DIE ABDUZENSPARESE Diplomarbeit der Schule für Craniosacrale Osteopathie von Karin Pomsar, Affoltern a/A 2005 1 INHALTSVERZEICHNIS 1. Der Augapfel (Bulbus oculi) S. 1 2. Der Sehvorgang S. 1 2.1. Die Bildwahrnehmung S. 1 2.2. Normales Binukularsehen S. 2 2.3. Abweichungen zum normalen Binokularsehen S. 2 3. Anatomische Verhältnisse von Orbita und Orbitainhalt S. 3 3.1. Die Orbita S. 3 3.2. Bindegewebige Aufhängung des Bulbus S. 4 3.3. Nerven S. 4 3.4. Gefässe S. 4 3.4.1. Die wichtigsten Arterien der Orbita S. 4 3.4.2. Die wichtigsten Venen der Orbita S. 4 4. Die Beweglichkeit des Auges innerhalb der Orbita S. 5 4.1. Die äusseren Augenmuskeln S. 5 4.2. Die Funktion der äusseren Augenmuskeln S. 5 4.3. Innervation der äusseren Augenmuskeln S. 6 5. Die Abduzensparese S. 6 5.1. Verlauf des Nervus abduzens S. 6 5.2. Klinisches Bild einer Störung des Nervus abduzens S. 7 5.3. Ursachen, Vorkommen, Therapie und Verlauf S. 7 5.4. Dysfunktionen aus Cranio-Perspektive S. 8 5.4.1. Ossäre Dysfunktionen S. 8 5.4.2. Muskuläre Dysfunktionen S. 9 5.4.3. Membranöse Dysfunktionen S. 9 5.4.3.1. Dysfunktionen an Ligamenten S. 9 5.4.3.2. Dysfunktionen an Faszien S. 9 5.4.4. Störungen des Nervus abduzens oder von Hirnanteilen S. 10 5.4.5. Vaskuläre Störungen S. 10 5.5. Behandlungsmöglichkeiten durch die CSO S. 11 5.6. Vorsicht? S. 12 6. Quellenangaben S. 13 2 1. Der Augapfel (Bulbus oculi) Kurze anatomische Übersicht Der kugelartige Augapfel ist aus drei Schichten aufgebaut: Der äusseren, mittleren und inneren Augenhaut. Die äussere, fibröse Augenhaut entspricht der straffen Dura mater des Gehirns. Zu ihr gehören die undurchsichtige, weisse Lederhaut (Sklera), welche sich in die äussere Scheide (Dura mater und Arachnoidea) des N. opticus fortsetzt, sowie die gefässlose, durchsichtige Hornhaut (Cornea). Die mittlere, gefässführende Augenhaut entspricht der gefässführenden Arachnoidea und Pia mater. Sie besteht im vorderen Abschnitt des Augapfels aus dem Ziliarkörper (Corpus ciliare) und der Regenbogenhaut (Iris) und im hinteren Abschnitt aus der Aderhaut (Chorioidea). Die innere, sensorische Augenhaut entspricht dem Nervengewebe der Hirnrinde. Zur inneren Augenhaut gehört die Netzhaut (Retina). Ihre äussere Schicht besteht aus Pigmentepithel (Pars pigmentosa), innen befinden sich die bildaufnehmenden Sinnesrezeptoren (Pars nervosa). Weiter gehören zum Augapfel die Augenlinse (Lens), die Augenkammer (vordere und hintere) sowie der Glaskörper (Corpus vitreum). Die gefässlose, transparente Linse wird durch den Aufhängeapparat des Ziliarkörpers (Zonulafasern) in ihrer Position hinter der Pupille gehalten. Die vor der Linse liegende Augenkammer wird durch die Iris in eine vordere und eine hintere Augenkammer unterteilt. Beide Augenkammern sind durch die Pupille miteinander verbunden und mit einer liquorähnlichen, zellfreien klaren Flüssigkeit gefüllt (Kammerwasser). Die zum grössten Teil aus Wasser bestehende, geleeartige Substanz des Glaskörpers füllt den Innenraum des Augapfels hinter der Linse aus. Bild Struktur des Augapfels mit Hornhaut und Sehnerv Auf weitere Details und Funktionen der einzelnen Strukturen möchte ich hier verzichten, da sich Angaben dazu in den meisten Anatomiebüchern finden. In Kapitel 2 folgt eine Darstellung des Sehvorganges; der Bewegungsapparat des Auges wird in Kapitel 4 beschrieben. 2. Der Sehvorgang 2.1. Die Bildwahrnehmung Damit ein Gegenstand unserer Umwelt scharf gesehen werden kann, müssen die von einem bestimmten Punkt eines Gegenstandes ausgehenden Lichtstrahlen exakt auf die Netzhaut gebündelt werden. Dies geschieht durch die Lichtbrechung (Hornhaut, Kammerwasser, Linse und Glaskörper). Auf der Netzhaut entsteht dann ein verkleinertes, spiegelbildliches und umgekehrt stehendes Netzhautbild des betrachteten Gegenstandes. Dieses Netzhautbild wird durch das Gehirn wieder „richtig“ gestellt. Durch die Elastizität der Linse ist, mit Hilfe des Ziliarmuskels, die Akkommodation möglich. Unter Akkommodation versteht man die Anpassung des Auges an unterschiedliche Entfernungen, um Gegenstände auf der Netzhaut scharf abzubilden. Der lichtempfindliche Teil der Netzhaut enthält Sinnes-, Nerven- und Stützzellen. Die Sinneszellen setzen die einfallende Lichtenergie in Nervenimpulse um und stehen über kurze Fortsätze (Dendriten) mit den Nervenzellen in Verbindung. Sie werden unterteilt in zwei Typen: Die Zapfen für das Farbensehen und die Stäbchen für das Dämmerungssehen. Am Ort des schärfsten Sehens, der Fovea centralis (siehe Bild Kapitel 1), befinden sich 3 besonders viele Zapfen. Im Austrittsbereich des Sehnerven, auch Papille oder blinder Fleck (siehe Bild Kapitel 1) genannt, findet man keine Zapfen / Stäbchen. Die Impulse, welche bei Lichtreizung von Zapfen und Stäbchen an die anliegenden Nervenzellen weitergegeben werden, gelangen über deren Axone durch die Netzhaut zum blinden Fleck. Die Nervenimpulse werden durch den Sehnerven abgeleitet, wobei die Fasern der äusseren (temporalen) Netzhauthälften ungekreuzt, diejenigen der inneren (nasalen) Netzhauthälften gekreuzt das Chiasma opticum (über dem Türkensattel) durchlaufen. Die Fortsetzung zieht dann als Sehbahn (Tractus opticus) beidseits nach hinten und lateral zum seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale, eine Struktur des Thalamus), wo die Erregung auf weitere Neurone umgeschaltet wird. Als Sehstrahlung erreichen die Axone dieser Nervenzellen dann die Sehrinde im Hinterhauptslappen des Grosshirns. Man unterscheidet eine primäre und eine sekundäre Sehrinde. In der primären Sehrinde endet die Sehbahn, hier geht also das von der Netzhaut gelieferte „Bildmaterial“ ein. In der sekundären Sehrinde (visuelles Assoziationsgebiet) werden die Bilder weiterverarbeitet, z.B. mit früheren optischen Eindrücken verglichen, so dass das Gesehene nicht nur wahrgenommen wird („grosser Mann mit Schnurrbart und weissem Kittel“), sondern auch identifiziert („Chefarzt Dr. Klein“) werden kann. Zu den sekundären Sehzentren gehört auch das Lesezentrum im hinteren Scheitellappen. Bild Chiasma opticum (Sehnervenkreuzung) 2.2. Normales Binokularsehen Beim Sehen werden nicht nur Helligkeitsunterschiede und Farben erfasst, sondern es entsteht über die Wahrnehmung unterschiedlicher Entfernungen und die Lagebeziehungen von Objekten durch beide Augen auch ein räumliches Bild der Aussenwelt (Stereopsis oder Tiefenwahrnehmung). Gleichzeitig ist das Auge auch zeitlich hochauflösend: In heller Umgebung kann es bis zu 15, im Dunkeln jedoch nur bis zu 5 Bilder pro Sekunde unterscheiden. In dunklen Kinosälen verschmelzen so die Einzelbilder eines Films zu einer kontinuierlichen Bildsequenz. Die Zusammenarbeit beider Augen beruht auf der Tatsache, dass die Gesichtsfelder beider Augen sich überdecken (Fusion) und dass in beiden Augen sich Punkte oder Bereiche mit gleichem Richtungswert finden (die Fovea hat den Richtungswert geradeaus, Punkte unterhalb haben den Richtungswert oberhalb, Punkte nasal haben den Richtungswert temporal usw.). Man spricht von „korrespondierenden Netzhautpunkten“. Subjektiv lokalisiert man das beidäugige Sehen nicht in ein Auge oder auf eine Gesichtsseite, sondern in die Mitte zwischen beiden Augen. Kleinkinder halten ein Kaleidoskop vor die Nasenwurzel, erst etwa im Alter von 5 Jahren wird es vor das führende Auge genommen. 2.3. Abweichungen zum normalen Binokularsehen Wenn beiden Augen ungleiche Bilder mit sich überschneidenden Konturen dargeboten werden, tritt ein Wettstreit der Sehempfindungen beider Augen auf. Auf die Dauer dominiert das Bild, welchem die Aufmerksamkeit zugewandt wird, während das andere Bild unterdrückt wird (Suppression). Dies ist beim Normalsehenden z.B. beim einäugigen Mikroskopieren der Fall, wenn beide Augen offen sind. Bei Störungen des binokularen Sehens finden wir das Phänomen der Suppression z.B. beim Schielen (Fehlstellung eines Auges) oder bei Anisometropie (ungleiche Refraktion / Brechkraft der Augen, dadurch kann es auch zu Bildgrössenunterschieden = Aniseikonie kommen). 4 Beim Schielen tritt eine Verdoppelung des Bildes auf und um dieses Doppelbild (Diplopie) zu vermeiden, wird das Schielauge supprimiert. Bei schielenden Kindern ist das Doppelsehen selten. Kinder, die seit Geburt schielen, zeigen in der Regel sehr starke Suppressionen, Kinder die akut zu schielen beginnen sehen vielfach in der ersten Zeit doppelt, lernen aber sehr schnell zu supprimieren. Erwachsene mit plötzlich auftretendem Schielen (z.B. Lähmungsschielen wie die Abduzensparese, siehe Kapitel 5) klagen über Doppelbilder, die im täglichen Leben störend bemerkt werden. Neben der Suppression gibt es noch eine zweite Anpassung an die Schielstellung: Die anomale Netzhautkorrespondenz. Hier haben während des binokularen Sehaktes Netzhautpunkte, die normalerweise nicht korrespondieren, die gleiche Richtungsempfindung. Allgemein nimmt man an, dass die anomale Netzhautkorrespondenz demzufolge eine sensorische Anpassung des Cortex an die Schielstellung ist. Es ist eine meist in den ersten Lebensjahren erworbene Veränderung; tatsächlich findet man bei einem Schielen, das erst nach dem dritten Lebensjahr auftritt, selten eine anomale Netzhautkorrespondenz. Andererseits wird vermutet, dass auch ein hereditär sensorischer Faktor zur anomalen Netzhautkorrespondenz prädisponieren kann. Bei Kindern ist es wichtig, Störungen des Binokularsehens frühzeitig richtig zu behandeln, damit eine möglichst optimale Zusammenarbeit beider Augen erreicht und der Gefahr einer Amblyopie (Schwachsichtigkeit) auf dem schielenden oder schwächeren Auge rechtzeitig begegnet werden kann. 3. Anatomische Verhältnisse von Orbita und Orbitainhalt Das Auge liegt in der von den Schädelknochen gebildeten Augenhöhle, der Orbita. Es wird von den Augenlidern bedeckt und ist in die weichen Orbitagewebe eingebettet. Diese bestehen zum grossen Teil aus dem orbitalen Fettgewebe und einem Netzwerk von bindegewebigen Blättern und Bändern. Die geraden Augenmuskeln und der M. obliquus superior enden mit ihren Sehnen am Augapfel. Ihre Stränge laufen hinten in der Orbita zusammen und bilden einen Trichter, in dessen Spitze der hinten aus dem Augapfel entspringende Sehnerv einmündet. Durch die oberen und unteren Fissuren der Orbita verlaufen Gefässe und Nerven. Durch den Canalis nervi optici gelangt der Sehnerv in die Schädelhöhle. Nerven und Gefässe verlaufen in der Orbita mit den Bindegewebssträngen und versorgen die dort liegenden Strukturen: Den Augapfel, den Sehnerven, die äusseren Augenmuskeln und die Tränendrüse. 3.1. Die Orbita In Form eines nach vorne offenen Trichters wird die Orbita von sieben Knochen gebildet: Dem Stirnbein (Os frontale), dem Siebbein (Os ethmoidale), dem Keilbein (Os sphenoidale: Ala major und Ala minor), dem Jochbein (Os zygomaticum), dem Gaumenbein (Prozessus orbitalis ossis palatini), dem Tränenbein (Os lacrimale) und dem Oberkiefer (Maxilla: Prozessus frontalis). Die Fissura orbitalis superior liegt zwischen dem grossen und kleinen Keilbeinflügel und die Fissura orbitalis inferior liegt zwischen dem grossen Keilbeinflügel und dem Prozessus frontalis der Maxilla sowie dem Prozessus orbitalis ossis palatini. Die knöcherne Orbita wird von Periost (=Periorbita) ausgekleidet, welches zugleich die äussere bindegewebige Hülle für alle darin liegenden Weichteile bildet. Die Periorbita ist ausser an den Knochennähten, Foramina und anderen Öffnungen nur locker mit den Knochen verbunden. 5 Bild Bild Linke knöcherne Orbita mit Öffnungen für durchtretende Nerven und Gefässe und mit den Ansätzen der äusseren Augenmuskeln Schematische Darstellung der linken Augenhöhle: 1.Stirnbein / 2.Siebbein 3.Ala minor / 4.Ala major 5.Jochbein / 6.Gaumenbein 7.Tränenbein / 8.Oberkiefer A.obere Orbitafissur B.untere Orbitafissur 3.2. Bindegewebige Aufhängung des Bulbus Von der Periorbita verlaufen radiäre Bänder und Stränge zum Augapfel und vereinigen sich in seiner als Tenon’sche Kapsel bezeichneten Umhüllung. Die Zwischenräume der bindegewebigen Elemente sind mit Fett ausgefüllt. In ihren vorderen Teilen schliesst die Tenon’sche Kapsel die äusseren Augenmuskeln mit ein. In der Tiefe bildet sie zusammen mit den Membranen des orbitalen Fettkörpers eine glatt ausgekleidete Halbkugel, die den hinteren Teil des Augapfels umgibt und wie in einem Kugelgelenk leichte Beweglichkeit gewährleistet. So umfasst die Tenon’sche Kapsel den Bulbus gelenkkapselförmig von der Optikusscheide bis in Limbusnähe (=Übergang Hornhaut/Lederhaut). 3.3. Nerven Fast alle motorischen und sensiblen Nerven treten durch die Fissura orbitalis superior hindurch (siehe auch linkes Bild Kapitel 3.1.). Sie verteilen sich von der Orbitaspitze her zu ihren Zielorganen. Die untenstehende Abbildung zählt in schematischer Darstellung die wichtigen Nerven der Orbita auf. Bild Nerven der Orbita mit ihren Aufzweigungen: Im oberen Bildteil die sensiblen Nerven von temporal, im unteren Bildteil die motorischen Nerven von oben gesehen. 3.4. Gefässe 3.4.1. Die wichtigsten Arterien der Orbita Die wichtigste Arterie der Orbita ist die A. ophthalmica. Sie zweigt aus dem Bogen der A. carotis interna ab, verläuft unter dem N. opticus durch den Canalis nervi optici meist mehr auf der nasalen Seite. In der Orbita bleibt sie innerhalb des Muskeltrichters und zieht lateral von unten um den Sehnerv und überkreuzt ihn etwa 1cm hinter dem Bulbus nach medial. Der quer über dem N. opticus verlaufende Teil der A. ophthalmica gibt die für den Bulbus wichtigen Aa. ciliares und die A. centralis retinae (siehe Bild Kapitel 1) ab. Der Hauptast der A. ophthalmica zieht zwischen M. obliquus superior und M. rectus internus nach vorn medial und tritt als A. supraorbitalis aus der Orbita nach oben heraus unter die Haut der Stirn. 3.4.2. Die wichtigsten Venen der Orbita Die Vena orbitalis superior entsteht am oberen medialen Rand der Orbita, 2-4mm oberhalb und 3-10mm lateral der Trochlea, aus dem Zusammenfluss der Vv. supraorbitalis und supratrochlearis von der Stirn und aus der V. angularis aus der seitlichen Nasenwurzel. Sie verläuft oberhalb der Sehne des M. obliquus superior unter dem M. rectus superior schräg oder in Kurven nach hinten, überkreuzt den N. opticus und gelangt zwischen M. rectus superior und M. rectus externus nach lateral. Im Bereich des Anulus tendineus (Sehnenring an der Orbitaspitze) wendet sich die V. orbitalis nach unten und biegt durch den oberen Teil der Fissura orbitalis superior nach hinten, um in den Sinus cavernosus einzumünden. 6 4. Die Beweglichkeit des Auges innerhalb der Orbita 4.1. Die äusseren Augenmuskeln Die Bewegungen der Augen werden durch die sechs quergestreiften äusseren Augenmuskeln ausgeführt. Für jeden Augapfel existieren drei Muskelpaare (vier gerade und zwei schräge Muskeln): M. rectus superior und inferior, M. rectus medialis und lateralis, M. obliquus superior und inferior. Die vier geraden Augenmuskeln und der M. obliquus superior haben einen gemeinsamen sehnigen Ursprung in der Tiefe der Orbita um das Foramen opticum (=Canalis opticus) herum und umhüllen den N. opticus. Der M. obliquus inferior entspringt am medialen Orbitaboden lateral vom unteren Ende der Fossa lacrimalis (siehe linkes Bild Kapitel 3.1.). Die vier geraden Augenmuskeln umgreifen den Augapfel von hinten und setzen mit ihren Endsehnen oben, unten und an beiden Seiten der Sklera an. Die beiden schrägen Muskeln setzen temporal hinter dem Äquator an, wobei die Sehne des M. obliquus superior noch durch die Trochlea (aus Knorpeln und Fasern bestehender Halbring am Nasen-Augenwinkel des Stirnbeins) verläuft. Bild Bild Bulbus, Augenmuskeln und Orbita von vorne Aussere Augenmuskeln von temporal 4.2. Die Funktion der äusseren Augenmuskeln Das zentrale Nervensystem setzt die propriozeptiven Informationen mit denen des Gleichgewichtsorgans in Verbindung und integriert diese mit den Informationen des Sehorgans. Der Körper ist bestrebt, das bestmögliche Gleichgewicht der horizontalen Achsen in Relation zur vertikalen Medianlinie zu gewährleisten. Die Augenmuskeln stehen deshalb in enger Beziehung zur Körperhaltung, sowie insbesondere zum Tonus der Nackenmuskeln und zum Gleichgewichtsorgan. Die Stellung der Augen wird durch anatomische und innervatorische Faktoren bestimmt. Daneben ist der Augenmuskeltonus auch stark von der Aufmerksamkeit und von der seelischen Grundstimmung abhängig. Die Augenmuskeln folgen, wie die Skelettmuskeln, dem Sherrington’schen Gesetz der reziproken Innervation: Bei der Kontraktion eines Agonisten erschlafft sein Antagonist. Wenn z.B. der M. rectus superior sich kontrahiert, so erschlafft der M. rectus inferior. Beim Menschen sind Bewegungen nur eines Auges allein nicht möglich. Bei den beidäugigen Bewegungen unterscheidet man gleichsinnige oder konjugierte Blickbewegungen (Versionen, Blickwendungen) von gegensinnigen oder disjugierten Blickbewegungen (Vergenzen, z.B. die Konvergenz). Das Hering’sche Gesetz der gleichmässigen Innervation ist spezifisch für das Auge als Doppelorgan und wird auch Gesetz der motorischen Korrespondenz genannt. Es besagt, dass bei Augenbewegungen die Innervation in gleicher Quantität an die gleichwirkenden Muskeln beider Augen geht. Zum Beispiel erhält beim Blick nach rechts der M. rectus lateralis des rechten Auges den gleich starken Impuls wie der M. rectus medialis des linken Auges. Dadurch entstehen genau aufeinander abgestimmte Bewegungen beider Augen, die Versionen. Dieses Gesetz ist besonders bei Augenmuskellähmungen von Bedeutung. Die Bulbi können also willkürlich mit Hilfe der je sechs äusseren Augenmuskeln rasch in jede Richtung hin- und herbewegt werden. Diese Bewegungen sind so fein wie in fast keiner anderen Muskelgruppe abstimmbar und regulierbar. Das Verhältnis von Nervenfaser zu Muskelfaser beträgt ca. 1:10 und ist somit 10fach höher als im normalen Skelettmuskel, was auf ein vielfach exakteres Bewegungsmuster hindeutet und für das Binokularsehen unerlässlich ist. 7 Folgend die Bewegungsfunktion der einzelnen Muskeln: M. rectus superior: Hebung, Innenrotation und geringe Adduktion des Auges. M. rectus inferior: Senkung, Aussenrotation und geringe Adduktion des Auges. M. rectus medialis: Adduktion des Auges. M. rectus lateralis: Abduktion des Auges. M. obliquus superior: Innenrotation, Senkung und geringe Abduktion des Auges. M. obliquus inferior: Aussenrotation, Hebung und geringe Abduktion des Auges. Es ist zu beachten, dass der Bulbus lateral vom Ursprung der Muskeln liegt (grundlegende Bedeutung für das Verständnis ihrer Zugwirkung, siehe untenstehendes Bild). Bild Rechtes Auge, Muskeln und Orbita von oben gesehen. 4.3. Innervation der äusseren Augenmuskeln Die Innervation der Augenmuskeln geschieht durch die paarigen Hirnnerven III, IV und VI. Dabei versorgt der N. oculomotorius (III) den M. rectus superior, inferior und medialis sowie den M. obliquus inferior. Der N. trochlearis (IV) versorgt den M. obliquus superior und der N. abduzens (VI) den M. rectus lateralis. Diese Hirnnerven verfügen, neben ihren motorischen Funktionen, auch über propriozeptorische Sinnesfasern von den durch sie innervierten Muskeln. Zu den äusseren Augenmuskeln wird auch der M. levator palpebrae superioris (hebt das obere Augenlid) gezählt. Er wird ebenfalls vom N. oculomotorius (III) innerviert. 5. Die Abduzensparese 5.1. Verlauf des N. abduzens (VI) Der N. abduzens ist ein somatomotorischer Nerv. Seine Ursprungskerne liegen in der Pons (Brücke) des Hirnstamms, in der Nähe des Bodens des 4. Ventrikels. Die Fasern aus den Ursprungskernen des N. abduzens ziehen sich zwischen den seitlichen Bündeln des Tractus cerebrospinalis (Pyramidenbahn) durch die gesamte Dicke der Pons hindurch. Sie treten, relativ weit medial, aus der Furche zwischen Pons und Pyramis (=am Unterrand der Brücke) aus dem Hirnstamm aus. Der N. abduzens zieht auf dem Clivus nach oben; im oberen Drittel des Clivus tritt er durch die Dura mater (direkt neben der Sattellehne des Os sphenoidale (U,S.37)). Hier verläuft er über die Spitze der Pars petrosa des Schläfenbeins (hinter der Basis des Prozessus clinoideus posterior vorbei (U,S.37)), wobei er den Rand der Pars petrosa in einer Knochenspalte überquert, die durch das Petrosphenoidalband in einen Kanal verwandelt wird (U,S.37). Anschliessend geht er frei durch den Sinus cavernosus, lateral der A. carotis interna. Hier ist der N. abduzens bei pathologischen Prozessen besonders gefährdet, da er als einziger Hirnnerv mitten durch das Lumen des Sinus cavernosus zieht. Schliesslich gelangt der Abduzens medial durch die Fissura orbitalis superior in die Augenhöhle: Durch den Anulus tendineus und zusammen mit dem N. oculomotorius und dem N. nasociliaris (aus dem N. ophthalmicus, V1 – siehe linkes Bild Kapitel 3.1.). Der Abduzens nimmt, wie auch die anderen beiden motorischen Nerven (III und IV), beim Eintritt in die Augenhöhle eine Duralausstülpung mit und wird dadurch anfällig für abnorme Duralspannungen. Innerhalb der Orbita zieht er nach lateral zum M. rectus lateralis, den er als einzigen Muskel innerviert. Die Nervenfasern des Abduzens überqueren die Körpermitte nicht, was bedeutet, dass die Dysfunktion eines Nervus abduzens nur den Muskel auf derselben Körperseite beeinträchtigt. 8 Bild Verankerungen des Tentorium cerebelli an den Prozessus clinoidei 5.2. Klinisches Bild bei einer Störung des N. abduzens Der Begriff Parese bezeichnet eine unvollständige Lähmung. Da der Nervus abduzens ausschliesslich den M. rectus lateralis innerviert, zeigt sich die Abduzensparese in einer eingeschränkten Funktion dieses Muskels. Als Folge davon kommt es zu einem Einwärtsschielen. Man spricht von einem inkomitierenden Schielen (=Lähmungsschielen). Beim inkomitierenden Schielen nimmt der Schielwinkel in Zugrichtung des gelähmten Muskels zu. Im Unterschied dazu bleibt bei einem konkomitierenden Schielen (=Begleitschielen) der Schielwinkel in allen Blickrichtungen gleich gross. Beim konkomitierenden Schielen handelt es sich um einen Stellungsfehler der Augen und die Augenmuskeln funktionieren normal. Bild a) Das betroffene Auge steht in Einwärtsschielstellung b) Beim betroffenen Auge ist die Blickrichtung nach lateral eingeschränkt. c) Das betroffenen Auge kann nach medial blicken. d) Kompensatorische Kopfhaltung: Drehung zum gelähmten Muskel. Klinisch zeigt sich das Bild der Abduzensparese folgendermassen: Das betroffene Auge steht spontan in Einwärtsschielstellung (=medial bzw. in Adduktion). Die Bewegung des betroffenen Auges nach lateral ist eingeschränkt. Beim Abduktionsversuch (ev. schon bei Blick geradeaus) treten horizontal verschobene Doppelbilder auf, welche umso weiter auseinandertreten, je stärker der Patient zur Seite schaut. Kompensatorisch wird das Gesicht zum gelähmten Muskel hin gewendet (=nach lateral), was einen Blick zur Gegenseite gestattet und die Fehlfunktion ausgleicht. Wenn man sich Kapitel 4.2. nochmals in Erinnerung ruft wird verständlich, dass Augenmuskelparesen beim Patienten starke Beschwerden bis zu Schwindel und Übelkeit verursachen können. Die Abduzensparese kann auch beidseitig auftreten (z.B. traumatisch). Beide Augen stehen dann in Adduktion und die Diplopie kann nicht durch eine Kopfhaltung kompensiert werden. Ebenso ist bei einer Abduzensparalyse (vollständige Lähmung) oft trotz Kopfhaltung in keiner Blickrichtung mehr Fusion möglich. 5.3. Ursachen, Vorkommen, Therapie und Verlauf Als Ursachen für Abduzensparesen kommen bei jüngeren Patienten Traumen, Infektionskrankheiten (Borreliose, Diphtherie), Multiple Sklerose und Hirntumoren (der Schädelbasis oder retrobulbär) in Frage. Bei älteren Patienten stehen vaskuläre Affektionen wie Hirnstamminfarkte, Aneurysma, Ischämie des N. abduzens (z.B. bei Diabetes mellitus), Hypertonie und Arteriosklerose im Vordergrund. Entzündliche Faktoren (basale Meningitis), eine Kavernosusthrombose oder eine CarotisSinus-cavernosus-Fistel können ebenfalls eine Abduzensparese verursachen. Selten kann eine Abduzensparese kurzdauernd bzw. vorübergehend konnatal auftreten. Die Rückbildung erfolgt in den ersten Lebensmonaten mit später normalem Binokularsehen. Flüchtige, isolierte Abduzensparesen können bei Kindern im Rahmen von 9 Infektionskrankheiten, fiebrigen Infekten oder nach Impfungen auftreten und bilden sich dann häufig schon nach 2-3 Wochen zurück. Bei Tumoren kann die Abduzensparese als direkte Tumorirritation des Nervs oder des Kerns auftreten oder als unspezifisches Fernsymptom, häufig über einen erhöhten Liquordruck. Unter den intrazerebralen Primärtumoren steht ein pontines Gliom an erster Stelle. Je älter der Patient, umso wahrscheinlicher ist eine Durchblutungsstörung mit spontaner Rückbildung nach ca. 3-6 Monaten, z.T. auch etwas schneller oder langsamer. Bei Abduzensparesen, die von Kindheit an bestehen, muss man an ein Retraktionssyndrom nach Stilling-Türk-Duane denken. Hier zeigt sich zusätzlich zur Abduktions- eine Adduktionseinschränkung und eine Bulbusretraktion mit Lidspaltenverengung beim Adduktionsversuch. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass es sich hier um ein Fehlen oder eine Minderentwicklung des Abduzenskernes oder des N. abduzens handelt und dass der M. rectus lateralis vom N. oculomotorius innerviert wird. Im Rahmen von verschiedenen Krankheitsbildern / Syndromen können ebenfalls Abduzensparesen auftreten (z.B. Myasthenia gravis, Möbius-Syndrom...). Zur Therapie: Neben Abklärung / Behandlung eines allfälligen Grundleidens gilt als wichtigster Schritt das Beheben der Diplopie. Hier kann dem Patienten ev. mit Prismenfolien geholfen werden: Durch Ablenkung wird die Diplopie auskorrigiert. Die Stärke der Prismen wird entsprechend dem Krankheitsverlauf bzw. entsprechend der Rückbildung der Abduzensparese angepasst. Manchmal genügt die richtige Kopfhaltung oder der Patient zieht es vor, zur Vermeidung der Diplopie ein Auge abzudecken. Bei einer verbleibenden Parese wird, frühestens nach einem Jahr, eine Augenmuskeloperation in Betracht gezogen. Der Verlauf bzw. die Prognose ist abhängig von der Ursache. Beidseitige, traumatische Abduzensparesen heilen eher selten ohne Defekt aus, wohingegen vaskulopathisch bedingte, einseitige gutartiger verlaufen. 5.4. Dysfunktionen aus Cranio-Perspektive In der Cranio-Literatur finden sich viele Hinweise, wie es zu Störungen des N. abduzens kommen kann. Folgend eine Auflistung mit jeweiliger Angabe der Quelle (Abkürzungen siehe Kapitel 6). 5.4.1 Ossäre Dysfunktionen - Dysfunktionen an der Orbita: Bei einer Verengung der Fissura orbitalis superior kann ein Stau der V. ophthalmica superior entstehen, was wiederum (durch Zug oder Druck) eine Funktionsstörung u.a. des N. abduzens bewirken kann. (Li,S.520) - Dysfunktionen an der Orbita: Dysfunktionen des Os sphenoidale können zu Funktionsstörungen u.a. des N. abduzens und verminderter venöser Drainage der Augen über die Fissura orbitalis superior und inferior führen. Funktiosstörungen des N. abduzens können auch über durale Anheftungen am Dorsum sellae und über das Lig. petrosphenoidale entstehen. (Li,S.522) - Dysfunktionen an der Orbita: Über Dysfunktionen des Os occipitale / Os temporale kann es zu einer Kompression des Foramen jugulare kommen. Dysfunktion der okzipitalen Kondylen kann den Kern des N. abduzens im vierten Ventrikel beeinträchtigen. Dysfunktion der Pars petrosa des Schläfenbeins kann eine abnorme Spannung im Lig. petrosphenoidale mit Beeinträchtigung des N. abduzens verursachen. (Li,S.522) - Funktionsstörungen der Schädelbasis: Bei einer Lateralflexion-Rotation der SSB (der hintere Teil des Corpus sphenoidalis senkt sich mit dem Os occipitale auf der konvexen Seite) erfolgt ein Zug auf den Sinus cavernosus, auf die III. V. und VI. Hirnnerven und die A. carotis interna dieser Seite. (L,S.514) 10 - Somatische Funktionsstörungen im Bereich der Foramina jugularia (zw. Occiput und Ossa temporalia) können ein signifikanter Auslösefaktor für in die Sinus cavernosi reflektierten erhöhten Gegendruck sein. (U,S.45) ...Ferner sollte eine Entspannung der oberen Thoraxapertur erzielt werden. Andernfalls kann es aufgrund der Hemmung des freien Blutabflusses in den Brustkorb durch die Nackenvenen zu einem erhöhten venösen Rückstau kommen. (U,S.45) - Die Nerven III, IV und VI treten durch die Fissura orbitalis superior in die Augenhöhle ein, die hauptsächlich vom Os sphenoidale gebildet wird. Das Os frontale stellt teilweise die seitliche Begrenzung dar. Funktionsstörungen dieser beiden Knochen können die Funktion der durch die Fissura orbitalis superior verlaufenden Nerven und Blutgefässe beeinträchtigen. (U,S.45) - Der N. abduzens überquert den Rand der Pars petrosa des Os temporale unter dem Petrosphenoidalband. Dieses Band verbindet die Pars petrosa des Os temporale mit dem Os sphenoidale. Funktionsstörungen dieser Knochen und Spannungen dieses Bandes können die Abduzensfunktion beeinträchtigen und zu Strabismus convergens (Einwärtsschielen) führen. (U,S.45) - Restriktionen des grossen Flügels des Os sphenoidale an seiner Gelenkverbindung zu Os temporale oder Os frontale: Upledger sah in seiner Praxis viele Fälle von eigenartigen Augen- oder Augenhöhlenschmerzen, häufig einhergehend mit episodisch auftretenden Einschränkungen der Bewegungskontrolle desselben Auges beim Versuch, den M. rectus lateralis zum lateralen Nach-aussen-Rollen des Auges zu benutzen. (U,S.54) - Alle Hirnnerven anterior der Felsenbeinkante bzw. des N. fazialis (Hirnnerven I-VI) sind betroffen, wenn es zu Dysfunktionen der anterioren Hälfte der Schädelbasis kommt, d.h. Dysfunktionen im Komplex von Os frontale, ethmoidale, sphenoidale und temporale. (BS,S.1) 5.4.2. Muskuläre Dysfunktionen - Dysfunktionen an der Orbita: Ein Ungleichgewicht des Tonus der Augenmuskeln durch Dysfunktion der Augenmuskelnerven. (Li,S.522) 5.4.3. Membranöse Dysfunktionen 5.4.3.1. Dysfunktionen an Ligamenten - Dysfunktion der Synchondrosis sphenobasilaris: Eine Dysfunktion des Lig. sphenopetrosum an der Sutura shenopetrosa kann zu einer N. abduzens-Symptomatik führen. Dies kann durch Dysfunktion der Pars petrosa ossis temporalis, Zahnextraktion oder Verknöcherung dieses Ligamentes entstehen. (Li,S.6) - Dysfunktion des Os temporale: Dysfunktion des Lig. sphenopetrosum an der Synchondrosis sphenopetrosa durch Zahnextraktionen oder bei Verknöcherung des Ligamentes. (Li,S.87) - Der VI. Hirnnerv ist faserig mit dem Ligamentum sphenopetrosum verbunden und verläuft zwischen dem Ligament und dem Felsenbein hindurch. Deshalb ist er besonders anfällig für Spannungen, die vom Tentorium und dem Lig. sphenopetrosum herrühren. Folge können Augenstörungen sein, z.B. Ermüdungsschielen. (L,S.98) 5.4.3.2. Dysfunktionen an Faszien - Der Abduzens wird, wie auch der III. und IV. Hirnnerv, beim Eintritt in die Augenhöhle und beim Verlauf zwischen den oberen und unteren Schichten des Tentorium cerebelli von einer Duralmembranhülle ummantelt. Dadurch resultiert eine Anfälligkeit für abnorme Dura- und Tentoriumspannungen. (U,S.40,43) 11 - Abnorme Zugspannungen verschiedener Ursache, die das Tentorium an seinen freien Grenzen und an den Prozessus clinoidei angreifen, sind ohne weiteres in der Lage die normale Funktion der zum Auge führenden motorischen Nerven zu beeinträchtigen. ...Abnorme Tentoriumspannungen können häufig zu den Ossa temporalia, zum Occiput, zu den oberen Cervicalsegmenten und/oder zum sacrococcygealen Komplex zurückverfolgt werden. (U,S.44) 5.4.4. Störungen des N. abduzens oder von Hirnanteilen - Dysfunktion der Synchondrosis sphenobasilaris: Eine Störung u.a. des N. abduzens kann durch abnorme Spannung am Lig. petrosphenoidale, am Tentorium oder in der Fissura orbitalis superior entstehen (häufig beim „vertical strain“). (L,S.501/Li,S.7) - Dysfunktion des Os temporale: Störung des N. abduzens am Apex der Pars petrosa, zwischen der Pars petrosa und dem Lig. sphenopetrosum. Vor allem der VI. Hirnnerv ist anfällig für Spannungen, die vom Tentorium und dem Ligament herrühren, da er faserig mit dem Ligamentum sphenopetrosum verbunden ist und in einem osteofibrösen Kanal verläuft, der durch dieses Ligament und die Pars petrosa des Schläfenbeins gebildet wird. Auch Stase und Spannungen in der Wand des Sinus cavernosus kann zu Störungen des N. abduzens führen. (Li,S.89) - Dysfunktionen an der Orbita: Der N. abduzens kann beeinträchtigt werden durch Fraktur des Apex petrosus, Aneurysma der A. carotis im Sinus cavernosus, Kalzifizierung oder Spannungen am Lig. petrosphenoidale, durale Spannung am Dorsum sellae und Dysfunktion an den okzipitalen Kondylen. (Li,S.524) - Dysfunktionen an der Orbita: Primär traumatisch entstandenes Augenflimmern kann auf Störungen des Mittelhirns und der Hirnnervenkerne von Nn. III, IV und VI hinweisen. (Li,S.526) - In enger Nachbarschaft zum N. abduzens befinden sich die lufthaltigen Zellen des Sinus sphenoidalis, die Druck auf ihn ausüben können. (U,S.37) 5.4.5. Vaskuläre Störungen - Störungen im Sinus cavernosus können evtl. Funktionsstörungen des N. abduzens verursachen (auch des N. III, IV, V1, V2 sowie Stauung der V. ophthalmica superior). (Li,S.525) - Auf dem Weg zum Auge begegnen die Hirnnerven III, IV und VI vielen Arterien. Probleme wie Aneurysmen und Hämorrhagien beeinträchtigen häufig die Funktionen des in ihrer Nähe verlaufenden oder von ihrer Blutversorgung abhängigen Nervs. (U,S.34) - Kurz nach Austritt aus der Medulla oblongata wird der N. abduzens von der A. cerebelli inferior gekreuzt. Eine Vergrösserung dieser Arterie kann demnach seine Funktion beeinträchtigen. (U,S.37) - Der N. abduzens (auch der N. III und IV) steht in einer sehr engen Beziehung zu den Sinus cavernosi. Jedes Problem, das den venösen Rückstau in diesen Sinus erhöht, kann zu einer Dysfunktion der Augenbewegung beitragen. (U,S.44,45) - Die V. ophthalmica passiert die Fissura orbitalis mit den Nerven III, IV und VI und mündet anschliessend in den Sinus cavernosus ein. Da diese Vene über keine Venenklappen verfügt, kann ein chronischer Gegendruck im Sinus zu einer Venenerweiterung und in der Folge zu einer Beeinträchtigung der Nervenfunktion führen. (U,S.45) - Wie bereits oben beschrieben kommen die Nerven III, IV und VI mit einer Vielzahl von Arterien in Kontakt. Demnach können Erweiterungen, Aneurysmen, Hypertonie, abnorme Windungen und/oder abnorme anatomische Wechselbeziehungen der Arterien zu Funktionsstörungen der Nerven führen. (U,S.45) 12 5.5. Behandlungsmöglichkeiten durch die CSO Eigentlich zeigt uns bereits der Verlauf des Abduzens Behandlungsmöglichkeiten auf, denn dort wo er durchzieht, kann er auch gestört werden. Liem beschreibt zusammenfassend folgende Strukturen, die bei einer Abduzensparese betroffen sein können: Os sphenoidale, Ligamentum sphenopetrosum, Os temporale, Ala major und minor des Os sphenoidale (Fissura orbitalis superior), Sinus cavernosus und Tentorium cerebelli. Bei Sehstörungen gibt er die Empfehlung, generell folgende Strukturen zu untersuchen und zu behandeln: - - Die knöchernen Verbindungen der Orbita und die Orbita als ganzes. Das Keilbein und die SSB und die Öffnungen am Keilbein für den Sehnerven und die Augenmuskelnerven. Die intrakranialen Duralmembranen, da die Augenmuskelnerven an ihnen entlang führen. Insbesondere der N. abduzens ist anfällig, da er unter dem Lig. sphenopetrosum des Tentoriums verläuft und mit diesem fasrig verbunden ist. Das Hinterhaupt und der Atlas. Unter Umständen das Schläfenbein, aufgrund der Anheftung des Tentoriums an diesem Knochen. Aus den im Kapitel 5.4. zusammengetragenen Dysfunktionen lassen sich ebenfalls Behandlungstechniken ableiten. Je nach Ursache der Abduzensparese ist es vielleicht möglich zu schlussfolgern, wo die Dysfunktion im craniosacralen System liegen könnte, was ein noch gezielteres arbeiten erlaubt. Folgend mögliche Behandlungstechniken: Behandlungen auf der Knochenebene: - - - - - Allgemein die Behandlung der Orbita: Speziell zu beachten ist hier die Fissura orbitalis superior, die von den grossen und kleinen Keilbeinflügeln gebildet wird. Techniken finden sich bei Liem (Li,S.535-538). Arbeit am Os sphenoidale: Beeinflusst die Fissura orbitalis superior, die Synchondrosis sphenobasilaris, das Lig. sphenopetrosum. Direkter Einfluss auch auf den Sinus cavernosus. Arbeit an der SSB: Beeinflusst den Sinus cavernosus sowie das Lig. sphenopetrosum. Arbeit am Os temporale: Beeinflusst das Foramen jugulare, das Lig. sphenopetrosum (hier v.a. die Pars petrosa). Auch die Verbindung zum Sphenoid ist zu beachten. Arbeit am Occiput: Beeinflusst das Foramen jugulare, die Synchondrosis sphenobasilaris, die okzipitalen Kondylen (Dysfunktion der okzipitalen Kondylen kann den Abduzenskern beeinträchtigen) Lösen des Foramen jugulare für gute Ableitung des Venenblutes aus dem Kopfbereich (Vv. jugulares). Der Komplex Os frontale, ethmoidale, sphenoidale und temporale (= anteriore Hälfte der Schädelbasis) hat Einfluss auf die Hirnnerven I-VI. Os frontale: Bildet Teil der Orbita, grenzt an die Alae des Sphenoids an und kann somit ebenfalls die Fissura orbitalis superior beeinflussen. Behandlungen auf der muskulären Ebene: - Muskuläre Techniken: Zur Beeinflussung des Augenmuskeltonus, Techniken finden sich bei Liem (Li,S.539,544,546). Behandlungen auf der Faszienebene: - Arbeit an der Dura: Lösen von Duraspannungen am Dorsum sellae; auch der Abduzens selber ist von einer Duralmembranhülle ummantelt (bei Orbitaeintritt und zwischen den Tentoriumschichten). 13 - Arbeit speziell am Tentorium wegen möglichen Tentorium-Spannungen (siehe auch Kapitel 5.4.3.2.) und Spannungen am Lig. sphenopetrosum. Lösen der oberen Thoraxapertur zur Verhinderung von venösem Rückstau. Behandlungen auf der Hirn-/Nervenebene: - Neuroviszerale Techniken: „Surfen“ mit dem N. abduzens. Behandlungen auf der vaskulären Ebene: - Sinustechniken: Spez. zur Beeinflussung des Sinus cavernosus. Zur guten venösen Ableitung auch an das Foramen jugulare und an die obere Thoraxapertur denken (siehe Behandlungen Knochen-/Faszienebene). 5.6. Vorsicht? Upledger schreibt, dass man bei der Behandlung von sensomotorischen Problemen der Augen im Zusammenhang mit Funktionsstörungen des craniosacralen Systems in Schwierigkeiten geraten kann, wenn der Patient sich in der Vergangenheit einer Augen(muskel)operation unterzogen hat. Zitat: „Wenn der Chirurg zur Korrektur eines Strabismus einen Augenmuskel verlängert oder teilweise durchtrennt hat und wir später das CranioSacrale Problem korrigieren, kann sich das Auge im Sinne seiner motorischen Nervenfunktion normalisieren, was dann die entgegengesetzte Form von Strabismus zur Folge hätte.“ Er schildert einen entsprechenden Fall bei einem autistischen Mädchen: Ein zu einem früheren Zeitpunkt operierter Strabismus convergens entwickelte sich unter der Behandlung zu einem Strabismus divergens. Die craniosacrale Behandlung wurde wegen Besserung im autistischen Verhalten trotzdem fortgesetzt und die Muskeln adaptierten sich wieder. Nach sechs Monaten war vom Strabismus offenbar nichts mehr zu erkennen doch er fügt an, dass eine solche Adaptation nicht immer stattfindet und daher die Patienten vorgängig über diese Möglichkeit informieren werden sollten. Allerdings müsste man den genauen Augenbefund, bzw. die Krankengeschichte der Patientin kennen um eventuell beurteilen zu können, welche Veränderung des Schielens durch die Cranio-Behandlung bewirkt wurde. Wie genau war das Schielbild davor und danach, trägt das Kind eine Brillenkorrektur, gab es noch andere Einflüsse usw. Rudolf hat keine solchen Erfahrungen gemacht, wie Upledger sie oben beschreibt. 14 6. Quellenangaben - Blum Udo und Steinemann Sylvia: Skript des Kurses „funktionelle Anatomie des Craniosacralen Systems“, 23.-24. Oktober 2004 (BS) - Faller Adolf: Der Körper des Menschen, Georg Thieme Verlag, 10. Auflage 1984 (F) - ten Ham E.J., van der Heijden G.A.M., Isaak A.W.: „Osteopathie gegen Schielen“ aus: Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, Hippokrates Verlag, 2/2005 (HHI) - Huch Renate und Christian Bauer: Mensch, Körper, Krankheit, Urban & Fischer, 4. Auflage 2003 (HB) - Lang Joseph: Strabismus, Verlag Hans Huber, 5. Auflage 2003 (La) - Kaufmann Herbert: Strabismus, Georg Thieme Verlag, 3. Auflage 2004 (K) - Kaufmann Herbert „Periphere Augenmuskelparesen“ aus: Neuroophthalmologie, Hauptreferate der XXVIII. Essener Fortbildung, Ferdinand Enke Verlag, 1993 (KA) - Liem Torsten: Kraniosakrale Osteopathie, Hippokrates Verlag, 3. Auflage 2001 (L) - Liem Torsten: Praxis der Kraniosakralen Osteopathie, Hippokrates Verlag, 2. Auflage 2003 (Li) - Norett Robert B.: Skript des Kurses „Hirnnerven und Craniosacrale Therapie“, 21./22. Oktober 2005 (N) - Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, Walter de Gruyter, 257. Auflage 1994 (P) - Reim Martin: Augenheilkunde, Enke Verlag, 4. Auflage 1993 (R) - Richter Isolde: Lehrbuch für Heilpraktiker, Urban & Schwarzenberg, 2. Auflage 1993 (Ri) - Sobotta: Atlas der Anatomie des Menschen, Urban & Fischer, 21. Auflage 2004 (S) - Trepel Martin: Neuroanatomie, Urban & Fischer, 3. Auflage 2004 (T) - Upledger John E. / Vredevoogd Jon D.: Lehrbuch der CranioSacralen-Therapie, Haug Verlag, 4. Auflage 2000 (UV) - Upledger John E.: Lehrbuch der CranioSacralen Therapie II, Haug Verlag, 2002 (U) Bilderquellen: Abb. S. 1: HB, S.223 Abb. S. 2: U, S.21 Abb. S. 4 oben: links R, S.2 / rechts BS, S.61 (oben) Abb. S. 4 unten: R, S.8 Abb. S. 5 : links La, S.16 / rechts R, S.4 Abb. S. 6: La, S.17 Abb. S. 7 oben: U, S.44 Abb. S. 7 unten: Li, S.527 15