1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 12.10.2016 9.30 Uhr AUFNAHME: STUDIO: ETHIK, RELIGION Ab 8. Schuljahr TITEL: Luxus Philosophie? Wie Denker die Welt beweg(t)en AUTOR: Dr. Michael Conradt REDAKTION: Bernhard Kastner REGIE: Irene Schuck PERSONEN: Sprecher Sprecherin Zitator Musik Besondere Anmerkungen: ED 06.04.2011 _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIKAKZENT CD 28057/W03 (take 015) Rhapsodie SPRECHER In Bertolt Brechts Theaterstück Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher findet sich eine Parabel über die Philosophie und die Philosophen. Es geht dort um die Frage, ob die Außenwelt tatsächlich existiert oder nur in unserer Vorstellung. Brechts Parabel erzählt, warum diese Frage bis heute nicht endgültig geklärt werden konnte: ZITATOR Der Kongress, der die Antwort bringen sollte, fand im chinesischen Kloster Mi Sang statt, welches am Ufer des Gelben Flusses liegt. Die Frage hieß: Ist der Gelbe Fluss wirklich, oder existiert er nur in den Köpfen? Während des Kongresses nun gab es eine Schneeschmelze im Gebirge, so dass der Gelbe Fluss über seine Ufer stieg und das Kloster Mi Sang mit allen Kongressteilnehmern fortschwemmte. Deshalb konnte nicht geklärt werden, ob der Gelbe Fluss tatsächlich existiert oder nur in unseren Köpfen. SPRECHERIN Die Geschichte lässt uns schmunzeln. Sie hat aber einen ernsthaften Kern, nämlich einen Vorwurf, der so alt ist wie die Philosophie: Die Philosophen seien abgehoben und weltfremd. Sie kümmerten sich nicht um die Realität und liebten vielleicht die Weisheit, aber eben nicht die Wirklichkeit. Ihr Denken sei deshalb für das konkrete Leben ohne jeden Nutzen und die Philosophie im Grunde nur ein vielleicht schöner, aber letztlich überflüssiger Luxus. SPRECHER Gänzlich aus der Luft gegriffen ist diese Meinung nicht, zumal sie nicht etwa von Gegnern der Philosophie in die Welt gesetzt wurde, sondern, zumindest im Ansatz, von zwei ihrer hervorragendsten Vertreter, nämlich Platon und Aristoteles. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 Schon in Platons Dialog Theaitetos heißt es nämlich über den Philosophen an sich: ZITATOR „Er weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbarn, aus Unerfahrenheit fällt er in Brunnen und jegliche Verlegenheit; und seine Ungeschicklichkeit erweckt den Anschein der Einfältigkeit.“ SPRECHER Platon nennt auch den Grund für dieses sonderbare Verhalten: ZITATOR „In der Tat wohnt nur sein Körper im Staat; seine Seele aber, dieses alles für gering haltend und nichtig, schweift überall umher, unter der Erde und über dem Himmel, die Sterne betrachtend und überall das Wesen alles dessen, was ist, im Ganzen erforschend, mit nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich beschäftigend.“ SPRECHER So Platon über die Weltfremdheit des Philosophen: ein geistesabwesender Schwärmer, der in die Ferne schaut und das große Ganze bedenkt, mit den konkreten Dingen vor seinen Füßen aber nichts zu tun haben will. In ähnlicher Weise äußert sich Aristoteles, allerdings nicht über die Philosophen, sondern über die Philosophie. In Buch I seiner Metaphysik schreibt er: ZITATOR „Wenn die Menschen philosophieren, so suchen sie das Erkennen offenbar allein des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen. Das bestätigt auch der Verlauf der Sache; denn erst als so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und besseren Lebensführung Nötige vorhanden war, da begann man, diese Art der Einsicht zu suchen. Daraus erhellt also, dass wir sie nicht um _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Aber diese Vordringlichkeit bedeutet nicht, dass sie wichtiger wären oder die Philosophie überflüssig. Denn menschliches Leben besteht nicht bloß im physischen Überleben. Der englische Philosoph Bertrand Russell formulierte dies später so: ZITATOR „Man darf nicht vergessen, dass auch der Geist seine Nahrung braucht. Wenn es allen Menschen gut ginge, wenn Armut und Krankheit auf das niedrigste überhaupt mögliche Maß reduziert wären, bliebe immer noch viel zu tun, um eine Gesellschaft zu schaffen, die Wert hätte. Die Güter des Geistes sind mindestens ebenso wichtig wie die leiblichen Güter. Der Wert der Philosophie nun ist ausschließlich unter diesen Gütern des Geistes zu finden.“ SPRECHERIN Die Philosophie ist also nicht nützlich, aber wertvoll. Sie dient zwar nicht als Mittel zu irgendeinem anderen Zweck, aber sie schafft etwas Gutes, nämlich eine _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 geistige Dimension, die es ohne sie nicht gäbe. Ihr Ziel dabei ist wahre, unvoreingenommene Erkenntnis, und dafür sind ihre Sonderlichkeiten kein Hindernis, sondern Voraussetzung. SPRECHER Um zum Wesen einer Sache vorzudringen, ist es erforderlich, sich nicht mit Äußerlichkeiten und Details aufzuhalten. Und um die Wahrheit, die reine Wahrheit zu erkennen, muss der Philosoph von allen anderen Zwecken und damit auch Nutzenüberlegungen absehen. Denn sie würden die Freiheit der Untersuchung beeinträchtigen und damit in der Regel auch das Ergebnis. Deshalb verstehen Platon und Aristoteles die Weltabgewandtheit der Philosophen und der Philosophie nicht als Manko, sondern als Vorzug. Sie ist Voraussetzung für ein wahrhaftiges Philosophieren. Und dessen Ergebnisse kommen der Welt, von der man sich zunächst abgewandt hatte, dann auch durchaus zugute: nicht als Nutzen für einen bestimmten Zweck, aber als Wert für alle. SPRECHERIN Wenn Sokrates zum Beispiel in philosophischen Gesprächen mit seinen Athener Mitbürgern herauszufinden versucht, was Gerechtigkeit ist, dann zeigt sich, dass jeder Redner Gerechtigkeit anders definiert, nämlich so, dass es ihm selbst nützt. Der Mächtige versteht Gerechtigkeit also ganz anders als der Ohnmächtige und der Reiche anders als der Arme. Hier braucht es den Philosophen, der sozusagen weltfremd genug ist, um unbelastet von eigenen Interessen die Wahrheit herauszufinden. SPRECHER Wenn dies gelingt, wenn man also das wahre Wesen der Gerechtigkeit erkennt, dann hat dies natürlich großen Wert für eine gute Lebensführung aller Menschen. Denn wie soll man gerecht handeln, ohne zu wissen, was Gerechtigkeit eigentlich ist? _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 SPRECHERIN So charakterisierten Platon und Aristoteles schon in der Anfangszeit das komplexe und komplizierte Wesen der Philosophie. Ja, die Philosophen sind weltfremd, aber das müssen sie auch sein, um über die konkrete Wirklichkeit hinaus zum Wesen der Dinge vorzudringen. Ja, die Philosophie verweigert sich jedem Nutzendenken, aber nur so kann sie ihre besonderen Werte schaffen. Ja, die Philosophie ist in gewisser Weise Luxus, denn zu den dringenden Notwendigkeiten des Lebens leistet sie keinen Beitrag. Aber sie ist deshalb keineswegs überflüssig, denn sie befähigt den Menschen, ein besseres Leben zu führen, nämlich eines, das sich nicht im bloßen physischen Überleben erschöpft. So befindet Aristoteles denn auch am Ende seiner Betrachtung über die Philosophie und die anderen Wissenschaften kurz und bündig: ZITATOR „Notwendiger als diese sind alle anderen, besser aber keine.“ MUSIKAKZENT CD48421/001 SPRECHER Tatsächlich haben Platon, Aristoteles und ihre Nachfolger die Entwicklung des Abendlands wesentlich geprägt. Nicht ohne Grund heißt es, die abendländische Kultur sei durch eine Verbindung von antiker Philosophie und Christentum entstanden. Unser Weltbild zum Beispiel erhielt seine Grundstruktur durch eine Theorie Platons, nämlich die berühmte Ideenlehre. Hier wurde erstmals in unserer Kultursphäre die Möglichkeit erörtert, dass es außer der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, noch eine andere, jenseitige, geistige Welt geben könnte, und zwar eine, die besser ist als unsere. SPRECHERIN Das Christentum nannte dies ‚das Reich Gottes’, das nicht von dieser Welt ist und in dem die gläubigen Christen das ewige Leben bei Gott erlangen. Seit damals _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Aristoteles wurde im Zuge seiner genuin philosophischen Tätigkeit sozusagen nebenbei auch zum Urheber vieler Einzelwissenschaften, etwa der Physik, der Biologie und der Psychologie. Vor allem aber begründete er überhaupt erst Wissenschaft im modernen Sinne. Wissen gab es zwar auch schon vor Aristoteles, aber nicht methodisch gewonnene und durch Beweise gesicherte Erkenntnisse, also das, was wir heute unter Wissenschaft verstehen. SPRECHERIN Erst Aristoteles fragte sich, was Wissenschaft eigentlich ist, was sie ausmacht, was ihre Aufgaben sind, ihre Methoden, ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen. Außerdem, wie man logisch richtiges von falschem Denken unterscheiden kann, welche Arten von Schlussfolgerungen stimmig sind und welche trügerisch. In einem fünfbändigen Werk, das bezeichnenderweise den Titel Organon trägt, deutsch: Werkzeug, erstellte er ein umfassendes System von intellektuellen Instrumenten, auf dessen Boden Wissenschaften, wie wir sie heute kennen, überhaupt erst entstehen konnten. SPRECHER Für deren Entwicklung und praktische Auswirkungen zeichneten andere große Denker verantwortlich, Philosophen wie Francis Bacon und vor allem René Descartes, Naturwissenschaftler wie Galilei, Newton oder Einstein und Techniker _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Dies begann schon mit Sokrates, hinter dessen Fragen an seine Mitbürger die Überzeugung stand, dass nur ein geprüftes Leben wirklich lebenswert ist, also eines, das nicht einfach so dahin gelebt, sondern bewusst geführt wird. Deshalb gilt Sokrates als der Begründer der Ethik. Er versuchte, seine Gesprächspartner zum Nachdenken zu bringen, über sich selbst, ihre Seele und ihr Leben. Und er hoffte, Antworten zu finden, die seinen Mitmenschen ein gutes und damit glückliches Leben ermöglichen sollten. MUSIK kurz hoch und weg SPRECHER Die Nachfolger des Sokrates in den Philosophenschulen der Stoiker und der Epikuräer versuchten dann, Regeln aufzustellen, die den Menschen dauerhaftes und sicheres Glück bescheren sollten. Für die Stoiker führte der Weg dazu über ein tugendhaftes Leben, für die Epikuräer über ein klug kalkuliertes Ausleben der Lust. Am konkretesten wurde der römische Stoiker und Staatsmann Seneca. Zusätzlich zu all seinen anderen Tätigkeiten betrieb er in Büchern, Briefen und persönlichen Gesprächen so etwas wie eine philosophische Lebenskunstberatung. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 SPRECHERIN Wichtig ist nach Seneca vor allem eine realistische Einschätzung der Dinge, die uns umgeben, vor allem derjenigen, die uns ängstigen: ZITATOR „Denke aber vor allem daran, den Vorgängen das Aufregende zu nehmen und zu sehen, was es mit der Sache selbst für eine Bewandtnis hat. Du wirst erkennen, dass es an ihnen nichts Furchtbares gibt, außer der Furcht selbst.“ SPRECHERIN Senecas Stoiker-Kollege Epiktet brachte dies dann auf die eingängige Formel: ZITATOR „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.“ SPRECHER Wenn dies so ist, dann kann man durch eine Anpassung seiner Vorstellungen an die Wirklichkeit Beunruhigungen und Ängste vertreiben. Der Kern der stoischen Glückslehre ist also ein Erkennen und Akzeptieren der tatsächlichen eigenen Lebensumstände. Noch einmal Seneca: ZITATOR „Glücklich ist, wer mit den Umständen – wie immer diese sind – zufrieden ist und sich mit seinen Verhältnissen angefreundet hat. Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zerrt es mit sich.“ SPRECHER Auf dem Weg zu einer solch realistischen Einstellung kann das Philosophieren nicht zuletzt deshalb eine große Hilfe sein, weil es im Interesse der reinen Wahrheit persönliche Interessen, Neigungen und Wünsche hintanstellt. Dadurch _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 bringt es eine gelassene, in gewisser Weise über den Dingen stehende Lebenshaltung mit sich – die auf eine stille Weise glücklich machen kann. Auch dazu äußert sich Seneca: ZITATOR „Daraus erwächst jenes unschätzbare Gut, jene Ruhe und Erhabenheit der Seele, die sicher gegründet ist und eine hohe und ungestörte Freude, die aus der Erkenntnis der Wahrheit entspringt, und außerdem eine unerschütterliche Freundlichkeit und Heiterkeit des Herzens. Daran wird sich die Seele erfreuen, nicht wie an zufälligen Gütern, sondern wie an Früchten, die aus dem eigenen Gut entstanden sind. Wer ein solches Fundament in sich gelegt hat, den müssen, gewollt oder nicht, fortwährende Heiterkeit und eine hohe, dem Innersten entspringende Freude begleiten.“ MUSIKAKZENT CD28057/W03 (take 15) SPRECHERIN Den wohl bedeutendsten Beitrag für ein gutes Zusammenleben der Menschen leisteten die Philosophen der Aufklärung. Dass wir heute in einem geordneten demokratischen Rechtsstaat leben, in dem unsere zentralen Rechte in der Verfassung gesichert sind, verdanken wir überwiegend diesen Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts. MUSIK „Nocturne für Klavier c-moll“ (Chopin), C5020210/211 SPRECHER Philosophen wie Thomas Hobbes, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant entwarfen die Grundlagen eines staatlich geschützten friedlichen Zusammenlebens. Sie begründeten und forderten Religionsfreiheit, Unantastbarkeit der Person, Meinungsfreiheit und viele andere Rechte, auf die jeder Mensch als Mensch einen unabdingbaren Anspruch hat, ungeachtet seiner _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner gesellschaftlichen Herkunft. An der umfassenden Durchsetzung und Verwirklichung dieser Rechte muss weiter gearbeitet werden. Aber dass sie aufgespürt, begrifflich geklärt und formuliert wurden und dass sie heute, zumindest in unserer Gesellschaft, im allgemeinen Bewusstsein wie auch rechtlich und politisch fest verankert sind, das ist ein Verdienst der Aufklärung. MUSIK ausblenden SPRECHERIN Ein Philosoph darf nicht übersehen werden, wenn es um die Wirkungsmächtigkeit philosophischer Gedanken geht, nämlich Karl Marx. Sein dialektischer Materialismus oder Kommunismus beherrschte zeitweise die halbe Welt, bevor er 1989/90 in sich zusammenbrach. Wobei man, um Marx nicht Unrecht zu tun, sich fragen muss, inwieweit das, was da zusammenbrach, tatsächlich noch eine Umsetzung der Marx’schen Lehre war. Aber was auch immer man vom Kommunismus hält, eines steht fest: Nie zuvor und auch nicht danach hat das Denken eines einzelnen Menschen die Welt so verändert wie im Fall von Karl Marx. MUSIKAKZENT CD 48421/001 SPRECHER Die historische Wirksamkeit der Philosophie, im Guten wie auch im weniger Guten, ist also schwer zu bezweifeln und wird auch nicht ernsthaft bestritten. Trotzdem ist die Situation der Philosophie heute eher prekär, zumindest in den Institutionen. Wann immer an Universitäten über die Kürzung oder Streichung von Finanzmitteln und Stellen diskutiert wird, steht die Philosophie im Brennpunkt. Günther Abel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, stellte denn auch schon im Jahre 2005 fest: “Das Fach Philosophie ist an den deutschen Universitäten enorm bedroht.“ _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Deshalb wird sie vielfach mit Ignoranz, wenn nicht gar Misstrauen bedacht. SPRECHER Dabei hat die Philosophie auch unserer heutigen Gesellschaft viel zu bieten. Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe meint sogar, dass die Philosophie im Zeitalter der Globalisierung lebenswirksam werden kann wie nie zuvor. Denn sie ist nicht einer bestimmten Kultur, Religion oder Interessengruppe verpflichtet, sondern nur der Vernunft, also einem allgemein menschlichen und weltweit gültigen Medium. Deshalb kann sie in vielen Fragen als Anwältin der gesamten Menschheit sprechen. In diese Richtung zielen etwa neue Gerechtigkeitstheorien des Amerikaners John Rawls und des Deutschen Jürgen Habermas. Höffe befindet denn auch kurz und bündig: ZITATOR „Gegen den ökonomistischen Fehlschluss, der die Globalisierung auf die Finanz-, Waren- und Dienstleistungsmerkmale verkürzt, verlangt dieses Zeitalter nicht etwa weniger, sondern im Gegenteil mehr an Philosophie.“ MUSIKAKZENT CD 28057/W03 (take 16) _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 SPRECHERIN Ohnehin scheinen die Menschen der Gegenwart, anders als die Institutionen, durchaus einen Sinn für den Wert der Philosophie zu haben. (Kurz noch mal Musikakzent s.o) Darauf deuten zumindest die Erfolge philosophischer Themen auf dem Buchmarkt hin. Einer der meistgelesenen deutschen Autoren ist der Philosoph Wilhelm Schmid. Sein Hauptwerk Philosophie der Lebenskunst ist für ihn ...: ZITATOR „… ein Versuch, Lebenskunst nicht inhaltlich festzulegen, sondern ihre Grundbestandteile zu thematisieren, die im jeweiligen historischen und kulturellen Kontext die Bedingungen ihrer Möglichkeit darstellen, und deren konkrete Ausgestaltung den Individuen überlassen bleiben muss. Das Individuum wird in die Lage versetzt, seinen eigenen Lebensvollzug besser zu verstehen und gegebenenfalls in ihn einzugreifen, da ihm die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten des Verstehens und Vorgehens zur Verfügung steht.“ SPRECHERIN Die Philosophie gibt also keine konkreten Empfehlungen, mischt sich sozusagen nicht in die Details ein, sondern belässt es beim Aufzeigen der grundsätzlichen Möglichkeiten, aus denen jeder Einzelne für sich auswählen kann. Ziel ist es, das eigene Leben bejahenswert zu machen. Schmid formuliert in diesem Zusammenhang sogar einen existentiellen Imperativ: ZITATOR „Gestalte dein Leben so, dass es bejahenswert ist.“ _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Es fragt sich, ob es nicht mehr Sinn macht und indirekt auch ertragreicher ist, die Philosophie, ganz im Sinne von Platon und Aristoteles, nur um ihrer selbst willen zu betreiben, ohne alle Zweckgebundenheit. Darauf macht auch Bertrand Russell aufmerksam: ZITATOR „Die Philosophie gewinnt ihren Wert – und vielleicht ihren vornehmsten Wert – durch die Größe der Gegenstände, die sie bedenkt und durch die Befreiung von engen und persönlichen Zwecken, die sich aus dieser Betrachtung ergibt.“ SPRECHERIN Man soll sich also nicht mit der Philosophie beschäftigen, um den eigenen – kleinen – Zwecken zu dienen, sondern im Gegenteil, um sich innerlich von diesen Zwecken freizumachen. Noch einmal Russell: ZITATOR „In der philosophischen Kontemplation gehen wir vom Anderen aus, und durch seine Größe werden wir selber zu etwas Größerem gemacht. Der betrachtende Geist gewinnt einen Anteil an der Unendlichkeit der von ihm betrachteten Welt. In dieser Weltbürgerschaft besteht die wahre Freiheit des Menschen, seine Befreiung aus der Knechtschaft kleinlicher Hoffnungen und Ängste.“ _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 15 MUSIK CD 28057/W03 (take 15) SPRECHER Die Beschäftigung, und zwar die uneigennützige Beschäftigung mit den großen Themen der Philosophie, dem Sinn des Lebens etwa, dem Glück, der Moral, dem Leid und dem Tod, relativiert unsere persönlichen Anliegen und Sorgen und befreit uns aus der Enge des alltäglichen Daseins. Dadurch können wir, sozusagen unbeabsichtigt und nebenbei, eine andere, souveräne und gelassene Haltung zur Welt und zu uns selbst und unserem Leben gewinnen. Darin liegt, so Bertrand Russell, der wahre Wert der Philosophie, der zeitlos gültig ist. MUSIK aus. - Stopp - _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de