BRUCKNER »ROMANTISCHE« ELIAHU INBAL | DIRIGENT JAN VOGLER | VIOLONCELLO BLOCH BRUCKNER 24./25.11.2016 hr-Sinfoniekonzert Alte Oper Frankfurt hr-SINFONIEKONZERT hr-SINFONIEORCHESTER JAN VOGLER VIOLONCELLO ELIAHU INBAL DIRIGENT (1880–1959) Schelomo – Hebräische Rhapsodie (1916) für Violoncello und Orchester ca. 22’ 19 UHR | KONZERTEINFÜHRUNG PAUSE ca. 25’ ERNEST BLOCH mit Christiane Hillebrand 2 3 ANTON BRUCKNER DAS KONZERT IM INTERNET: Freitag, 25. November 2016, 20.00 Uhr (Video-Livestream) auf hr-sinfonieorchester.de, im Anschluss dort auch als Video-on-Demand verfügbar DAS KONZERT IN hr2-KULTUR: Sonntag, 27. November 2016, 20.05 Uhr | Dienstag, 6. Dezember 2016, 20.05 Uhr – auch als Livestream im Internet unter hr2-kultur.de Übernommen wird das Konzert von Radiosendern in Estland, Irland, Südkorea und der Tschechischen Republik. (1824–1896) 4. Sinfonie Es-Dur (1874/1878–80) »Romantische« Bewegt, nicht zu schnell Andante quasi Allegretto Scherzo. Bewegt – Trio. Nicht zu schnell. Keinesfalls schleppend – Scherzo Finale. Bewegt, doch nicht zu schnell ca. 66’ DAS PROGRAMM TRADITIONSLINIEN 16 Jahre lang, von 1974 bis 1990, leitete Eliahu Inbal das hr-Sinfonieorchester – länger als jeder andere Chefdirigent in der 87-jährigen Geschichte dieses Ensembles, das damals noch Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt hieß. In jener erfolgreichen »Inbal-Ära« entstanden auch die preisgekrönten Ersteinspielungen der Urfassungen von Bruckners 3., 4. und 8. Sinfonie und die erste CD-Gesamteinspielung aller Mahler-Sinfonien. Seither gilt das hr-Sinfonieorchester international als eines der führenden Bruckner- und Mahler-Orchester. Vieles hat sich geändert seit jener Zeit, doch eines blieb: Eliahu Inbal, der seit 1996 Ehrendirigent unseres Orchesters ist und dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feiern konnte, ist nach wie vor eine der anerkanntesten Kapazitäten für die Musik Anton Bruckners. Er war es, der in Frankfurt einst die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Bruckners 4. Sinfonie dirigierte, während er heute die vom Komponisten später überarbeitete Version dieser »Romantischen« Sinfonie mit »seinem« ehemaligen Orchester präsentiert. Vor der Konzertpause interpretiert der Cellovirtuose Jan Vogler als Solist die »hebräische Rhapsodie« Schelomo für Violoncello und Orchester von Ernest Bloch, dieser singulären Musikerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Schelomo bezieht sich inhaltlich auf das Buch »Kohelet« aus dem Alten Testament, dessen Urheberschaft König Salomo (hebräisch: Schelomo) zugeschrieben wird. Das Werk ist der bekannteste Teil von Blochs in den 1910er Jahren entstandenem »jüdischen Zyklus«, in dem sich der Komponist musikalisch wie thematisch mit der Tradition und der Geschichte des Judentums – und zugleich mit seiner eigenen Identität – auseinandersetzte. Das hr-Sinfonieorchester hat mit Jan Vogler Anfang dieses Jahres eine CD mit Musik von Peter Tschaikowsky unter der Leitung von Chefdirigent Andrés Orozco-Estrada bei Sony Classical veröffentlicht, die der international gefragte Cellovirtuose in der heutigen Konzertpause an unserem Stand im Foyer (Ebene 2) signiert. Adam Gellen 5 ERNEST BLOCH SCHELOMO DER KOMPONIST Ernest Bloch, geboren 1880 in Genf und 1959 in Portland/USA gestorben, war ein Schweizer Komponist und Pädagoge, der 1924 die US-Staatsbürgerschaft annahm. Der Sohn eines jüdischen Uhrenhändlers lernte zunächst in seiner Heimatstadt Violine und Komposition, anschließend setzte er seine Ausbildung u.a. bei Eugène Ysaÿe am Brüsseler Konser vatorium (1897–99), bei Iwan Knorr an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt (1899–1901) und in München bei Ludwig Thuille (1901–03) fort. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Paris lebte und komponierte er ab 1904 wieder in Genf. Bloch arbeitete zunächst im elterlichen Geschäft, sammelte daneben erste Erfahrungen als Dirigent und hielt ab 1911 musikästhetische Vorlesungen am Genfer Konservatorium. 1916 bekam er das Angebot, bei der USATournee einer Tanzkompanie als Dirigent mitzuwirken. Bloch blieb in Amerika, wo er sich rasch einen Namen als Komponist machen konnte. Er unterrichtete am Mannes College in New York, später als Gründungs- direktor des Cleveland Institute of Music (1920–25) und als Direktor des Konservatoriums in San Francisco (1925–30). Die 1930er Jahre verbrachte Bloch fast komplett in der Schweiz und kehrte erst 1938 wieder in die USA zurück, wo er als angesehener, mit zahlreichen Preisen dekorierter Komponist und Professor an der University of California in Berkeley bis zu seinem Tod lebte. Zu seinen Schülern zählen George Antheil und Roger Sessions. Aufgrund seiner Weigerung, sich den zahlreichen Schulen und Stilrichtungen des 20. Jahrhunderts anzuschließen, blieb Ernest Bloch in Europa ein Außenseiter und wird bis heute selten aufgeführt. In Nordamerika hingegen konnte er sich mit seinen musikalisch und thematisch mit der Tradition und Geschichte des Judentums auseinandersetzenden Werken, die er vorwiegend in den 1910er Jahren schrieb, erfolgreich profilieren. Dies ging allerdings auch dort auf Kosten der Rezeption seines restlichen, stilistisch wie gattungsmäßig ausgesprochen vielgestaltigen Œuvres. 7 8 DAS WERK In seiner Hebräischen Rhapsodie »Schelomo« stellt Ernest Bloch alttestamentliche Botschaften musikalisch in den Raum, die gleichsam ins Instrumentale transformiert und durch die »Stimme« eines Solocellos verkündet werden. Der gebürtige Schweizer und Wahlamerikaner Bloch war der Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Genf. Zum Entsetzen seiner Eltern hatte er bereits als Zehnjähriger den Eid geleistet, Komponist zu werden. Nach entsprechenden Studien in Brüssel, Frankfurt (am Hoch’schen Konservatorium) und München fand er jedoch zunächst keine feste Anstellung und musste daher zunächst notgedrungen in der väterlichen Uhrenfabrik arbeiten. Erst 1909 gelang es ihm, sich ganz der Musik zu widmen: als Dirigent von Orchesterkonzerten, dann als Dozent für Ästhetik in Genf, bis er im Jahre 1916 in die USA übersiedelte. Während seiner Schweizer Jahre hatte Bloch nur »nebenbei« komponiert; das umfangreichste Werk war eine Macbeth-Oper, die 1910 bei ihrer Pariser Uraufführung einen Achtungserfolg erzielte. Bedeutender für ihn waren die Kompositionen über biblische und jüdische Themen: Psalm-Vertonungen, die Sinfonie Israel für fünf Solostimmen und Orchester, die sinfonische Dichtung Trois Poèmes juifs und Schelomo, die Hebräische Rhapsodie für Violoncello und großes Orchester aus dem Jahre 1916. Die Besinnung auf die jüdischen Ursprünge war für Bloch Ausdruck einer Identitätssuche – und mit ihnen hat er »seine« Welt gefunden. Die Uraufführung von Schelomo im Mai 1917 in der New Yorker Carnegie Hall war ein großer Erfolg; sie bedeutete für ihn nicht nur die Anerkennung als Komponist in den USA, sondern sie begründete zugleich auch seinen Ruf als »jüdischer« Komponist. Mit Schelomo, zu deutsch »Salomo«, hatte Bloch – mitten im Ersten Weltkrieg – zu einer Gestalt von historisch und mythologisch archetypischer Faszinationskraft gegriffen. Der König von Israel und Juda befestigte im zehnten vorchristlichen Jahrhundert das Großreich seines Vaters David, zentralisierte die Verwaltung und baute als zentrales Heiligtum der Juden den ersten Tempel in Jerusalem. Die Herrschaft Salomos brachte eine kulturelle Blüte, die es in Israel zuvor und danach nicht gegeben hat. Hier liegt der Beginn der jüdischen Ge- schichtsschreibung. Und nicht zuletzt: Salomo gelang es, das jüdische Reich vier Jahrzehnte hindurch vor Kriegen zu schützen – und so mag ein Porträt dieses Königs während des Ersten Weltkriegs auch einen Protest gegen die eigene Zeit bedeutet haben. Geradezu sprichwörtlich geworden sind außerdem Salomos Weisheit und Gerechtigkeit, aber auch seine prunkvolle Hofhaltung, seine zahlreichen Pferde – er führte u.a. den Streitwagen ein – und seine vielen Frauen (Heiratspolitik war ein Teil seiner Diplomatie). Ausdrücklich bezieht sich Bloch in Schelomo auf das Buch »Kohelet«, das seit Luthers Bibelübersetzung im deutschen Sprachraum besser unter dem Titel »Der Prediger Salomo« bekannt ist und um 250 v. Chr. entstand. Es wird auch als »Salomos Testament« bezeichnet – Ausdruck der Tatsache, dass das Reich nach Salomos Tod zerfiel und das Königtum unterging. Mühsal und Skepsis, die Resignation bei der Suche nach dem Lebenssinn und die programmatische Nichtigkeitsaussage, mit der der Text beginnt, machen aber nur einen Teil des Buches aus. Auf der anderen Seite stehen Kühnheit, ein tätiges Leben, welches das Wissen vom Scheitern einbezieht, sowie die Freude am Sein. Bloch hatte dabei zunächst an eine vokale Vertonung gedacht. Von einem befreundeten Cellisten ließ er sich dann aber umstimmen und vertraute den »Text« einem Solo-Cello an. Die ursprüngliche Textauswahl ist nicht bekannt, ein Programm nicht überliefert. Die Ansicht des Predigers vom Weltlauf als kreisförmiger Wiederkehr des Gleichen findet sich in der bogenförmig angelegten Dreiteiligkeit der Komposition nachgebildet. Das Violoncello repräsentiert das lyrische Ich, das Orchester steht für die Außenwelt. Reiche Harmonik, üppige Thematik, raffinierte und farbige Instrumentation prägen die Faktur. Instrumente wie Piccoloflöte, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott, signalartige Blechbläser, Harfen und Celesta und auch das Schlagwerk unterstützen dabei das orientalische Kolorit, das vor allem in der Melodik deutlich wird. 9 ANTON BRUCKNER 4. SINFONIE (»ROMANTISCHE«) DER KOMPONIST Anton Bruckner, 1824 im österreichischen Ansfelden geboren und 1896 in Wien gestorben, war eine der eigentümlichsten Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Als »bedeutendsten Sinfoniker nach Beethoven« hat ihn einst Richard Wagner bezeichnet, Johannes Brahms hingegen verurteilte seine ungebändigte, von seelischen Abgründen kündende Musik als »Schwindel«. In dieser Spannung, dem Glaubenskrieg zwischen »Brahmsianern« und »Wagnerianern«, zwischen Anhängern der »absoluten Musik« und jenen des dramatischen Musikkonzepts der »Neudeutschen« Liszt, Berlioz und Wagner, stand Bruckner bis zu seinem Lebensende – und noch weit darüber hinaus: Noch Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Meinungen über ihn und sein Werk geteilt. Der »tief ehrfürchtige« Wagner-Verehrer, der ab 1850 Stiftsorganist in St. Florian war und dann Domorganist in Linz, bevor er 1868 als Konservatoriumsprofessor nach Wien ging, war als Sinfoniker ein Spätberufener. Erst mit der Uraufführung seiner 7. Sinfonie im Jahre 1884 konnte er sich kompositorisch durchsetzen. Die Jahre zuvor waren von großer künstlerischer Verunsicherung geprägt. Und so hat der allgemein zu Unterwürfigkeit neigende Bruckner seine Sinfonien infolge öffentlicher Kritik und auf Anraten »guter« Freunde teilweise mehrfach überarbeitet. Jenseits der dadurch entfachten Diskussion um die letztlich beste und authentischste »Fassung« seiner Werke gilt der geniale Eigenbrötler, der einst als frommer Kirchenmusikkomponist begonnen hatte, mit seinen unkonventionellen Formkonzepten und seiner sinnlich herausfordernden Klangsprache heute als einer der bedeutendsten Sinfoniker des 19. Jahrhunderts. 11 DAS WERK Anfang 1874 erhielt Bruckner in Wien Besuch von seinem ehemaligen Kompositionslehrer Otto Kitzler. Die genialische Unordnung, die in seiner Wohnung herrschte, veranlasste jenen seinerzeit zu fragen, warum Bruckner, um in geordnete Verhältnisse zu kommen, nicht heirate, worauf dieser fast entsetzt entgegnete: »Lieber Freund, ich habe keine Zeit, ich muss meine Vierte schreiben!« 12 Zu diesem Zeitpunkt war der erste Satz seiner 4. Sinfonie, die unmittelbar im Anschluss an die Dritte entstand, in der Skizze bereits fertiggestellt. Die übrigen drei konzipierte Bruckner zwischen 10. April und 31. August 1874. Und so konnte er das Werk letztlich in der Partitur am »22. November 1874 in Wien, halb neun Uhr abends« abschließen, wie er selbst akribisch vermerkte. Doch in dieser ersten Gestalt ist die 4. Sinfonie zu Bruckners Lebzeiten nie erklungen – erst dank der Ersteinspielungen der Urfassungen der Bruckner-Sinfonien durch das hr-Sinfonieorchester und Eliahu Inbal sollte sie Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts allgemein bekannt werden. Wie so oft bei Bruckner erstreckte sich die Metamorphose der 4. Sinfonie über einen Zeitraum von vielen Jahren und umfasst letztlich verschiedene Fassungen, wobei die Situation im Fall der Vierten besonders verworren erscheint. 1878 bis 1880 unterzog Bruckner die Sinfonie einer gründlichen Umarbeitung. Die daraus resultierende zweite Fassung umfasste u.a. eine völlige Neukomposition des Scherzos – das heute geläufige »Jagd«-Scherzo – sowie zwei neue Fassungen (1878 und 1880) des Finales. Doch auch nachdem die Vierte in dieser Version 1881 durch Hans Richter in Wien uraufgeführt worden war, arbeitete Bruckner an der Sinfonie weiter. So existiert auch noch eine spätere Durchsicht der zweiten Fassung (mit dem dritten Finale von 1880), die Bruckner 1886 angefertigt und mit weiteren Änderungen versehen hat. Außerdem gibt es den Erstdruck von 1889, der sich wiederum in vielen Details vom Autograf unterscheidet. Vergleicht man dabei die erste und letzte Fassung der Vierten, so kann man durchaus von zwei verschiedenen Werken sprechen. Im Konzertleben durchgesetzt hat sich die auch im heutigen Konzert zu hörende zweite Fassung von 1878–80. Mit ihrem Beinamen »Romantische«, den die 4. Sinfonie bereits in ihrer Erstfassung erhielt, nimmt sie im Gesamtwerk Bruckners eine Sonderstellung ein. Der assoziationsreiche Titel verführt jedoch zu Missverständnissen, vor allem, wenn man ihn programmmusikalisch versteht. Denn Naturschilderung, Beschaulichkeit, die Fantastik Jean Pauls – dies alles hat mit der autonomen sinfonischen Sprache Bruckners wenig zu tun. Auch die seinem Freund und ersten Biografen August Göllerich gegenüber mitgeteilten poetischen Erläuterungen der Vierten führen letztlich in die Irre. Da ist von einer mittelalterlichen Stadt in der Morgendämmerung die Rede, von Waldesrauschen und Vogelsang, von Gebet und Ständchen, vom »Fensterln« und von der Hasenjagd. Als der listige »halb Gott, halb Trottel«, wie ihn Mahler einmal nannte, seinerzeit allerdings das Finale erklären sollte, meinte Bruckner entlarvend: »Ja, da woaß i selber nimmer, was i mir dabei denkt hab’.« Quasi durch die Hintertür hat Bruckner damit selbst den Stellenwert solch biedermeierlicher Genrebilder, wie er sie entworfen hat, in die nötigen Schranken gewiesen. Zwar lässt die 4. Sinfonie innerhalb des Bruckner’schen Gesamtwerkes noch am ehesten außermusikalische Vorstellungen zu, was nicht unerheblich zum großen Erfolg schon bei der Uraufführung beigetragen haben dürfte. Sie sind von der genuin sinfonischen Struktur her aber letztlich nicht gemeint. Vergleichbar mit Beethovens »Pastorale« entwirft Bruckner kein Naturgemälde durch die Musik, sondern als Musik, als instrumentale Realität. Unmissverständlich weist schon der Beginn des Kopfsatzes darauf hin: Der »romantische« Hornruf als Signatur der Vierten, als musikalisches Symbol der Natur überhaupt, setzt sich aus den NaturTönen des Instruments zusammen (d.h. ohne Nutzung der Ventile) und ist im sinfonischen Kontext das erste Expositionsthema. Und mehr noch: Das Hornmotiv mit dem charakteristischen Quintintervall repräsentiert eine harmonische wie präthematische Urgestalt, die aus sich selbst heraus die Bewegung des zweiten Themas schafft, die Energie des »Bruckner-Rhythmus« von Duole und Triole. So wird man Zeuge eines Entstehens der Musik selbst, eines steten Wachsens und Ausprägens ihrer Konturen. 13 Dieser Prozess verläuft allerdings nicht kontinuierlich, nicht als imaginäres Dauercrescendo, sondern in massiven, fast brutal-rohen Steigerungen, jähen Brüchen und Abstürzen in überraschendes Schweigen. Durch keine Konvention verstellt, reicht die Sinnlichkeit der Musik dabei bis zur unverhüllten Gewalttätigkeit, denkt man etwa nur an die Entladung in der Coda des Kopfsatzes, die die ganze archaische Kraft des Hornmotivs gleichsam explodieren lässt. 14 Im zweiten Satz geht Bruckner andere Wege. Das Signalhafte wird aufgegeben zugunsten einer breit ausschwingenden, prosaischen Melodik. Aber auch sie verleugnet ihre Quelle nicht, beginnt doch das erste Thema mit dem charakteristischen Quintintervall des Hornmotivs. Das Melodisch-Gestalthafte steht nun aber am Beginn und wird im Verlauf des Satzes mehr und mehr in seine Bestandteile zerlegt. Ein bis dahin unerhörtes Ereignis: Die Linearität löst sich auf in ein gleichsam räumliches Szenario. Bruckners Idee der 4. Sinfonie, das Entstehen der Musik selbst und ihre Entwicklung zu ideeller Einheit im ersten sowie der umgekehrte Vorgang, die Auflösung in einen disparaten, floskelhaften »Raum« im zweiten Satz – dies alles wirkt dabei wie aus einem Guss. Selbst das nachträglich komponierte Scherzo, das seine thematische Kontur ebenfalls der Urzelle des Hornmotivs verdankt, sowie die majestätische Architektur des ausgreifenden Finales fügen sich in den angesichts des komplexen Entstehungsprozesses letztlich trügerischen Eindruck eines genialen Werkes aus einem Wurf. Andreas Maul JAN EMPFIEHLT VOGLER SCHUMANN Schumann im Originalklang: auf dem ersten Album des Dresdner Festspielorchesters unter Ivor Bolton erklingen das Cellokonzert mit Jan Vogler sowie die 2. Sinfonie in historischer Aufführungspraxis. Das Repertoire wurde bei den diesjährigen Musikfestspielen mit Begeisterung gefeiert. TCHAIKOVSKY Tschaikowsky in neuem Glanz: Jan Vogler spielt die berühmten RokokoVariationen für Cello und Orchester mit dem hr-Sinfonieorchester, das temperamentvolle Sextett Souvenir de Florence mit dem Moritzburg Festival Ensemble sowie die einst für Violine komponierten Werke Sérénade mélancholique und Meditation. MY TUNES Jan Vogler präsentiert mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny eine persönliche Auswahl seiner Lieblingsmelodien. Jedes der Werke von Elgar (Salut d’amour) über Tschaikowsky (Mélodie) und Bruch (Kol Nidrei) bis Mancini (Moon River) erzählt eine eigene Geschichte. WWW.CDSAMGOETHEHAUS.DE DIE INTERPRETEN JAN VOGLER begann seine Karriere mit 20 Jahren als erster Konzertmeister Violoncello in der Staatskapelle Dresden. Diese Position gab er 1997 auf, um sich ganz auf seine Tätigkeit als Solist zu konzentrieren. Seitdem spielt er mit bekannten Orchestern weltweit zusammen, darunter mit dem New York Philharmonic, den Sinfonieorchestern von Boston, Chicago, Pittsburgh und Cincinnati, mit der Staatskapelle Dresden, den Münchner Philharmonikern und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Dabei hat er bereits mit Semyon Bychkov, Fabio Luisi, Lorin Maazel, Kent Nagano und vielen anderen renommierten Dirigenten zusammengearbeitet. Jan Vogler pflegt einen intensiven Dialog mit zeitgenössischen Komponisten und spielt regelmäßig Uraufführungen, so etwa neue Werke von Tigran Mansurian, Udo Zimmermann, Wolfgang Rihm oder Jörg Widmann. Einen weiteren Schwerpunkt von Jan Voglers künstlerischer Tätigkeit bildet die Kammermusik, wobei er regelmäßig mit den Pianisten Martin Stadtfeld und Hélène Grimaud musiziert. In der Saison 2016/17 gibt Jan Vogler Konzerte u.a. mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und der französischen Klaviervirtuosin Lisa de la Salle, außerdem ist er erstmalig in einem musikalischliterarischen Projekt mit dem HollywoodSchauspieler Bill Murray zu erleben. 2006 erhielt Jan Vogler den Europäischen Kulturpreis und 2011 den Erich-KästnerPreis für Toleranz, Humanität und Völkerverständigung. Dreimal wurde er bereits mit einem »ECHO Klassik« ausgezeichnet. Seine bemerkenswert umfangreiche Diskografie umfasst auch seine dieses Jahr erschienene Aufnahme von Tschaikowskys Rokoko-Variationen mit dem hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada. Jan Vogler, der das Stradivari-Cello »Castelbarco/Fau« (1707) spielt, ist seit 2008 Intendant der Dresdner Musikfestspiele, mit dessen Festspielorchester er im Oktober 2016 Schumanns Cellokonzert für Sony aufnahm. Zudem ist er Künstlerischer Leiter des Moritzburg Festivals bei Dresden. 17 ELIAHU INBAL 18 war von 1974 bis 1990 Chefdirigent des hrSinfonieorchesters, dessen Ehrendirigent er seit 1996 ist. Unter Inbals erfolgreicher künstlerischer Leitung konnte sich das Ensemble in den 1980er Jahren international als eines der führenden Bruckner- und Mahler-Orchester etablieren. Es entstanden vielbeachtete Rundfunk- und Schallplattenproduktionen, darunter die preisgekrönten Ersteinspielungen der Urfassungen von Bruckners 3., 4. und 8. Sinfonie und die erste CD-Gesamteinspielung aller Mahler-Sinfonien. 1936 in Jerusalem geboren, studierte Eliahu Inbal in seiner Heimatstadt zunächst Violine und Komposition und erhielt auf Empfehlung Leonard Bernsteins später ein Stipendium für seine weitere Ausbildung am Pariser Konservatorium bei Louis Fourestier, Olivier Messiaen und Nadia Boulanger. Wichtige Impulse vermittelten ihm außerdem Franco Ferrara und Sergiu Celibidache. Nach dem Ersten Preis beim Dirigentenwettbewerb »Guido Cantelli« begann 1963 dann Inbals internationale Karriere, die ihn zu vielen führenden Orchestern in Europa, den USA und Japan führte. Neben seiner Tätigkeit beim hr-Sinfonieorchester war Eliahu Inbal 1984–1987 auch musikalischer Leiter am Teatro La Fenice in Venedig. 2001–2006 war er Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters (heute: Konzerthausorchester Berlin), 2009–2012 wirkte er in der gleichen Position bei der Tschechischen Philharmonie Prag. Von 2007 bis 2011 übernahm Eliahu Inbal zudem erneut das Amt des musikalischen Leiters am Teatro La Fenice Venedig. 2008–2014 war er schließlich Chefdirigent des Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra, zu dessen Conductor Laureate er später ernannt wurde. Inbals umfangreiche Diskografie enthält das sinfonische Gesamtwerk von Berlioz, Brahms, Bruckner, Mahler, Ravel, Schumann, Schostakowitsch, Skrjabin, Strawinsky, Richard Strauss und der »Zweiten Wiener Schule«. 1990 ernannte die französische Regierung Eliahu Inbal zum »Officier des Arts et des Lettres«. 2001 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien verliehen, 2006 erhielt er das Bundesverdienstkreuz sowie die Goetheplakette der Stadt Frankfurt. hr-SINFONIEORCHESTER Das hr-Sinfonieorchester, 1929 als eines der ersten Rundfunk-Sinfonieorchester Deutschlands gegründet, meistert erfolgreich den Spagat zwischen der Pflege der Tradition und den Herausforderungen eines modernen Spitzenorchesters. Konzertreihen mit unterschiedlichen Programmschwerpunkten, in denen große Sinfonik auf Alte Musik und Konzerte mit Neuer Musik auf Projekte für junge Konzertbesucher treffen, markieren sein künstlerisches Profil. 20 Mit internationalen Gastspielen und preisgekrönten CD-Produktionen genießt das Orchester als Frankfurt Radio Symphony zugleich weltweit einen hervorragenden Ruf. Regelmäßige Tourneen nach Japan, Korea und China sind ebenso selbstverständlich wie die stete Präsenz auf bedeutenden europäischen Konzertpodien etwa in Budapest, Madrid, Prag, Salzburg und Wien. Für seine hervorragenden Bläser, seinen satten Streicherklang und seine dynamische Spielkultur berühmt, steht das hrSinfonieorchester mit seinem Chefdirigen- ten Andrés Orozco-Estrada dabei heute für musikalische Exzellenz wie für ein interessantes und vielseitiges Repertoire. Bekannt geworden durch seine Maßstäbe setzenden Einspielungen der romantischen Literatur, zählt das hr-Sinfonieorchester Frankfurt seit Jahrzehnten zu den international führenden Mahler- und BrucknerOrchestern – eine Tradition, die vom langjährigen Chefdirigenten Eliahu Inbal über seine Nachfolger Dmitrij Kitajenko und Hugh Wolff ausstrahlte bis hin zur vielbeachteten Arbeit von Paavo Järvi, dem heutigen »Conductor Laureate« des hr-Sinfonieorchesters. Entscheidende Akzente in seinem Engagement für die Tradition wie für die zeitgenössische Musik setzte das Orchester bereits mit seinem ersten Chefdirigenten Hans Rosbaud. In den 1960er bis 1980er Jahren entwickelte sich das hr-Sinfonieorchester unter Dean Dixon und Eliahu Inbal schließlich zu einem Orchester von internationalem Format mit Gastspielen in aller Welt und wichtigen, vielfach ausgezeichneten Schallplatten- und CD-Editionen. NEWS-TICKER WEIHNACHTS-GESCHENKPAKET Sind Sie auf der Suche nach einer cleveren Geschenkidee für jemanden, der gerne klassische Musik hört? Dann ist das attraktive Geschenkpaket des hr-Sinfonieorchesters das Richtige für Sie: Verschenken Sie einen Gutschein für drei hr-Sinfoniekonzerte in der Alten Oper Frankfurt in der ersten Jahreshälfte 2017 zum günstigen Paketpreis. Alle Konzertdaten, Preise und Bestellmöglichkeiten finden Sie im Internet auf hr-sinfonieorchester.de. CHRISTOPH ESCHENBACH DIRIGIERT Die Kronberg Academy ist eine internationale Exzellenz-Schmiede für Geiger, Bratschisten und Cello-Virtuosen. Das hr-Sinfonieorchester ermöglicht unter der Leitung von Christoph Eschenbach im Rahmen eines besonderen Projekts Stipendiaten der Kronberg Academy die seltene Chance, in einem mehrtägigen Workshop intensiv mit einem Orchester zusammenzuarbeiten. Das Ergebnis wird in zwei Konzerten am Samstag, 3. Dezember um 18 und 20 Uhr im hr-Sendesaal vorgestellt. NEUE CD MIT STUMMFILM-MUSIK »Zur Chronik von Grieshuus«, inszeniert 1923 bis 1925 nach der gleichnamigen Novelle Theodor Storms, gilt als spätes, naturalistisches Meisterwerk des filmischen Expressionismus. Mit der dazu entstandenen Stummfilm-Musik hat das hr-Sinfonieorchester eine weitere faszinierende Partitur von »Metropolis«-Komponist Gottfried Huppertz für die neu rekonstruierte Fassung des Films unter der bereits mehrfach bewährten Leitung des Filmmusik-Experten Frank Strobel eingespielt. Die CD ist an unserem Stand im Foyer (Ebene 2) erhältlich. VIOLIN- UND KL AVIER-SPECIALS Drei Konzerte zum Preis von zwei: Erleben Sie in der aktuellen Saison je drei der größten internationalen Geigenvirtuosen und Pianisten mit dem hr-Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt im Rahmen eines unschlagbar günstigen Angebots! Unser »Violin-Special« mit Hilary Hahn, Joshua 23 Bell und Leonidas Kavakos sowie das »Klavier-Special« mit Pierre-Laurent Aimard, Yefim Bronfman und Fazıl Say erhalten Sie unter hr-ticketcenter.de oder Tel. (069) 155-4111. 24 PROGRAMMHEFT-DOWNLOAD Als Abonnentin bzw. Abonnent der hr-Sinfoniekonzerte können Sie im Rahmen unseres Konzert-Info-Service das vollständige Programmheft bereits im Voraus als PDF herunterladen und sich in Ruhe umfassend über das jeweilige Konzert informieren. Wenn Sie unseren kostenlosen E-Mail-InfoService noch nicht nutzen, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Betreff »Donnerstag-Abo« bzw. »Freitag-Abo« und der Angabe Ihrer hr-Kundennummer an [email protected]. Künftig erhalten Sie dann rechtzeitig vor dem jeweiligen Konzert einen entsprechenden Link zugeschickt, der Sie zum aktuellen Programmheft-Download führt. TSCHAIKOWSK Y-CD MIT JAN VOGLER Der Solist des heutigen Abends, Jan Vogler, hat im vergangenen Jahr mit dem hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Chefdirigent Andrés Orozco-Estrada drei Werke von Peter Tschaikowsky für Cello und Or- chester – darunter die berühmten Rokoko-Variationen – eingespielt. Die Aufnahme ist inzwischen bei Sony Classical erschienen und an unserem CD-Stand im Foyer (Ebene 2) erhältlich. Jan Vogler signiert dort in der Konzertpause. GESELLSCHAFT DER FREUNDE UND FÖRDERER MÖCHTEN SIE DIE ARBEIT DES hr-SINFONIEORCHESTERS UNTERSTÜTZEN? Dann werden Sie Mitglied der »Gesellschaft der Freunde und Förderer des hr-Sinfonieorchesters e.V.« und profitieren Sie dabei auch von vielen exklusiven Vorteilen. Informieren Sie sich auf hr-sinfonieorchester.de unter »Förderverein« oder senden Sie eine Mail an [email protected]. 26 QUELLEN UND TE X TNACHWEISE Ernest Bloch – zitiert nach: Programmheft »Frankfurt Feste ’94«, 8. September 1994; Der Konzertführer – Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, hrsg. v. Attila Csampai / Dietmar Holland, Hamburg 1987; Wulf Konold: Lexikon Orchestermusik Romantik, München 1989. BILDNACHWEISE Foto: Eliahu Inbal (1) © Jirka Jansch; Foto: hr-Sinfonieorchester (1) © Werner Kmetitsch; Foto: Jan Vogler © Felix Broede; Foto: Eliahu Inbal (2) © Zdeněk Chrapek; Foto: hr-Sinfonieorchester (2) © Ben Knabe. HER AUSGEBER Hessischer Rundfunk REDAK TION Adam Gellen GESTALTUNGSKONZEPT Birgit Nitsche SATZ UND DRUCK Imbescheidt | Frankfurt KONZERT-TIPP HILARY HAHN WIEDER BEIM hr-SINFONIEORCHESTER Was haben die tschechische Volksmusik, die frühenglische Madrigalkunst und der Stil Claude Debussys gemeinsam? Diese drei Elemente finden sich, so jedenfalls behauptete es der Komponist Bohuslav Martinů selbst, in seinen eigenen Werken wieder. Noch eine deutliche Prise Strawinsky und Dvořák ist darin enthalten, könnte man ergänzen, und vor allem ganz viel eigenes Genie. Denn Martinů war ein brillanter Geist – seine uneingeschränkt positive 4. Sinfonie aus dem Jahr 1945, die Andrés Orozco-Estrada und das hr-Sinfonieorchester im Rahmen ihres Martinů-Zyklus in dieser Saison präsentieren, macht es deutlich. Martinů galt zudem als Wunderkind an der Geige, mit sechs Jahren bekam er den ers- ten Unterricht. In diesem Alter hatte Hilary Hahn bereits ihren ersten öffentlichen Auftritt, mit zehn Jahren gab sie ihr erstes abendfüllendes Solokonzert, mit zwölf ihr Debüt mit dem Baltimore Symphony Orchestra – Hahns Karriere ist eine in allen Belangen singuläre! Längst ist die Amerikanerin mit den Pfälzer Wurzeln eine der führenden Geigerinnen unserer Zeit und zudem eine regelmäßige Partnerin des hr-Sinfonieorchesters. Schlank ist ihr Ton, überlegen ihre Gestaltungskraft, genau das Richtige für ein so populäres Werk wie Bruchs g-Moll-Violinkonzert. Zu Beginn des reizvollen Programms erklingt Antonín Dvořáks Sinfonische Dichtung Die Mittagshexe – ein musikalisches Märchen mit dramatischem Ausgang. Donnerstag / Freitag | 8./9. Dezember 2016 | 20 Uhr Alte Oper | hr-Sinfoniekonzert Tickets unter: (069) 155-2000 | hr-sinfonieorchester.de 27 DIE NÄCHSTEN KONZERTE Sa_03.12.2016 | 18 Uhr / 20 Uhr | hr-Sendesaal | Kronberg Academy SOLISTEN DER KRONBERG ACADEMY CHRISTOPH ESCHENBACH | Dirigent/Moderation Haydn | Cellokonzert C-Dur Schumann | Cellokonzert Mendelssohn | Violinkonzert e-Moll Bartók | Bratschenkonzert Sibelius | Violinkonzert So_04.12.2016 | 18 Uhr | hr-Sendesaal | Kammermusik MARIANE VIGNAND / RACHELLE BETANCOURT | Violine STEFANIE PFAFFENZELLER | Violine/Viola ULRICH HORN / VALENTIN SCHARFF | Violoncello NAMI EJIRI | Klavier »Klaviertrio und Streichquintett« Schubert | Nocturne für Klaviertrio Es-Dur D 897 / Streichquintett C-Dur D 956 Mozart | Klaviertrio B-Dur KV 502 Do/Fr_08./09.12.2016 | 20 Uhr | Alte Oper | hr-Sinfoniekonzert HILARY HAHN | Violine ANDRÉS OROZCO-ESTRADA | Dirigent Dvořák | Die Mittagshexe Bruch | 1. Violinkonzert Martinů | 4. Sinfonie Tickets unter: (069) 155-2000 | hr-sinfonieorchester.de