Ali Pascha – Europas vergessener Staatsmann

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GESCHICHTSWISSENSCHAFT
Ali Pascha –
Europas vergessener Staatsmann
Rasim Marz
Frank & Timme
Verlag für wissenschaftliche Literatur
Schreiberlehrling in die Amtsstuben des kaiserlichen Staatssekretariats25 berief. Die Umstände dieses wichtigen Ereignisses bleiben wohl im Dunkeln der
Geschichte verborgen. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass die Zunft der
Gewürzhändler oder die Lehrerschaft der Koranschule für die Aufnahme des
Jungen verantwortlich waren.
An der Seite eines Sekretärs erlernte er die Formulierung amtlicher Schreiben und Urkunden, Schriftarten sowie Rechnungs- und Registerwesen. Voraussetzungen des formvollendeten Schreibens waren außerdem gute Kenntnisse in
Grammatik, Kalligraphie, Diplomatik, Rhetorik und Stilistik, die innerhalb der
Ausbildung erlernt werden mussten. Bis dahin bestand jedoch die Hauptaufgabe der Lehrlinge in Hilfsarbeiten wie etwa dem Transport von Aktenmaterial.26 Mehmed Emin wurde in die Osmanische Staatssprache sowie in Arabisch
und Persisch eingeführt und eignete sich schnell die französische Diplomatensprache an, so dass der spätere französische Botschafter in Konstantinopel,
Édouard Antoine de Thouvenel27, von ihm zu sagen pflegte, dass „er besser Französisch beherrschte als viele französische Diplomaten.“28 Danach übertrug man
ihm die Arbeit des Kopierens unbedeutender Dokumente, bis sich die Resultate
der Übungen zeigten und man dem Lehrling interne Schriftstücke anvertraute.
Dieses besondere Ereignis innerhalb der kaiserlichen Schreibstube wurde womöglich mit einem Initiationsritual eingeleitet, bei dem der Lehrling feierlich
einen Signaturnamen, einen nome de plume (mahlas), sowie einen festen Platz
mit Sitzkissen erhielt.29 Die Leistungen, die Mehmed Emin während seiner
Ausbildung erbrachte waren von solcher Perfektion durchdrungen, dass er
von seinen Vorgesetzten den nome de plume „Âli“ (arab. „der Erhabene“) erhielt. Wohl im Andenken an seinen Vater, der ebenfalls diesen Namen trug,
legte Mehmed Emin seine ursprünglichen Namen ab und wurde seitdem nur
noch als „Âli Efendi“30 angesprochen. Im Juli 1833 durfte Âli nach einer sehr
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25 Das kaiserliche Staatssekretariat (osman. „Sadâret Dîvân-ı Hümâyûn“) unterstand dem Kanzler
des Großwesirs (Reis ü-küttab) und ging 1835 im neugeschaffenem Außenministerium auf. Âli
wurde am 23.4.1830 aufgenommen. Vgl. Yilmaz Öztuna: Tanzimat Paşaları – Âli ve Fuad Paşalar,
Istanbul 2006, S. 110.
26 Henning Sievert: Zwischen arabischer Provinz und hoher Pforte – Beziehungen, Bildung und Politik des osmanischen Bürokraten Ragib Mehmed Pasa (st. 1763), Würzburg 2008, S. 48.
27 Édouard Antoine de Thouvenel (1818–1866) war von 1855 bis 1860 französischer Botschafter in
Konstantinopel und in den Jahren 1861 und 1862 Außenminister Frankreichs.
28 Arminius Vambéry: The story of my struggles – the memoirs of Arminius Vambéry, London
1904, S. 138.
29 Carter Vaughn Findley: Bureaucratic Reform in the Ottoman Empire. The Sublime Porte, 1789–
1922, Princeton 1980, S. 97.
30 „Herr“ (osman. „Efendi“) war der Titel der zivilen Beamtenschaft.
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schweren Ausbildungsphase endlich als Amtschreiber eine Tätigkeit im Übersetzungsbüro wahrnehmen. Er war 18 Jahre alt.31 Das Übersetzungsbüro war
noch in der Aufbauphase und zählte vermutlich weniger als zwanzig Beamte, da
die griechischen Dragomane im Zuge der Revolution aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Durch den Ägyptisch-Osmanischen Krieg (1831–1833) nahm
das Übersetzungsbüro eine herausragende Stellung im Staatsapparat ein.32
Âli wurde 1834 in den höheren Staatsdienst (Hâceğan) aufgenommen und
gehörte somit fortan zur Elite des Reiches, die aus der tausendjährigen nahöstlichen Schreibertradition ihren Sonderstatus ableitete. Als Âli mit der internationalen Diplomatie direkt konfrontiert wurde, befand sich das Osmanische
Reich erneut in einer schweren Krise. In der ganzen Hauptstadt drängten sich
Flüchtlingszüge aus Anatolien, die in Moscheen und staatlichen Einrichtungen
untergebracht werden mussten. Und ihre Zahl stieg Tag für Tag. Sie waren auf
der Flucht vor den Truppen Ibrahim Paşas, dem Sohn des osmanischen Statthalters von Ägypten, Mehmed Ali Paşa.33 Er beauftragte seinen Sohn, Palästina
und Syrien zu erobern und in Anatolien einzufallen. Schlacht um Schlacht verloren die Truppen des Sultans, so dass es im zentralanatolischen Konya zur Entscheidung kam. Den Oberbefehl über die osmanische Armee übertrug der Sultan seinem Großwesir, doch Ibrahim siegte und nahm ihn und einen Großteil
der Armee gefangen. Damit stand dem ägyptischen Statthalter de facto das Tor
nach Konstantinopel offen. Europa schien tatenlos dem Untergang des Osmanischen Reiches als Zuschauer beizuwohnen. Als Alles verloren schien, holte
der Sultan zum großen Schlag aus: Er bat Russland um militärische Hilfe. Die
Nachricht löste bei den europäischen Großmächten Entsetzen aus. Großbritannien, Frankreich und Österreich sahen in der russischen Expedition das Gespenst einer russischen Vorherrschaft an den Dardanellen. Sultan Mahmud II.,
ein scharfsinniger Herrscher und diplomatisches Genie, der kein starkes Heer
mehr dem Feind entgegenwerfen konnte, ließ jetzt die Feder zur Waffe werden.
Er bot dem Zaren ein achtjähriges Militärbündnis an und beanspruchte russische Waffenhilfe. Die Osmanen verboten im Gegenzug den Kriegsschiffen von
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31 Fuat Andic & Suphan Andic: The Last of the ottoman Grandees – The life and the political testament of Ali Paşa, Istanbul 1996, S. 5.
32 1841 zählte das Übersetzungsbüro (osman. „Tercüme Odası“) ca. 30 Übersetzer. Vgl. Carter V.
Findley: Bureaucratic Reform in the Ottoman Empire – The Sublime Porte 1789–1922, Princeton
1980, S. 135.
33 Mehmed Ali Paşa (1769–1849) war von 1805 bis 1849 Statthalter von Ägypten. Er führte zwei Mal
Krieg gegen die Hohe Pforte (1831–33, 1839–41) und baute das osmanische Ägypten unter seiner
Statthalterschaft zu einer modernen Provinz mit eigener Armee aus. Er war ein erbitterter Gegner
von Hüsrev Paşa. 1841 musste er auf Druck der europäischen Großmächte die vorderasiatischen
Besitzungen räumen und bekam von Sultan Abdülmecid den Titel eines „Vizekönigs“ verliehen.
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Drittmächten den Einlauf in die Dardanellen. Schließlich landete ein russisches
Expeditionsheer von 15.000 Soldaten in Konstantinopel, unterstützt durch zwei
Flotten-Divisionen. Der Sultan wusste, dass Zar Nikolaus aus Angst vor den
Westmächten an den Vertrag gebunden und somit eine Annexion der Hauptstadt unmöglich war, gleichzeitig Mehmed Ali Paşa von Konstantinopel fernhalten und die westlichen Großmächte dazu zwingen konnte, den Druck auf
den untreuen Statthalter des Sultans zu erhöhen. Mit Erfolg. Die ägyptischen
Truppen mussten sich zurückziehen.34 Der 18-jährige Âli wurde schon früh
Zeuge der militärischen Schwäche des Osmanischen Reiches und von der großen Kraft internationaler Diplomatie. Da ihm die französische Sprache auch
den Weg zur europäischen Literatur eröffnete, begann er mit dem Studium europäischer Schriften zu den Themen Staatswissenschaften und Politik. Der
„Sohn des Pförtners“ (Kapıcızâde), wie seine Freunde und Feinde ihn ein Leben
lang nennen werden, widmete sich den Werken von Machiavelli, Rousseau, Voltaire, Helvetius und Kant. Die Aufklärung bestimmte seinen geistigen Horizont
und ihre Ideen fand er für das Osmanische Reich nützlich, ja notwendig.
Wien und Sankt Petersburg
Im Juli 1836 wurde Âli zum zweiten Botschaftssekretär des osmanischen Botschafters in Wien, Ahmed Fethi Paşa,35 ernannt. Das Schicksal entschied sich
für diesen historischen Ort, dessen Mauern zweimal durch die Osmanen belagert und beschossen wurden. Über Sofia und Belgrad erreichte die Gesandtschaft Anfang Oktober die österreichische Hauptstadt und wurde im gräflichen
Palais Esterházy einquartiert.36 Sie stattete wenige Tage später Staatskanzler
Fürst von Metternich ihren ersten Besuch ab. Dieser Besuch blieb von der Wiener Bevölkerung nicht unbeachtet. Im Gegenteil: Massen von Schaulustigen
stürmten herbei, um den Botschafter des osmanischen Sultans und dessen Gefolge zu sehen. Drei Kutschen fuhren zur Residenz des Staatskanzlers, begleitet
durch neugierige Zuschauer, die sich die „Orientalen“ nicht entgehen lassen
wollten. Es schien so, als ob Metternich den Sultan höchstpersönlich empfangen
würde. Als die Kutschen an ihrem Ziel ankamen, entfaltete sich die ganze Pracht
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34 Helmuth von Moltke: Unter dem Halbmond, (Hrsg.) Helmut Arndt, 2008, S. 28–31.
35 Ahmed Fethi Paşa (1801–1858) war osmanischer Marschall, Diplomat und Politiker. Er war von
1835 bis 1837 osmanischer Botschafter in Wien. Als Ehemann von Atiye Sultan, einer Tochter
Mahmuds II., war er ein kaiserlicher Schwiegersohn und gehörte der Palastgruppe an.
36 Henry Colburn: Austria and the Austrians, Bd. 2, London 1837, S. 59.
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des Orients: Die Kutscher mit rotem Fes und goldbestickten Uniformen zügelten die Pferde, während zwei Diener, ebenso in prachtvollen Uniformen gekleidet, die Ankunft des großherrlichen Botschafters lauthals verkündeten. Weitere
sechs Diener bildeten ein Spalier. Schließlich stieg Ahmed Fethi Paşa aus der
Kutsche und wurde durch den Fürsten von Metternich aufs freundlichste empfangen. Der osmanische Botschafter, zugleich Marschall des Osmanischen Reiches, imponierte Anwesende mit den unzähligen Orden an seiner Gala-Uniform und konnte dies nur mit seinem Charme übertreffen. Schließlich stellte
der Botschafter dem Staatskanzler sein Gefolge vor, mit dem er ab sofort in
Wien residieren würde.37 Metternich, Grandseigneur par excellence der österreichischen Aristokratie, führte mit dem Gefolge einen kurzen aber freundlichen Dialog und begab sich daraufhin mit dem Botschafter zu einem halbstündigen Gespräch in die Räumlichkeiten des Palais. Für Âli war dieser Moment
ein besonderer, war doch Metternich der Mann, der auf dem Wiener Kongress
das Gesicht Europas veränderte und den höchsten Status genoss, den ein Diplomat seiner Zeit nur haben konnte. Nach dem Gespräch kehrten die Abgesandten des Sultans, unter dem Jubelgeschrei der Wiener Bevölkerung, zurück zum
Palais Esterházy.38 Für den 6. Oktober war die Audienz beim Kaiser festgesetzt.
Gegen Mittag erreichte die osmanische Gesellschaft die Wiener Hofburg und
wurde vom Haushofmeister feierlich empfangen und vom Hofdolmetscher in
die kaiserlichen Audienzzimmer geführt. Kaiser Ferdinand I. empfing Ahmed
Fethi Paşa mit großem Wohlwollen, da dieser schon ein Jahr zuvor die Glückwünsche des Sultans zu dessen Thronbesteigung überbrachte und dem Kaiser
in guter Erinnerung geblieben war. Der osmanische Botschafter überreichte
dem Kaiser sein Beglaubigungsschreiben in einer kostbaren, roten, goldbestickten Tasche, die mit dem großherrlichen Namenszug von Sultan Mahmud II. versehen war und erhielt die Erlaubnis auch der Kaiserin Maria Anna seine Aufwartung machen zu dürfen. Gegen Nachmittag verließen die osmanischen Vertreter die Hofburg und widmeten sich den Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt.39 Wien war in erster Linie eine Stadt, die Tradition und Moderne in sich
vereinte. Hinzu kam das Kosmopolitische, das Wien auszeichnete. Âli studierte
Aufbau und Struktur des österreichischen Staates, setzte sich intensiv mit seinen
Errungenschaften und Problemen auseinander und nutzte die Beziehungen des
diplomatischen Korps in Wien, um sein Wissen zu erweitern. Darüber hinaus
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37 Zum einen der Geschäftsträger Joannis Mavrogeni Bey, der Botschaftsrat Enverî Efendi, der
zweite Botschaftssekretär Âli Efendi und der Dolmetscher Menas Efendi.
38 Allgemeine Zeitung, Beilage, 8.10.1836, Nr. 282
39 Allgemeine Zeitung, Beilage, 12.10.1836, Nr. 286
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engagierte Âli den Franzosen George Sardou, Vater des berühmten Dramatikers
Victorien Sardou, als Privatlehrer und verfeinerte seine Kenntnisse in der französischen Diplomatensprache.40
Nach einigen Monaten verlegten die osmanischen Diplomaten ihren Wohnsitz vom Palais Esterházy nach Mariahilf 42, das ebenfalls im Besitz des Fürstenhauses stand. Ironie der Geschichte, dass die Abgesandten des Sultans nunmehr die Gäste der Familie waren, deren Vorfahren doch unermüdlich die Osmanen in Ungarn bekämpften. Nun sah man auf den Banketten der oberen
Klasse den Fürsten Esterházy und Ahmed Fethi Paşa auf das Wohl ihrer Herrscher anstoßen. Hingegen trat Âli in seinem ganzen Leben festlichen Gesellschaften mit Abneigung entgegen.41 Er versuchte die Bälle auf Schloss Schönbrunn und die Konzerte im Palais Esterházy zu meiden. So musste er am Weihnachts- und Neujahrsempfang der Esterházy teilnehmen, wo er, leicht irritiert
durch die geschmückten Bäume im Saal, versuchte, mit den britischen und französischen Diplomaten ins Gespräch zu kommen.42 Doch während der Botschafter, aufgrund seiner orientalischen Ausstrahlung und seines Charmes, zum
Liebling der wienerischen Damenwelt avancierte, erkundete Âli Efendi gemeinsam mit seinen Kollegen die Gärten und Parkanlagen sowie die Zentren der
Wissenschaften. Musikgrößen wie Johann Strauß oder Joseph Lanner widmeten
dem osmanischen Botschafter ihre Werke43 und auch der Wiener Bürgermeister
kannte dessen Faible für die Dichtkunst, so dass er ihm als Geschenk ein Gedicht in osmanisch-türkischer und deutscher Sprache bei einem Empfang überreichte:
Zweymahl vor Wien osmanisch Heer erschien /
Doch ward Eroberung ihm nicht verliehn.
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40 Ibnülemin Mahmud Kemal Inal: Son Sadrazamlar, Bd. 1, Istanbul 1982, S. 5.; Dr. Frédéric Hitzel:
Istanbul et les langues orientales: Actes du colloque organisé par l’IFÉA et l’INALCO à l’occasion
du bicenten, Paris 1995, S. 480.; Âli erzählte seinen Freunden gegen Ende seines Lebens wie er
„Tag und Nacht“ daran verbrachte die Sprache zu erlernen, hauptsächlich unter einem großen
Baum im Garten der osmanischen Botschaft in Wien. Vgl. Âli Fuad: Rical-i mühimme-i siyasiye,
Istanbul 1928, S. 56.
41 Franz von Werner: Türkische Skizzen, Bd. 2, Leipzig 1877, S. 160.
42 Gemeint sind die Empfänge vom 25.12.1836 und vom 22.1.1837 im Palais Kaunitz. Günther Berger: Relazioni: Internationales Wien, 2009, S. 72.
43 Johann Strauß widmete Ahmed Fethi Paşa den Walzer „Ball-Racketen, op. 96“, während Joseph
Lanner ihm sein Werk „Die Osmanen, op. 146“ zum Geschenk machte.
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