352 353 Rezension nur paraphrasierend vorgestellt. Analytisch und damit kritisch distanziert Luhnen dagegen die „hypertrophe Konzeption ästhetischen Erlebens" (742-788) und damit die historische Überforderung der Kunst im Prozess der politischen Geschichte. Zu erheblichen und - so steht zu hoffen - kontroversen Diskussionen dürften Luhnens Thesen von einer fundierenden Naturphilosophie Hölderlins (152ff.), einem über Kant hinausgreifenden (d.h. auf Locke zurückfallenden) epistemologischen Empirismus (108ff.) oder einer substanziellen Veränderung seiner Metaphysik gegenüber dem Jenaer Modell aus 'Urtheil und Seyn' (200) führen. Dieser meisterhaften Studie ist eine ebenso breite wie streitbare Wahrnehmung zu wünschen; auch die Hölderlin-Forschung könnte von solcher Kontroverse erheblich profitieren. Gideon Stiening Pietro Massa: Carl Orffs Antikendramen und die Hölderlin-Rezeption im Deutschland der Nachkriegszeit, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2006, 266 s. Pietro Massas Dissertation (FU Berlin 2005) stellt die erste wissenschaftliche Monographie über Carl Orffs Antikendramen aus einer interdisziplinären Perspektive dar und versucht dementsprechend, zerstreut vorliegende Teilanalysen zu einem Gesamtbild zu vervollständigen; das geschieht auch durch die verdienstvolle Erstedition unveröffentlichter Quellen aus dem Münchner Carl-Orff-Archiv im Anhang. Die Ergebnisse sind für die Hölderlin-Forschung von Interesse, nicht nur weil bekanntlich zwei der Antikendramen Vertonungen von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen ('Antigone', 1949; 'Ödipus der Tyrann', 1959) und demnach wichtige Beispiele dafür sind, wie dessen Texte Eingang auf der Bühne gefunden haben, sondern auch wegen des von Massa skizzierten Zusammenhangs zwischen Orffs musikalischen Tragödien und der gesamten, kritischen wie produktiven Hölderlin-Rezeption von der so genannten Renaissance um 1910 bis zu den 1950er Jahren. Es ist Massas Anliegen, gerade diesen Zusammenhang im Gegensatz zu dem in der Orff-Forschung gängigen, nicht immer harmlosen Mythos vom Einzelgänger herauszustellen. Der Titel des Buches ist teilweise irreführend, da dort lediglich die Nachkriegszeit genannt wird, während Teile der Arbeit der Hölderlin-Rezeption in den Jahren 1919-1945 gewidmet sind - mit vollem Recht, denn, wie Massa präzise anhand von Hellmuth Flashars grundlegender Studie zur 'Inszenierung der Antike' darlegt, vor allem Orffs 'Antigone'-Vertonung stammt in direkter Linie von Wilhelm Michels Bearbeitung (Uraufführung 1923) und Lothar Müthels höchst suspekter Wiener Aufführung (1943) ab. Deshalb wäre mit gutem Grund die These aufzustellen, dass Orff eigentlich die letzte Etappe und damit auch den endgültigen Abschied von jener Form der Hölderlin-Rezeption darstellt - Massa deutet lediglich kursorisch darauf hin; dem Leser drängt sich aber durch die hier versammelten Materialien und in Anbetracht der Entwicklung der Aufnahme Hölderlins auf den deutschsprachigen Bühnen nach 1945 eine solche Schlussfolgerung auf. CH 36, 2008-2009, Tübingen 2009, 353-357. HöLDERLIN-jAHRBU[HJb] 354 Pietro Massa: Carl Orffs Antikendramen Rezension Leider sind Massas Buch - bis auf die Umschlagabbildung - keine Bilder beigegeben, die gewiss den allzu spärlichen Überlegungen über die Aufführungspraxis mehr Nachdrücklichkeit verliehen hätten. Das spiegelt übrigens eine Eigenart der ganzen Studie wider, die sich eher am Rande mit theaterwissenschaftlichen Fragen - einschließlich derer des Musiktheaters - beschäftigt und erst im zweiten Teil des letzten Kapitels eine spezifisch musikwissenschaftliche Analyse von neun Musikbeispielen leistet. Massa geht vielmehr den verschiedenartigen kulturellen Voraussetzungen nach, die auf Orffs Hölderlin-Vertonungen Einfluss gehabt haben, indem er das intellektuelle Umfeld des Komponisten in den Mittelpunkt stellt. Im ersten Kapitel wird der lange Weg von Mendelssohns Szenenmusik für die epochale Potsdamer 'Antigone'-Aufführung 1841 bis zum Vertrag zwischen Baldur von Schirach und Carl Orff verfolgt. Massa geht hier im Gegensatz zu einem Teil der Orff-Forschung sehr präzise und anhand neuester Forschungsergebnisse auf den schändlichen Ersatzcharakter ein, den die geplante, erst unter anderen Verhältnissen fertig gestellte Vertonung Orffs für die aus rassistischen Gründen verpönte Musik Mendelssohns hatte. In den folgenden Kapiteln werden „ Wechselwirkungen zwischen Carl Orff und dem deutschen Musik- und Sprechtheater, der Altphilologie, Philosophie und Germanistik" gesichtet (15): die Aufführungs- und Bearbeitungsgeschichte von Hölderlins 'Antigone' zwischen 1919 und den ersten Nachkriegsjahren (allzu knapp, Kap. 2); Martin Heidegger und insbesondere dessen Deutung von Hölderlins Übersetzung des ersten 'Antigone' -Chorlieds in der 'Ister'-Vorlesung (Kap. 3); Wolfgang Schadewaldts Begriff des "dokumentarischen Übersetzens" (Kap. 4); die so genannte "Neu-Bayreuther Ära" unter der Intendanz Wieland Wagners und dessen Inszenierungsstil bis zur beispielhaften Stuttgarter Aufführung von Orffs 'Antigone' im Jahre 1956 (Kap. 6); die Auseinandersetzung der Regisseure Gustav Rudolf Sellner und Günther Rennert mit der antiken Tragödie auf der deutschen Nachkriegsbühne und mit Orffs Wiederbelebung derselben (Kap. 7); die Untersuchungen von Thrasybulos Georgiades über Metrik und Musik der alten Griechen (Kap. 8, § 2). Im wohl als zentral intendierten 5. Kapitel versucht Massa, durch eine detaillierte Wiedergabe von Schadewaldts Ausführungen über Hölderlin dessen These von einer angeblichen Hölderlinschen "Trilo- 355 gie" 'Der Tod des Empedokles' - 'Oedipus der Tyrann' - 'Antigone' als Pendant zur Sophokleischen „Trilogie" 'Antigone' - 'König Oedipus' 'Oedipus auf Kolonos' zu erweitern: Wiederum auf der Basis von Schadewaldts Orff-Deutung und anhand bislang unveröffentlichter Briefe des Philologen an den Komponisten deutet er das dritte Antikendrama, die Vertonung von Aischylos' originalsprachigem 'Prometheus' (1968), als letztes Kettenglied der imaginären Linie Kolonos - Empedokles und dementsprechend als „Folge einer geistigen Anknüpfung an Hölderlins Rezeption der attischen Tragödie" (105). Auf diese ziemlich forcierte Weise soll nicht nur die Umschlagabbildung gerechtfertigt werden, die den gefesselten Helden aus einer im Band nicht erörterten Inszenierung von Orffs 'Prometheus' (1968, Bayerische Staatsoper) zeigt, sondern auch die fragwürdige Integration in die Analyse der doch etwas andersartigen Fragestellungen, welche durch die Wiederaufnahme und Vertonung des altgriechischen Textes auf der Bühne entstehen - zu schweigen von dem noch fragwürdigeren Verfahren, die vermeintliche Wechselwirkung zwischen Alt- und Neuphilologie in Sachen Sophokles und Hölderlin einerseits und Orffs Antikenvertonungen andererseits lediglich durch eine eindimensionale und unkritische Zusammenfassung von Schadewaldts Sophokles-, Hölderlin- und Orff-Studien als bewiesen zu suggerieren.! Wenn im ersten Kapitelteil Schadewaldts Studien 'Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin' (1952), 'Hölderlins Weg zu den Göttern' (1956), 'Die ,Empedokles,-TragödieHölderlins' (1960), 'Hölderlins Übersetzung des Sophokles' (1956) resümiert werden, bilden in den darauffolgenden Seitendessen teilweise unveröffentlichteAussagen über Orffs Dramen - synthetisierbar in der „Behauptung,daß die griechischeTragödie durch Hölderlin und Orff zu einer neuen Vergegenwärtigunggefunden habe" (116) - die einzige, mehrfach zitierte Quelle. Drei gute Seiten Schadewaldt-Literatur im „Altphilologische und geisteswissenschaftlicheSekundärliteratur" betitelten, aus fünf Seiten bestehenden letzten Teil des Literaturverzeichnissesbestätigen den Eindruck, dass Massa kaum sonstige Studien etwa aus der Hölderlin-Forschung zu Rate gezogen hat: Sein Hölderlin-Verständnis,was sowohl die 'Empedokles'-Tragödie, als auch die Sophokles-Übersetzungenangeht, basiert so gut wie nur auf Schadewaldt. Eine ähnliche, uneingeschränkt auf eine einzige wie auch immer wichtige Quelle fußende Sicht zeigt Massa in Sachen Hölderlins Theaterrezeption, bei der Heilmut Flashars Monographie 'Inszenierung der Antike' (1991) förmlich geplündert wird (siehevor allem Kap. 2). t 356 Rezension Kapitel 5 ist übrigens allgemein kennzeichnend für Massas Herangehensweise, die m.E. auch für die im Ganzen wenig befriedigenden Ergebnisse der Analyse verantwortlich zeichnet. "Wie stark historisch geprägt die Hölderlin-Rezeption des Komponisten und sein Verhältnis zum Text gewesen sind" (15), wird der Leser wohl durch eigene hermeneutische Anstrengung schließen müssen, da Massa hier oft nicht über eine (durchaus löbliche) Materialbeschaffung hinausgeht. Unbesprochen bleiben etwa nicht nur der konkrete Einfluss von Heideggers resümeeartig erwähnten 'Hölderlin'-Erläuterungen auf Orffs Arbeit oder die Spannung zwischen Brechts und Orffs so gut wie gleichzeitigen Nachkriegs-'Antigonen' - es sei denn, man begnüge sich mit verschwommen gehaltenen „ideellen Verbindungen" und „geistigen Anknüpfungen" für den einen, mit „entgegengesetzten Positionen" in einer „Konkurrenzsituation" für den anderen Fall: Unzureichend muss auch die stückweise geleistete Interpretation von Orffs Hölderlinvertonungen erscheinen, welche nur wieder zum kaum spektakulären Schluss kommt, Orff habe sich „intensiver mit Hölderlins Wort als mit der antiken Grundlage auseinandergesetzt". (213) Neben der Herausgabe von für die Orff-Forschung und die deutsche Geistesgeschichte wichtigen Dokumenten (Anhang: ,,Aus bisher unveröffentlichter Korrespondenz im Umfeld der Antiken-Trilogie und ein Interview mit Carl Orff", 225-246) erfüllt Massas Studie nur teilweise und lediglich deskriptiv die selbstgestellte Aufgabe, Orffs Antikendramen als „Zusammentreffen von Geisteswissenschaft, Musik- und Sprechtheater" (5) darzustellen. Die „Einordnung [... ] in den [... ] Kontext der deutschen Nachkriegszeit hat historische Voraussetzungen zu Tage gefördert, die tief in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur zurückreichen" (219) - das kann zwar als erwiesen gelten, aber sicher nicht erst hier. Weitere im knappen Absatz "Deutungsversuche" (219-223) erörterte Punkte - etwa die Tatsache, dass "mit dem für 'Prometheus' gewählten Instrumentalkörper [... ] Orff der hölderlinschen Auffassung [des Orientalischen, M.C.] zu entsprechen" scheine - sind eher als offene Fragen denn als Ergebnisse aufzufassen. Anregend für zukünftige Studien und für die 2010 stattfindende, dem Thema ,,Hölderlin und das Theater" gewidmete Tagung der Hölderlin-Gesellschaft wirken vielmehr andere, in Massas Studie eher am Rande oder ex negativo auftauchende Fragestellungen, etwa die im Gegensatz zum Pietro Massa: Carl Orffs Antikendramen 357 Verlust an Aktualität von Orffs Antikendramen nachhaltigere Wirkung von 'Antigone'-Bearbeitungen, die Hölderlins Text nicht als unantastbares Allerheiligstes, sondern als Ausgangspunkt für als work in progress geltende Bühnentransformationen betrachtet haben (siehe über Brechts 'Antigone', 70), oder die mögliche, wie auch immer verfremdete Weiterwirkung von Schadewaldts Bezeichnung „Wortvisionen" oder „schöpferische Irrtümer" (107) für Hölderlins Übersetzungsfehler in der späteren 'Ödipus'-Transformation eines Heiner Müller (1966) und darüber hinaus bis in das so genannte postdramatische Theater. Marco Castellari