Abhandlungen zur Musikgeschichte Band 28 In Verbindung mit Ulrich Konrad, Hans Joachim Marx und Martin Staehelin herausgegeben von Jürgen Heidrich Andrea Hammes Brahms gewidmet Ein Beitrag zu Systematik und Funktion der Widmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Mit zahlreichen Abbildungen V& R unipress ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6215 ISBN 978-3-8471-0437-7 ISBN 978-3-8470-0437-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0437-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Alle abgebildeten Quellen stammen aus den Beständen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck. Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Ó 2015, V& R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Johannes Brahms, Fotografie, Kabinettformat, Berlin 1889, Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Theoretische und historische Grundlegungen . . . . . . . . . . . . . 1. Die Widmung als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Paratextforschung und Textbegriff nach G¦rard Genette . . . . 1.2 Zum Potential der Widmung als musikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Form- und Funktionswandel der Widmung musikalischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Widmung in der Frühzeit des Notendrucks: Aufstieg der Gönnerwidmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kontinuität und Wandel: Die Blütezeit der Gönnerwidmung . 2.3 Abkehr von der Gönnerwidmung und Neubesinnung auf alte Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Widmung zur Brahms-Zeit: Ein Überblick . . . . . . . . . 19 19 19 II. Brahms im Kontext: Zur Widmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu Differenz und Analogien der Konzepte gedruckter und handschriftlicher Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materielle Übereignung – ideelle Widmung . . . . . . . . . . Private Übereignung – öffentliche Widmung . . . . . . . . . . Mehrfache handschriftliche Übereignungen – exklusive gedruckte Widmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur unterschiedlichen Ausprägung der handschriftlichen Übereignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur unterschiedlichen Ausprägung der gedruckten Widmung . 2. Die Widmung als kommunikativer Akt . . . . . . . . . . . . . . . 29 42 43 47 50 54 61 61 66 69 76 77 80 88 6 Inhalt . 104 . 106 . . . . . . . 111 120 120 123 131 136 139 III. Netzwerk »Brahms gewidmet« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Brahms contra Liszt: Die Widmungen aus Perspektive des historisch-ästhetischen Parteienstreits . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Öffentliches Zeugnis – Die Widmung als Positionierung im Parteienstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Widmungen von ›Neudeutschen‹? . . . . . . . . . . . . . . . . Henri Gobbi – Der Sonderfall der handschriftlichen Übereignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege der Annäherung – die Bedeutung des Beziehungsnetzwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Diskussion der Großform – Adolf Jensen . . . . . . . . . Brahms als Bachliebhaber – Die Widmung Carl Tausigs . . . . 2. Brahms in europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen der Brahms-Rezeption . . . . . . . . . . . . 2.1 Der »böhmische Brahms« und seine Schüler – Brahms in Böhmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Volksmusik und Chortradition – Brahms in England . . . . . 2.3 »L’Italia non conosce di Brahms che poche opere« – Brahms in Italien und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Konservatorien als Orte der Brahms-Vermittlung . . . . . . . 3.1 Die Berliner Hochschule als Hort des Konservatismus . . . . . 3.2 Anziehungspunkt Musikstadt: Das Leipziger Konservatorium. 3.3 Widmungen aus Frankfurt: Musikleben contra Hochschulatmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Widmung nicht-musikalischer Werke . . . . . . . . . . . . . 4.1 Variationen der Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Reaktionen des Widmungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Zur Funktion und Intention von Widmungen . . . . . . . . . . . 3.1 Reziprozität? Die Widmung als kalkulierter Werteinsatz im materiellen und symbolischen Gabenaustausch . . . . . . . 3.2 Der »bürgerliche« Brahms als Verweigerer von bürgerlichen Konventionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Funktionen von Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widmung – Gegenwidmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützung – Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dedikation als Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstlose Freundschaftswidmung? . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Widmungstext als Informationsträger . . . . . . . . . . . . 157 166 173 176 178 183 189 205 209 213 225 235 241 246 248 256 261 265 273 Inhalt IV. Nähe und Distanz: Brahms im Spiegel der ihm gewidmeten Werke . 1. Brahms und die »Idee der Kammermusik«: Kompositorische Strategien der Nähe in ausgewählten Beispielen . . . . . . . . . . 1.1 »Sclavische Abhängigkeit«? – Einige Überlegungen zum Begriff des Epigonalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kompositorische Strategien der Nähe und Distanz in ausgewählten Beispielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felix Otto Dessoff und Heinrich von Herzogenberg – bewusste Brahms-Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Nachdrücken« als Stilmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivisch-thematische Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . Konfliktrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstruierte Einfachheit: Brahms und die »Idealisierung« der unterhaltenden Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Brahms als populärer Bezugspunkt – Überlegungen zu Nachund Weiterkompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 »Kann denn Brahms Walzer componiren?« Der Walzer als Kunstmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Zyklusbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufhebung der Tanzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompositorischer Kontrapunkt: Der »Millionen-Walzer« von Johann Strauss (Sohn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ungarisches Kolorit – Widmungen an Brahms und Liszt im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Umgang mit historisch tradiertem Volksliedmaterial . . . 3. Sinfonie nach Brahms? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Reger und der Plan einer Sinfonie . . . . . . . . . . . . . »Ich werde nie eine Symphonie komponieren!« Brahms als Beethoven-Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analogien zum Widmungsverhalten von Johannes Brahms . . 4. Den Manen Brahms’: Widmungen in der Funktion eines Requiems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Besonderheiten von Titel und Widmungsadresse bei posthumen Dedikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . An der »Schwelle« zum Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Musikalisch-kompositorische Charakteristika der posthumen Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vokale Totenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumentale Totenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Deutsches Requiem op. 45 als Klagegesang für seinen Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 275 284 289 293 293 296 299 302 307 310 313 320 323 330 336 345 354 360 363 368 370 375 376 381 382 386 392 8 Inhalt 4.3 Ausblick: Widmungen von Komponisten des 20. Jahrhunderts V. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Liste der Widmungswerke . . . . . . . . . . . Verwendete Zeitschriftensigel . . . . . . . . . 2. Prosopographisches Lexikon der Widmenden 394 . . . . 399 399 399 415 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/15 von der Musikhochschule Lübeck als Dissertation angenommen und für den Druck nur geringfügig überarbeitet. Eine solche Arbeit kommt nicht ohne vielfältige Unterstützung zustande. Danken möchte ich an erster Stelle Prof. Dr. Wolfgang Sandberger, der als Betreuer nicht nur den Anstoß zur Beschäftigung mit dem spannenden Thema gab, sondern auch von Beginn bis Ende der Bearbeitungszeit stets ein offenes Ohr für Fragen hatte, unzählige wertvolle Anregungen gab und vor allem immer wieder mit seiner Begeisterung ansteckte. Die Possehl-Stiftung Lübeck hat es mir ermöglicht, im Rahmen einer Promotionsstelle am Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck tätig zu sein. Meine Kollegen am Institut, vor allem Dr. Fabian Bergener, Stefan Weymar und Carola Timmer, sowie die Teilnehmer des Doktorandenkolloquiums haben die Arbeit mit manchem guten Hinweis und Ratschlag, vor allem aber mit viel Verständnis begleitet. Herrn PD Dr. Stefan Keym danke ich für die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen, für gute Gespräche und manche konstruktiven und hilfreichen Anmerkungen. Diese haben die Arbeit im Detail sehr verbessert. Herr Prof. Dr. Christoph Flamm übernahm dankenswerter Weise das Drittgutachten. Den Herausgebern sei für die freundliche Aufnahme in die Reihe »Abhandlungen zur Musikgeschichte« herzlich gedankt, ebenso dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Betreuung während der Drucklegung. Meine Familie und viele Freunde haben mich während der dreijährigen Phase der Erarbeitung auf vielfältige Art und Weise begleitet. Sie haben immer wieder bereitwillig Teile der Arbeit Korrektur gelesen, sie auf Verständlichkeit geprüft, fachliche Rückmeldung gegeben und nicht zuletzt auch spontan technische Probleme gelöst. Für all dies sei ihnen gedankt. Vor allem möchte ich ihnen jedoch für ihre große Geduld danken und dafür, dass sie neben der Arbeit stets für den notwendigen Ausgleich gesorgt haben. Einleitung Als Johannes Brahms am 3. April 1897 starb, hinterließ er eine eigenhändig geführte Liste mit dem Titel »Widmungen«1: Es sind 74 Kompositionen verzeichnet, die ihm zwischen 1853 und 1897 offiziell im Druck gewidmet wurden. Begonnen wurde die Liste allerdings wohl erst 1875 – das Nachtragen älterer Dedikationen und die Kontinuität der Eintragungen bis zu seinem Tod machen vor allem deutlich, wie ernst Brahms die Zueignung als Instrument der Ehrerweisung zeitlebens nahm. Das Verzeichnis ist allerdings nicht ganz vollständig: Bis zu seinem Tod wurden Brahms mindestens 88 musikalische Werke zugeeignet, bis 1902 kamen acht weitere Kompositionen, die dem Andenken des Verstorbenen geweiht sind, hinzu. Daneben bedachten auch einige Literaten, bildende Künstler und Wissenschaftler den berühmten Komponisten mit einer Widmung.2 Viele Dokumente – vor allem Briefe – und das eigene Widmungsverhalten lassen zusätzlich erahnen, dass die Dedikation für Brahms mehr darstellte, als eine rein konventionelle Sitte. Sie ist vielmehr als »das ehrenvollste und freundlichste Geschenk, das gegeben und empfangen werden kann«3 von großer ideeller Bedeutung. Mit dieser Haltung steht Brahms im Umfeld des 19. Jahrhunderts nicht alleine. Künstler und Wissenschaftler verwandten auf die Auswahl der Wid1 Vgl. A-Wst, Sign.: H.I.N.–67452, S. 48–53. Die Liste reicht von der frühesten (1853, Clara Schumann, Drei Romanzen op. 21) bis zur letzten Zueignung vor seinem Tod (1897, Walter Rabl, Klavierquartett op. 1) und hat insgesamt 74 Einträge. Geht man von 96 bekannten Widmungswerken aus, von denen zehn erst nach dem Tod von Brahms veröffentlicht wurden, so ist die Liste fast vollständig. 2 Bildende Kunst: Max Klinger, Amor und Psyche (1880) und Brahms-Phantasie (1894); Literatur : Hedwig Kiesekamp, Ebbe und Fluth. Gedichte (1896); Gustav Wendt, Sophocles’ Tragödien (1884); wissenschaftliche Beiträge: Eduard Hanslick, Musikalisches Skizzenbuch. Neue Kritiken und Schilderungen (1888); Hugo Riemann, Katechismus der Kompositionslehre (1889); Adalbert Kupferschmied, Linguistisch-kulturhistorische Skizzen und Bilder aus der deutschen Steiermark (1888). 3 Brahms an Ernst Rudorff, [25.] Januar 1869, Dank für die Widmung der Fantasie für Klavier op. 14, BW III, S. 153. 12 Einleitung mungsträger ihrer zu veröffentlichenden Werke viel Sorgfalt, die Gesellschaft maß der Ehre großes ideelles Gewicht bei. Carl Reinecke – auch er bedachte Brahms mit einer Zueignung – benannte einst die Gründe: »[…] da in den meisten Fällen die Bücher und Notenhefte in Hunderten und Tausenden von Exemplaren in die Welt gehen, so wird auch der Name dessen, der neben dem Autor auf dem Titel verzeichnet ist, mit hinausgetragen in alle Welt, und wie wollte man den schelten, der sich dadurch geehrt fühlt!«4 In der musikwissenschaftlichen Fachliteratur zum 19. Jahrhundert erweist sich die Widmung allerdings trotz ihrer offensichtlich beträchtlichen Bedeutung als nur in Einzelfällen beachtete Marginalie. Und auch über die zeitliche Begrenzung des 19. Jahrhunderts hinaus ist das Phänomen der offiziellen Zueignung von Kompositionen und die damit verbundenen Implikationen kaum reflektiert worden. Relativ gut erschlossen ist allein die Frühzeit der Widmung musikalischer Werke, Monographien von Raimund Redeker und Dagmar Schnell sowie ein Kongressbericht der Universität Leiden behandeln den Zeitraum vom 16. bis zum frühen 17. Jahrhundert.5 Doch ab ca. dem 18. Jahrhundert unterlag die Widmung in Bedeutung, Form und Ausdruck einem grundlegenden Wandel, der auch Auswirkungen auf die heutige Bewertung haben muss. Übergreifende Betrachtungen existieren kaum, vereinzelte Ausnahmen beziehen sich im Regelfall auf den Adressatenkreis eines einzelnen Widmenden, der prosopographisch beleuchtet wird.6 Davon abgesehen beschäftigen sich Aufsätze mit einzelnen Fallbeispielen.7 In den einschlägigen Handbüchern des Faches, etwa in 4 Carl Reinecke: Eine Plauderei über die Dedikation musikalischer Werke, in: Deutsche Revue 27 (Mai 1902), S. 205–211, hier S. 205. 5 Raimund Redeker : Lateinische Widmungsvorreden zu Meß- und Motettendrucken der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Eisenach 1995; Ignace Bossuyt u. a. (Hg.): »Cui dono lepidum novum bellum?« Dedicating latin works and motets in the sixteenth century (= Supplementa Humanistica Lovaniensia, XXIII), Leuven 2008; Dagmar Schnell: In lucem edidit. Der deutsche Notendruck der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Kommunikationsmedium; dargestellt an den Vorreden, Osnabrück 2003. 6 In besonderer Weise ist hier natürlich auf Wolfgang Seibolds Studie zu Robert Schumanns Widmungsträgern zu verweisen: Wolfgang Seibold: Familie, Freunde, Zeitgenossen. Die Widmungsträger der Schumannschen Werke, Sinzig 2008. 7 Vgl. z. B. zur Widmung der 2 Motetten op. 74 von Brahms an Philipp Spitta: Wolfgang Sandberger : »Musikwissenschaft und Musik«. Johannes Brahms im Dialog mit Philipp Spitta, in: Musik und Musikforschung. Johannes Brahms im Dialog mit der Geschichte, hg. v. Wolfgang Sandberger u. Christiane Wiesenfeldt, Kassel 2007, S. 9–36; zur Widmung der Violinsonate op. 108 an Hans von Bülow Hans-Joachim Hinrichsen: Späte Versöhnung. Die Violinsonate op. 108 und ihre Widmung an Hans von Bülow, in: Spätphase(n)? Johannes Brahms’ Werke der 1880er und 1890er Jahr. Internationales musikwissenschaftliches Symposium Meiningen 2008, hg. v. Maren Goltz, Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeldt, München 2010, S. 129–140. Relativ gut ist die Forschungslage zu Beethovens Widmungsträgern, vgl. u. a. Birgit Lodes: »Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!« Zur Widmung von Beethovens Einleitung 13 MGG2, NewGrove, Riemann oder im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft hat die Widmung bislang keinen Eingang als unabhängiger Eintrag gefunden – in entsprechenden Lexika des 19. Jahrhunderts ist sie dagegen durchaus verzeichnet. Das wissenschaftliche Interesse nimmt allerdings sichtlich zu. 2009 schloss Emily H. Green ihre Dissertation ab, die sich mit Dedications and the Reception of the Musical Score, 1785–18508 beschäftigt und in diesem Zusammenhang erstmals anhand eines größeren Quellenbestandes grundlegende Fragen übergreifender Art zu einem bestimmten Themenkreis und zu einem bestimmten Zeitraum behandelt. Aber auch in der deutschsprachigen Musikwissenschaft rückt das Potenzial der Dedikationen zunehmend in den Fokus, die Auseinandersetzung mit der Thematik gewinnt in jüngster Zeit deutlich an Dynamik. Ausdruck der grundlegenden Neubewertung des Phänomens ist auch eine Tagung zum Generalthema »Widmungen bei Haydn und Beethoven. Personen – Strategien – Praktiken«, die im September 2011 in Bonn unter der gemeinsamen Ägide des Beethoven-Archivs Bonn und des Joseph Haydn-Instituts Köln stattfand.9 Die aktuell behandelten Fragestellungen und Ansätze stellen sich allerdings in ihrer theoretischen Fundierung relativ unsystematisch dar. In anderen geistesund kulturwissenschaftlichen Fächern ist die Situation anders zu bewerten: Seit den bahnbrechenden und heute noch grundlegenden Überlegungen G¦rard Genettes zum Konzept der Paratextualität10 haben Fächer wie die Literatur- und Kulturwissenschaft zunehmend auch die Widmung als Forschungsgegenstand entdeckt, sowohl in der Theoriebildung als auch in praktischer Anwendung. Daran anschließend sind verschiedene Abhandlungen zum Generalthema des Missa solemnis, in: Altes im Neuen. Festschrift Theodor Göllner zum 65. Geburtstag, hg. v. Bernd Edelmann u. Manfred Hermann Schmid, Tutzing 1995, S. 295–306. 8 Emily H. Green: Dedications and the Reception of the Musical Score, 1785–1850, Dissertation Cornell University 2009. Die Arbeit ist, da bislang nicht im Verlag erschienen, im Fachhandel nicht erhältlich und muss über einen amerikanischen Lieferdienst bestellt werden – ihre Verbreitung ist deswegen eingeschränkt. 9 Ein Tagungsbericht soll 2015 erscheinen. 10 Genette hatte 1981 mit dem Konzept der Paratextualität, gewissermaßen der Rahmung eines Textes, die theoretische Grundlage für alle folgenden Überlegungen geschaffen und dabei auch Aspekte der Widmung betrachtet. Der Begriff wurde erstmals eingeführt in: Palimpsestes, dann erweitert und näher erläutert in der bahnbrechenden Studie Seuils, Paris 1987 (deutsch: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 1989). Genettes Überlegungen sind allein auf literarische Werke bezogen. Das Konzept lässt sich aber auch auf andere Bereiche der Kunst übertragen und wird auch ganz selbstverständlich in diesem Sinn verwendet. Für musikalische Werke, die ja üblicherweise wie Literatur in Buchform erscheinen, ist die Übertragung leichter möglich als im Falle bildender Kunst. In einigen Bereichen müssen – bedingt beispielsweise durch die unterschiedliche Materialität von Kernwerk und Paratexten – Anpassungen und Erweiterungen des Konzepts vorgenommen werden. Diese werden in den folgenden Kapiteln näher erläutert und ausgeführt. 14 Einleitung Paratextes und der Widmung im Speziellen entstanden.11 Diese theoretischen Grundlegungen werden – mit Ausnahme der wichtigen Studie Genettes – in der musikwissenschaftlichen Forschung bislang kaum beachtet. Sie weisen für den musikalischen Forschungsbereich aufgrund der großen Komplexität des Betrachtungsgegenstandes aber auch einige Probleme auf: Literarische Widmungen sind nicht in allen Belangen gleichzusetzen mit Widmungen musikalischer Werke.12 Eine explizit auf musikwissenschaftliche Belange zugeschnittene theoretische Vorarbeit, die die Problematik der Dedikation in all ihren Facetten beleuchtet und einen Versuch der umfassenden Einordnung wagt, gibt es allerdings bisher nicht. Ein weiteres wichtiges Desiderat bleibt daneben die Betrachtung verschiedener Widmungen eines Personenkreises, deren einendes Merkmal der gleiche Adressat ist.13 Diese Lücke wird mit der vorliegenden Arbeit zu schließen versucht. Sie soll flankierend zu und aufbauend auf die wichtigen Modelle der Literatur- und Kulturwissenschaft einen Beitrag zur Theoriebildung der musikwissenschaftlichen Widmungsforschung leisten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Widmung im Zusammenspiel all ihrer Bestandteile – also Widmungstext, Werktext und die Person des Widmenden – Auskunft zu geben vermag über die zeitgenössische Rezeption von Werk und Person von Johannes Brahms. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der von Birgit Lodes im Rahmen der Bonner Tagung geprägte Begriff der »musikalischen Passgenauigkeit« zwischen Widmungswerk und Adressaten: In den Augen der Zeitgenossen wurde durch die Dedikation und die damit verbundene ideelle Übertragung der Eigentumsrechte eine enge Verbindung zwischen der gewid- 11 Vgl. z. B. Arnold Rothe: Der literarische Titel, Frankfurt 1986. Neuere Veröffentlichungen sind u. a. Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin 2007; Frieder von Ammon und Herfried Vögel (Hg): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008. Auch Abhandlungen, die sich allein mit der Widmung beschäftigen und diese nicht im Rahmen des Generalthemas Paratextforschung betrachten, sind erschienen, so z. B.: Gabriele Schramm: Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu Form und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2003. 12 Anders als bei der Widmung literarischer Werke ist beispielsweise die unterschiedliche Textualität von Widmung und Kernwerk zu beachten. Wegen ihr kann bei der Widmung musikalischer Werke weniger als in der Literatur das Phänomen bewusst unterlaufen werden. Die verschiedentlich zu findende Zueignung an Protagonisten des nachfolgenden Buchs ist so nicht möglich. Dagegen ist der Sonderfall des Hommage- oder Zitatwerks stärker zu beachten. 13 Eine Ausnahme bildet Horst Walters Aufsatz Haydn gewidmete Streichquartette, in: Joseph Haydn. Tradition und Rezeption. Bericht über die Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Köln 1982, hg. v. Georg Feder, Heinrich Hüschen und Ulrich Tank, Regensburg 1985, S. 17–53. Außerdem Ruth Smith: Dedications of opera and oratorio librettos to the royal family, 1711–46, in: Göttinger Händel-Beiträge 15, hg. v. Laurenz Lütteken u. Wolfgang Sandberger, Göttingen 2014. Einleitung 15 meten Komposition und der Person des Bewidmeten geschaffen, eine gewisse Passgenauigkeit wurde vorausgesetzt. Zunächst soll die Widmung musikalischer Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihrer Eignung als Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung verortet werden: Grundlage bilden dafür zum einen die Paratexttheorie G¦rard Genettes, zum anderen die an ihn anknüpfenden Nachfolgemodelle. Ein Überblick über die Geschichte und den Wandel der Widmung musikalischer Werke leitet sodann zum Thema des zweiten Hauptkapitels: Anhand vielfältigen Quellenmaterials wird das Phänomen der Dedikation der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und die Widmung an Brahms theoretisch kontextualisiert. Dabei wird unter anderem versucht, einen Beitrag zur Terminologiedebatte zu leisten14, indem das Problem der Unterscheidung zwischen handschriftlicher und gedruckter Widmung historisch geprüft und die Notwendigkeit einer größeren Trennschärfe verdeutlicht wird. Denn aufgrund mangelnder Einordnungskriterien war eine qualifizierte Unterscheidung bislang entweder nicht möglich oder wurde durch die terminologische Unschärfe verhindert. Die Erarbeitung eines Kommunikationsmodells und einer Übersicht möglicher Widmungsfunktionen fügt schließlich dem Brahmsbild neue Facetten hinzu: Im Abgleich mit den Gepflogenheiten der Zeit werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Brahms und seinen Zeitgenossen deutlich, die die Brüchigkeit der bürgerlichen Identität15 des Wahlwieners betonen. Fundiert durch die Methodik der Netzwerkforschung16 nimmt das dritte Hauptkapitel sodann die Widmungen an Brahms vermittelt über ihre Komponisten in den Blick. Verschiedene Gruppen von Widmenden werden systema14 Bisherige Untersuchungen versuchen, die Problematik über eine Unterscheidung zwischen Widmung, Dedikation und Zueignung in den Griff zu bekommen. Doch eine einheitliche Benennung konnte sich noch nicht durchsetzen: Während Genette, Paratexte, S. 115, von der gedruckten Zueignung gegenüber der handschriftlichen Widmung spricht, kehrt Burkhard Moenninghoff diese Terminologie ins Gegenteil und spricht von gedruckter Widmung und handschriftlicher Dedikation (Burkhard Moennighoff: Die Kunst des literarischen Schenkens. Über einige Widmungsregeln im barocken Buch, in: Ammon/Vögel, Pluralisierung des Paratextes, S. 337–352, hier S. 339). Axel Beer schließlich stellte für die Musikwissenschaft die gedruckte Widmung gegen die handschriftliche Zueignung. Alle diese terminologischen Varianten sind historisch nicht zu begründen. 15 Vgl. zu diesem Themenkreis u. a. die Beiträge im Ausstellungskatalog: Wolfgang Sandberger u. Stefan Weymar (Hg.): Johannes Brahms – Ikone der bürgerlichen Lebenswelt? (= Veröffentlichungen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck, Bd. IV), Lübeck 2008 und Laurenz Lütteken: Brahms – eine bürgerliche Biographie?, in: Brahms-Handbuch, hg. v. Wolfgang Sandberger, Kassel 2009, S. 24–43. 16 Die Netzwerkforschung ist in der empirischen Sozialforschung entstanden. Für einen ersten Einblick in Methodik, Zielsetzung und Entwicklung: Handbuch Netzwerkforschung, hg. v. Christian Stegbauer und Roger Häußling, Wiesbaden 2010.