Programmheft - Badisches Staatstheater Karlsruhe

Werbung
verrücktes
der mensch spielt nur,
wo er in voller
bedeutung des wortes
mensch ist, und er ist
nur da ganz mensch,
wo er spielt.
verrücktes blut
von Nurkan Erpulat & Jens Hillje
Frei nach Motiven aus dem Film La Journée de la jupe
Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeld
Sonia Kelich, Lehrerin
Mariam, Schülerin
Latifa, Schülerin
Musa, Schüler
Hakim, Schüler
Hasan, Schüler
Ferit, Schüler
Bastian, Schüler
antonia mohr
joanna kitzl
sophia Löffler
Jan Andreesen
simon bauer
thomas halle
matthias lamp
ralf wegner
Regie
Bühne und Kostüme
Musik
Licht
Dramaturgie
Dominik Günther
heike vollmer
jan s. Beyer & Jörg Wockenfuss
joachim grüSSinger
tobias Schuster
Premiere 24.5.15 Kleines Haus
Aufführungsdauer 1 ¾ Stunden, keine Pause
Aufführungsrechte Pegasus Theater und Medienverlag, Berlin
Regieassistenz Michael Letmathe Bühnenbildassistenz christine beggel Kostümassistenz mara fiek Soufflage angela pfützenreuter Inspizienz Jochen Baab
Regiehospitanz Julia schweizer Ausstattungshospitanz Elyssa Fleig
Technische Direktion Harald FaSSlrinner, Ralf Haslinger Bühne Hendrik
Brüggemann, Edgar Lugmair Leiter der Beleuchtung Stefan Woinke Leiter der
Tonabteilung Stefan Raebel Ton Jan Fuchs, Dieter schmidt Leiter der Requisite
Wolfgang Feger Requisite Clemens Widmann Werkstättenleiter Theo F. Hauser
Malersaal Dieter Moser Leiter der Theaterplastiker Ladislaus Zaban Schreinerei
Günter Furrer Schlosserei Mario Weimar Polster- und Dekoabteilung Ute Wienberg Kostümdirektorin Doris Hersmann Gewandmeister/in Herren Petra Annette
Schreiber, Robert Harter Gewandmeisterinnen Damen Tatjana Graf, Karin
Wörner, Annette Gropp Waffenmeister MICHAEL PAOLONE Schuhmacherei
Thomas Mahler, Barbara Kistner, Gülay Yilmaz Modisterei Diana Ferrara,
Jeanette Hardy Chefmaskenbildner Raimund Ostertag Maske Friederike
Reichel, Sonja Ross, Renate Schöner
reden wir über Schiller
und seine Idee von
ästhetischer Erziehung.
Ein gutes Thema.
2
Antonia Mohr, Matthias Lamp
3
kampfplatz
klasse
ZUM INHALT
In einer sogenannten „Problemklasse“ –
vorwiegend migrantisch geprägt – müht
sich Lehrerin Sonia Kelich nach Kräften,
zum „Projekttag Schiller“ den Schülern
Friedrich Schiller und seine Stücke Die
Räuber, Kabale und Liebe und die Briefe
über die ästhetische Erziehung des Menschen nahe zu bringen. Doch ihr spröder
Vortrag trifft auf taube Ohren. Musa,
Ferit und Bastian streiten um Geld, Hasan
kommt mit einem blauen Auge in die Schule. Interessanter als Schiller erscheint den
Schülern Latifas Hintern. Immer gewalttätiger werden die Auseinandersetzungen in
der Klasse, bis plötzlich aus Musas Jacke
eine Pistole zu Boden fällt.
Nun wendet sich das Blatt – Sonia Kelich
reagiert am schnellsten und kommt an die
Waffe, im Affekt löst sich ein Schuss, der
Musas Hand streift. Nun endlich hat die
4
Lehrerin die Autorität, die sie sich wünscht
und bestimmt das Thema: Die ästhetische
Erziehung. Schillers Theorie der Selbstbildung des Menschen im Spiel folgend
zwingt sie die Schüler mit der Waffe in der
Hand auf die kleine Bühne des Klassenraums.
Endlich spielen sie Szenen aus Die Räuber
und Kabale und Liebe und tauchen immer
mehr ein in die idealistische Schillerwelt.
Bald scheint für Sonia Kehlich die Waffe
überflüssig zu werden, und ihr Missionsgeist erwacht. Sie will Mariam, die
zurückhaltende Muslima, von ihrem Kopftuch befreien, und eine Diskussion über
Unterdrückung und Emanzipation beginnt.
Zunehmend schärfer schwadroniert Sonia
über islamische Familien in Deutschland
und den Zivilisationsgrad des Islam. Doch
als Musa plötzlich scheinbar ohne Grund
zusammenbricht, ist sie einen Moment
unaufmerksam und Mariam bringt die Pistole an sich. Endlich will sie – wenn auch
mit der Waffe in der Hand – die Konflikte
befrieden! Und für eine Sekunde blitzt die
Illusion von Versöhnung in der Gruppe auf.
Doch dann läuft auf Mussas Handy ein
Video, auf dem zu sehen ist, wie Hasan
brutal misshandelt wird. Ratlos zieht sich
Mariam aus der Führung zurück, gibt die
Waffe wieder an die Lehrerin zurück, deren Glaube an den Humanismus endgültig
verflogen scheint. Sie stellt die Gruppe vor
eine grausame Entscheidung: Die Mehrheit soll über Musas Leben entscheiden.
Freilassung oder Hinrichtung.
Wider Erwarten entscheidet sich die
gesamte Klasse für Freilassung. Die
Situation entspannt sich, und Sonia gibt
sich selbst als Migrantin zu erkennen, als
„eine von ihnen“, die nur durch Hochzeit zu einer Deutschen geworden ist.
Während sich die Szene in Wohlgefallen
aufzulösen scheint und Ferit schon den
obligatorischen Besuch in der Dönerbude
vorschlägt, wandert die Waffe ein letztes
Mal weiter.
Hasan, der in der Klasse immer der
Außenseiter gewesen war und den Sonia
mit der Waffe in die Rolle Franz Moors in
Die Räuber getrieben hatte, will die Bühne
nicht räumen: „Ich bin Franz und ich bleibe
Franz – ich habe große Rechte, über die
Natur ungehalten zu sein. Was wird aus
mir, wenn das hier vorbei ist?“ Mit Franz‘
großem Monolog über die Ungerechtigkeit
der Welt, bleiben Hasan und die Waffe
zurück.
5
es geht
nicht
um die schüler
ZUM STÜCK
Mit ihrer schrillen, schwarzhumorigen Darstellung der Zustände in einer deutschen
Schule landeten Nurkan Erpulat und Jens
Hillje einen der größten Theatererfolge
der letzten Jahre. Wenige Wochen vor der
Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Buch
Deutschland schafft sich ab bei der Ruhrtriennale uraufgeführt, lag das Stück der
Stunde auf dem Tisch. Die Produktion wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen,
und das Stück gewann den Publikumspreis
im Rahmen der Mühlheimer Theatertage.
Ursprünglich war ihr Auftrag eine Adaption
von Jean-Paul Lilienfelds Film La journée
de la jupe, der seine Zuschauer in die Abgründe des französischen Bildungssystems
in den Problemklassen der Banlieues entführte, wo eine überforderte Lehrerin mit
der Waffe Molière unterrichtete.
geht nicht um die Schüler, es geht nicht um
die Lehrer, es geht nicht um die Schule – es
geht um den Blick darauf, es geht um das
Publikum“, lautet die Anweisung, die die
Autoren ihrem Stück voranstellen.
Geschickt führen sie den Blick der Zuschauer. Die Szene einer Lehrerin, die
von ihren Schülern terrorisiert wird, rührt
ironisch an rassistische Klischees der bürgerlichen Wahrnehmung der dargestellten
scheinbar verwahrlosten, bildungsfernen
und größtenteils migrantischen Jugend.
„Ich inszeniere einen deutschen Blick“,
antwortet Nurkan Erpulat auf die Frage, wie
er in Verrücktes Blut mit Klischees über
migrantische Jugendliche umginge. „Es
Auch als ihr die Waffe in die Hände fällt, ist
mancher noch geneigt, die ersten Etappen
gerne mitzugehen und dem komödiantischen Weg durch ihre persönliche Vorstel-
6
Sonia Kelich, die scheiternde Pädagogin
mit ihren mühsam auswendig gelernten
Lehrsätzen über Schiller, rührt uns zu Beginn; ihre Liebe zum Thema, das sie allen
Widrigkeiten zum Trotz stoisch referiert,
lässt uns mit ihr leiden.
Matthias Lamp, Sophia Löffler
7
lung ästhetischer Erziehung zu folgen. Erpulat und Hillje verführen die Zuschauer, den
zweifelhaften Thesen über Integration und
Islam zu folgen, die Kelich vertritt. Erst langsam enthüllen sie die salon-rassistischen
Abgründe der Pädagogin. Das zunächst
eher positive Bild der Protagonistin wendet
sich spätestens, wenn sie die Hinrichtung
Musas fordert und nach dem Widerstand
der Schüler verzweifelt aufgibt.
anstimmen. Die Welt der vermeintlich hermetischen deutschen Hochkultur scheint
viel mehr mit den Jugendlichen zu tun zu
haben, als es sich die bundesrepublikanische Bildungshybris träumen lässt. Auch
die Dichter des „Sturm und Drang“ brachen
in ihrer Zeit radikal mit der Tradition hergebrachter literarischer Kultur. Nicht zufällig
war er genauso verfemte Jugendkultur und
Zukunftsmotor von Kunst und Gesellschaft.
Wiederum wendet sich das Blatt, als sie
sich als gebürtige Türkin zu erkennen gibt.
Sonia Kelich ist also nicht qua Geburt eine
Verfechterin dessen, was landläufig mit dem
problematischen Begriff der „deutschen
Leitkultur“ bezeichnet wird, sondern aus
freier Wahl. Sie hat sich von den vermeintlichen Schranken ihrer Herkunft emanzipiert
– und vereint scheinbar widersprüchliche
Fragmente kultureller Identitäten in sich.
Wo mancher den Untergang des Abendlandes fürchtet, beschreibt Inan Türkmen in
seinem Buch Wir kommen! die ungeheure
Dynamik der türkischen Gesellschaft und
sieht sie humorvoll als den zukünftigen Dünger unserer transkulturellen Gesellschaft.
Überhaupt mag das Stück auf den ersten
Blick wie eine Affirmation eines hierarchischen Verständnisses von Integration und
„Leitkultur“ daherkommen. Spätestens,
wenn Musa mit dem lasziv abgelegten
Kopftuch von Mariam gefesselt wird und
unter Tränen seine Reue bekundet, treiben
Erpulat und Hillje die Geschichte auf einen
komödiantischen Höhepunkt, der satirisch
bürgerliche Phantasien über die Aufklärung
vermeintlicher „Kanaken“ karikiert.
Beim genauen Hinsehen kann Verrücktes
Blut als ein Plädoyer gelesen werden, die
zunehmend transkulturelle Struktur unserer
deutschen Gesellschaft anzuerkennen und
uns ihrer Herausforderungen anzunehmen.
In diesem Sinne ist es auch zu verstehen,
wenn wie von Zauberhand plötzlich die
Schüler sogar ohne Textbuch die Sprache
und die Gedanken Schillers beherrschen
und in klarem Gesang deutsche Volkslieder
8
Was bleibt zum Schluss? Auch hier führen
Erpulat und Hillje auf eine falsche Fährte.
Das gefährliche Spiel mit Musas Waffe
scheint aufgelöst, als Hasan die Pistole an
sich nimmt. Doch der bisher Unterdrückte
will weiterspielen, immer weiter spielen,
und bleibt als Produkt des Unterrichts zurück, als Franz Moor. Als Schillers großer
Bösewicht. Denn welche Aufstiegsmöglichkeit bietet ihm unsere Gesellschaft? „Wir
spielen Theater, aber was wird aus mir,
wenn das hier zuende ist? Oberstudienrat,
wie Sie, Frau Kelich? Ein echter Erfolgskanake? Tja, tut uns leid, aber Erfolgskanakenkapazität ist grade zuende. Wie viele
Erfolgskanaken erträgt das Land?“.
Wiederum verführt, an ein rührseliges
Ende der Geschichte zu glauben, schlägt
das Stück die Brücke zwischen Bühne und
Realität. Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft tatsächlich? Katalysiert die Kunst
den Modernisierungsprozess einer Gesellschaft, oder wirkt sie eskapistisch wie das
sprichwörtliche „Opium des Volks“? Und so
hebt Hasan die Waffe ins Publikum.
Jan Andreesen, Antonia Mohr
9
Lehrstück
über den
Blick
Zur inszenierung
In der gefeierten Uraufführung von
Verrücktes Blut spielten in der Regie von
Nurkan Erpulat vorwiegend migrantische
Schauspieler die Jugendlichen aus Sonia
Kelichs Klasse. Eine extrem berührende
und besonders kraftvolle Inszenierung entstand im Berliner Ballhaus Naunynstraße,
die seitdem durch ganz Deutschland tourt.
Bei Publikumsgesprächen stellte sich
regelmäßig heraus, dass die Energie der
jungen Schauspieler die Grenzen von
Fiktion und Realität beim Publikum so
sehr zum Verschwimmen gebracht hatten,
dass immer wieder Zuschauer ein dokumentarisches Projekt gesehen zu haben
glaubten. Sie waren der Meinung, dass die
Migranten, die sie gesehen hatten, keine
10
Schauspieler seien, sondern ihre persönlichen Geschichten auf der Bühne darstellten. Dieses verblüffende Missverständnis
mancher Besucher der Uraufführung wirft
gleichzeitig die Frage auf, wie diese Rollen
von „biodeutschen“ Schauspielern verkörpert werden können.
Dominik Günther entschied sich für die Besetzung der Rollen mit den Schauspielern
des Karlsruher Ensembles ohne erkennbaren migrantischen Hintergrund und
wählt in seiner Inszenierung eine formale
Lösung. Er liest Verrücktes Blut mehr als
Lehrstück über Pädagogik mit der Waffe,
den Blick des Zuschauers und dessen Klischees, denn als realistisches Millieudrama. Auf der zuerst leeren Bühne treten die
Schauspieler wie auf einem Cat-Walk auf.
Sie präsentieren ihrem Publikum die neueste verwegen gestreifte Haute-Couture
einer migrantischen Jugend. Trainingsanzüge, glitzernde Tanktops, Baseball-Caps.
Aus einer Verbindung von Sport- und
Straßenkleidung bildet sich die Uniformierung einer Jugendkultur. Dennoch sind die
sozialen Rangabzeichen auch innerhalb
dieser Gruppe sichtbar.
Im Rahmen dieser Modenschau laufen sie
musikalisch-choreographiert über die Bühne und stellen dem Publikum die Klischees
einer migrantischen Jugend vor, die die
Bildungsrepublik Deutschland vermeintlich
an den Rand des Untergang geführt hat:
„Kratzen am Sack“, exaltiertes Handytelefonieren, öffentliches Zur-Schau-Stellen
der eigenen Kraft. Langsam deutet sich
eine Gruppendynamik an, einer gibt eine
Bewegung vor, die von den anderen kopiert wird – immer deutlicher schält sich
eine Klasse mit ihrem Beziehungs- und
Machtgeflecht heraus. Als sie vorne stehen, die Objekte der Betrachtung, verengt
sich der Raum.
Die Rückwand der Bühne schiebt sich nach
vorne, der Boden hebt sich – und ein klaustrophober Raum entsteht: Der Klassenraum
als Raum am Abgrund ohne Ausweg. An
die Stelle des von Erpulat & Hillje beschriebenen schallisolierten Theaterkursraums
einer Schule tritt in Dominik Günthers
Inszenierung eine enge Spielfläche, unmittelbar in den Zuschauerraum hineinragend.
Ausgestellt wie in einer Petrischale agieren
die Spieler. Ausstatterin Heike Vollmer
hat keine Schulklasse nachgebaut, zitiert
aber Materialien, die an die Böden von
Sportanlagen erinnern. Gleichzeitig greift
sie die Architektur und Materialität des
Kleinen Hauses auf – und rückt die Schüler
ganz nah an die Zuschauer heran, rückt
ihnen buchstäblich zu Leibe. Die Sprache
in Verrücktes Blut geht auf unterschiedlichen Ebenen mit Fremdheit um: Deutsche
Schauspieler bedienen sich aus der Kiste
der Sprach-Klischees einer Jugendkultur:
eine fremde Sprache, die sie in Dominik
Günthers Inszenierung wie eine Kunstsprache behandeln, musikalisch, überspitzt, wie eine Maske, die im nächsten
Moment wieder abgenommen werden
kann. In den Momenten des schärfsten
Konflikts wird eine zweite SprachSchicht sichtbar, das Hochdeutsche.
Ein Bindeglied zwischen beiden Schichten bildet die Musik. Erpulat und Hillje
hatten in ihrer Inszenierung die Handlung an zentralen Punkten durch Lieder
unterbrochen, sauber und klar sangen
die Schüler plötzlich deutsche Volkslieder. Jan S. Beyer & Jörg Wockenfuß
verbinden die Volkslieder mit zeitgenössischen Texten. Innerhalb der klassischen
Komposition fügen sie Texte von Rappern
wie Sido oder Bushido ein und lassen
einander ferne musikalische Kulturen in
einander fließen. 2011 wurde der Rapper
Bushido mit dem sogenannten Integrationsbambi ausgezeichnet; damals
hielt Peter Maffay die Laudatio. Eine
Zusammenarbeit zwischen beiden wurde
vereinbart und scheiterte doch aus Sicht
von Maffay an der mangelnden Bereitschaft Bushidos, seine brutalen Texte zu
verändern. Der interkulturelle Austausch
über die Kunstgenres hinweg war vorerst
gescheitert. In Günthers Inszenierung
harmonieren das deutsche Volkslied,
Sido, Bushido, Peter Maffay und Nino de
Angelo prächtig. Jeder ist eingeladen,
über interkulturelle Begegnungen und
eine neue transkulturelle Gemeinsamkeit
in unserer Gesellschaft nachzudenken.
11
Wir sind
kulturelle
Mischlinge
Zur veränderten VerfaSStheit
heutiger Kulturen
Die heutigen Kulturen entsprechen nicht
mehr den alten Vorstellungen geschlossener und einheitlicher Nationalkulturen.
Sie sind durch eine Vielfalt möglicher
Identitäten gekennzeichnet und haben
grenzüberschreitende Konturen. Das
Konzept der Transkulturalität beschreibt
diese Veränderung. Es hebt sich ebenso
vom klassischen Konzept der Einzelkulturen wie von den neueren Konzepten der
Interkulturalität und Multikulturalität ab.
„Kultur“ als Generalbegriff, der nicht nur
einzelne, sondern sämtliche menschlichen
Lebensäußerungen umfasst, hat sich erst
im späten 17. Jahrhundert herausgebildet.
Er wird in diesem Verständnis erstmals
1684 von dem Naturrechtslehrer Samuel
von Pufendorf verwendet. Bei Pufendorf
wurde „Kultur“ zu einem autonomen Begriff, zu einem Kollektivsingular, der nun in
einer kühnen Vereinheitlichung sämtliche
Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesellschaft oder einer Nation zu umfassen
12
beanspruchte. Dieser globale Kulturbegriff
erhielt dann hundert Jahre später durch
Johann Gottfried Herder seine für die
Folgezeit verbindliche Form. Der Herdersche Kulturbegriff ist durch drei Momente
charakterisiert: durch die ethnische Fundierung, die soziale Homogenisierung und
durch die Abgrenzung nach außen.
Die Kultur soll erstens das Leben der jeweiligen Gesellschaft im ganzen wie im
einzelnen prägen, sie soll jede Handlung
und jeden Gegenstand zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser
Kultur machen. Sie soll zweitens die Kultur
eines bestimmten Volkes sein, das auf dem
Weg der Kultur sein spezifisches Wesen
zur Entfaltung bringt. Damit ist drittens
eine Abgrenzung nach außen verbunden:
Jede Kultur soll als Kultur eines bestimmten Volkes von den Kulturen anderer Völker
spezifisch unterschieden sein und bleiben.
Diese Annahmen des traditionellen Kultur-
konzepts sind heute unhaltbar geworden.
Moderne Gesellschaften sind in sich so
hochgradig differenziert, dass von einer
Einheitlichkeit der Lebensformen nicht
mehr die Rede sein kann.
Aber auch die ethnische Fundierung der
Kulturen ist äußerst problematisch: Herder
beschreibt Kulturen als Kugeln oder autonome Inseln, die jeweils dem territorialen
Bereich und der sprachlichen Extension
eines Volkes entsprechen sollten. Wie
wir aber nicht nur aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wissen,
sind solche völkischen Definitionen hochgradig imaginär und fiktiv. Die Kugelvorstellung und das Reinheitsgebot bereiten
politischen Konflikten und Kriegen den
Boden. Angesichts solcher Befunde ist
die Verabschiedung des traditionellen
Kulturkonzepts mit seinem unheilvollen
Doppel von innerem Einheitszwang und
äußerer Abschottung auch unter normativen Gesichtspunkten geboten. Es käme
künftig darauf an, die Kulturen jenseits des
Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken.
Das Konzept der Interkulturalität macht
nicht einmal einen Versuch, die traditionelle Kulturvorstellung zu überwinden,
sondern will sie bloß ergänzen, um ihre
problematischen Folgen aufzufangen. Es
reagiert auf den Umstand, dass die Kugelverfassung der Kulturen notwendig zu
interkulturellen Konflikten führt. Kulturen,
die wie Inseln oder Kugeln verfasst sind,
können sich der Logik ihres Begriffs gemäß
eben nur voneinander absetzen, sich gegenseitig verkennen, ignorieren, diffamieren oder bekämpfen, nicht hingegen sich
verständigen und austauschen. Daher sind
die Empfehlungen zur Interkulturalität zwar
gut gemeint, aber ergebnislos. Das Konzept
versäumt es, die Wurzel des Problems
anzugehen. Es ist nicht radikal genug, sondern bloß kosmetisch.
Ähnliches gilt vom Konzept der Multikulturalität. Es greift die Probleme des Zusammenlebens verschiedener Kulturen innerhalb einer Gesellschaft auf, widmet sich
also strukturell der gleichen Frage wie das
Konzept der Interkulturalität. Dabei bleibt
aber auch dieses Konzept im Status des
traditionellen Kulturverständnisses. Es
geht von der Existenz klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen aus, nur
jetzt innerhalb ein und derselben staatlichen Gemeinschaft. Das Multikulturalitätskonzept sucht dann nach Chancen der
Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und
Konflikvermeidung oder Konflikttherapie.
Wenn die Kulturen tatsächlich noch immer,
wie diese Konzepte unterstellen, inselartig
und kugelhaft verfasst wären, dann könnte
man das Problem ihrer Koexistenz und
Kooperation weder loswerden noch lösen.
Nur ist die Beschreibung der Kulturen als
Kugeln bzw. Inseln heute deskriptiv falsch
und normativ irreführend. Die Kulturen
haben de facto nicht mehr die unterstellte
Form der Homogenität und Separiertheit.
Dies ist der Ausgangspunkt des Konzepts
der Transkulturalität. Kulturen sind intern
durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern
grenzüberschreitende Konturen auf. Sie
haben eine neuartige Form angenommen,
die durch die klassischen Kulturgrenzen
wie selbstverständlich hindurchgeht. Das
Konzept der Transkulturalität benennt
diese veränderte Verfassung der Kulturen
und versucht daraus die notwendigen
konzeptionellen und normativen Konsequenzen zu ziehen. Der traditionelle Kulturbegriff scheitert heute an der inneren
Differenziertheit und Komplexität der
Folgeseiten Jan Andreesen, Ralf Wegner, Matthias Lamp, Simon Bauer
13
14
15
modernen Kulturen. Moderne Kulturen
sind durch eine Vielzahl unterschiedlicher
Lebensformen und Lebensstile gekennzeichnet. Ferner ist die klassische separatistische Kulturvorstellung durch die
äußere Vernetzung der Kulturen überholt.
Die Kulturen sind hochgradig miteinander
verflochten und durchdringen einander.
Die Lebensformen enden nicht mehr an
den Grenzen der Nationalkulturen, sondern
überschreiten diese und finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die neuartigen
Verflechtungen sind eine Folge von Migrationsprozessen sowie von weltweiten
materiellen und immateriellen Kommunikationssystemen (internationaler Verkehr
und Datennetze) und von ökonomischen
Interdependenzen.
Die Austauschprozesse zwischen den
Kulturen lassen nicht nur das alte FreundFeind-Schema als überholt erscheinen,
sondern auch die scheinbar stabilen Kategorien von Eigenheit und Fremdheit. Es gibt
nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch
kein strikt Fremdes mehr. Im Innenverhältnis einer Kultur, zwischen ihren diversen
Lebensformen, existieren heute tendenziell
ebensoviele Fremdheiten wie im Außenverhältnis zu anderen Kulturen. Es gibt zwar
noch eine Rhetorik der Einzelkulturen, aber
in der Substanz sind sie alle transkulturell
bestimmt. Anstelle der separierten Einzelkulturen von einst ist eine interdependente
Globalkultur entstanden, die sämtliche
Nationalkulturen verbindet und bis in
Einzelheiten hinein durchdringt. Beispielsweise lässt sich deutsche Kultur ohne den
Blick auf andere Traditionen, etwa die
griechische oder die römische Tradition,
gar nicht rekonstruieren. Carl Zuckmayer
hat diese historische Transkulturalität
in seinem Drama Des Teufels General
wundervoll beschrieben: „... stellen Sie
16
sich doch einmal ihre Ahnenreihe vor, seit
Christi Geburt. Da war ein römisch Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie
ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam
ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie,
das war ein ernster Mensch, der ist noch
vor der Heirat Christ geworden und hat die
katholische Haustradition begründet. Und
dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder
ein keltischer Legionär, ein Graubündner
Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein
Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak,
ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder
Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein
Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant. Das hat
alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen
und gesungen und Kinder gezeugt, und der
Goethe, der kam aus demselben Topf und
der Beethoven, und der Gutenberg und der
Matthias Grünewald, und, ach was, schau
im Lexikon nach. Es waren die Besten,
mein Lieber! Die Besten der Welt! Und
warum? Weil sich die Völker dort vermischt
haben. Vermischt, wie die Wasser aus
Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie
zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen.“
Wir sind kulturelle Mischlinge. Zeitgenössische Schriftsteller betonen häufig,
dass sie nicht durch eine einzige Heimat,
sondern durch verschiedene Bezugsländer
geprägt sind, durch deutsche, französische, italienische, russische, süd- und
nordamerikanische Literatur. Ihre kulturelle
Formation ist transkulturell, die der nachfolgenden Generationen wird das noch
mehr sein. Für ein transkulturelles Kulturkonzept kann man sich gut der Hilfe Ludwig
Wittgensteins bedienen. Wittgenstein hat
einen pragmatischen Kulturbegriff entwi-
ckelt, der, anders als das traditionelle Kulturkonzept, von vornherein von ethnischer
Fundierung und Homogenitätsansprüchen
frei ist. Wittgenstein zufolge liegt Kultur
dort vor, wo eine geteilte Lebenspraxis
besteht. Zudem rechnet dieses Kulturkonzept mit mannigfaltigen Verflechtungen, Überschneidungen und Übergängen
zwischen den Lebensformen. Daher ist
es auch für neue Verbindungen und für
Umstrukturierungen offen. Wenn ein Individuum durch unterschiedliche kulturelle
Anteile geprägt ist, wird es zur Aufgabe der
Identitätsbildung, solche transkulturellen
Komponenten miteinander zu verbinden.
Nur transkulturelle Übergangsfähigkeit
wird uns auf Dauer noch Identität und so
etwas wie Autonomie und Souveränität
verbürgen können. Die Entdeckung und
Akzeptanz der transkulturellen Binnenverfassung der Individuen ist eine Bedingung,
um mit der gesellschaftlichen Transkulturalität zurechtzukommen. Hass gegenüber
Fremdem ist (wie insbesondere von psychoanalytischer Seite mehrfach dargelegt
wurde) projizierter Selbsthass. Man lehnt
stellvertretend etwas ab, was man in sich
selbst trägt, aber nicht zulassen will, was
man intern verdrängt und extern bekämpft.
Umgekehrt bildet die Anerkennung innerer
Fremdheitsanteile eine Voraussetzung für
die Akzeptanz äußerer Fremdheit. Wir werden dann, wenn wir, anders als das traditionelle Kulturkonzept es uns rät, unsere
innere Transkulturalität nicht verleugnen,
sondern wahrnehmen, eines anerkennenden und gemeinschaftlichen Umgangs mit
äußerer Transkulturalität fähig werden.
Geht man aber von der Vorstellung aus,
dass Kultur auch das Fremde einbeziehen
und transkulturellen Komponenten gerecht
werden müsse, dann gehören entsprechende Integrationsleistungen zur realen
Struktur unserer Kultur. Das Konzept der
Transkulturalität intendiert eine Kultur,
deren pragmatische Leistung nicht in Ausgrenzung, sondern in Integration besteht.
Stets gibt es im Zusammentreffen mit
anderen Lebensformen nicht nur Divergenzen, sondern auch Anschlussmöglichkeiten. Solche Erweiterungen, die auf die
gleichzeitige Anerkennung unterschiedlicher Identitätsformen innerhalb einer
Gesellschaft zielen, stellen heute eine vordringliche Aufgabe dar.
Man könnte einwenden, das Konzept der
Transkulturalität laufe auf die Annahme
einer zunehmenden Homogenisierung der
Kulturen und auf eine uniforme Weltzivilisation hinaus. Aber bedeutet Transkulturalität tatsächlich Uniformierung? Keineswegs. In der Epoche der Transkulturalität
schwindet die Bedeutung der Nationalstaatlichkeit oder der Muttersprache für
die kulturelle Formation. Die Verwechslung
von Kultur mit Nation oder die restriktive
Bindung der Kultur an eine Muttersprache
wird immer weniger möglich.
Die neuen kulturellen Formationen überschreiten die alten Festmarken, erzeugen
neue Verbindungen. Dies bedeutet auch,
dass die Welt statt eines separatistischen
eher ein Netzwerk-Design annimmt. Unterschiede verschwinden dadurch zwar nicht,
aber die Verständigungsmöglichkeiten
nehmen zu. Will man darin einen Nachteil
sehen? Das Konzept der Transkulturalität
entwirft ein anderes Bild vom Verhältnis
der Kulturen. Nicht eines der Isolierung
und des Konflikts, sondern eines der Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit. Es befördert nicht Separierung,
sondern Verstehen und Interaktion.
Wolfgang Welsch
Folgeseiten Simon Bauer, Sophia Löffler, Thomas Halle, Antonia Mohr, Matthias Lamp
17
18
19
9
Sprengregeln
wer in deutschland über
integration redet, spricht lieber
über defizite als über erfolge
Die Debatte erweckt den Eindruck, als
seien ihr die Fälle des Misslingens der
Integration sehr viel willkommener als die
des Gelingens. Viele Leute, die gestern
noch behauptet haben, dass Deutschland
kein Einwanderungsland sei, klagen nun,
die Integration sei gescheitert. Sarrazin
hat noch eins draufgesetzt: Er suggeriert,
die Integration der Muslime sei, wegen
der Dummheit der Muslime, auch gar nicht
wünschenswert. Er hat sein Buch mit
vergiftetem Toner gedruckt. Und jede Talkshow leckt daran und prüft, ob und wie das
schmeckt. Und dann heißt es: Ganz so giftig
ist das ja gar nicht; und irgendwie habe der
Mann ja auch recht. Diese Debatte zeigt
vor allem: die Furchtsamkeit der Politik
und ein klägliches Selbstbewusstsein der
Integrationsgesellschaft. Das „Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010“
vermag es, einen kleinen Stolz zu wecken
– auf Integrations- und Sprachkurse, auf
eine neue Elite mit Migrationshintergrund,
auf einen breiten Mittelstand mit Migrati20
onshintergrund und darauf, dass sowohl
die Zuwanderer- als auch die Mehrheitsbevölkerung dem Integrationsgeschehen
in Deutschland übereinstimmend die Note
„knapp gut“ geben.
Das ist nun keine Aufforderung, die Defizite zu leugnen: Das Risiko, arbeitslos zu
werden, ist für Migranten in Deutschland
anderthalbmal höher als für alteinheimische Arbeitskräfte. Und es fällt auf,
dass sich in Deutschland, anders als
in Großbritannien oder in Schweden,
die Kompetenzen der Jugendlichen der
zweiten Einwanderungsgeneration im
Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verschlechtert haben. Eine
Erklärung für den geringeren Schulerfolg
von Migrantenkindern sind die Strukturen
des deutschen Bildungssystems: Es setzt
bei den Eltern eine aktive Rolle und viel Engagement für den schulischen Erfolg ihrer
Kinder voraus. Da muss man ansetzen: Die
Gutachter des Einwanderungsberichts
schlagen unter anderem „bundeseinheitliche Sprachstandsmessungen“ vor; sie
plädieren für Ganztagesangebote vor allem
an den Hauptschulen, die in benachteiligten Stadtvierteln besser ausgestattet und
„durch attraktive Schwerpunktsetzungen
auch für die Mittelschichtfamilien anziehender“ werden sollen.
Integration ist positive Diskriminierung,
positive Diskriminierung bedeutet Förderung: Kinder im Berliner Problemquartier
Neukölln-Nord müssen viel mehr gefördert
werden als die im feinen Zehlendorf. Integration heißt Schule, Schule und nochmals
Schule: Die Schule ist nämlich der Ort, an
dem die Welten aufeinandertreffen, mit
verbaler und auch körperlicher Gewalt. Die
Verwandlung des deutschen Bildungssystems in ein System der Schicksalskorrektur und in ein System der Förderung spezieller Talente ist teuer. Aber es ist noch
viel teurer, dies alles nicht zu tun. Wer das
Geld nicht phantasievoll in Integration
investiert, wird es phantasielos in Hartz IV
und in Gefängnisse investieren müssen.
Es gibt neun Sprengregeln, um den Weg
zur Integration zu verschütten. In Deutschland sind sie jahrzehntelang fast alle beherzigt worden – bis dann endlich, mit dem
sogenannten Zuwanderungsgesetz vom
5. August 2004, die Straßenbauarbeiten
begannen und koordiniert wurden. Erste
Sprengregel: Missstände sollten generalisiert und als Beweis für die Gefahren
betrachtet werden, die von ethnischer
Andersartigkeit ausgehen. Zweite Regel:
Die Neubürger, die einen deutschen Pass
haben, sollen ja nicht glauben, dass sie damit wirklich schon richtige Deutsche sind.
Dritte Regel: Man sollte in den Schulen
möglichst früh sortieren. Wer wenig kann,
kommt in die Sonderschule oder in eine
Ausländer-Spezialklasse. Vierte Regel:
Wer die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht, ist daran selber schuld
und muss dementsprechend behandelt
und ausgegliedert werden. Fünfte Regel:
Man bleibe bei der Diskussion der Integrationsprobleme möglichst allgemein und
plakativ. Sechste Regel: Man unterscheide möglichst wenig zwischen der Frage,
wer künftig noch als Einwanderer nach
Deutschland kommen darf und der Frage,
wie diejenigen behandelt werden sollen,
die schon lange da sind; Ausländer ist
schließlich Ausländer. Siebte Regel: Man
soll Unterschichtenprobleme möglichst als
spezielle Einwanderungsprobleme darstellen. Achte Regel: Junge Ausländer, zumal
in den Problemvierteln der Großstädte,
sind unrettbar kriminell. Neunte Regel: Für
soziale Abstiegsängste muss ein Feindbild
gestiftet werden; der Islam bietet sich an.
Integration heißt: all diesen Schutt immer
wieder wegschaufeln. Das verlangt die Demokratie, die ja nichts anderes ist als eine
Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander
gestaltet; miteinander, nicht gegeneinander.
Der Sarrazinismus ist deswegen bedrohlich,
weil er den neun alten Sprengregeln eine
zehnte, finale anfügt: Er behauptet, Muslime seien ebenso dumm wie lendenstark,
ihre Integration sei daher nicht nützlich,
sondern gefährlich. Diese Lehre ist der
Rückfall in die Steinzeit der deutschen
Einwanderungsgeschichte. Im Übrigen gilt:
Homogenisieren und sterilisieren kann man
die Milch, nicht die deutsche Gesellschaft.
Kulturelle Unterschiede waren und sind
ein Teil von Deutschland. Wer assimilieren
will, der vergeht sich also an diesem Teil
deutscher Identität, und der leistet einem
verdrucksten Rassismus Vorschub.
Heribert Prantl
21
beyond
belonging
Zu den autoren
Nurkan Erpulat ist einer der wichtigsten Regisseure des „postmigrantischen
Theaters“, das Shermin Langhoff 2008 im
Berliner Ballhaus Naunynstraße gegründet
hat. 1974 wurde er in Ankara geboren und
studierte Schauspiel in İzmir. Seit 1996 ist
er als Schauspieler tätig. Im Jahr 1998 zog
er nach Berlin und studierte ab 2003 Regie
an der Hochschule für Schauspielkunst
„Ernst Busch“ Berlin, wobei er der erste
Türke war, der dort angenommen wurde.
Er inszenierte bisher vornehmlich in Berlin
aber auch in Linz, Heilbronn und Hannover.
Zu seinen Regiearbeiten zählen u. a. Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?
(von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu),
entstanden im Rahmen des Festivals
beyond belonging am Hebbel am Ufer und
am Ballhaus Naunynstraße. Seine beiden
Inszenierungen mit Jugendlichen (Heimat
im Kopf und Familiengeschichten am
Staatstheater Hannover) und sein Stück
Clash am Deutschen Theater wurden zum
Theatertreffen der Jugend nach Berlin eingeladen. Seit 2011 ist er Hausregisseur am
22
Düsseldorfer Schauspielhaus. Verrücktes
Blut war seine dritte Arbeit am Ballhaus
Naunynstraße.
Erstmals arbeitete er mit dem Dramaturgen
Jens Hillje zusammen, mit dem ihn seitdem eine regelmäßige Zusammenarbeit
verbindet, u. a. bei Kafkas Das Schloss im
Rahmen der Ruhrtriennale 2011. Jens Hillje
wurde 1968 geboren und wuchs in Mailand,
München und Landshut auf. Von 1996–99
leitete er gemeinsam mit Thomas Ostermeier die Baracke des Deutschen Theaters
Berlin, die sich vor allem der zeitgenössischen Dramatik verschrieb. Von 1999–2009
war er an der Seite von Thomas Ostermeier
Dramaturg und künstlerischer Leiter der
Berliner Schaubühne am Lehniner Platz.
Seitdem arbeitet er u. a. intensiv mit dem
Autor und Regisseur Falk Richter zusammen. Jens Hillje arbeitet als freier Dramaturg u. a. am Düsseldorfer Schauspielhaus
und ist künstlerischer Leiter des Performing
Arts Festivals „In Transit“ am Berliner Haus
der Kulturen der Welt.
Simon Bauer
23
dominik günther Regie
heike vollmer Bühne & Kostüme
Dominik Günther wurde 1973 in Bonn
geboren. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften und Germanistik war er ab
1998 Regieassistent am Theater Bielefeld,
Theater Bonn und dem Thalia Theater
Hamburg. Seit 2003 arbeitet er als freier
Regisseur. Im selben Jahr gründete er das
Neandertal Theater Hamburg. Zu seinen
Inszenierungen zählen u. a. die Uraufführungen von Clyde und Bonnie am Dschungel Theater / Wien und Hikikomori von
Holger Schober im Thalia Theater, womit
er 2008 für den Theaterpreis Faust nominiert wurde. 2011 war seine Heidelberger
Arbeit Frühlings Erwachen zum Festival
„Augenblick mal!“ in Berlin eingeladen.
Zuletzt inszenierte er Du bist dabei! von
Holger Schober am Deutschen Theater
Berlin und Die Präsidentinnen von Werner
Schwab am Theater Bern.
Am STAATSTHEATER KARLSRUHE stellte
er sich mit seiner Inszenierung von Peter
Handkes Immer noch Sturm vor.
In Stade geboren, studierte Heike Vollmer
Literaturwissenschaften, Kostüm und
Bühnenbild an der Universität Hamburg, der
Hochschule für angewandte Wissenschaften sowie der Hochschule für bildende
Künste in Hamburg. Sie war Assistentin
am Berliner Ensemble und arbeitete als
Bühnenbildnerin u. a. mit den Regisseuren
Claus Peymann und Philip Tiedemann. Eine
kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet
sie mit Dominik Günther. Des Weiteren
arbeitete sie als freischaffende Bühnenund Kostümbildnerin u. a. am Theater an
der Ruhr, Theater Lübeck, Staatstheater
Braunschweig, Landestheater Linz, Theater
Krefeld und Mönchengladbach, den Ruhrfestspielen Recklinghausen, tjg Dresden,
Theater Heidelberg sowie 2012 erstmals
am Stadtheater Bern und dem STAATSTHEATER KARLSRUHE. Seit 2011 arbeitet
sie mit dem ungarischen Regisseur György
Vidovszky und dem Autor István Tasnádi am
Bárka Shínház in Budapest zusammen.
24
jan-s. beyer & Jörg Wockenfuss
Musik
Jan-S. Beyer und Jörg Wockenfuß sind seit
Ende der 90er Jahre ein festes Team. Sie
arbeiteten als musikalische Leiter, Komponisten, Klanginstallateure und Performer
gemeinsam an zahlreichen Theatern, wie
u. a. dem Staatstheater Braunschweig, am
Oldenburgischen Staatstheater, Maxim Gorki
Theater Berlin, Deutsches Theater Berlin,
Theater der jungen Generation Dresden. Mit
ihrem aktuellen Bandprojekt Testsieger haben sie bisher zwei Veröffentlichungen (Gold,
20 Volltreffer – FaROL/Motor Digital, 2004
und Laguna Fantasia – FaROL/Fuego, 2009)
und sind in Clubs und auf Festivals unterwegs. Auch als Filmmusiker traten sie schon
in Erscheinung. Zuletzt sorgten sie am Gorki
Theater für die Musik in der Uraufführung
von Der Penner ist immer woanders, dem
Siegerstück des Stückemarkts 2011 beim
Berliner Theatertreffen. In Karlsruhe erarbeiteten sie die Musik für Dominik Günthers
Inszenenierung von Immer noch Sturm.
25
Jan andreesen Musa
Jan Andreesen, geboren 1980 in Wilhelmshaven, studierte an der Leipziger Hochschule und spielte im Studio des Dresdner Staatsschauspiels,
bevor er fest ans Theater Bielefeld ging. 2010/11 gehörte er zum Ensemble
des Heidelberger Theaters. Seit 2011 ist er in Karlsruhe engagiert und
spielte u. a. in Herzog Theodor von Gothland, Philotas+ und Supermen KA.
Simon Bauer Hakim
Geboren 1981, spielte er bereits während seines Studiums an der Universität der Künste Berlin u. a. am am Deutschen Theater. 2010/11 war er am
Theater Heidelberg engagiert. Seit 2011 ist er in Karlsruhe u. a in der Titelrolle in Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, in Orpheus steigt herab,
Supermen KA und Don‘t wanna die watching spiderman 3 zu sehen.
Thomas Halle Hasan
Thomas Halle wurde 1987 in Berlin geboren und studierte Schauspiel an
der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin. Im Studium spielte er in der Regie
von Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater den Hamlet. In Karlsruhe
spielte er u. a. in Die Hermannsschlacht, Die Verschwörung des Fiesco zu
Genua, Auf Kolonos und ist aktuell in Immer noch Sturm zu sehen.
joanna kitzl Mariam
Joanna Kitzl spielte u. a. am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg,
wo sie mit Jürgen Gosch arbeitete, am Theater Neumarkt Zürich, am Heidelberger Theater und am Staatsschauspiel Hannover. Seit 2011 ist sie
im Karlsruher Ensemble und spielt die Titelrolle in Minna von Barnhelm,
sowie in Der große Marsch und Orpheus steigt herab.
matthias Lamp Ferit
Matthias Lamp wurde 1981 in Heidelberg geboren und studierte Schauspiel an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin. Während des Studiums
spielte er am Maxim Gorki Theater und der Schaubühne. In Karlsruhe
spielte er in Die Verschwörung des Fiesco zu Genua und die Titelrolle in
Amphitryon, Der große Marsch / Minna von Barnhelm und Supermen KA.
sophia löffler Latifa
Sophia Löffler wurde 1985 in Potsdam geboren und begann 2007 ihr
Schauspielstudium in Leipzig. Ab 2009 gehörte sie zum Studio am Staatsschauspiel Dresden. Seit 2011 in Karlsruhe engagiert, stand sie in Die Verschwörung des Fiesco zu Genua und aktuell in Der große Marsch / Minna
von Barnhelm, Immer noch Sturm und Supermen KA auf der Bühne.
26
antonia mohr Sonia Kelich
Nach dem Schauspielstudium an der Hochschule der Künste Berlin war
Antonia Mohr u. a. an den Westfälischen Kammerspielen Paderborn, am
Landestheater Tübingen und am Heidelberger Theater engagiert, wo sie
u. a. Robespierre in Dantons Tod darstellte. In Karlsruhe ist sie derzeit in
Du musst dein Leben ändern und Orpheus steigt herab zu sehen.
ralf wegner Bastian
Ralf Wegner wurde in Kiel geboren. Seine Schauspielausbildung erhielt
er ab 2005 in Hamburg. Erste Engagements führten ihn u. a. nach Kiel,
Hamburg, Wien und Graz. Von 2009–11 war er am Landestheater Linz.
Seit 2011 ist Ralf Wegner am JUNGEN STAATSTHEATER und ist aktuell
in Staubziffern, Tschick, So groß – so klein und Gilgamesch zu sehen.
In der Tat sehr lobenswürdige
Anstalten, die Narren im
RespeKt und den Pöbel unter
dem Pantoffel zu halten,
damit die Gescheiten es desto
bequemer haben.
27
bildnachweise
impressum
Umschlag
Jochen klenk
Szenenfotos Jochen klenk
S. 24/27 diverse
Herausgeber
BADISCHES STAATSTHEATER
Karlsruhe
TEXTNACHWEISE
Generalintendant
Peter Spuhler
Wolfgang Welsch, „Transkulturalität – Zur
veränderten Verfassheit heutiger Kulturen“.
In: Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.):
Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45. Jg. 1995 / 1. Vj.., Stuttgart 1995
Vgl. zur neuesten Fassung des Konzepts:
„Transkulturalität – neue und alte Gemeinsamkeiten“, in: Wolfgang Welsch, Immer
nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen
Anthropologie (Berlin: Akademie Verlag
2011), S. 294–322.
Heribert Prantl, „Willkommen!“, Süddeutsche Zeitung, 11.9.2010.
Nicht gekennzeichnete Texte sind
Originalbeiträge für dieses Heft von
Tobias Schuster.
VERWALTUNGSDIREKTOR
Michael Obermeier
Chefdramaturg
Bernd Feuchtner
Schauspieldirektor
Jan Linders
Redaktion
Tobias Schuster
Konzept
Double Standards Berlin
www.doublestandards.net
Gestaltung
Danica Schlosser
Druck
medialogik GmbH
BADISCHES STAATSTHEATER
Karlsruhe 11/12,
Programmheft Nr. 59
www.staatstheater.karlsruhe.de
Es ist doch eine jämmerliche
Rolle, der Hase sein zu müssen
auf dieser Welt
Thomas Halle, Joanna Kitzl
helfen
mit der
waffe?
Herunterladen