführen sollen. Und so ist Jungenarbeit auch nicht lediglich
als die päd. Arbeit mit einer (geschlechts-)homogenen Gruppe zu verstehen – sie ist vielmehr in
das Gesamte eines päd. Handlungsfeldes einzubeziehen und in den vielschichtigen und
gegenseitigen Beeinflussungen und Rückkopplungen zu sehen. Jungenarbeit ist also vielmehr
jedes päd. Handeln gegenüber Jungen, das auch jungenspezifische Problemlagen,
Sozialisationshintergründe etc. einfließen lässt. Insofern ist Jungenarbeit z. B. auch die
situationsbezogene und „jungen-gerechte“ Maßregelung bei Regelüberschreitungen in einem
„Offene Tür“-Angebot. Sieht man Jungenarbeit also in diesem großen Zusammenhang, so ist es
unvermeidlich sich auch mit den Jungen auseinander setzen zu wollen und alles zu
unternehmen um selbst zu verstehen, was es heißt ein Junge zu sein. Es geht hier also vor
allem um einen Prozess des Verstehen-Lernens von Werten, Einstellungen, Wünschen,
Anforderungen usw. die im Junge-Sein von Bedeutung sind. Und ganz genau so geht es darum
zu verstehen, was es heißt ein Mädchen zu sein – denn schließlich sind es auch die
Abgrenzungen zum anderen Geschlecht, die es möglich machen eigene Identität zu finden oder
Vorurteile zu überwinden. Dieser Verstehens-Prozess aber wird nur gelingen, wenn wir
PädagogInnen diesen Weg zuvor beschritten haben und uns selbst bemüht haben zu
verstehen: Damit Frauen Männer verstehen und umgekehrt..... und damit auch Frauen Frauen
verstehen .... und Männer Männer verstehen .... dafür bedarf es des Austauschs und der
Diskussion um überhaupt selbst eine eigene Einstellung zum eigenen Geschlecht zu gewinnen.
Mit dieser können spätere päd. Handlungen sicher unterbaut werden. Somit ist Jungenarbeit nur
denkbar wenn Männer und Frauen in der Pädagogik zusammen-arbeiten und „gemeinsam an
einem Strang ziehen“!
Und in dieser Hinsicht sollte uns diese heutige Fachtagung zum Vorbild dienen, denn in der
Vorbereitung und Durchführung wurden Grenzen überwunden und es gelang Theorie & Praxis,
Stadt Freiburg & Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald sowie Frauen & Männer zusammen an
einen Tisch zu holen, um diese Tagung erfolgreich werden zu lassen.
Dieser gemeinsame Erfolg sollte uns ein richtungsweisendes Vorbild für die Zukunft und die
gemeinsame Weiterarbeit sein!
Wichtig bleibt nun, dass wir die Thesen und Aufforderungen des heutigen Tages zum
Arbeitsauftrag werden lassen, sei es beim Arbeitskreis Jungenarbeit in Freiburg Stadt oder im
Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Als Anstoß zur Weiterarbeit, Erinnerung und
Reflexionsgrundlage soll uns die Dokumentation dieses Fachtages dienen, die auch an
Verwaltung und Jugendhilfeausschuss weitergeleitet wird, um den entsprechenden Bedarf zu
dokumentieren.
Und um letztendlich in Bewegung zu kommen, bedarf es ganz klar auch des Engagements der
männlichen Pädagogen, die den Prozess in Schwung bringen müssen, damit wir in Sachen
Jungenarbeit bald „alle an einem Strang ziehen können“.
22
JUNGENARBEIT – ALTER HUT ODER NEUE HERAUSFORDERUNG?
Fazit
Die Teilnahme von 73 Fachkräften an der Gesamtveranstaltung sowie insgesamt 93 am
Vormittag zum Vortrag von Herrn Prof. Dr. Albert Scherr ist deutliches Signal für ein großes
Interesse am Thema Jungenarbeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus allen
Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe im Stadt- und Landkreis, dies ist ein gelungener erster
Schritt zu Vernetzung und Kooperation.
Im Ergebnis machte die Fachtagung jedoch deutlich, dass die selbstverständliche
konzeptionelle Verankerung von Jungenarbeit als pädagogischem Standard der Kinder- und
Jugendhilfe noch aussteht.
Inhaltlich muss sich Kinder- und Jugendhilfe im Sinne von § 9,3 SGB VIII mit der Frage
beschäftigen: Was kennzeichnet die Lebenslagen männlicher Kinder und Jugendlicher? Kinderund Jugendhilfe ist hier aufgefordert, männlichen Kindern und Jugendlichen Angebote zu
machen, die ihnen helfen, die Herausforderungen des Erwachsen-Werdens zu bewältigen und
einen gleichberechtigten Umgang mit Mädchen und Frauen bzw. mit Angehörigen anderer
Kulturen zu lernen. Prof. Dr. Albert Scherr erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass trotz
des Bestehens einer patriarchalen Gesellschaft männliche Dominanz für die meisten
männlichen Kinder und Jugendlichen nicht die bestimmende Erfahrung beim Aufwachsen ist. Er
appelliert dafür, dass sich Jungen- und Mädchenarbeit nach wie vor mit den gesellschaftlichen
Konstruktionsprozessen von Männlichkeit und Weiblichkeit auseinander setzen und sich von
stereotypen Vorstellungen und der Kultivierung derselben verabschieden müssen.
Jungenarbeit ist vor allem eine Frage des Bewusstseins und sollte so zunehmend Eingang in
die Kinder- und Jugendhilfe finden. Jungenarbeit ist keine Methode und ist – so verstanden nicht gebunden an bestimmte Ressourcen, sie sollte selbstverständlich das pädagogische
Handeln bestimmen, sowohl in geschlechtshomogenen als auch in geschlechtsgemischten
Angeboten. Die dafür nötige Bewusstseinsbildung erfolgt durch Fortbildung, Teamentwicklung
und der konzeptionellen Verankerung von Jungenarbeit in den jeweiligen Einrichtungen. Dabei
ist klar: Alle Beteiligte an pädagogischen Prozessen - Männer und Frauen - machen
Jungenarbeit, eine besondere Verantwortung liegt bei den männlichen Pädagogen.
Wir wünschen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern viel Erfolg bei der Umsetzung und
Weiterentwicklung der bei dieser Fachtagung gesetzten Signale!
Uschi Kiesgen, Fachbereich Kinder und Jugendhilfe LRA Breisgau-Hochschwarzwald
Tina Leder, Jugendförderung, Sozial- und Jugendamt Stadt Freiburg
Beate Schauer, Jugendhilfeplanung, Sozial- und Jugendamt Stadt Freiburg
23
Herunterladen