1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 12.10.2016 9.30 Uhr

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Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 12.10.2016
9.30 Uhr
AUFNAHME:
STUDIO:
ETHIK, RELIGION
Ab 8. Schuljahr
TITEL:
Luxus Philosophie?
Wie Denker die Welt beweg(t)en
AUTOR:
Dr. Michael Conradt
REDAKTION:
Bernhard Kastner
REGIE:
Irene Schuck
PERSONEN:
Sprecher
Sprecherin
Zitator
Musik
Besondere Anmerkungen:
ED 06.04.2011
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MUSIKAKZENT CD 28057/W03 (take 015) Rhapsodie
SPRECHER
In Bertolt Brechts Theaterstück Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher
findet sich eine Parabel über die Philosophie und die Philosophen. Es geht dort
um die Frage, ob die Außenwelt tatsächlich existiert oder nur in unserer
Vorstellung. Brechts Parabel erzählt, warum diese Frage bis heute nicht endgültig
geklärt werden konnte:
ZITATOR
Der Kongress, der die Antwort bringen sollte, fand im chinesischen Kloster Mi
Sang statt, welches am Ufer des Gelben Flusses liegt. Die Frage hieß: Ist der
Gelbe Fluss wirklich, oder existiert er nur in den Köpfen? Während des
Kongresses nun gab es eine Schneeschmelze im Gebirge, so dass der Gelbe
Fluss über seine Ufer stieg und das Kloster Mi Sang mit allen
Kongressteilnehmern fortschwemmte. Deshalb konnte nicht geklärt werden, ob
der Gelbe Fluss tatsächlich existiert oder nur in unseren Köpfen.
SPRECHERIN
Die Geschichte lässt uns schmunzeln. Sie hat aber einen ernsthaften Kern,
nämlich einen Vorwurf, der so alt ist wie die Philosophie: Die Philosophen seien
abgehoben und weltfremd. Sie kümmerten sich nicht um die Realität und liebten
vielleicht die Weisheit, aber eben nicht die Wirklichkeit. Ihr Denken sei deshalb für
das konkrete Leben ohne jeden Nutzen und die Philosophie im Grunde nur ein
vielleicht schöner, aber letztlich überflüssiger Luxus.
SPRECHER
Gänzlich aus der Luft gegriffen ist diese Meinung nicht, zumal sie nicht etwa von
Gegnern der Philosophie in die Welt gesetzt wurde, sondern, zumindest im
Ansatz, von zwei ihrer hervorragendsten Vertreter, nämlich Platon und Aristoteles.
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Schon in Platons Dialog Theaitetos heißt es nämlich über den Philosophen an
sich:
ZITATOR
„Er weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbarn, aus Unerfahrenheit fällt er in
Brunnen und jegliche Verlegenheit; und seine Ungeschicklichkeit erweckt den
Anschein der Einfältigkeit.“
SPRECHER
Platon nennt auch den Grund für dieses sonderbare Verhalten:
ZITATOR
„In der Tat wohnt nur sein Körper im Staat; seine Seele aber, dieses alles für
gering haltend und nichtig, schweift überall umher, unter der Erde und über dem
Himmel, die Sterne betrachtend und überall das Wesen alles dessen, was ist, im
Ganzen erforschend, mit nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich
beschäftigend.“
SPRECHER
So Platon über die Weltfremdheit des Philosophen: ein geistesabwesender
Schwärmer, der in die Ferne schaut und das große Ganze bedenkt, mit den
konkreten Dingen vor seinen Füßen aber nichts zu tun haben will. In ähnlicher
Weise äußert sich Aristoteles, allerdings nicht über die Philosophen, sondern über
die Philosophie. In Buch I seiner Metaphysik schreibt er:
ZITATOR
„Wenn die Menschen philosophieren, so suchen sie das Erkennen offenbar allein
des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen.
Das bestätigt auch der Verlauf der Sache; denn erst als so ziemlich alles zur
Annehmlichkeit und besseren Lebensführung Nötige vorhanden war, da begann
man, diese Art der Einsicht zu suchen. Daraus erhellt also, dass wir sie nicht um
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irgendeines anderweitigen Nutzens willen suchen, sondern allein um ihrer selbst
willen.“
SPRECHERIN
Die Philosophie also als selbstverliebte Kunst, die sich allem Nutzendenken
verweigert und nur um ihrer selbst willen betrieben wird – und zwar erst dann,
wenn für das Lebensnotwendige schon gesorgt ist. Sind damit nicht alle Vorurteile
sozusagen von höchster Stelle beglaubigt? Ist die Philosophie also tatsächlich ein
bloßer Luxus?
MUSIKAKZENT Composition Nr. 208 / CD 48421/001
SPRECHER
Die Antwort lautet, wie häufig in der Philosophie: Ja und nein. Die Beobachtungen
stimmen, nicht aber die Bewertung. Tatsächlich sind viele Dinge dringlicher als die
Philosophie: Nahrung, Kleidung, Wohnung zum Beispiel. Aber diese
Vordringlichkeit bedeutet nicht, dass sie wichtiger wären oder die Philosophie
überflüssig. Denn menschliches Leben besteht nicht bloß im physischen
Überleben. Der englische Philosoph Bertrand Russell formulierte dies später so:
ZITATOR
„Man darf nicht vergessen, dass auch der Geist seine Nahrung braucht.
Wenn es allen Menschen gut ginge, wenn Armut und Krankheit auf das niedrigste
überhaupt mögliche Maß reduziert wären, bliebe immer noch viel zu tun,
um eine Gesellschaft zu schaffen, die Wert hätte. Die Güter des Geistes sind
mindestens ebenso wichtig wie die leiblichen Güter. Der Wert der Philosophie nun
ist ausschließlich unter diesen Gütern des Geistes zu finden.“
SPRECHERIN
Die Philosophie ist also nicht nützlich, aber wertvoll. Sie dient zwar nicht als Mittel
zu irgendeinem anderen Zweck, aber sie schafft etwas Gutes, nämlich eine
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geistige Dimension, die es ohne sie nicht gäbe. Ihr Ziel dabei ist wahre,
unvoreingenommene Erkenntnis, und dafür sind ihre Sonderlichkeiten kein
Hindernis, sondern Voraussetzung.
SPRECHER
Um zum Wesen einer Sache vorzudringen, ist es erforderlich, sich nicht mit
Äußerlichkeiten und Details aufzuhalten. Und um die Wahrheit, die reine Wahrheit
zu erkennen, muss der Philosoph von allen anderen Zwecken und damit auch
Nutzenüberlegungen absehen. Denn sie würden die Freiheit der Untersuchung
beeinträchtigen und damit in der Regel auch das Ergebnis. Deshalb verstehen
Platon und Aristoteles die Weltabgewandtheit der Philosophen und der
Philosophie nicht als Manko, sondern als Vorzug. Sie ist Voraussetzung für ein
wahrhaftiges Philosophieren. Und dessen Ergebnisse kommen der Welt, von der
man sich zunächst abgewandt hatte, dann auch durchaus zugute: nicht als Nutzen
für einen bestimmten Zweck, aber als Wert für alle.
SPRECHERIN
Wenn Sokrates zum Beispiel in philosophischen Gesprächen mit seinen Athener
Mitbürgern herauszufinden versucht, was Gerechtigkeit ist, dann zeigt sich, dass
jeder Redner Gerechtigkeit anders definiert, nämlich so, dass es ihm selbst nützt.
Der Mächtige versteht Gerechtigkeit also ganz anders als der Ohnmächtige und
der Reiche anders als der Arme.
Hier braucht es den Philosophen, der sozusagen weltfremd genug ist, um
unbelastet von eigenen Interessen die Wahrheit herauszufinden.
SPRECHER
Wenn dies gelingt, wenn man also das wahre Wesen der Gerechtigkeit erkennt,
dann hat dies natürlich großen Wert für eine gute Lebensführung aller Menschen.
Denn wie soll man gerecht handeln, ohne zu wissen, was Gerechtigkeit eigentlich
ist?
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SPRECHERIN
So charakterisierten Platon und Aristoteles schon in der Anfangszeit das komplexe
und komplizierte Wesen der Philosophie. Ja, die Philosophen sind weltfremd, aber
das müssen sie auch sein, um über die konkrete Wirklichkeit hinaus zum Wesen
der Dinge vorzudringen. Ja, die Philosophie verweigert sich jedem Nutzendenken,
aber nur so kann sie ihre besonderen Werte schaffen. Ja, die Philosophie ist in
gewisser Weise Luxus, denn zu den dringenden Notwendigkeiten des Lebens
leistet sie keinen Beitrag. Aber sie ist deshalb keineswegs überflüssig, denn sie
befähigt den Menschen, ein besseres Leben zu führen, nämlich eines, das sich
nicht im bloßen physischen Überleben erschöpft. So befindet Aristoteles denn
auch am Ende seiner Betrachtung über die Philosophie und die anderen
Wissenschaften kurz und bündig:
ZITATOR
„Notwendiger als diese sind alle anderen, besser aber keine.“
MUSIKAKZENT CD48421/001
SPRECHER
Tatsächlich haben Platon, Aristoteles und ihre Nachfolger die Entwicklung des
Abendlands wesentlich geprägt.
Nicht ohne Grund heißt es, die abendländische Kultur sei durch eine Verbindung
von antiker Philosophie und Christentum entstanden. Unser Weltbild zum Beispiel
erhielt seine Grundstruktur durch eine Theorie Platons, nämlich die berühmte
Ideenlehre. Hier wurde erstmals in unserer Kultursphäre die Möglichkeit erörtert,
dass es außer der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, noch
eine andere, jenseitige, geistige Welt geben könnte, und zwar eine, die besser ist
als unsere.
SPRECHERIN
Das Christentum nannte dies ‚das Reich Gottes’, das nicht von dieser Welt ist und
in dem die gläubigen Christen das ewige Leben bei Gott erlangen. Seit damals
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und bis heute beschäftigt dieses dualistische Weltbild, in Zustimmung und
Ablehnung, die kreativen Köpfe in Literatur, bildender Kunst und Musik – und auch
die Herzen der meisten Menschen unseres Kulturkreises: Gibt es diese jenseitige
Welt? Werde ich Teil von ihr sein, oder bin ich es auch jetzt schon? Wo befindet
sie sich? Im Kosmos, im Himmel oder vielleicht in uns selbst?
SPRECHER
Während Platons Gedanken vor allem das metaphysische Bedürfnis der
Menschen und ihre moralische Disposition ansprachen, schuf die Philosophie des
Aristoteles die Fundamente unserer wissenschaftlichen und technischen
Zivilisation. Aristoteles wurde im Zuge seiner genuin philosophischen Tätigkeit
sozusagen nebenbei auch zum Urheber vieler Einzelwissenschaften, etwa der
Physik, der Biologie und der Psychologie. Vor allem aber begründete er überhaupt
erst Wissenschaft im modernen Sinne. Wissen gab es zwar auch schon vor
Aristoteles, aber nicht methodisch gewonnene und durch Beweise gesicherte
Erkenntnisse, also das, was wir heute unter Wissenschaft verstehen.
SPRECHERIN
Erst Aristoteles fragte sich, was Wissenschaft eigentlich ist, was sie ausmacht,
was ihre Aufgaben sind, ihre Methoden, ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten und
ihre Grenzen. Außerdem, wie man logisch richtiges von falschem Denken
unterscheiden kann, welche Arten von Schlussfolgerungen stimmig sind und
welche trügerisch. In einem fünfbändigen Werk, das bezeichnenderweise den Titel
Organon trägt, deutsch: Werkzeug, erstellte er ein umfassendes System von
intellektuellen Instrumenten, auf dessen Boden Wissenschaften, wie wir sie heute
kennen, überhaupt erst entstehen konnten.
SPRECHER
Für deren Entwicklung und praktische Auswirkungen zeichneten andere große
Denker verantwortlich, Philosophen wie Francis Bacon und vor allem René
Descartes, Naturwissenschaftler wie Galilei, Newton oder Einstein und Techniker
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wie Thomas Edison oder Carl von Linde. Ihnen ist es zu verdanken, dass der
zivilisatorische Fortschritt im Westen in den letzten Jahrhunderten schneller und
ertragreicher vonstattenging als in allen anderen Kulturkreisen, und dass wir heute
Errungenschaften wie etwa Elektrizität oder Kühlschränke genießen können. Die
Grundlagen dafür schuf vor knapp 2.500 Jahren der Philosoph Aristoteles.
MUSIK CD28057/W03 (take 15)
SPRECHERIN
Aber nicht nur im Großen bewegten die antiken Philosophen die Welt, sondern
auch in Bezug auf die persönliche, individuelle Lebensgestaltung des Einzelnen.
Dies begann schon mit Sokrates, hinter dessen Fragen an seine Mitbürger die
Überzeugung stand, dass nur ein geprüftes Leben wirklich lebenswert ist, also
eines, das nicht einfach so dahin gelebt, sondern bewusst geführt wird.
Deshalb gilt Sokrates als der Begründer der Ethik. Er versuchte, seine
Gesprächspartner zum Nachdenken zu bringen, über sich selbst, ihre Seele und
ihr Leben. Und er hoffte, Antworten zu finden, die seinen Mitmenschen ein gutes
und damit glückliches Leben ermöglichen sollten.
MUSIK kurz hoch und weg
SPRECHER
Die Nachfolger des Sokrates in den Philosophenschulen der Stoiker und der
Epikuräer versuchten dann, Regeln aufzustellen, die den Menschen dauerhaftes
und sicheres Glück bescheren sollten. Für die Stoiker führte der Weg dazu über
ein tugendhaftes Leben, für die Epikuräer über ein klug kalkuliertes Ausleben der
Lust. Am konkretesten wurde der römische Stoiker und Staatsmann Seneca.
Zusätzlich zu all seinen anderen Tätigkeiten betrieb er in Büchern, Briefen und
persönlichen Gesprächen so etwas wie eine philosophische
Lebenskunstberatung.
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SPRECHERIN
Wichtig ist nach Seneca vor allem eine realistische Einschätzung der Dinge, die
uns umgeben, vor allem derjenigen, die uns ängstigen:
ZITATOR
„Denke aber vor allem daran, den Vorgängen das Aufregende zu nehmen und zu
sehen, was es mit der Sache selbst für eine Bewandtnis hat. Du wirst erkennen,
dass es an ihnen nichts Furchtbares gibt, außer der Furcht selbst.“
SPRECHERIN
Senecas Stoiker-Kollege Epiktet brachte dies dann auf die eingängige Formel:
ZITATOR
„Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von
den Dingen.“
SPRECHER
Wenn dies so ist, dann kann man durch eine Anpassung seiner Vorstellungen an
die Wirklichkeit Beunruhigungen und Ängste vertreiben. Der Kern der stoischen
Glückslehre ist also ein Erkennen und Akzeptieren der tatsächlichen eigenen
Lebensumstände. Noch einmal Seneca:
ZITATOR
„Glücklich ist, wer mit den Umständen – wie immer diese sind – zufrieden ist und
sich mit seinen Verhältnissen angefreundet hat. Den Willigen führt das Schicksal,
den Unwilligen zerrt es mit sich.“
SPRECHER
Auf dem Weg zu einer solch realistischen Einstellung kann das Philosophieren
nicht zuletzt deshalb eine große Hilfe sein, weil es im Interesse der reinen
Wahrheit persönliche Interessen, Neigungen und Wünsche hintanstellt. Dadurch
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bringt es eine gelassene, in gewisser Weise über den Dingen stehende
Lebenshaltung mit sich – die auf eine stille Weise glücklich machen kann. Auch
dazu äußert sich Seneca:
ZITATOR
„Daraus erwächst jenes unschätzbare Gut, jene Ruhe und Erhabenheit der Seele,
die sicher gegründet ist und eine hohe und ungestörte Freude, die aus der
Erkenntnis der Wahrheit entspringt, und außerdem eine unerschütterliche
Freundlichkeit und Heiterkeit des Herzens. Daran wird sich die Seele erfreuen,
nicht wie an zufälligen Gütern, sondern wie an Früchten, die aus dem eigenen Gut
entstanden sind. Wer ein solches Fundament in sich gelegt hat, den müssen,
gewollt oder nicht, fortwährende Heiterkeit und eine hohe, dem Innersten
entspringende Freude begleiten.“
MUSIKAKZENT CD28057/W03 (take 15)
SPRECHERIN
Den wohl bedeutendsten Beitrag für ein gutes Zusammenleben der Menschen
leisteten die Philosophen der Aufklärung. Dass wir heute in einem geordneten
demokratischen Rechtsstaat leben, in dem unsere zentralen Rechte in der
Verfassung gesichert sind, verdanken wir überwiegend diesen Denkern des 17.
und 18. Jahrhunderts.
MUSIK „Nocturne für Klavier c-moll“ (Chopin), C5020210/211
SPRECHER
Philosophen wie Thomas Hobbes, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und
Immanuel Kant entwarfen die Grundlagen eines staatlich geschützten friedlichen
Zusammenlebens. Sie begründeten und forderten Religionsfreiheit,
Unantastbarkeit der Person, Meinungsfreiheit und viele andere Rechte, auf die
jeder Mensch als Mensch einen unabdingbaren Anspruch hat, ungeachtet seiner
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Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner gesellschaftlichen Herkunft. An der
umfassenden Durchsetzung und Verwirklichung dieser Rechte muss weiter
gearbeitet werden. Aber dass sie aufgespürt, begrifflich geklärt und formuliert
wurden und dass sie heute, zumindest in unserer Gesellschaft, im allgemeinen
Bewusstsein wie auch rechtlich und politisch fest verankert sind, das ist ein
Verdienst der Aufklärung.
MUSIK ausblenden
SPRECHERIN
Ein Philosoph darf nicht übersehen werden, wenn es um die Wirkungsmächtigkeit
philosophischer Gedanken geht, nämlich Karl Marx. Sein dialektischer
Materialismus oder Kommunismus beherrschte zeitweise die halbe Welt, bevor er
1989/90 in sich zusammenbrach. Wobei man, um Marx nicht Unrecht zu tun, sich
fragen muss, inwieweit das, was da zusammenbrach, tatsächlich noch eine
Umsetzung der Marx’schen Lehre war. Aber was auch immer man vom
Kommunismus hält, eines steht fest: Nie zuvor und auch nicht danach hat das
Denken eines einzelnen Menschen die Welt so verändert wie im Fall von Karl
Marx.
MUSIKAKZENT CD 48421/001
SPRECHER
Die historische Wirksamkeit der Philosophie, im Guten wie auch im weniger
Guten, ist also schwer zu bezweifeln und wird auch nicht ernsthaft bestritten.
Trotzdem ist die Situation der Philosophie heute eher prekär, zumindest in den
Institutionen. Wann immer an Universitäten über die Kürzung oder Streichung von
Finanzmitteln und Stellen diskutiert wird, steht die Philosophie im Brennpunkt.
Günther Abel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, stellte denn
auch schon im Jahre 2005 fest: “Das Fach Philosophie ist an den deutschen
Universitäten enorm bedroht.“
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SPRECHERIN
Diese Geringschätzung der Philosophie hängt mit der zunehmenden
Ökonomisierung vieler Lebensbereiche zusammen, die auch vor der Universität
nicht halt macht. Universitäten sind heute Wirtschaftsbetriebe, die sich in hohem
Maße durch die Einwerbung von Drittmitteln aus der Wirtschaft finanzieren
müssen. Da ist dann Ausbildung gefragt, nicht Bildung.
Die Wissensangebote müssen sich für die Geldgeber rentieren, und das möglichst
kurzfristig. Die Philosophie tut sich hier schwer. Mit ihrer Skepsis, ihren Zweifeln,
ihrem Beharren auf Prinzipien und moralischen Ansprüchen verkompliziert sie den
Produktionsablauf und steht gewissermaßen quer zum Bruttosozialprodukt.
Deshalb wird sie vielfach mit Ignoranz, wenn nicht gar Misstrauen bedacht.
SPRECHER
Dabei hat die Philosophie auch unserer heutigen Gesellschaft viel zu bieten. Der
Tübinger Philosoph Otfried Höffe meint sogar, dass die Philosophie im Zeitalter
der Globalisierung lebenswirksam werden kann wie nie zuvor.
Denn sie ist nicht einer bestimmten Kultur, Religion oder Interessengruppe
verpflichtet, sondern nur der Vernunft, also einem allgemein menschlichen und
weltweit gültigen Medium. Deshalb kann sie in vielen Fragen als Anwältin der
gesamten Menschheit sprechen. In diese Richtung zielen etwa neue
Gerechtigkeitstheorien des Amerikaners John Rawls und des Deutschen Jürgen
Habermas. Höffe befindet denn auch kurz und bündig:
ZITATOR
„Gegen den ökonomistischen Fehlschluss, der die Globalisierung auf die Finanz-,
Waren- und Dienstleistungsmerkmale verkürzt, verlangt dieses Zeitalter nicht etwa
weniger, sondern im Gegenteil mehr an Philosophie.“
MUSIKAKZENT CD 28057/W03 (take 16)
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SPRECHERIN
Ohnehin scheinen die Menschen der Gegenwart, anders als die Institutionen,
durchaus einen Sinn für den Wert der Philosophie zu haben.
(Kurz noch mal Musikakzent s.o)
Darauf deuten zumindest die Erfolge philosophischer Themen auf dem Buchmarkt
hin. Einer der meistgelesenen deutschen Autoren ist der Philosoph Wilhelm
Schmid. Sein Hauptwerk Philosophie der Lebenskunst ist für ihn ...:
ZITATOR
„… ein Versuch, Lebenskunst nicht inhaltlich festzulegen, sondern ihre
Grundbestandteile zu thematisieren, die im jeweiligen historischen und kulturellen
Kontext die Bedingungen ihrer Möglichkeit darstellen, und deren konkrete
Ausgestaltung den Individuen überlassen bleiben muss. Das Individuum wird in
die Lage versetzt, seinen eigenen Lebensvollzug besser zu verstehen und
gegebenenfalls in ihn einzugreifen, da ihm die gesamte Bandbreite der
Möglichkeiten des Verstehens und Vorgehens zur Verfügung steht.“
SPRECHERIN
Die Philosophie gibt also keine konkreten Empfehlungen, mischt sich sozusagen
nicht in die Details ein, sondern belässt es beim Aufzeigen der grundsätzlichen
Möglichkeiten, aus denen jeder Einzelne für sich auswählen kann. Ziel ist es, das
eigene Leben bejahenswert zu machen. Schmid formuliert in diesem
Zusammenhang sogar einen existentiellen Imperativ:
ZITATOR
„Gestalte dein Leben so, dass es bejahenswert ist.“
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SPRECHER
Diese philosophische Auseinanderlegung von Bedingungen und Möglichkeiten
eines guten Lebens kann durchaus hilfreich sein. Dennoch bleibt die Frage, ob bei
einer solchen Instrumentalisierung der Philosophie, hier für die Lebenskunst, nicht
doch ihr eigentlicher Reichtum verborgen bleibt, auch wenn diese
Instrumentalisierung so indirekt geschieht wie bei Wilhelm Schmid.
SPRECHERIN
Wenn ich die Philosophie bewusst als Mittel zur Verbesserung meines Lebens
verwende, ordne ich sie diesem Leben unter und nehme ihr dadurch ihre Weite
und Größe. Es fragt sich, ob es nicht mehr Sinn macht und indirekt auch
ertragreicher ist, die Philosophie, ganz im Sinne von Platon und Aristoteles, nur
um ihrer selbst willen zu betreiben, ohne alle Zweckgebundenheit. Darauf macht
auch Bertrand Russell aufmerksam:
ZITATOR
„Die Philosophie gewinnt ihren Wert – und vielleicht ihren vornehmsten Wert –
durch die Größe der Gegenstände, die sie bedenkt und durch die Befreiung von
engen und persönlichen Zwecken, die sich aus dieser Betrachtung ergibt.“
SPRECHERIN
Man soll sich also nicht mit der Philosophie beschäftigen, um den eigenen –
kleinen – Zwecken zu dienen, sondern im Gegenteil, um sich innerlich von diesen
Zwecken freizumachen. Noch einmal Russell:
ZITATOR
„In der philosophischen Kontemplation gehen wir vom Anderen aus, und durch
seine Größe werden wir selber zu etwas Größerem gemacht. Der betrachtende
Geist gewinnt einen Anteil an der Unendlichkeit der von ihm betrachteten Welt. In
dieser Weltbürgerschaft besteht die wahre Freiheit des Menschen, seine
Befreiung aus der Knechtschaft kleinlicher Hoffnungen und Ängste.“
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MUSIK CD 28057/W03 (take 15)
SPRECHER
Die Beschäftigung, und zwar die uneigennützige Beschäftigung mit den großen
Themen der Philosophie, dem Sinn des Lebens etwa, dem Glück, der Moral, dem
Leid und dem Tod, relativiert unsere persönlichen Anliegen und Sorgen und befreit
uns aus der Enge des alltäglichen Daseins. Dadurch können wir, sozusagen
unbeabsichtigt und nebenbei, eine andere, souveräne und gelassene Haltung zur
Welt und zu uns selbst und unserem Leben gewinnen. Darin liegt, so Bertrand
Russell, der wahre Wert der Philosophie, der zeitlos gültig ist.
MUSIK aus.
- Stopp -
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