4 Mengentheorie 4.1 Mengen Die Mengentheorie ist entwickelt worden, um eine elementare Basis für den Aufbau der gesamten Mathematik zu haben. Ihr Begründer ist Georg Cantor (1845-1918). Die Standard-Semantik von PL1 wird unter Verwendung der Mengentheorie formuliert. Umgekehrt kann die Mengentheorie in einer prädikatenlogischen Sprache präzise dargestelllt werden. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 1 Der klassische Mengenbegriff Eine Menge ist eine abstrakte Zusammenfassung bestimmter wohlunter-schiedener Objekte unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen. Diese Objekte sind die Elemente der Menge. • „abstrakt“: Die Objekte werden nicht in einem physischen Sinne zusammengefasst. • „Zusammenfassung“: Die Objekte werden nicht auf eine bestimmte Weise angeordnet. • „wohlunterschieden“: Die Objekte müssen für sich genommen identifizierbar sein. • „Anschauung“/„Denken“: Es kann sich um konkrete oder abstrakte Objekte handeln. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 2 Mengen werden gewöhnlich mit A,B,C ,…,X ,Y ,Z ,…, Elemente von Mengen, d.h. beliebige Objekte, mit a,b,c,…,x ,y,z ,… notiert. Die Elementrelation zwischen Objekten und Mengen wird mit der 2-stelligen Prädikatskonstanten ∈ notiert: a ∈ A : „a ist Element von A “ Eine alternative Schreibweise, die der von uns benutzten PL1-Notation entspricht, ist: ∈(a,A) Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 3 D4.1 a ∉ A =def ¬(a ∈ A) „a ist kein Element von A “ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 4 D4.2 A = B =def ∀x [x ∈ A ↔ x ∈ B ] „ A ist identisch mit B ” („ A und B sind gleich“ , „ A und B sind dieselbe Menge“) A B D4.3 A ≠ B =def ¬(A = B ) (d.h. ∃x [x ∈ A ∧ x ∉ B ∨ x ∉ A ∧ x ∈ B ]) „ A ist verschieden von B “ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 5 Eine endliche Menge ist eine Menge, die endlich viele Elemente enthält. Beispiel: die Menge der Monde des Saturn Eine unendliche Menge ist eine Menge, die unendlich viele Elemente enthält. Beispiel: die Menge aller Primzahlen Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 6 Eine Einermenge ist eine Menge, die genau ein Element enthält. Dabei muss klar zwischen der Menge und ihrem einzigen Element unterschieden werden. Beispiel: die Menge, die nur Georg Cantor enthält Die leere Menge ∅ ist diejenige Menge, die kein Element enthält, d.h. ¬∃x [x ∈ ∅] bzw. ∀x [x ∉∅]. Beispiel: die Menge, die nur runde Quadrate enthält Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 7 Mengen können selbst Elemente von Mengen sein. Es wird zwischen Mengen verschiedener Stufe unterschieden (Bertrand Russell, 1872-1970, Typen-theorie): • Mengen, die Individuen als Elemente enthalten, sind Mengen der 1. Stufe. • Mengen, die Mengen der n -ten Stufe ( n ≥1 ) als Elemente enthalten, sind Mengen der n+1. Stufe. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 8 Spezifikation von Mengen (A) Aufzählung (Listennotation): {x 1, …, x n } : „die Menge bestehend aus x 1, …, x n “ („die Menge , die aus x 1, …, x n besteht“) {x } : „die Einermenge bestehend aus x “ Beispiele: { , , }: „die Menge bestehend aus , und “ {Karlo,Hans,Pluto} : „die Menge bestehend aus Karlo, Hans und Pluto“ {Karlo, Hans, Pluto } : „die Menge bestehend aus den Namen Karlo, Hans und Pluto“ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 9 {∅} : „die Menge bestehend aus der leeren Menge“ {{a }} : „die Menge bestehend aus der Einer-menge {a } ” {{a }, a, ∅} : „die Menge bestehend aus {a } , a und ∅ ” {{a,b,c},{{d },1},Hans} : „die Menge bestehend aus den Mengen {a,b,c} und {{d },1} und Hans” ? Von welcher Stufe sind die angegebenen Mengen? Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 10 (B) Abstraktion (Prädikatsnotation): {x | ...} : „die Menge der x , für die gilt: ...“ {x | P (x )} : „die Menge der x , für die gilt: P (x ) “ („die Menge der P “) Beispiele: {x | MENSCH (x )} : „die Menge der x , für die gilt: x ist ein Mensch“ („die Menge der Menschen“) alternativ: {x | x ist ein Mensch} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 11 Weitere Beispiele: {x | x ∈ N und x ≥ 2 und x ≤ 100} {x | x ist deutsche Bundeskanzlerin } {x | QUADRAT (x ) ∧ RUND(x )} {x | x existiert oder x existiert nicht} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 12 ? Gib an, welche der folgenden Mengen identisch sind. (1) {x |x ist Primzahl und x ≤10} (2) ∅ (3) {x |x ist Primzahl, gerade und x > 2} (4) {2,3,5,7} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 13 Prinzip der Mengenkonversion Für ein beliebiges a gilt: a ∈ {x | P (x )} gdw P (a ) . Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 14 Mächtigkeit von Mengen Die Anzahl der Elemente einer Menge A ist deren Mächtigkeit (oder Kardinalität). Sie wird mit |A|, #A oder card (A) angegeben. Im Falle einer endlichen Menge ist deren Mächtigkeit eine natürliche Zahl. Beispiele: |{a,{c,2}}|= 2 |{x |x ist ein Vokal, der im Wort Paris vorkommt}|= 2 |∅ |= 0 Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 15 Teilmengenrelationen Neben der Identitätsrelation können zwischen Mengen auch Teilmengenrelationen bestehen. D4.4 A ⊆ B =def ∀x [x ∈ A → x ∈ B ] „ A ist eine Teilmenge von B “ („ B ist eine Obermenge von A “) A B Beispiele: Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 16 {2, 3,e} ⊆ {2, 3,e} {a } ⊆ {{a }, a } ∅ ⊆ {x | x studiert Linguistik} Die leere Menge ∅ ist Teilmenge einer beliebigen Menge, d.h. ∀X [∅ ⊆ X ]. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 17 D4.5 A ⊈ B =def ¬(A ⊆ B ) (d.h. ∃x [x ∈ A ∧ x ∉ B ]) „ A ist keine Teilmenge von B “ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 18 D4.6 A ⊂ B =def A ⊆ B ∧ A ≠ B „ A ist eine echte Teilmenge von B “ („ B ist eine echte Obermenge von A “) A B + Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 19 Beispiele: {2,e} ⊂ {2, 3,e} , {a } ⊂ {{a }, a } , ∅ ⊂ {x | x studiert Linguistik} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 20 D4.7 A ⊄ B =def ¬(A ⊂ B ) „ A ist keine echte Teilmenge von B “ Beispiele: {a,b, c} ⊄ {a,b, c} {a,b, c} ⊄ {a,b} {a,b, c} ⊄ {2, 4, 9} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 21 ? Gib an, welche Teilmengenrelationen zwischen folgenden Mengen bestehen. S, ∅, {{S }}, {S } Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 22 Mengentheoretische Gesetze Die Identität ist reflexiv: symmetrisch: transitiv: A=A (A = B ) → (B = A) (A = B ) ∧ (B = C ) → (A = C ) Die Teilmengenrelation ist A⊆A reflexiv: antisymmetrisch: (A ⊆ B ) ∧ (B ⊆ A) → (A = B ) transitiv: (A ⊆ B ) ∧ (B ⊆ C ) → (A ⊆ C ) Die echte Teilmengenrelation ist irreflexiv: asymmetrisch: transitiv: A⊄A (A ⊂ B ) → (B ⊄ A) (A ⊂ B ) ∧ (B ⊂ C ) → (A ⊂ C ) Reflexivität, Irreflexivität, Symmetrie usw. sind Eigenschaften von Relationen. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 23 Die Identität ist eine Äquivalenzrelation. Die Teilmengenrelation ist eine schwache Ordnungsrelation. Die echte Teilmengenrelation ist eine strenge Ordnungsrelation. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 24 Weitere Relationen zwischen Mengen sind z.B. die Überlappung ( o ) und die Disjunktheit ( ∫ ) von Mengen. ? Gib die Definitionen dieser Mengenrelationen an. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 25 4.2 Operationen mit Mengen Mit Hilfe von mengentheoretischen Operationen lassen sich neue Mengen bilden. Potenzmenge (‚power set’) D4.8 P(A) =def {X | X ⊆ A} (auch: pow(A) , ℘(A) ) „ P von A “ Die Potenzmenge von A ist die Menge aller Teilmengen von A . Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 26 Wenn A eine Menge der n -ten Stufe ist, dann ist P(A) eine Menge der n +1. Stufe. Mächtigkeit von Potenzmengen: Wenn | A | = n , dann | P(A) | = 2n , d.h. 2 ∗2 ∗…∗2 (n -mal). Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 27 Beispiele: P({Hans,Maria})= {∅,{Hans},{Maria},{Hans,Maria}} P({1,2,3}) = {∅,{1},{2},{3},{1,2},{1,3},{2,3},{1,2,3}} P({S })= {∅,{S }} P(∅)= {∅} P({S ,{S }})= {∅,{S },{{S }},{S ,{S }}} ? Gib für {{a,b},c} die Potenzmenge an. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 28 Mengenvereinigung (‚union’) D4.9.1 A ∪ B =def {x | x ∈ A ∨ x ∈ B } „ A vereinigt mit B “ Die Vereinigung von A und B ist die Menge, die alle Elemente, die in A oder in B vorkommen, und nur diese enthält. A Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 B 29 Beispiele: {a,b,c}∪{1,2} = {a,b,c,1,2} {S }∪{S ,{S }} = {S ,{S }} {e,t }∪∅= {e,t } Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 30 Verallgemeinerung: D4.9.2 ∪U = def {x | ∃X [X ∈ U ∧ x ∈ X ]} „die Vereinigungsmenge von U “ (alternativ: {x | ∃X : X ∈ U [x ∈ X ]} , oder einfacher: {x | ∃X ∈ U [x ∈ X ]} ) Beispiel: ∪ {{a,b},{47},{c,d, f }} = {a,b, 47,c,d, f } Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 31 Mengendurchschnitt (‚intersection’) D4.10.1 A ∩ B =def {x | x ∈ A ∧ x ∈ B } „ A geschnitten mit B “ Die Durchschnitt von A und B ist die Menge, die alle Elemente, die sowohl in A als auch in B vorkommen, und nur diese enthält. A Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 B 32 Beispiele: {2,3,7,11}∩{1,2,3,4} = {2,3} {a,{a }}∩{a,{a },{a,{a }}} = {a,{a }} {a,b}∩{1,2} =∅ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 33 Verallgemeinerung: D4.10.2 ∩U = def {x | ∀X [X ∈ U → x ∈ X ]} „die Schnittmenge von U ” (alternativ: {x | ∀X : X ∈ U [x ∈ X ]} , oder einfacher: {x | ∀X ∈ U [x ∈ X ]} ) Beispiel: ∩ {{0,1},{0,1,2, 3},{1}} = {1} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 34 Mengendifferenz (‚subtraction’) D4.11 A \ B =def {x | x ∈ A ∧ x ∉ B} „ A ohne B “ Die Differenz von A und B ist die Menge, die genau die Elemente aus A enthält, die nicht in B vorkommen. A B Beispiele: Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 35 {Hans,Maria}\{Maria} = {Hans} , {S }\{S } =∅ , {0,1}\∅= {0,1} Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 36 Komplement einer Menge Ein Spezialfall der Differenz ist das Komplement einer Menge A bezüglich einer vorausgesetzten Grundmenge G , wobei A ⊆ G . Dabei ist G entweder explizit angegeben oder aus dem Kontext entnehmbar. D4.12 A ' =def G \ A (alternativ: {x ∈ G | x ∉ A} ) Das Komplement von A ist die Menge, die genau die Elemente der Grundmenge G enthält, die nicht in A vorkommen. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 37 A G Beispiele: = {a,b,c,d } . Sei G {a }' = {b,c,d } {d,b}' = {a,c} {a,b,c,d }' =∅ Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 38 Mengentheoretische Gesetze Idempotenz: A∪A = A A∩A = A Kommutativität: A∪B = B ∪A A∩B = B ∩A Assoziativität: A∪(B ∪C ) = (A∪B )∪C A∩(B ∩C ) = (A∩B )∩C Distributivität: A∪(B ∩C ) = (A∪B )∩(A∪C ) A∩(B ∪C ) = (A∩B )∪(A∩C ) Identität: A∪∅= A A∪ G = G A∩∅=∅ A∩ G = A Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 39 Komplement: A∪A' = G (A')' = A A∩A' =∅ A\B = A ∩B ' De Morgansche Gesetze: (A∪B )' = A'∩B ' (A∩B )' = A'∪B ' Konsistenz: A ⊆B ↔ A∪B = B A ⊆ B ↔ A∩B = A Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 40 Identische Umformungen Die Gesetze für die mengentheoretischen Operationen erlauben es, Mengenausdrücke durch identische Umformungen ineinander zu überführen und dabei insbesondere auch zu vereinfachen. Beispiele: (A∪B )∪(B ∩C )' = (A∪B )∪(B '∪C ') de Morgan = A∪(B ∪(B '∪C ')) Assoziativität = A∪((B ∪B ')∪C ') Assoziativität = A∪(G ∪C ') Komplement = A∪(C '∪ G) Kommutativität = A∪ G Identität =G Identität (B ∪A)∩A' = A'∩(B ∪A) Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 Kommutativität 41 = (A'∩B )∪(A'∩A) Distributivität = (A'∩B )∪∅ Komplement = A'∩B Identität = B ∩ A' Kommutativität = B \A Komplement Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 42 Algebraische Strukturen Eine Algebraische Struktur (oder Algebra) A = A, f1, …, fn ist eine Menge A , auf der Operationen f1, …, fn definiert sind. Seien ∧ und ∨ 2-stellige Operatoren, * ein 1-stelliger Operator und 1 und 0 ausgezeichnete Elemente einer Menge B . Eine Boolesche Algebra BA = B,∧,∨,*,1,0 ist eine algebraische Struktur, die die Gesetze der Assoziativität, Kommutativität, Distributivität, Identität und des Komplements erfüllt (George Boole, 1815-1864). Potenzmengen von beliebigen nichtleeren Mengen X haben die Struktur einer Booleschen Algebra P (X ),∩,∪,',X ,∅ . Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 43 Beispiel: Sei X = {a,b,c} . Dann ist P ({a,b,c}),∩,∪,',{a,b,c,},∅ eine Boolesche Algebra. Die Aussagenlogik AL ist ebenfalls eine Boolesche Algebra B,∧,∨,¬,⊤ ,⊥ , wobei B die Menge der Formeln von AL ist und ⊤ und ⊥ entsprechend die tautologischen bzw. die kontradiktorischen Formeln repräsentieren. Die AL-Konnektoren ∧ , ∨ und ¬ werden deshalb auch Boolesche Operatoren genannt. Johannes Dölling: Logik für Linguisten. WiSe 2012/13 44