1 Freitag, 30.06.2017 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jürgen Kesting Mit blühendem Ton gespielt Bachiana Asya Fateyeva, Saxofon Württembergisches Kammerorchester Heilbronn Ruben Gazarian Berlin Classics 0885470009094 Dokumentarischer Wert The Inaugural Season Extraordinary MET Performances from 1966-67 22 CDs Warner 0811357018224 Inspirierte Aufnahme La Storia di Orfeo Monteverdi • Sartorio • Rossi Philippe Jaroussky, Countertenor Emöke Baráth, Sopran Coro della Radiotelevisione Svizzera I Barocchisti Diego Fasolis Erato 0190295851903 Champion der Klaviervirtuosen Nikolai Medtner Klavierkonzert Nr. 2 Marc-André Hamelin, Klavier London Philharmonic Orchestra Vladimir Jurowski Hyperion CDA 68145 „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, heute mit Jürgen Kesting, herzlich willkommen! – „Komponisten dieser Welt, schaut auf dieses Instrument“ – mit diesen Worten wirbt die auf der Krim geborene Asya Fateyeva für das Saxophon. Ihre zweite CD ist überwiegend Werken gewidmet, die mehr als ein Jahrhundert vor der Erfindung des Saxophons geschrieben wurden: von Johann Sebastian Bach. Johann Sebastian Bach: Konzert für Violine und Basso continuo BWV 1056, Largo (Ausschnitt) 1:25 Das war Der Beginn des Largo aus dem Konzert für Violine und Basso continuo von Johann Sebastian Bach, adaptiert für das Saxophon. Später mehr zu Asya Fateyevas neuer CD. Zunächst aber ein Hinweis auf das, was Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, weiter erwartet: Vor fünf Jahrzehnten fand die Metropolitan Opera ein neues Quartier im New Yorker Lincoln Center. An die Eröffnungs-Spielzeit 1966/67 erinnert eine 22 CDs umfassende Sammlung: zehn Mitschnitte vollständiger Aufführungen und eine Sammlung mit Saison-Höhepunkten. – Aus drei mach eins. Szenen aus drei Vertonungen des Orpheus-Stoffes von Claudio Monteverdi, Luigi Rossi und Antonio Sartorio hat der Countertenor Philippe Jaroussky für eine Opern-Kantate collagiert: „La Storia di Orfeo“. – Zum Schluss ein Champion der Klaviervirtuosen: Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin paart das Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow in d-Moll mit dem Konzert in c-Moll seines sieben Jahre jüngeren Landsmannes und Freundes Nikolai Medtner. – 2 Es sind zwei junge Musikerinnen, die mit dem 1840 von dem belgischen Instrumentenbauer Adolph Sax entwickelten Saxophon eine beachtliche Solisten-Karriere begonnen haben: die Australierin Amy Dickson, die ich im April des vorigen Jahres in dieser Sendung vorgestellt habe, und aktuell die auf der Krim geborene und mit diversen Preisen ausgezeichnete Asya Fateyeva, die nun das bereits zum Auftakt angespielte Largo aus dem Violinkonzert von Bach zu Ende bringt – begleitet wird sie vom Württembergischen Kammerorchester unter Ruben Gazarian. Johann Sebastian Bach: Konzert für Violine und Basso continuo BWV 1056, Largo (Ausschnitt) 1:35 Das Largo aus Bachs Konzert für Violine und Basso continuo von Johann Sebastian Bach – von Asya Fateyeva für das Saxophon adaptiert und mit blühendem Ton gespielt, geradezu gesungen. Das Saxophon sei, so betont sie denn auch, der menschlichen Stimme am ähnlichsten. Es ist eine leidige Frage, ob solche Adaptionen erlaubt sind. Bekannt ist immerhin, dass Bach selber Konzerte von Antonio Vivaldi transkribiert hat; und beim Violinkonzert hat er auf eine Sinfonia aus der Kantate „Ich steh’ mit einem Fuß im Grabe“ zurückgegriffen – mit der Oboe als dem melodietragenden Instrument. Asya Fateyeva hat drei weitere Werke von Bach aufgenommen: einen Satz aus der Kantate „Lobet Gott in seinen Reichen“, dann das Konzert in a-Moll BWV 1041 und das Konzert für Oboe, Violine und Streicher BWV 1060, in dem der Geiger Erik Schumann ihr solistischer Partner ist. Sie hören daraus den Adagio-Satz: Johann Sebastian Bach: Konzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo, Adagio 4:55 Das war das Adagio aus dem Konzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo BWV 1060 mit der Saxophonistin Asya Fateyeva und dem Geiger Erik Schumann, begleitet vom Württembergischen Kammerorchester unter Ruben Gazarian. – Auf andere Weise huldigt Fateyeva Bach mit der Aria aus den „Bachianas brasileiras“ von Heitor-Villa-Lobos, dessen „Fantasia para Saxofone“ das Programm höchst lebendig beendet. Hier der erste den ersten Satz – „Animè“ – mit Asya Fatyeva und dem Württembergischen Kammerorchester unter Ruben Gazarian. Heitor-Villa-Lobos: Fantasia para Saxofone, Animé“ 3:00 Das war der erste Satz – „Animé“ – aus der „Fantasia para Saxofone“ von Heitor Villa-Lobos. Asya Fateyeva wurde vom Württembergischen Kammerorchester unter Ruben Gazarian sehr aufmerksam begleitet. Ihre CD ist ein eindringliches Plädoyer für ein Instrument, dessen Klang Hector Berlioz in seiner Instrumenten-Lehre als „feierlich-ernst und ruhig, träumerisch und melancholisch“ beschrieben hat. Die Aufnahme wurde von Berlin Classics veröffentlicht. Mehr als acht Jahrzehnte hatte die Metropolitan Opera zwischen der 39. und 40. Straße am Broadway gestanden, bevor sie 1966 ins Lincoln Center for the Performing Arts übersiedelte. Die erste Saison begann am 16. September 1966 mit der Uraufführung von Samuel Barbers „Antony and Cleopatra“ – und wie schon seit 1931 war die Met „on the air“. Weitere neun Mitschnitte von Aufführungen der „Inaugural Season“ 1966/67 hat Warner herausgebracht, dazu eine CD mit Höhepunkten aus weiteren acht Aufführungen. In die Operngeschichte ist die Uraufführung von Samuel Barbers „Antony and Cleopatra“ als Desaster eingegangen. Die Schuld dafür wird dem Librettisten und Regisseur Franco 3 Zeffirelli zugewiesen – seinem Versuch, mit den technischen Mitteln der neuen Met ein monumentales Spektakel – hier die Seeschlacht bei Actium, dort die prunkvolle Lustbarke der Cleopatra – auf die Bühne zu bringen. Wegen des Schaugepränges konnte sich die Musik Barbers kaum entfalten. Erst die zweite Fassung der Oper wurde zum Erfolg. Dennoch kann man nur dankbar sein, dass der Mitschnitt der Urfassung erhalten ist. Die Oper ist reich an atmosphärisch-dichten lyrischen Szenen; und ihr dritter Akt bot Leontyne Price, damals 1966 auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn, alle Chancen, ihre hohen Töne schimmern und leuchten zu lassen. Zum Beleg der Monolog aus dem Finale vor dem Tod der Königin durch den Biss der mythischen Natter: „Give me my robe“: Samuel Barber: Antony and Cleopatra, Give me my robe 4:40 Leontyne Price in der herzbewegenden Finalszene aus Samuel Barbers „Antony and Cleopatra“. Sie wurde begleitet vom Orchester der Metropolitan Opera unter Thomas Schippers. Die Oper in ihrer Erstfassung ist hier, soweit ich sehe, zum ersten Mal zu hören. In seiner brillanten Studie über die Rundfunkübertragungen aus der Met notiert Paul Jackson über den Start-Up: „The Met goes modern.“ Neben „Antony and Cleopatra“ brachte die erste Saison im neuen Haus die nur respektvoll aufgenommene Uraufführung von Marcin David Levys „Morning becomes Electra“. – Mehr Beifall erntete die von Karl Böhm geleitete New Yorker Erstaufführung von „Die Frau ohne Schatten“. Aber den einzigen uneingeschränkten Erfolg hatte, wie Rudolf Bing in seinen Memoiren betont, die Wiederaufnahme von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ unter Colin Davis mit Jon Vickers in der Titelpartie, der die Partie zum ersten Mal sang. Ein magischer Moment der Aufführung: der Sehnsuchtsruf des Grimes: „What harbour shelters peace“ – eine Bitte um Frieden, den Grimes als gesellschaftlicher und homoerotischer Außenseiter auf Erden nicht finden wird. Benjamin Britten: Peter Grimes, What harbour shelters peace 1:25 Jon Vickers war der ideale Interpret des Peter Grimes‘. Die psychologische Anlage der Rolle gab ihm die Möglichkeit, seine besonderen Talente zu nutzen: sängerisch die Vielfalt vokaler Farben, den dynamischen Umfang seiner gewaltigen Stimme und die Prägnanz der Deklamation, darstellerisch die Fähigkeit, in die Seele eines gequälten Menschen einzudringen. Sein Grimes gleicht, metaphorisch gesprochen, einer gewaltigen Skulptur, auf der die Hammerschläge des Bildhauers noch zu sehen sind. Ein Höhepunkt von Vickers Darstellung ist der Monolog des in den Wahnsinn getriebenen Grimes. Er wird gedrängt, aufs Meer hinaus und in den Tod zu fahren. Es ist kein arioser Monolog wie in der Barock-Oper; kein erzählerischer Monolog wie der Wotans in der „Walküre“; kein Reflexions-Monolog wie der des Königs in „Don Carlo“, sondern das beklemmende Psychogramm eines Mannes, der fiebrig-halluzinierend an sein Leben zurückdenkt und ahnt, dass das tiefe Wasser seine Heimat sein wird. Benjamin Britten: Peter Grimes, Grimes ... Steady on 5:50 Die Aufführung von Benjamin Brittes „Peter Grimes“ bewahrt, um noch einmal Paul Jackson zu zitieren, „one of the supreme operatic characterizations of the century” (eines der herausragenden Opern-Portraits des Jahrhunderts). Das Wort vom „supreme operatic achievement“ gebraucht Jackson auch für Leonie Rysaneks Darstellung der Kaiserin in „Die Frau ohne Schatten“. Welch unvergleichlichen Glanz ihre Stimme besaß, einen opalisierenden ätherischen Schimmer in der hohen Lage, hören wir in den Gesang der um den Gatten klagenden Kaiserin: „Ist mein Liebster dahin?“ 4 Richard Strauss: Die Frau ohne Schatten, Ist mein Liebster dahin? 3:15 Das war ein kurzer Ausschnitt aus dem klagenden Gesang der Kaiserin aus „Die Frau ohne Schatten“ mit der in dieser Rolle einzigartigen Leonie Rysanek inmitten eines glänzenden Ensembles, das der ehrgeizigsten der Strauss-Hoffmannstal-Opern in den 60er Jahren endlich weltweit zum späten Durchbruch verhalf: Christa Ludwig als Färbersfrau, Walter Berry als Barak, Irene Dalis als Amme und James King als Kaiser. Zu beklagen ist nur, dass Karl Böhm im dritten Akt erhebliche Striche zuließ, die sich der Komponist in einem Brief an den Dirigenten zuvor strikt verbeten hatte. Nutzen wir die Edition nun als Zeitzeugin, um auf besondere sängerische Momente – von Joan Sutherland etwa – hinzuweisen. Sie zeigt als Lucia di Lammermoor in der gleichnamigen Oper von Gaetano Donizetti, wie eine melodische Linie kalligraphiert wird, durch Portamenti Spannung bekommt und durch Triller expressiv aufgeladen wird. Gaetano Donizetti: Lucia di Lammermoor, Ardon gli incense (Ausschnitt) 1:40 Den Ruf der Stupenda beweist Joan Sutherland in der atemberaubend geformten Kadenz der Arie im Dialog mit der Flöte. Gaetano Donizetti: Lucia di Lammermoor, Ardon gli incense (Ausschnitt) 2:05 Eine Manifestation transzendentaler Virtuosität: Joan Sutherland mit der Kadenz aus der Wahnsinnsarie der „Lucia di Lammermoor“, dem halluzinatorischen Gespräch mit dem verlorenen Geliebten Edgardo, der mit Richard Tucker in dieser Aufführung brillant besetzt war. Auch die von Zubin Mehta dirigierte Aufführung von „Turandot“ war reich an denkwürdigen, ja an magischen Momenten – etwa wenn Birgit Nilsson als Prinzessin dem sie umwerbenden Kalaf von einem schrecklichen Ereignis erzählt, das sich vor 5000 Jahren „In questra reggia“ ereignet hat. Es war ein Akt der Gewalt, wohl sexueller Gewalt an ihrer Urahnin. Für sie ist er zum Trauma geworden, so dass sie als Frau gleichsam zu ihrer Urahnin versteinert ist und sich an der Männerwelt rächen will. Partner der schwedischen Sopranistin war der stimmlich wie eine lodernde Fackel brennende Franco Corelli. Giacomo Puccini: Turandot, In questa reggia (Ausschnitt) 2:20 Das war mehr als ein Duett, vielmehr ein Duell der sich stimmlich ausverschenkenden dramatis personae. Wie lange ist es wohl her, dass wir Stimmen von solch durchdringender Brillanz gehört haben wie die von Birgit Nilsson und Franco Corelli? „Quel embarras de richesse!“ mag man beim Blick auf die damaligen Besetzungen rufen: „Welch sagenhafter Reichtum“. Leontyne Price und Jon Vickers, Leonie Rysanek und Joan Suherland waren schon zu hören, hinzu kommen Renata Tebaldi, Anna Moffo, Montserrat Caballé, Renata Scotto und Martina Arroyo im Sopranfach; Carlo Bergonzi, Richard Tucker, Jess Thomas, James McCracken, James King und Nicolai Gedda unter den Tenören; Robert Merrill, Tito Gobbi, Sherrill Milnes, Cornell MacNeil und Walter Berry unter den Baritonen. Wer die Vergangenheit preist, lautet ein französisches Sprichwort, tadelt die Gegenwart. Diesen Tadel kleidete der Sozialwissenschaftler Andrew Moravcsik von der Princeton University in die Frage: „Where have the great big Verdi Voices gone?“ Er richtete diese Frage an mehr als 130 Opera Professionals: an Dirigenten und Sänger, Theaterleiter und Agenten, Gesangslehrer und Kritiker. Eine von vielen ernüchternden Antworten: Für die Partie des Rigoletto, so klagte ein Intendant, stehe heute bestenfalls ein Bariton der Klasse B 5 zu Verfügung. Die Baritone der letzten drei Dekaden kommen hinsichtlich „power, range and resonance“ an ihre Vorgänger, etwa an Cornell MacNeil, entfernt nicht heran: Giuseppe Verdi: Rigoletto, Un vindice avrai ... Si vendetta (Ausschnitt) 2:25 Roberta Peters und Cornell MacNeil mit dem Rache-Duett „Sì, vedetta, tremenda vendetta“, abgeschlossen mit einem phänomenalen und endlos gehaltenen hohen As. MacNeil brachte aber nicht nur „power and resonance“ für die Wutausbrüche Rigolettos mit, sondern auch eine voll klingende und weich karessierende Mezza voce für die lyrischen Phrasen – wie etwa im Monolog, in dem Rigoletto sich bewusst wird, dass er dem Banditen Sparafucile gleicht: Dieser mordet mit dem Stahl, er aber mit der Zunge des Spötters. Giuseppe Verdi: Rigoletto, Pari siamo 1:20 Das war der dynamisch fein nuancierende Rigoletto des amerikanischen Baritons Cornell MacNeil. Dass Sänger dieses Ranges, dieses stimmlichen Kalibers für die zentralen Partien des dramatischen Fachs – nicht nur des Baritonfachs – kaum noch zu finden sind, wird keineswegs nur von nostalgischen laudatores temporis acti behauptet. In den von Andrew Moravcsik geführten Interviews kommen auch Dirigenten wie Riccardo Muti oder James Levine zu Wort, der vor einigen Jahren beklagte, dass er für die Partien wie Manrico, Alvaro, Radamès und Otello kaum noch Sänger finde. In der Saison 1966/67 standen ihm für diese Partien Richard Tucker, Franco Corelli, Carlo Bergonzi, Jon Vickers und James McCracken zur Verfügung – dazu Jess Thomas, Sandor Konya, Bruno Prevedi, Flaviano Labò. Was bieten diese zehn Mitschnitte? Ihr Wert ist vor allem dokumentarisch. Sie zeugen vom Leistungsniveau eines der führenden Opernhäuser – insbesondere vom Niveau des Sängerensembles, aus dem heraus damals die Hauptwerke von Verdi und Puccini, Wagner und Strauss wirklich mühelos besetzt werden konnten. Dies ist heute kaum noch möglich. Der Grund? Es mag daran liegen, dass heute die theatralischen Aspekte einer Aufführung gerade in der Medienwelt mehr Bedeutung finden als die musikalischen und ganz besonders die sängerischen Qualitäten. Unter diesen Auspizien ist zu befürchten, dass die Gesangsoper des 19. Jahrhunderts vor dem Ende steht. Von der Eröffnungsspielzeit der Metropolitan Opera 1966/67 zur Symbol-Figur des Musiktheaters. Nach Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ von 1607 wurde der mythische Sänger schon im 17. Jahrhundert zum Titelhelden von etwa 15 italienischen, französischen und deutschen Opern. Dass im 18. Jahrhundert an die 25 Orpheus-Opern geschrieben wurden, ist eine Bestätigung für die Feststellung von Theodor W. Adorno: „Alle Oper ist Orpheus“. Monteverdi hat seinen „L’Orfeo“ vor der Ära der Kastraten geschrieben – sein Orpheus war Tenor und ist bislang fast immer von Tenören, gelegentlich auch von einem hohen Bariton, gesungen worden. Aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, dass sich ein Countertenor die Rolle aneignen würde. Der erste Countertenor ist Philippe Jaroussky, der für „La Storia di Orfeo“ die Musik von drei Komponisten nutzt. Zusammen mit dem Dirigenten Diego Fasolis hat Jaroussky zwei Dutzend Arien, Chöre und Ensembles aus den Orpheus-Opern von Claudio Monteverdi, Luigi Rossi und Antonio Sartorio, entstanden 1607, 1647 und 1672, zusammengefasst. Die Kernhandlung bleibt natürlich erhalten: von den bukolischen Szenen und dem Lobgesang auf die baldige Ehe zwischen Orfeo und Euridice bis hin zum Schlussgesang mit der Sterbensbitte des Orfeo. Den Auftakt macht – nach einer kurzen Sinfonia – ein duettierender Lobgesang zwischen Orfeo und Euridice auf das unzertrennbare Band der Liebe aus der Oper von Antonio Sartorio. In der Sopranistin Emöke Baráth hat Jaroussky eine wunderbare Partnerin mit einer reizvoll timbrierten Stimme gefunden. Sie hören die beiden in der Eingangsszene, wenn sie sich mit dem teuren Band der Liebe umwinden – Cara e amabile catena: 6 Antonio Sartorio: Cara e amabile catena 2:20 „Teures Band der Liebe, das mich an meinen Liebsten knüpft!“ – der Beginn der 1672 uraufgeführten Oper von Antonio Sartorio, gesungen von Emöke Baráth und Philippe Jaroussky. Nach chorischen Szenen folgt, nun aus der Oper des Divino Claudio, wie Monteverdi schon von seinen Zeitgenossen genannt wurde, die berühmte Sonnen-Hymne: „Rosa del ciel“. Die Sonne ist, in der Ideenwelt des Neuplatonismus, die Kraft, die das Leben erweckt und alle Finsternisse erhellt. Sie hören wieder Philippe Jaroussky und Emöke Baráth. Claudio Monteverdi: Rosa del ciel 2:50 Die Hymne „Rosa del ciel“ aus Monteverdis „L’Orfeo“ mit Philippe Jaroussky und Emöke Baráth. Die wahre Liebe und ihre unverbrüchliche Treue sollen in einer wandelbaren Welt, so wird es im Schlusschor der Oper heißen, „nie eine Belohnung erwarten“. Nur der Himmel, der unveränderlich ist, kann Beistand gewähren. Was der Liebe zwischen Orfeo und Euridice widerfährt, ist bekannt: Euridice wird durch den Biss einer Natter sterben – in der Oper von Sartorio ein Beckenschlag, dem ein Declamato-Dialog zwischen der Toten und dem klagenden Orfeo folgt – erneut Philippe Jaroussky und Emöke Baráth: Antonio Sartorio: Ahimè, Numi, son morta 2:00 Die Sterbeszene der Euridice aus Antonio Sartorios „L’Orfeo“: Philippe Jaroussky und Emöke Baráth exzellieren in der Kunst des recitar cantando – der singenden dramatischen Deklamation. Der Höhepunkt von Monteverdis Oper steht, wie sich von selbst versteht, im Mittelpunkt der von Jaroussky erarbeiteten Operncollage: der Klagegesang des verzweifelten Orfeo, gerichtet an den „Possente spirto e formidabil nume“. Es ist bewunderungswürdig, dass es Philippe Jaroussky mit seiner zarten und leichten Stimme gelingt, die Klage mit dringlicher Emphase zu deklamieren und die Verzierungen der sechs Strophen expressiv aufzuladen. Claudio Monteverdi: Possente spirto 8:40 „Possente spirto“ – dieses fast ausufernde Lamento des Orfeo aus Monterverdis Oper sei, so schreibt Ulrich Schreiber in seiner Operngeschichte, einzigartig geblieben. Die Fülle, das Übermaß der Verzierungen mag für alle, die das Ornament als Sünde wider den Geist des Musikdramas ansehen, erstaunlich, sogar irritierend sein. Aber was den höheren Sinn des Ornaments angeht, so sei Riemens Musiklexikon von 1907 zitiert: „Im kolorierten Kunstgesang emanzipiert der gesteigerte Affekt die Melodie mehr oder weniger vom Wort und seinem Rhythmus und nimmt reine musikalische Ausdrucksformen an.“ Dies hat Philippe Jaroussky auf sublime Weise sinnenfällig gemacht. Die inspirierte Aufnahme ist bei Erato erschienen. Wie kein Zweiter hat kanadische Pianist Marc-André Hamelin seit drei Jahrzehnten nach den verborgenen Schätzen der Klavier-Literatur gesucht – nach dem Esoterischen wie dem Extravaganten. Vielleicht hat er auch einen Pakt mit der exzessiven Musik geschlossen. Es scheint fast ein Widerspruch, dass er, wie es in der Zeitschrift „The New Yorker“ hieß, sowohl wegen seiner „monströs brillanten Technik“ als auch ob seines „gedankentiefen Zugangs“ zur Musik gerühmt wird. Auf seiner neuen CD mit dem glänzenden London Philharmonic Orchestra unter Leitung von Vladimir Jurowski koppelt Hamelin das d-Moll-Konzert von Sergej Rachmaninow – bekannt als „Konzert für Elephanten“ – mit dem zweiten Konzert von Nikolai Medtner. 7 Nikolai ... wer? Nun, der 1880 geborene Nikolai Medtner hat die Asse des Ruhms nicht so treffsicher eingesetzt wie der sieben ältere Jahre Rachmaninow – mit dem er eng befreundet war. Medtner hat sein 1922 vollendetes zweites Konzert in c-Moll Rachmaninow gewidmet. Es sei, so sagte Hamelin in einem Gespräch mit dem englischen Magazin „The Gramophone“, vielleicht nicht so „unmittelbar“ wie das des Freundes. „Es kostet einige Zeit, um sich hineinzufinden, aber dann ist es unwiderstehlich.“ Aber ist es nicht oft so, dass man Zeit braucht, um besondere Reize zu entdecken? Bei der ersten Begegnung mag man das ausrufen, was der Österreichische Kaiser nach der ersten Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ von Mozart rief: „Mächtig viele Noten, lieber Mozart.“ Passend die Antwort: „Gerade so viele als nötig sind.“ Wer mit der Musik von Rachmaninow vertraut ist, wird – besonders im zweiten Satz – Ähnlichkeiten des Idioms erkennen. – Hören Sie aber zum Abschluss die mächtig vielen Noten des Divertimento, des Finalsatzes. Nikolai Medtner: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, Divertimento 11:30 Der dritte Satz, Divertimento, aus dem zweiten Klavierkonzert des russischen Komponisten Nikolai Medtner, mit Marc-André Hamelin und dem London Philharmonic Orchestra unter Vladimir Jurowski – eine Entdeckung und ein Geschenk für alle „klavierverliebten Erdenbürger“, um ein Wort des vor kurzem jüngst verstorbenen Joachim Kaiser zu gebrauchen. Das war es auch schon für heute. Nähere Angaben zu den vorgestellten CDs bzw. das Manuskript finden Sie im Internet unter www Punkt swr2 Punkt de. Dort steht die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Mit herzlichem Dank für Ihr Interesse verabschiedet sich Jürgen Kesting. Hier, in SWR2, geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, und danach folgt aktuell mit Nachrichten.