Ode an den Fehler - Über den Reiz musikalischer

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Sonntag, 06. September 2015 (20:05 bis 21:00 Uhr) KW 36
Deutschlandfunk / Abt. Hörspiel Hintergrund Kultur
FREISTIL
Ode an den Fehler Über den Reiz musikalischer Unschärfen
Von Andi Hörmann
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: DLF 2015
Manuskript
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Atmo: Vinyl-Knistern
Musik: Beethoven „Ode an die Freude“
(„Freude, schöner Götterfunken / Tochter aus Elysium / Wir betreten feuertrunken / Himmlische,
dein Heiligtum // Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt / Alle Menschen
werden Brüder / Wo dein sanfter Flügel weilt.“)
Sprecher:
Beethovens „Ode an die Freude“: Ein wahrer Lobgesang auf ein beglückendes Gefühl, auf den
Triumph des Guten über das Böse. Feuertrunken, Götterfunken.
Musik: Beethoven „Ode an die Freude“
Sprecher:
Bombast und Pathos. Nicht nur in der Klassik, auch im Pop macht der Götterfunke feuertrunken.
Miguel Ríos mit „A Song Of Joy“ aus dem Jahr 1970:
Musik: Miguel Ríos „A Song Of Joy“
Sprecher:
Hier treffen zwei Welten aufeinander: locker interpretierte Popmusik und streng komponierte
Klassik. In beiden Aufnahmen aber rauscht es im analogen Vinyl-Geknister. Warum auch nicht!
Muss Musikmachen oder Musikhören immer perfekt sein? Die Fehler in der Musik, die
Abweichungen, die Dissonanzen, die akustischen Unschärfen, ob unabsichtlich oder absichtlich:
Sind sie nicht das gewisse Etwas in der Welt perfekt produzierter Musik?
Atmo: Vinyl-Knistern / Kratzen der Nadel auf der Platte
Extra-Sprecher:
Ode an den Fehler - Über den Reiz musikalischer Unschärfen.
Ein Feature von Andi Hörmann.
Musik: Acid Pauli „Palomitastep“
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O-Ton: Christiane Tewinkel
„Der Fehler in der Musik: da gibt es so viele Facetten. Zunächst denkt man natürlich an den
Verspieler. Leute, die beim Konzert auf dem Klavier oder auf der Geige spielen, die sich
verhauen, die daneben greifen, die falsche Töne liefern und so weiter. Und natürlich gehört
dazu auch der Aussetzer, dass man vergisst welches Stück man gerade an welcher Stelle
spielen soll. Aber in der Musik führt der Fehler viel, viel weiter: Es gibt den Fehler schon in
der Komposition, dass Komponisten sich vertan haben. Es gibt den Fehler des Hörers: Der
Hörer, der unaufmerksam ist und sich seine Gedanken macht, während er doch eigentlich gut
zuhören soll. Es gibt den Fehler in der Tongebung: Bei den Geigen zum Beispiel dieses etwas
unangenehme Kieksen. Bei den Blasinstrumenten: der schlechte Ansatz, der dann verhindert,
dass das Instrument sofort anspricht. Und es gibt dann natürlich auch den Fehler, der
kunstvoll verarbeitet wird. In der neuen Musik ist das besonders oft der Fall, dass man gerade
an diesen Rändern der Tongebung forscht nach neuem Material.“
Sprecher:
Die Musikwissenschaftlerin Christiane Tewinkel von der Universität der Künste in Berlin. Im
Seminar „Verhauen, vergeigt, verkiekst“ hat sich sich mit der Kulturgeschichte des
musikalischen Fehlers auseinandergesetzt. Und jetzt: Psst! Aufmerksamkeit! Nur wenn wir
ganz Ohr sind, hören wir sie auch, die Götterfunken!
Atmo: Vinyl-Knistern
Musik: Beethoven „Ode an die Freude“
Sprecher:
Der zum göttlichen Mysterium erhobene Funke: In den Worten von Friedrich Schiller macht der
Götterfunke aus Bettlern Fürstenbrüder, in der Musik mag er den Laien zur Kunst inspirieren - oder
auch zum Fehler. Denn die musikalischen Unschärfen folgen einer ganz eigenen Ethik.
Musik: Radiohead „Bloom“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Musik hat immer Recht und ich kann versagen.“
O-Ton: Jochen Irmler
„Es gibt keine Regel in der Musik, auch wenn die Herrschaften uns das versuchen einzubläuen.“
O-Ton: Mathias Modica
"Nur wenn man riskiert, dass man Fehler macht, kann man auch irgendeine Neuerung finden. Wenn
ich den Fehler wage - übertreiben, übertreiben, übertreiben - in jegliche Richtung, dann mache ich
viele Sachen, die künstlerisch nerven, aber vielleicht springt die eine oder andere Sache raus, die
vielleicht einen neuen Sound definiert."
Musik: Flying Lotus „Cold Dead“
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Sprecher:
Die Perfektion wird mit dem schiefen Ton zur Farce. Die schräge Melodie, die schüttere Harmonie
- sie sind nicht Teufelswerk, vielmehr göttliche Komödie. Denn ihr, die ihr zweifelt, ihr werdet im
Fehler den Fortschritt erkennen.
Musik: Claude Debussy „Sirènes (Nocturne Nº 3)“
Sprecher:
Lassen wir uns vom Gesang der Sirenen verführen, lauschen wir den Dissonanzen, die seit jeher
unseren Alltag durchziehen. Zurück in der Menschheitsgeschichte, zurück zum Ur-Geräusch - dem
Meeresrauschen, dem Windpfeifen, dem Donner.
Atmo: Naturgeräusche - Meereswellen, Windpfeifen, Donnergrollen
Sprecher:
Dominium terrae. Der Mensch macht sich die Erde untertan: Er isoliert aus dem Geräusch den
Klang, schichtet Töne zu Melodien, spannt Harmoniebögen und produziert das Wunder der Musik den Zauber der Komposition. Die Dissonanz, der schräge Klang, die „akustischen Unschärfen“ sind
dabei kein lästiges Übel, sondern schärfen den Blick, lassen die Ohren spitzen.
Atmo: Kratzen der Nadel auf Vinyl
Musik: London Symphony Orchestra, Valery Gergiev interpretiert Ravels „Boléro“
Sprecher:
Die Instrumentalpädagogin Adina Mornell von der Musikhochschule München hat sich auf einem
Symposium mit dem Fehler in der Musik beschäftigt.
O-Ton: Adina Mornell
„Ich erfahren über den Fehler etwas über meinen Umgang mit dem Stück. Ich erfahre etwas über
meine Aufmerksamkeit, über die Ablenkung, die ich erlebe, über neue Ideen, die ich beim Stück
habe, die dazu führen, dass meine Finger etwas anderes spielen als ich eigentlich gewollt habe.
Diese Art von vermeintlichen Fehlern sind notwendig für das Lernen, denn wenn ich immer nur
perfekt spiele habe ich gar keine Möglichkeit etwas zu verbessern.“
Musik: Four Tet „Angel Echoes“
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Sprecher:
Durch die Interpretation legt der Mensch mit Hilfe des Musikinstruments sein Empfinden in die
vorhandene Komposition - im ständigen Kampf mit der Perfektion. Egal ob Laie oder Profi am
Instrument, jeder kennt die Erfahrung nur zu gut: Töne, die nicht passen! Akkorde, die daneben
gehen! Harmonien, die nicht klingen! Doch haben sie nicht auch bisweilen etwas Schönes, die
Fehler in der Musik? Lassen sie einen nicht ganz Ohr sein? Sind sie nicht der Ton gewordene
menschliche Makel?
Musik: Four Tet „Angel Echoes“
(Textzeile: „There is love in you...“)
Sprecher:
Welch ein Engelsgesang! Ein wahrer Kanon aus Götterfunken! There is love in you, Du bist von
Liebe erfüllt - heißt es 2010 in dem Stück „Angel Echoes“. Eine einzelne Textzeile in einem Track
des Londoner DJs und Produzenten Kieran Hebden alias Four Tet - zusammengeschnipselt aus
digitalen Samples.
Musik: Four Tet „Angel Echoes“
Sprecher:
Schnipp-Schnapp in der Computer-Software, Zick-Zack in Musik verpackt. Der digitale Schnitt, der
sollte aber doch eigentlich in zeitgemäßen Musikproduktionen nicht hörbar sein? Doch im Dubstep
von James Blake wird er sogar zum herausragenden Stilmittel: Wie ein scharfkantiges Blatt Papier
reißt ein Piano-Akkord als verrauschtes Sample ab, in dem Stück „I only know (what I know)“ von
2010.
Musik: James Blake „I Only Know (What I Know)“
Sprecher:
Schon zwanzig Jahre zuvor - in den 1990er Jahren - werden zerhackstückte Klänge zu einem
Musikgenre hochstilisiert:
Clicks´n`Cuts
nennt
sich eine
Spielart der
experimentellen
elektronischen Musik, in der der digitale Schnitt zum zentralen Element wird, zum Klangmuster
eines sanften Klicken und Klacken.
Musik: Sifa Dias „Eitec Aa (C&C Fade)“
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Sprecher:
Um das Frankfurter Musik-Label Mille Plateaux entsteht eine Szene, deren Markenzeichen das
Klick-Klack im Schnitt digitaler Musikproduktionen wird. Es ist die Zeit der immer günstiger
werdenden Laptops und Notebooks, auf denen sich mit der entsprechenden Software ganz einfach
zuhause Musik produzieren lässt. Es entsteht ein neuer Musiker-Typus, der sogenannte „Bedroom
Producer“, der Schlafzimmerproduzent. Klänge sind überall, über kleine tragbare Aufnahmegeräte
lassen sie sich ganz simpel einfangen. Zudem wird Musik im mp3-Format immer einfacher
zugänglich, lässt sich am Computer ganz einfach weiter bearbeiten und zu Klangcollagen schichten.
Der kanadische Techno-Produzent und DJ Marc Leclair alias Akufen verarbeitet etwa hunderte von
Samples aus Popsongs zu einer Art Cut-Up-Techno:
Musik: Akufen „Deck The House“
Sprecher:
Die fehlerhafte Bedienung - bewusst oder unbewusst - von elektronischen Musikinstrumenten führt
vom Genre Clicks´n`Cuts zum Glitch. Die Bezeichnung kommt aus der Elektronik, dort beschreibt
„Glitch“ Fehler in Schaltkreisen: Geräusche von zerkratzten CDs und hängen gebliebenen
Schallplatten, Nebengeräusche von elektronischen Geräten, Störgeräusche digitaler Apparaturen.
Das Duo Funkstörung aus Rosenheim trägt das Wesen ihrer Musik schon im Namen: die Störung
bei der Übertragung wird zu funkigen Beats verarbeitet.
Musik: Funkstörung „Test“
Sprecher:
Es gibt so etwas wie eine „Renaissance akustischer Unschärfen“ bei experimentierfreudigen
Musikern. Auch in ganz aktuellen Musikproduktionen renommierter Künstler sind sie hörbar, die
„Fehler in der Musik“, die Verspieler, die falschen Intonationen, die Störgeräusche - sie werden
zum Teil der Komposition, sie werden kunstvoll verarbeitet und nicht mehr ausschließlich als zu
vermeidendes Übel angesehen.
Atmo: Störgeräusche
O-Ton: Thomas Meinecke
„Es gibt in der Musik Fehler von großer Schönheit.“
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Der DJ, Musiker und Schriftsteller Thomas Meinecke schätzt den „Fehler in der Musik“ auf beiden
Seiten: als Hörer und Popkritiker, aber auch als Musiker in seinem legendären Band-Kollektiv
F.S.K.:
Musik: F.S.K. „Logisch“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Ich spiele ja in einer Band, in der alles außer mir, also noch vier weitere Mitglieder, ihre
Instrumente beherrschen - und ich eigentlich nicht. Ich spiele deswegen verrückterweise die
meisten Instrumente, weil ich keines so richtig kann und dann macht es auch Spaß: ach, jetzt
kaufe ich mir das noch, mal sehen was sich mit diesem Digital-Percussion-Set machen lässt,
oder Trompete, oder eine Hawaii-Gitarre. Ich kaufe mir dann immer wieder Instrumente, die
ich auf eine sehr autodidaktische, quasi fehlerhafte Weise, erlerne. Auch bei der Trompete
greife ich teilweise Ventil-Kombinationen, die so nicht gemeint sind, weil ich mir das selbst
beigebracht habe und das übers Gehör rausfinde. Ich finde dann interessant, wenn man von
seiner eigenen Limitiertheit weiß: wie geht man damit um, bringt man dem Publikum jetzt
den reinen Wahnsinn, das dilettierende Delirieren, oder findet man sich in dieser
Beschränktheit zurecht und - das würde ich jetzt für mich beanspruchen - macht da dann
möglichst wenige Fehler. Also ich habe eine kleine Rinne nur, in der ich mich bewege, aber
in der will ich mich mit Anmut bewegen. Ich kann nun mal auf der Gitarre keinen Barré
greifen, also lasse ich dann F-Dur einfach aus und komme aber dann mit den anderen
Akkorden trotzdem schön zu Rande.“
Musik: The Velvet Underground „Venus In Furs“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Es gibt bei den Aufnahmen von The Velvet Underground unglaublich tolle Gitarren-Feedbacks,
die aber nicht so im klassischen Sinne psychedelisch kontrolliert sind, sondern man hat
wirklich das Gefühl, es geht einen Tretmine hoch und im Hintergrund spielen sie alle um die
Wette, es gibt da diese langen Freak-Outs: Sister Ray oder European Son, wo dann plötzlich
so eine Art Galopp loslegt, wo gar kein Rhythmus mehr da ist, alles spielt so wie um die
Wette.“
Musik: The Velvet Underground „European Son“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Ich finde das bei denen von unglaublicher Schönheit. Es gibt Leute, die sagen: das kann man sich
nur denken mit den jeweiligen Drogen, die dazu genommen wurden. Aber das finde ich
eigentlich gar nicht so. Das wäre ja ein anderer Punkt zum Fehler, inwiefern man sich selbst
unter Einfluss stellt, um nicht mehr kontrolliert zu spielen. Alkohol, Drogen, Ekstase - das
sind ja alles Mittel, um eigentlich auch den Fehler hervorzulocken oder das unbewusste los
spielen zu lassen. Bei The Velvet Underground ist es deswegen so toll, weil eben diese
ganzen Rockisten gesagt haben: ja, die können ja gar nicht spielen. Die haben das so
belächelt. Und in Wirklichkeit ist es von großer Schönheit, was sie da machen.“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Es gibt auch ein Stück von Charlie Parker, wo er während der Aufnahme... er war ja drogensüchtig
und übermüdet und litt auch sehr unter Lebensumständen, und es gibt ein Stück... Wie hieß es
jetzt? Ich komme jetzt nicht auf den Titel, aber er ist eingeschlafen auf der Session - „Lover
Man“ ist es. „Lover Man“ - und er spielt dann erst die zweite Zeile. Es fehlt einfach die erste
Zeile, weil Charlie Parker weg gedämmert war, carried away war. Und diese Aufnahme gilt
als die schöne Aufnahme von „Lover Man“.“
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Musik: Charlie Parker „Lover Man“
O-Ton: Thomas Meinecke
„Du hast bei Hip Hop so was, was man Stolper-Funk nannte, dass der Beat dann plötzlich stolperte.
Das gab es selbst bei P Diddy. „Bad Boys For Life“ ist ein Beispiel für so einen Rhythmus,
wo so ein Sample ist von einer Gitarre, das stolpert ungerade über einen Beat. So dass man
denkt: hey, das war vielleicht in dem Moment, wo sie es gesampled haben und im Studio
verwenden wollten, gar nicht so gemeint, dass es auf eine gewisse Weise nicht funktioniert.
Aber eben wie sich das über einander verschiebt wird das unglaublich funky und du hast
plötzlich mitten in der Hitparade einen Track, der stolpert, strauchelt. Die nächsten, die dann
kommen sagen: wir machen das schon gleich als Stolper-Funk.“
Musik: P Diddy „Bad Boys For Life“
Sprecher:
Das akustische Stolpern als Prinzip, als bewusste Abweichung von festen musikalischen Strukturen
und Genres - es ist nicht verwunderlich, dass sich auf vielen Alben renommierter Musiker bei
genauem Hinhören schief tönende Passagen entdecken lassen - ganz gleich ob beim legendären ExBeatle Paul McCartney oder bei der Avantgarde-Pop-Band Radiohead. Manchmal sind es nur
einzelne Töne, die sich nicht recht in die ansonsten so harmonisch komponierten Stücke einfügen:
Verrauschte Aufnahmen, Störgeräusche, schräge Klangbilder wie zum Beispiel das hier bei Paul
McCartney:
Musik: Paul McCartney „Fine Line“
Sprecher:
Nicht gehört? Hier kommt der Ausschnitt noch einmal:
Musik: Paul McCartney „Fine Line“
Sprecher:
Ein falscher Akkord! Eine Dissonanz in dem sonst so harmonisch komponierten Popsong! Streng
genommen ist das ein Fehler. „Fine Line“ ist ein Song auf dem 2011 erschienenen Paul-McCartneyAlbum „Chaos And Creation In The Backyard“. Produziert hat es Nigel Godrich, der auch bei fast
allen Radiohead-Alben an den Reglern saß. In einem Interview mit dem amerikanischen
Radiosender NPR hat er erzählt, wie sich McCartney in dieser Studio-Aufnahme bei diesem
Klavier-Akkord vergriffen hat. Nigel Godrich hat den Ex-Beatle davon überzeugt, dass genau
dieser „fehlerhafte“ Take auf das Album muss. Gibt so ein falscher Akkord einem Musikstück nicht
auch immer eine individuelle Note?
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Sind diese Fehler in der Musik nicht auch Stilmittel für eigenwillige Musikproduktionen? Erhebt
sich mit dem Fehler nicht der Mensch durch die Umkehr der Perfektion über die von Algorithmen
getaktete Computerwelt? Und verschmelzen die „akustischen Unschärfen“ nicht die glatte
Popmusik mit der rauen Avantgarde?
Musik: Radiohead „Reckoner“
Sprecher:
In Zeiten digitaler Studio-Produktionen scheint ein Fehler durchaus verwunderlich: Mit der
Präzision des Computers lässt sich heute doch alles auf Perfektion trimmen. Mitte der 1990er Jahre
wird etwa die Software Auto-Tune zur Wunderwaffe der Tonhöhenkorrektur gegen unpräzise
Sänger im Studio. Mittlerweile ist der Auto-Tune-Effekt ein Klassiker der Studio-Spielereien:
Schiefe Töne werden nicht nur nivelliert, sondern auch ins Künstliche überhöht. Bestes Beispiel:
Cher mit ihrem Welthit ´Believe` aus dem Jahr 1998.
Musik: Cher „Believe“
Sprecher:
In professioneller Software zur Musikproduktion gibt es seit einigen Jahren den Effekt
´Humanizing`. Dabei werden digital erzeugte, zu perfekte Rhythmen, „vermenschlicht“ und mit
kleinen Abweichungen vom Takt, also streng genommen Fehlern, versehen. Wissenschaftler des
Max-Planck-Instituts und der Universität Göttingen haben 2011 herausgefunden, dass die Hörer den
Unterschied zwischen „digital vermenschlichter“ und „menschengemachter“ Musik sehr wohl
unterscheiden können. Das Verblüffende dabei ist aber vielmehr, dass sie die menschliche Musik
mit Fehlern „präziser“ empfinden. Denn während die Software völlig zufällig Beats verschiebt,
etablieren Menschen in einem Musikstück bereits zu Beginn ein bestimmtes Fehlermuster. Die
Wissenschaftler nennen das „langreichweitige Korrelationen“. Der Mensch entwickelt anscheinend
ein Gedächtnis für minimale Fehler und der unpräzise Rhythmus erscheint ihm natürlicher.
Musik: Thom Yorke „A Brain In A Bottle“
Sprecher:
Der Beat lässt sich am Computer wie im Baukastensystem verschieben und verrücken. Sozusagen
Tonkorrektur wie ein Tetris-Spiel. Seit 2001 ist die Musiksoftware „Melodyne“ der Münchner
Firma Celemony dabei fester Bestandteil des Equipments großer Produktionsstudios:
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O-Ton: Peter Neubäcker
„Wenn dieses Programm eingesetzt worden ist, in der Musik, dann hört man das nachher nicht
mehr. Oder jemand setzt es bewusst als Effekt ein, dass wirklich dann komische Verzierung
eingebaut wird, die ein Sänger gar nicht singen kann...“
Sprecher:
„...oder ein Sprecher gar nicht sprechen. Wie mit vielen Musik-Programmen lassen sich auch mit
Melodyne Klänge bis zum Extrem ausreizen und Töne comichaft überhöhen - von Mickey
Mouse bis Beelzebub. Doch das Programm kann noch weit mehr! Melodyne ist eine
Software, die es erlaubt, auch einzelne Noten in polyphonen Musikstücken zu editieren: Jedes
Zupfen an der Gitarre, jeder Anschlag am Klavier erscheint in der Musiksoftware für sich
alleine visualisiert auf dem Computer-Monitor. Instrumente lösen sich von der Singstimme
und das ganze Stück verwandelt sich zurück in eine Partitur separater Klangteile. So etwas
galt bislang als unmöglich. Eine Musik-Aufnahme, einmal gemischt, war quasi versiegelt. Als
erste deutsche Software-Schmiede hat Melodyne-Erfinder Peter Neubäcker 2012 dafür einen
“Technical Grammy” erhalten.
Musik: Peter Gabriel „Flume“
Sprecher:
Dickie Chappell, der Tontechniker von Peter Gabriel, bearbeitete mit Melodyne zum Beispiel
Studio-Aufnahmen epochaler Orchester-Werke.
Musik: Peter Gabriel „Flume“
Sprecher:
In der Wohnung von Melodyne-Erfinder Peter Neubäcker hängen selbst gebaute Saiteninstrumente
an den Wänden. In den Regalen stehen buddhistische Klangschalen. An seinem
Computermonitor demonstriert Neubäcker das Wesen der Software. Die auf der
Benutzeroberfläche visualisierten Töne eines beliebigen Popsongs versinnbildlichen den
Namen: Melodyne - eine Wortverschmelzung aus „Melodie“ und „dynamisch“.
Atmo: Computer-Tastatur
O-Ton: Peter Neubäcker
„Man sieht hier dann, dass die einzelnen Noten analysiert worden sind. Man kann sich das wie so
eine Art Spindel vorstellen. Die Dicke dieser Spindel repräsentiert die Lautstärke an dem
jeweiligen Zeitpunkt. Und diese feine Linie, diese Kurve ist die Tonhöhe, die da drinsteckt.
Ich nehme jetzt mal so ein Stückchen hier raus...“
Atmo: „Stretch it and stretch it...“
O-Ton: Peter Neubäcker
„Und wenn ich jetzt ein paar Noten anfasse und woanders hinschiebe. Da hört man dann schon,
dass es praktisch immer so bleibt wie wenn es auch so gesungen hätte sein können, aber die
Melodie verändert sich so, wo man die Noten einfach hinschiebt, um andere Melodien daraus
zu machen. Oder man könnte eine zweite Stimme daraus machen, dann kann ich das hier
runter schieben...“
Atmo: „Stretch it and stretch it...“
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Sprecher:
Das Modellieren von Melodien - Mit Melodyne lassen sich musikalische Patzer passend machen.
Die Melodie: Mathematik. Der Ton: Psychologie. Der Klang: Philosophie. Die Software ist
ein technischer Eingriff in emotional aufgeladene Musik, ein Gestaltungswerkzeug, das die
Musik nicht unbedingt menschlicher und den Menschen nur bedingt musikalischer macht.
O-Ton: Neubäcker
„Wenn ich mich versinge, merke ich das vielleicht, dass ich mich versungen habe und erschrecke.
Und dadurch wird die Aufnahme schlecht. Oder jemand, der schlecht singt, der kann auch nie
zu einem guten Sänger gemacht werden durch die Software, weil er einfach den Ausdruck
nicht hat.“
Musik: Maria Callas „La Traviata“
O-Ton: Christiane Tewinkel
„Einmal hatte ich mich über Maria Callas mit einem Stimm-Physiologen unterhalten. Der sagte:
Die Stimme von Maria Callas hat eigentlich Fehler. Das muss man einfach feststellen. Wie
viele Sänger auch Fehler haben. Manche sind ein bisschen verhaucht. Ich hatte jetzt gerade
einen Counter-Tenor besprochen, der in der Mittellage ganz, ganz bisschen verhaucht ist.
Trotzdem kann das sehr schön wirken. Verwechselbar und glatt, das kann eigentlich jeder.
Aber so etwas ganz Spezifisches, das hängt sich oft an dem auf, was man landläufig vielleicht
sogar als Fehler nennen würde.“
Musik: Frank Sinatra „My Way“
Sprecher:
Und was wäre die Crooner-Legende Frank Sinatra ohne sein von Whiskey und Zigaretten rau
gewordenes Stimmorgan? Hier singt ein Lebemann von den Höhen und Tiefen, von seinem
authentischen Leben. Ein nahezu perfekter Gesang würde dem Inhalt nicht wirklich gerecht werden.
Gerade das Fehlerhafte macht die Musik oft so lebensnah und hin und wieder unvergesslich
komisch.
Musik: Elvis „Are You Lonesome Tonight“
Sprecher:
Doch man muss manchmal schon ganz genau hinhören. Wenn man etwa in den ersten paar Takten
des Welthits „Roxanne“ von Police diesen beiläufigen Ton auf dem Klavier hören möchte - ein
Fehler während der Aufnahme, als ob jemand im Studio im Vorbeigehen seine Finger nicht von den
Tasten lassen konnte und mal kurz klimperte. Und dann auch noch dieser Lachen aus dem Off:
Musik: Police „Roxanne“
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Sprecher:
Zwei Fehler in der Aufnahme, die in der Komposition dieses Pophits aus dem Jahr 1978 sicher
nicht vorgesehen waren. Nicht gehört?
Musik: Police „Roxanne“
Sprecher:
Sind solche „akustischen Unschärfen“ wirklich wichtig für das Authentische, für den Ausdruck in
der Musik? Ist es in der Musik vielleicht ähnlich wie im Visuellen, wo Graphiker durch leichte
Abweichungen von der augenscheinlichen Ästhetik, durch den kleinen Makel, ihre Arbeit
ansprechender gestalten? Führt das Fehlerhafte im Komponieren von Musik etwa auf eine neue
Fährte? Ganz im Sinne von: Wenn ich hinfalle, gehe ich anders weiter.
Musik: LCD Soundsystem „Get Innocuous“
Sprecher:
James Murphy von der New Yorker Post-Punk-Band LCD Soundsystem führt den Reiz des Fehlers
auf das Faszinierende einer nicht allzu perfekten Ästhetik zurück:
O-Ton: James Murphy
"Es gibt eine Ästhetik in Japan, wo alles sehr ordentlich ist. Aber es muss einen Tick fehlerhaft
sein, sonst mögen sie es nicht. Und deswegen lasse ich auch immer in meinen Liedern kleine
Fehler: Ich spiele eine Schlagzeug-Spur ein und zerschneide sie dann nicht digital. Ich lasse sie
einfach fehlerhaft, weil das dem Ganzen etwas Besonderes verleiht.“
Musik: The Notwist „Close To The Glass“
Sprecher:
Auch für Markus Acher von der experimentellen Indie-Pop-Band The Notwist aus dem bayerischen
Weilheim sind „Fehler“ nicht nur ein ästhetischer Zugang zur Musik, sondern auch kreativer Impuls
beim Musikproduzieren.
O-Ton: Markus Acher
„Eigentlich fast in jedem Stück sind Elemente, die aus Fehlern entstanden sind, oder Geräuschen,
die jetzt eigentlich nicht so geplant waren. Aus einer hängen gebliebenen Platte oder einem
Quietschen, wenn man irgendwie den Klinkenstecker irgendwo rauszieht. Was wir dann
verwendet haben, um etwas anderes daraus zu machen.“
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O-Ton: Stefan Betke
„Ich bin aufgewachsen mit der Idee: alles was Geräusch ist, ist auch irgendwo Klang und Musik.“
Musik: Pole „Rondell Für Zwei“
Sprecher:
Für den Musiker, DJ und Produzenten Stefan Betke aus Berlin - seit den späten 90er Jahren besser
bekannt als Pole - macht das Störgeräusch die Musik erst interessant.
O-Ton: Stefan Betke
„Bei meinen ersten drei Platten war es so, dass ich, wenn immer ich live gespielt haben, beim
Soundcheck für die Live-Konzerte, kamen dann oft die Sound-Engineere von den Clubs an
und sagten: mach noch mal kurz aus, wir haben irgendwie einen Fehler in der Anlage, es
knackst so. Die sind also nicht davon ausgegangen, dass ich das bin, der das da reinschickt.
Den musste ich dann immer sagen: ne, lass mal, das ist schon alles so wie es sein soll, du hast
nur den Bass dazu noch nicht gehört, ich höre mir jetzt gerade nur das Knacksen an. Die
dachten dann, da ist irgendwie ein Kabel kaputt oder so.“
Sprecher:
Akustische Zufälle können wie bei Stefan Betke alias Pole und Markus Acher von The Notwist zu
willkommenen Überraschungen im Kompositionsprozess werden. In der Kultur des Do-ItYourselfs, zwischen Home-Recording- und Lo-Fi-Ästhetik, entstehen gerade durch Stör- und
Nebengeräusche beim Aufnehmen schier unendliche Möglichkeiten für musikalische Experimente.
O-Ton: Markus Acher
„Bei uns ist es definitiv so, dass sogar sehr viele Sachen ganz bewusst aus Fehlern entstanden sind.
Diese ganzen Knackser und Kratzer und Kreischer.“
Musik: The Notwist „From One Wrong Place To The Next“
O-Ton: Markus Acher
„Fehler klingt jetzt im Grunde genommen auch wieder falsch, weil es für uns in dem Sinne erstmal
keinen Fehler gibt, weil wir im Studio immer so rum probieren und dann ist im Grunde
genommen ja alles willkommen, was da raus kommt. Mit Fehler meine ich, dass es erstmal
etwas ist, was man nicht erwartet. Sagen wir mal lieber: eine Überraschung. Ein nicht
geplanter Sound. Man stöpselt eine Gitarre an fünf Effekt-Geräte und dann kommt ein ganz
komisches Feedback dabei raus, aus Versehen, wo man doch eigentlich eine Melodie spielen
wollte. Und dann ist es ganz oft so: Aufnehmen, aufnehmen, jetzt schnell auf Aufnahme
drücken!
Musik: The Notwist „Gloomy Planets“
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O-Ton: Markus Acher
„Bei dem Stück Gloomy Planets, das habe ich zuhause aufgenommen und da habe ich den Klick,
den man eigentlich nie hören sollte, so laut auf dem Ohr, dass man den ziemlich laut,
eigentlich das gesamte Stück durchhört. Ich glaube jeder normale Toningenieur würde
wahrscheinlich ausflippen. Das lief dann auch über einen Verzerrer, dadurch klang das
irgendwie ganz lustig.“
Musik: The Notwist „Gloomy Planets“
O-Ton: Markus Acher
„Der Klick ist ja etwas, was man auf dem Ohr hat, damit man zu Elektronik oder zu schon
aufgenommenen Spuren dazu spielen kann, was man da immer so als Hilfsmittel hat. Auch
den digitalen Klick des Computers: bei zwei, drei Stücken kommt der mal vor.“
Sprecher:
Musiker wie Stefan Betke und Markus Acher schätzen akustische Zufälle, die sie inspirieren und
kreativ machen und das gewisse Etwas in die Musik bringen.
Sprecher:
Das Spiel mit dem akustischen Zufall und mit dem Fehler in der Musik, kann eine Möglichkeit sein,
manchen digitalen und dadurch etwas kalten Musikproduktionen etwas analoge Wärme
einzuhauchen - wie damals, zur Zeit der Tonbandaufnahme.
Musik: Duke Ellington „The Mooche“
Sprecher:
Klingen sie nicht intim und herzerwärmend, die alten und leicht verrauschten Jazz-Aufnahmen?
Musik: Duke Ellington „The Mooche“
O-Ton: Christiane Tewinkel
„In den 50er Jahren habe ich gesehen, dass es wahnsinnig viele Artikel gibt, die sich fürchterlich
aufregen über die Perfektion der Aufnahmetechnik. Es gab da offenbar einen großen
technologischen Sprung. Sodass man das Gefühl hatte: Aus dem Studio kommt nur Perfektes,
gegen das das, dass im Konzertsaal passiert einfach nur verlieren kann. Da wurde viel von
„kalter Perfektion“ gesprochen. Dann diese ganzen Zerrbilder von Virtuosität: Ebenfalls kalt
veräußerlicht, nur an der Oberfläche vor sich gehend. Und diese Sachen sind immer noch
sehr, sehr präsent. Ich denke nicht, dass man heute eine CD auf dem Markt lassen würde, zum
Beispiel ein klassisches Streichquartett, wo es massive Verspieler gibt. Das ist ein großes
Problem für Leute, die ins Konzert gehen, weil sie dieselbe Qualität im Konzert erwarten wie
auf ihrer Aufnahme zuhause.“
Musik: Anne Sofie Mutter „Mozart Concerto no. 3 in G major K. 216: Allegro“
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Sprecher:
In der klassischen Musik gelten Fehler jedoch generell als Tabu! Perfektion und Virtuosität sind bei
Studioproduktionen und in Konzertsälen das Maß der Dinge. Die Musikwissenschaftlerin
Christiane Tewinkel bedauert das:
O-Ton: Christiane Tewinkel
"Es gibt Künstler wie Anne-Sophie Mutter, die so wahnsinnig perfekt sind, einen so satten,
glänzenden Ton haben, dass viele sagen: Das ist mir einfach zu doll. Das ist ein solches Übermaß
des Satten und Perfekten. Das macht mich fast niedergeschlagen. Das sind wahrscheinlich sehr
subtile psychische Prozesse, die da ablaufen. Aber es hat nicht immer etwas sehr Attraktives, wenn
jemand etwas sehr, sehr gut kann."
Musik: Anne Sofie Mutter „Mozart Concerto no. 3 in G major K. 216: Allegro“
O-Ton: Christiane Tewinkel
„In der Klassik gibt es keine Aufnahmen mit Fehlern. Das muss ich einfach mal so sagen. Ich habe
neulich zum Beispiel mal eine CD für Studenten suchen wollen, wirklich eine schlechte
Aufnahme. Die normalen Labels bringen so etwas nicht mehr heraus. Ich erinnere mich, dass
ich vor vielen Jahren mal im Auto einer Musikkritikerin mitgefahren bin und die spielte eine
Geigen-CD vor und man hörte ganz winzig wie die Geige kurz über die Seite glitt und der
Ton nicht ansprach, sodass es ein bisschen kiekste und dann sagte die Dame: sehen sie, da
hört man... So etwas kann permanent und dauernd passieren und es ist überhaupt keine
Schande, aber tatsächlich wird es eigentlich immer raus sortiert heute. Es ist mir nicht mehr
begegnet auf CDs. Das ist unrealistisch, aber der Klassikmarkt funktioniert offenbar so.“
Musik: Florence Foster Jenkins „Königin Der Nacht“
O-Ton: Christiane Tewinkel
„Deswegen sind aber auch so Sachen so lustig, wie zum Beispiel Orchester, die antreten zu spielen
obwohl sie es überhaupt nicht können. Es gibt so Orchester-Formationen, die das zu ihrer
Marken-Identität machen. Genau wie diese Sängerin: Florence Foster Jenkins, die Königin
der Nacht gesungen hat, obwohl sie es überhaupt nicht kann. Aber das ist dann schon wieder
Kult. Die jodelt so. Und die ist so reich, dass sie sich das kaufen kann. Konzertsaal, Orchester
und so weiter. Aber das hört sich eigentlich abwechselnd zum Weglaufen und zum Lachen
an.“
Musik: Florence Foster Jenkins „Königin Der Nacht“
Sprecher:
Was wäre das Vinyl ohne das Knistern, das Radio ohne das Rauschen, der Konzertsaal ohne das
Räuspern? Doch wie empfindet es der Hörer, wenn ein Ton aus der Reihe tanzt, wenn es an einer
Stelle akustisch holpert? Und vor allem: was macht der Fehler mit dem, der tagtäglich übt und übt
und übt, der ganz diszipliniert ein Musikinstrument lernt?
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O-Ton: Christiane Tewinkel
„Es ist für das praktische Musizieren und das Konzertleben ganz schädlich, dass diese ganzen CDs
auf dem Markt sind. Und diese ganze Diskussion, die in den 60ern noch sehr präsent war: wie
sehr hängen Laien-Musizieren und Konzert-Wesen zusammen? Die ist in den 80ern und
90ern in den Hintergrund gerückt. Und jetzt erst versteht man, wie eng das zusammenhängt.
Und da muss man eigentlich dieses Problem von Neuem ansprechen. Was macht man mit
diesen Perfektions- und Virtuositätsanspruch, der in der Klassik vorherrscht, und diesem ganz
normalen, sehr wichtigen, täglichen Musizieren in Chören und Zuhause und in der Schule und
im Kindergarten. Es ist schädlich, was die Plattenindustrie oder das Konzertleben da machen.
Obwohl sie natürlich wiederum dahin gepusht werden durch das Publikum, das diese
Erwartungen stellt.“
Musik: Mozart „Ein musikalischer Spaß“
Sprecher:
Berühmte Komponisten haben schon ganz früh das Fehlerhafte in der klassischen Musik als
humorvolles Stilmittel für sich entdeckt: 1787 komponierte Mozart „Einen musikalischen Spaß“,
als Persiflage auf die dilettierende Konkurrenz, deren plumpe und fehlerhafte Satztechnik er
gehörig durch den Kakao zog. Insbesondere den Part der beiden Hörner hat er mit praller Komik
versehen: Sie müssen falsch transponieren, sich verspielen und schräge Dissonanzen hervorbringen.
Musik: Mozart „Ein musikalischer Spaß“
Sprecher:
Was ist es also, dass uns noch an der Schönheit des Fehlers in der Musik zweifeln lässt?
Perfektionswahn, Selbstoptimierung, Versagensangst? Die Meinungen sind kontrovers:
Manfred Eicher, der Musik-Produzent und Betreiber des 1969 gegründeten Musiklabels
ECM, tut sich schwer, im Fehler in der Musik auch eine Ästhetik zu erkennen.
Musik: Keith Jarrett „Kölnkonzert“
Sprecher:
Die Produktionen auf ECM zeichnen sich durch eine besonders sorgfältige Aufnahmetechnik aus,
der Sound hat ein sehr klares und transparentes Klangbild - getreu dem Motto „The most
beautiful sound next to silence“.
Musik: Keith Jarrett „Kölnkonzert“
O-Ton: Manfred Eicher
„Ich würde aus dem Fehler keine Ästhetik machen. Für mich gibt es eine Ästhetik des Leisen. Und
es gibt auch eine Geste des Zuhörens oder des Musikhörens - auch das will gelernt sein. Man
braucht Konzentration, Widmung, Empathie für das, was man hört, für die Musiker, mit
denen man gerade aufgenommen hat. Das halte ich für eine ganz wichtig Voraussetzung, dass
überhaupt eine Ästhetik entsteht.“
Musik: Steve Reich „Music For 18 Musicians“
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O-Ton: Manfred Eicher
„Stellen sie sich das mal beim Schreiben vor: Das hieße, wenn wir einen Text haben, der aus vielen
falschen Anschlüssen, aus Tautologien, aus schlechten Adjektiven und so weiter besteht, dass
das eine Ästhetik ist. Das kann ja durchaus sein, aber für mich nicht.“
Sprecher:
Ästhetik: von altgriechisch aísthēsis - „Wahrnehmung“, „Empfindung“ - war bis zum 19.
Jahrhundert vor allem die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit, von Gesetzmäßigkeiten
und Harmonie in der Natur und Kunst. Doch Ästhetik bedeutet wörtlich: Lehre von der
Wahrnehmung. Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es
betrachten: Schönes, Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes.
O-Ton: Manfred Eicher
„Es gibt störende Verspieler und einige, die man akzeptieren kann, will und vielleicht sogar muss,
weil sie sonst im Kontext der musikalischen Ereignisse stören würden. Und das kann sein,
dass das sogar einen ganz bestimmten musikalischen Duktus wieder neu hören und empfinden
lässt. Ich habe kein Problem, wenn ich bei Live-Aufnahmen Fehler höre, solange es nicht
gravierende Fehler sind, die die ganze Modulation durcheinander bringen, dann ist das kein
Problem. Aber das muss der Musiker auch entscheiden. Die Musiker sind da kritischer, die
wollen nicht bei Fehlern ertappt werden - andere sagen: das ist o.k.“
Musik: Keith Jarrett „Spiral Dance“
O-Ton: Manfred Eicher
„Keith Jarrett ist ein Meister, der weiß es geht um Takes. Es war so, bei den Aufnahmen von
„Belonging“ in Oslo, für die Aufnahmen hat Keith Jarrett alle Stücke geschrieben und vor
allem auch Jan Garbareks Phrasierung und seine Tongebung und all diese Dinge sehr genau
studiert und hat Musiken geschrieben, die dem Jan auch liegen. Und diese Platte „Belonging“
besteht aus ersten Takes, auch wenn die anderen Musiker sagten: ich habe da oder dort das
nicht so getroffen. Dann gibt es wieder andere Musiker, die basteln sehr langen rum, die
brauchen viele Takes und oft kommt man wieder auf den ersten oder zweiten zurück.“
Musik: Keith Jarrett „Spiral Dance“
O-Ton: Christiane Tewinkel
„Der richtige Ton zur rechten Zeit: das ist ungefähr zehn Prozent der Miete, der Rest ist Gestaltung,
dass man Phrasen bilden kann, dass man musikalisch denkt, dass man dramaturgische Bögen
spannen kann. Und da gibt es natürlich ebenso Fehler, aber die fallen nicht so auf, die
vermitteln sich dann eher auf einer unbewussteren Ebene.“
Musik: Can „The Thief“
Sprecher:
Jaki Liebezeit, der Schlagzeuger der legendären Krautrockband CAN, hat mit dem „motorik beat“
ein ganz eigenes Schlagzeugspiel entwickelt - geradlinig und hypnotisierend. Fehler gilt es für ihn
zu vermeiden. Doch wenn er sich in einem seiner repetitiven Beats verhaspelt, schlägt er einfach
eine neue Richtung ein, und versucht so vom Fehler abzulenken.
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O-Ton: Jaki Liebezeit
„Das Schlimmste ist, aus dem Takt zu kommen - taktlos zu sein. Das passiert immer wieder,
meistens fällt es nicht auf, oder man kann das auch oft vertuschen: Man macht einen Fehler
und dann wiederholt man den Fehler mehrmals, so dass man denkt, es ist absichtlich
gewesen.“
Musik: Irmler/Liebezeit „König Midas“
O-Ton: Hans-Joachim Irmler
„Es gibt keine Regel in der Musik, auch wenn die Herrschaften uns das versuchen einzubläuen.
Genauso wenig wie ein Taktmaß, das ist immer davon abhängig wie man atmet.“
Sprecher:
Für Hans-Joachim Irmler, dem Keyboarder der Krautrock-Legende FAUST, zählt ganz alleine die
Improvisation, die Musik im Moment - die Klänge fließen durch ihn als Musiker hindurch.
O-Ton: Hans-Joachim Irmler
„Man kann nicht sagen, jemand würde mir jetzt Mozart original am Flügel spielen können. Selbst
Mozart würde es nicht mehr hinbekommen wie er es mal gespielt hat. Es gibt keine Fehler in
dem Sinne. Es gibt natürlich schon Missklänge, die mir nicht gefallen in dem Augenblick,
aber das heißt nicht, dass einem anderen nicht genau das gefällt.“
Musik: Pole „Wipfel Dub“
Sprecher:
Für den Musiker, Produzent und Labelbetreiber Stefan Betke wird der Fehler in der Musik zum
regelrechten ästhetischen Markenzeichen. Das Spiel mit dem Unkontrollierbaren definiert den
charakteristischen Dub-Sound seines Musikprojekts Pole. Und alles hat angefangen mit einem
defekten, analogen Synthesizer-Filter - ein kleines elektronisches Gerät, nur etwa halb so groß wie
ein Laptop.
Musik: Pole „Wipfel Dub“
O-Ton: Stefan Betke
„1997 war es, da habe ich einen Waldorf-4-Pole-Filter geschenkt bekommen - von Freunden, die
bei mir übernachtet haben und sozusagen als Dankeschön mir diesen Filter gegeben haben.
Und der war heruntergefallen und kaputt. Dem habe ich erst mal keine große Beachtung
geschenkt. Ich hab mir gedacht: Vergiss es, den bringst du irgendwann mal in Reparatur und
dann wird das schon. Ich habe ihn aber trotzdem mal kurz an ein Mischpult angeschlossen,
um zu kucken, was er eigentlich noch macht und was er nicht mehr macht. Und er hat
eigentlich nur geknackst. Und dann nach einer gewissen Zeit fiel mir auf, dass da immer noch
was auf dem Mischpult rum blinkt und dann habe ich den angemacht und der knackste halt
immer noch vor sich hin. Das war ein halbes Jahr später, nachdem ich den bekommen habe.
Und irgendwie fand ich das Knacksen aber zu der anderen Musik, die da zufällig über das
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Mischpult lief, relativ interessant und hab dann dem Fehler mehr Augenschein gegeben als
dem eigentlichen programmierten Rhythmus.“
Sprecher:
Wie Stefan Betke alias Pole findet jeder Laienmusiker, jeder Autodidakt, der sich von den
mathematischen Strukturen der Notation abwendet, im potenziellen Fehler auch den Reiz des
Zufalls: das Prinzip der Aleatorik.
Musik: Miles Davis „Pharaoh`s Dance“
Sprecher:
Aleatorik - abgeleitet von lateinisch der Würfel - ist der bewusste Umgang mit dem
Unvorhersehbaren, den Überraschungen in der Komposition wie der Interpretation. Der Jazz und
die improvisierte Musik leben davon!
O-Ton: Adina Mornell
„Es ist ein Irrtum, wenn man meint die Jazzer sind freier, weil sie falsch spielen können, und
entweder das merkt keiner oder das gehört dazu. In der Regel sind Jazzmusiker genauso
perfektionistisch, sie haben genauso hohe Ansprüche und sie haben genauso ein Klangbild
und meinen, dass ihr Spiel entweder zu dem Klangbild gepasst hat oder nicht. Der
Unterschied ist natürlich, dass wenn ich in der Jazzmusik einen anderen Ton spiele als ich
vielleicht ursprünglich geplant habe, dann kann ich den anders auflösen und daraus kann was
ganz Geniales entstehen. Wenn ein klassischer Musiker einen vermeintlich falschen Ton
spielt und den umspielt, dann könnte ja jemand kommen und sagen: Aber das ist jetzt nicht
stilecht, das hat Liszt nicht so geschrieben.“
Sprecher:
Unstimmigkeiten und Interpretationsfehler sind zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle klangund stilbildend und werden zur musikalischen Eigenart, zur individuellen Note des Künstlers.
Musiker bewegen sich jedoch in der Praxis auf dem schmalen Grat zwischen Streben nach
Perfektion und Vermeiden des Scheiterns. Für Adina Mornell, Professorin für Instrumental- und
Gesangspädagogik, entsteht dazwischen jedoch ein Raum für das Lernen. Wenn es so etwas wie
musikalische Ethik gibt, dann ist die Frage nach Gut und Böse immer auch eine pädagogische
Frage. Doch gibt es überhaupt richtig und falsch in der Musik?
Musik: Johannes Brahms „Op.49 No.4 Wiegenlied“
O-Ton: Prof. Dr. Adina Mornell
„Die sogenannte richtige Interpretation ist eigentlich eine Fiktion. Denn erstens lebt heute keiner,
der gelebt hat zu Zeiten von Bach, Beethoven und Brahms. Und zweitens hat sogar Brahms
selber gesagt: Es gäbe keine richtige Interpretation, denn er selbst würde jedes Mal seine
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Werke anders spielen - sonst ist es kein lebendiges Werk. Aber es gibt schon so eine Art
Fehlerpolizei. Gerade weil an Musikhochschulen Noten vergeben werden müssen für gute
und weniger gute Darstellungen. Und das ist jetzt das Problem des Studenten, diese
Gratwanderung zwischen: Ich will das so gut spielen, dass es auch zu einer guten Note führt,
ich will das so spielen wie der Komponist das gemeint hat, wie mein Hauptfachlehrer mir das
beibringt, dass der Komponist das gemeint hat, aber ich möchte auch was Neues entdecken in
der Musik, denn wenn ich nichts Neues entdecke in der Musik, dann brauche ich das Werk
gar nicht zu spielen. Denn es gibt dann tausend andere, die das auch so perfekt spielen
können.“
Musik: Lambert „Ich bin viel zu lange gegangen“
Sprecher:
Nun ist jeder Musiker doch immer auch Hörer und Fan. Er kennt beide Seiten: die auf der Bühne
und die im Publikum. Warum erleben also Musiker den Umgang mit Fehlern vielfach angstbesetzt
und möchten Fehler auf Teufel komm raus vermeiden, der exzellenten Leistung wegen? Wie soll
aus einem Perfektionswahn eine positive Fehlerkultur entstehen?
O-Ton: Prof. Dr. Adina Mornell
„Ich würde eher sagen, dass die Entwicklung dahin geht, dass Musiker wenn sie an der Hochschule
anfangen viel besser spielen können als ihre Kollegen vor zehn oder zwanzig Jahren. Das
heißt, die Trainingsstrategien haben sich verbessert, der Umgang mit dem Lernen, mit dem
Üben wird immer weiter optimiert. Wir lernen sehr viel aus der Sportpsychologie. Das heißt,
Musiker üben heutzutage besser, effizienter, zum Teil auch länger. Und dann sind sie, wenn
sie ins Tonstudio gehen, sehr gut vorbereitet auf die Aufnahme. Dann ist es letztendlich nur
die Frage, ob sie sich selbst die persönliche Freiheit geben, so zu spielen wie sie spielen
möchten. Und diesen Anspruch: jeder Ton muss perfekt sein, erst mal ausblenden, und nur
musizieren.“
Musik: The Beatles „Happiness Is A Warm Gun“ (Anthology 3)
Sprecher:
Einfach musizieren, keine Angst vor Fehlern haben, die musikalischen Unschärfen lieben lernen.
Musik: The Beatles „Happiness Is A Warm Gun“ (Anthology 3)
Sprecher:
Die Abweichung von der Norm schafft den kreativen Freiraum. Lernen beinhaltet nun mal
Scheitern.
Musik: F.S.K. „Nocturne“
Sprecher:
Für den Autor, DJ und Musiker Thomas Meinecke wirft der Fehler in der Musik Fragen auf:
O-Ton: Thomas Meinecke
„Man denkt oft: Mensch, können die überhaupt, oder wollen die nicht, oder wollen sie vielleicht
und dürfen nicht? Und in dieser Diskrepanz, das ist interessant, sich zu überlegen, was die
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jeweiligen Musiker so drauf haben, ob sie sozusagen absichtlich falsch spielen oder
versehentlich falsch spielen oder so langweilig richtig - das gibt es ja leider auch, ganz viel im
Jazz, dass man einen große Sehnsucht bekommt, dass endlich mal ein Fehler passiert.“
Sprecher:
Das Brechen mit Konventionen führt auf neue Wege. Fällt ein Ton aus dem Kontext, entsteht ein
anderer Bedeutungszusammenhang - das mag mal verstörend sein, mal entrückend und mal
richtig bezaubernd. Immer aber ist es eine Entdeckungsreise - für den Musiker und für den
Hörer. Das macht die Musik spannend, unterhaltsam, ja außergewöhnlich. Doch jeder muss
wohl für sich das richtige Maß an „menschlichem Makel“ in der Musik finden.
O-Ton: Thomas Meinecke
„Ich glaube, dass nur ganz bestimmte Fehler gut sind. Ich glaube, dass der richtige Dilettant, der
einfach gar nichts kann, der wird seine Hörer nicht finden. Ich glaube schon, dass der Fehler
nur dann charmant ist, wenn er nonchalant ist, wenn er sozusagen mit Lässigkeit und mit
Stilbewusstsein platziert ist. Ich glaube an Fehler als Akzent.“
Sprecher:
Der Fehler als Akzent, als stilbewusstes Element. Doch erst in der Überwindung des ständigen
Strebens nach Perfektion und Effizienz in Zeiten des Selbstoptimierungswahns kann so etwas
wie eine positive Fehlerkultur entstehen. Lernen wir sie also lieben, die Schönheit des
Scheiterns, die akustische Unschärfe!
Musik: Beethoven „Ode an die Freude“
Extra-Sprecher:
Sie hörten: „Ode an den Fehler - über den Reiz musikalischer Unschärfen“. Ein Feature von Andi
Hörmann. Es sprachen: Catherine Janke und Christoph Wittelsbürger. Ton und Technik: Ernst
Hartmann und Hanna Steeger. Regie: Susanne Krings. Redaktion: Klaus Pilger. Produktion:
Deutschlandfunk 2015
O-Ton: Thomas Meinecke
„Musik hat immer Recht und ich kann versagen.“
ENDE
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