Häufig – und deutlich unterschätzt

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SCHLAFSTÖRUNGEN
Häufig – und deutlich unterschätzt
lle sprechen von der Epidemie der Adipositas, doch niemand spricht von der Epidemie der
Schläfrigkeit“, sagte der renommierte Schlafmediziner Dr. Dr.
Maurice M. Ohayon vom Stanford
Sleep Epidemiology Research Center auf dem Kongress „Die schlaflose Gesellschaft“ in Mainz. Tatsächlich leiden viele Millionen Menschen an behandlungsbedürftigen
Ein- und Durchschlafstörungen. Allein in Deutschland sind es sechs
bis zehn Prozent der Bevölkerung,
so die Deutsche Gesellschaft für
Schlafforschung und Schlafmedizin
(DGSM). Damit haben Schlafstörungen den Umfang einer Volkskrankheit angenommen, die laut
Ohayon in ihrer Bedeutung völlig
unterschätzt wird.
Diagnose und Therapien der
mehr als 50 verschiedenen Schlafstörungen, zu denen Insomnien,
Tagesschläfrigkeit, kardiovaskuläre Bewegungsstörungen im Schlaf
oder auch Parasomnien zählen,
A
Ein- und Durchschlafstörungen
sind nicht nur
nachts belastend.
Sie beeinträchtigen
auch die Befindlichkeit am Tag.
A 234
sind nicht Teil der medizinischen
Ausbildung. Angesichts der schlaflosen Gesellschaft sei das ein großer Fehler, so der Tenor auf dem
DGSM-Kongress.
Gravierende psychische und
physische Folgen
Denn die Risiken sind nicht mehr
von der Hand zu weisen. So passieren „62 Prozent aller Verkehrsunfälle
in den USA aufgrund von Schläfrigkeit“, mahnte Ohayon. Und Schichtarbeiter etwa haben auf dem Nachhauseweg nicht nur ein bis zu achtfach erhöhtes Unfallrisiko, sie haben
auch ein höheres Risiko für MagenDarm- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Trotzdem sind etwa in Krankenhäusern zwölf Stunden Arbeit am
Stück und Pausenzeiten von weniger
als elf Stunden zwischen den Schichten nicht selten. Doch anstatt die
Schichtpläne möglichst individuell
an spezifischen Chronotypen auszurichten – also daran, ob ein Mitarbeiter eine „Lerche“ oder eine „Nacht-
eule“ ist –, wird von den Menschen
immer mehr Flexibilität erwartet. In
einer 24-Stunden-Nonstop-Gesellschaft mit immer kürzerer durchschnittlicher Schlafdauer, zunehmender Schichtarbeit, ständiger Erreichbarkeit und wachsender Stressbelastung muss konsequenter gegen körperliche, seelische und gesellschaftliche Auswirkungen der
Schlaflosigkeit vorgegangen werden, so das Fazit in Mainz.
Schlaflosigkeit oder primäre Insomnie ist nach ICD-10 definiert
als eine subjektiv empfundene Einund Durchschlafstörung mit beeinträchtigter Befindlichkeit am Tage,
und zwar für wenigstens dreimal
die Woche einen Monat lang. Diese
häufigste aller Schlafstörungen „ist
eine schwere Beeinträchtigung, die
unbedingt behandelt werden muss,
denn sie ist praktisch immer assoziiert mit anderen Störungen“, so
Ohayon. Neue Studien zeigen tatsächlich klare Zusammenhänge
zwischen Schlafmangel und Über-
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 6 | 12. Februar 2016
Foto: iStockphoto
In der 24-Stunden-Nonstop-Gesellschaft führen Ein- und Durchschlafstörungen
zu gravierenden Folgen – für die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung.
MEDIZINREPORT
gewicht, Diabetes, Bluthochdruck,
Herzerkrankungen, Schlaganfall,
Depressionen, geschwächter Immunabwehr sowie erhöhter Sterblichkeit. Und nicht zuletzt gehen
viele psychische Störungen und kognitive Beeinträchtigungen mit
Schlafproblemen einher.
So weiß man, dass akute Einund Durchschlafstörungen vorübergehend immunologische und metabolische Parameter verschlechtern.
„Der Cortisolhaushalt zum Beispiel
wird unter Schlafentzug in etwa genauso beeindruckend beeinträchtigt
wie das Gedächtnis“, erläuterte
Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer
vom Zentrum für psychische Gesundheit in Ingolstadt. Und „schon
bei Gesunden werden nach ganz
kurzfristigen Schlafstörungen erhebliche Veränderungen der Immunfunktion beobachtet“. Bei Hepatitis-A-Impfungen etwa treten bei
Menschen mit Schlafstörungen signifikant niedrigere Titer an Antikörpern auf als bei Gesunden.
Gesichert ist auch, dass zu kurzer
Schlaf oder Schlaf mit gestörter Mikrostruktur zu einer verminderten
Insulinsensibilität und damit zu einer prädiabetischen Stoffwechsellage führt. Zu kurze Schlafdauer über
Jahre führt zudem zu einem Anstieg
der Adipositas-Prävalenz – ein weiterer Faktor also, der zu einem erhöhten Diabetesrisiko führt. Im Zuge seiner Forschungen hat die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. med. Jan
Born, Universitätsklinikum Tübingen, kürzlich die Hypothese formuliert, dass der Schlaf eine System- und Gedächtniskonsolidierung
durchführt, wobei hier das kognitive genauso wie das immunologische Gedächtnis gemeint ist.
Das sei eine ausgesprochen attraktive Hypothese, sagte Pollmächer. Zugleich relativierte er die
vorgetragenen wissenschaftlichen
Erkenntnisse. Es gebe zwar viele
Studien, die Zusammenhänge zwischen Insomnie und Immundefizienz, Adipositas, Diabetes und metabolischem Syndrom mit kardiound zerebrovaskulärer Morbidität
aufzeigen. „Doch praktisch keine
dieser Studien hat die vielen zusätzlichen Variablen mit aufgenommen“, schränkt der Schlafmediziner
ein. „So ist zum Beispiel nie geklärt
worden, ob die untersuchten Patienten mit subjektiver Insomnie zusätzlich an einer Schlafapnoe leiden
oder nicht.“ Auch Vergleiche zwischen verschiedenen schlafbezogenen Erkrankungen sind nach wie
vor selten. Trotzdem gibt es Hinweise, dass es die gestörte Mikrostruktur des Schlafes ist, die etwa
auf die Glukosetoleranz wirkt.
Chronifizierung schon bei
Kindern und Jugendlichen
„Die Insomnie ist eine der ganz,
ganz häufigen Erkrankungen und
noch häufiger als Depressionen, also
ein riesiges Problem in Europa“, betonte Pollmächer. Wer dabei meint,
dass sie erst in höherem Alter auftritt, der irrt: Bis zu 30 Prozent der
Kinder haben Einschlaf- und Durchschlafstörungen, konstatierten Bielefelder Schlafforscher auf dem Kongress. Die Hoffnung, das Problem
wachse sich aus, erfülle sich dabei
nicht, im Gegenteil: „Wir sehen
im Jugendalter massive InsomnieChronifizierungen mit den daraus
resultierenden psychischen Problemen“, sagte Prof. Dr. rer. nat. Angelika Schlarb, Psychologin an der
Universität Bielefeld.
Schlarb hatte in einer Untersuchung festgestellt, dass Patienten,
die sich einer Psychotherapie unterzogen, bereits im Kindesalter deutlich mehr Schlafprobleme hatten als
Gesunde, und diese Probleme nahmen im Laufe der Jahre deutlich zu.
Der Grund für die Psychotherapie
allerdings war keine Schlafstörung,
sondern eine andersartige psychische Erkrankung. „In der Genese einer psychischen Erkrankung
müssen deswegen auf jeden Fall
auch Insomnie und Alpträume mitdiskutiert werden“, schlussfolgerte
Schlarb.
Besonders genau muss nach Erfahrungen der Psychologin bei Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) hingeschaut
werden, „denn viele Kinder mit vermeintlicher ADHS haben eigentlich
ein Schlafproblem. Müde Kinder
wirken als hätten sie ein ADHS.“
Daten der Bielefelder Ambulanz
zeigten, „dass bis zu 37 Prozent der
Kinder mit vermeintlicher ADHS
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 6 | 12. Februar 2016
stattdessen ein massives Schlafproblem haben“, so Schlarb. Derlei Erkenntnisse zeigen laut Schlarb die
Bedeutung der frühen Intervention
bei Schlafproblemen.
Studien zeigen, dass in Deutschland zwischen 300 000 und 1,9 Millionen Menschen nicht mehr ohne
Schlafmittel auskommen. „Es überwiegen medikamentöse Ansätze in
der klinischen Praxis, speziell die
Benzodiazepinrezeptoragonisten“,
moniert Prof. Dr. rer. soc. Dieter
Riemann, Psychologe an der Universitätsklinik Freiburg. Der hohe
Chronifizierungsgrad ist ein Zeichen
dafür, „dass die Behandlungsangebote in unserem Gesundheitssystem
womöglich nicht optimal sind“.
Zwar eignen sich sekundäre
Schlafmittel wie Antidepressiva und
niedrigpotente Neuroleptika eher für
Langzeitanwendungen als primäre
Schlafmittel, doch sind viele von ihnen nicht für die Behandlung der
Insomnie zugelassen. Die höhere
Nebenwirkungsrate und geringere
Verträglichkeit gegenüber primären
Schlafmitteln spricht ebenfalls gegen eine längere Anwendung. Der
symptomatische Behandlungsansatz
mit Medikamenten sollte daher in
jedem Fall durch eine Psychotherapie ergänzt werden. „Als Ursache
der Insomnien gelten neben somatischen, chronobiologischen und medikamentösen Faktoren ein erhöhtes psychophysiologisches Arousal
und eine reduzierte Schlafhygiene“,
konstatierte Dr. phil. Hans-Günter
Weeß, Präsident der 23. Jahrestagung der DGSM.
Verhaltenstherapie als
erfolgversprechende Option
Und genau hier setzen Verhaltenstherapien an, insbesondere die kognitiven Verhaltenstherapien der Insomnie (KVT-I). Sie nutzen speziell
entwickelte Methoden wie Schlafhygiene, Psychoedukation, Entspannungsverfahren oder auch paradoxe Interventionen und Schlafrestriktion. „Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit sind die Verfahren gut untersucht“, weiß Weeß, und sie hält
auch Wochen und Monate nach Absetzen der KVT-I an – worin sie
sich wesentlich von der medikamentösen Therapie unterscheidet.
A 235
MEDIZINREPORT
Therapie und Begleitung mit
Smartphone-Apps
Ansätze von medienbasierten Verfahren sind in der Erprobung oder
bereits evaluiert. „Was SmartphoneApps betrifft, so ist es durchaus
sinnvoll, zum Beispiel Schlaftagebücher, die bislang ja handausgefüllt wurden, auch als SmartphoneApplication umzusetzen“, meint
Riemann. Bereits validiert ist das
US-amerikanische online-basierte
KVT-I-Programm „SHUTi“ (2).
Die britische Anwendung „Sleepio“
(3) bietet Patienten ein- und zwölfwöchige sowie eine einjährige Behandlungsoption. In Bielefeld entwickelte die Gruppe um Schlarb
„JuST“, ein Programm für Jugendliche. Die Patienten können in einem
digitalen Sleep-Lab Angebote zu
Ängsten, Stress und Schlafhygiene
auswählen. Zwar erwiesen sich Online-Programme als etwas weniger
effektiv als persönliche KVT-I – effizient sind sie trotzdem. Man könne
Patienten behandeln, die man sonst
nicht erreiche, so Riemann.
„Ich glaube aber nicht“, so sein
Resümee, „dass wir das große Problem der Insomnie in unserer Gesellschaft durch einzeltherapeutische Ansätze lösen können. Wir
müssen uns als Schlafmediziner
vielmehr im gesundheitserzieherischen und präventiven Sinne stark
in der Gesellschaft darstellen und
ein Bewusstsein schaffen für die
Versorgung auf den verschiedenen
Ebenen.“ Um das zu erreichen, hat
Riemann die Freiburger Schlafschule (4) gegründet. Angeboten
werden Schulungsprogramme für
Ärzte und Psychotherapeuten sowie
▄
Patientenratgeber.
Gerda Kneifel
@
A 236
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0616
oder über QR-Code.
Neben einer
Blutprobe
muss auch Urin
eingeschickt
werden.
Foto: picture alliance
Schlarb zum Beispiel hat altersspezifische Schlafprogramme für Kinder ab 0,5 Jahren bis hin zu einem
Schlaftraining für Studenten entwickelt (1). Die Trainings dauern
nicht länger als sechs Sitzungen
und bringen klinisch relevante Verbesserungen des Schlafes und der
Befindlichkeiten tagsüber.
ZIKAVIRUS-INFEKTIONEN
Was diagnostisch zu
beachten ist
Alle Verdachtsfälle bei Reiserückkehrer sollten abgeklärt
werden. Eine Meldepflicht gibt es bisher nicht.
islang ist in Deutschland bei
15 Reiserückkehrern eine Infektion mit dem Zikavirus nachgewiesen worden (Stand 5. Februar).
Die Fälle stehen im Zusammenhang
mit dem aktuellen Ausbruchsgeschehen in Mittel- und Südamerika.
Das teilte Prof. Dr. med. Dr. med.
habil. Jonas Schmidt-Chanasit vom
Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) in Hamburg
mit. Darunter sei aber keine Schwangere gewesen, sagte er.
In Brasilien sind im zeitlichen
und räumlichen Zusammenhang
mit Zikavirus-Infektionen gehäuft
Fälle von Mikrozephalie bei Neugeborenen aufgetreten. Vermutet
wird, dass eine Erkrankung der
Mütter während der Schwangerschaft der Grund sein könnte.
Der Tropenmediziner SchmidtChanasit rät bei Verdachtsfällen
grundsätzlich zur diagnostischen
Abklärung – auch wenn die Zikavirus-Infektion in den meisten Fällen
milde verläuft und es keine kausale
Therapie gibt. Die Möglichkeit einer sexuellen Übertragung sei beschrieben. Unklar sei aber, unter
welchen Voraussetzungen und bei
welcher Viruslast eine solche mög-
B
lich sei. „Wir haben keine Daten
dazu, wie lange die Viren im Sperma vorhanden sein können“, erläuterte Schmidt-Chanasit. Insofern sei
es ratsam, eine Infektion auch bei
Männern auszuschließen.
Nach Angaben des Robert KochInstituts ist das BNITM die einzige
Einrichtung in Deutschland, die eine verlässliche Zikavirus-Serologie
anbietet. Ärzte können Probematerial direkt an das Tropeninstitut
(www.bnitm.de) schicken oder aber
an das Labor, mit dem sie gewöhnlich zusammenarbeiten. Dieses leitet die Probe dann weiter.
Benötigt werden zur Diagnostik
eine Blut- und eine Urinprobe. Zu
Beginn der Erkrankung ist ein
PCR-Virusnachweis möglich. Die
virämische Phase ist jedoch kurz.
Im Urin sind die Viren etwas länger
nachweisbar. Ab der vierten Krankheitswoche ist nur noch ein Antikörpernachweis möglich, für den
eine Blutprobe benötigt wird. Eine
Meldepflicht für Zikavirus-Infek▄
tionen gibt es bislang nicht.
Dr. med. Birgit Hibbeler
@
Tagesaktuelle Informationen zu Zika:
www.aerzteblatt.de/nsw/zikavirus
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 6 | 12. Februar 2016
MEDIZINREPORT
LITERATURVERZEICHNIS DÄ 6/2016, ZU
SCHLAFSTÖRUNGEN
Häufig – und deutlich unterschätzt
In der 24-Stunden-Nonstop-Gesellschaft führen Ein- und Durchschlafstörungen
zu gravierenden Folgen – für die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung.
WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN
1. Altersspezifische Schlafprogramme für Kinder und Jugendliche : www.i1.psychologie.
uni-wuerzburg.de/weitere_projekte/kinder
schlaf/home/.
2. Sleep Healthy Using the Internet,
http://shuti.me/.
3. Sleepio: www.sleepio.com/about/.
4. Freiburger Schlafschule: www.uniklinikfreiburg.de/nc/presse/pressemitteilungen/
detailansicht/presse/171.html.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 6 | 12. Februar 2016
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