1. Die Vollständigkeit der reellen Zahlen 267 Die Funktion f wird bei der Bildung einer Darboux-Summe als beschränkt vorausgesetzt, damit die Suprema und Infima definiert sind. Stützstellen und zugehörige Funktionswerte spielen keine Rolle. Wir setzen nun S f = infp Sp f, (Oberintegral) s f = supp sp f. (Unterintegral) Das Infimum bzw. Supremum wird über alle Partitionen p gebildet (wobei man sich auf äquidistante Partitionen beschränken kann). Es gilt stets s f ≤ S f. Man kann nun zeigen, dass f genau dann Riemann-integrierbar ist, wenn s f = S f gilt, d. h. wenn Ober- und Unterintegral übereinstimmen. Dieser Zugang zur Integration, oft auch Darboux-Integral genannt, ist also äquivalent zum Zugang über Riemann-Summen. Er ist theoretisch aufgrund des eleganten Kalküls mit Suprema und Infima ansprechend, aus numerischer Sicht aber weniger geeignet, da die Darboux-Summen im Vergleich zu den Riemann-Summen viel schwieriger zu berechnen sind. Wie so oft sind beide Wege wertvoll. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 268 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Übungen Übung 1 Zeigen Sie in Analogie zum Beweis der Irrationalität von £2, dass £3 irrational ist. Warum scheitert der Beweis bei £4? Auf welche Zahlen lässt sich das Argument allgemein anwenden? Übung 2 Recherchieren Sie den Beweis der Irrationalität von £2, der sich in den „Elementen“ des Euklid findet. Vergleichen Sie diesen Beweis mit unserem Argument. Übung 3 Bestimmen Sie die Infima und Suprema der folgenden Mengen: (a) [ 0, 1 ] ∪ { 2 }, (b) ] 0, 1 [ ∪ ] 2, 3 [, (c) { sin(x) | 0 ≤ x ≤ π/2 }, (d) { (−1)n /n | n ≥ 1 }, (e) { 3/10, 33/100, 333/1000, … }, (f ) { 1/2 + 1/4 + … + 1/2n | n ≥ 1 }, (g) sup({ 1 + 1/k | k ≥ n }) | n ≥ 1 }). Übung 4 Zeigen Sie, dass die Eigenschaft sup(X + Y) = sup(X) + sup(Y) unter den eingeführten Konventionen für alle nichtleeren (nicht notwendig beschränkten) X, Y ⊆ R gültig ist. Kann man auch leere Teilmengen zulassen? Übung 5 Sei X ⊆ R. Zeigen Sie: inf(X) = − sup(− X), sup(X) = − inf(− X). Übung 6 Zeigen Sie, dass das Archimedische Axiom äquivalent ist zur Aussage (+) N ist unbeschränkt in R. Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser 1. Die Vollständigkeit der reellen Zahlen 269 Übung 7 Nehmen Sie an, dass Q dicht in R ist und zeigen Sie mit Hilfe dieser Voraussetzung das Archimedische Axiom. Übung 8 Begründen Sie die Dichtheit der rationalen Zahlen in R mit Hilfe der Dezimalbruchentwicklung. Übung 9 Sei D = { ± n/2m | n, m P N } ⊆ Q. Geben Sie eine möglichst einfache beschränkte nichtleere Teilmenge von D an, deren Supremum in Q − D liegt. Stellen Sie eine Analogie zu £2 her. Übung 10 Definieren Sie die Menge D der vorangehenden Übung mit Hilfe von Dualdarstellung. Übung 11 Sei b eine natürliche Zahl mit b ≥ 2. (a) Geben Sie (ohne Begründung) alle möglichen b-adischen Darstellung der folgenden reellen Zahlen an: 1, 1 , b a für 1 ≤ a < b, b−1 1 . 2 (b) Charakterisieren Sie (mit kurzer Begründung) alle reellen Zahlen x > 0, die genau zwei b-adische Darstellungen besitzen. Geben Sie einige Beispiele an. Übung 12 Erstellen Sie Diagramme zu den im Text beschriebenen Visualisierungen der Dezimaldarstellung für eine reelle Zahl x P [ 0, 1 ]: (1) Approximation am Zahlenstrahl von links (2) wiederholte Intervallteilung (Baumstruktur) Erläutern Sie das Phänomen der Zweideutigkeit für beide Visualisierungen. Verallgemeinern Sie zudem die Visualisierungen auf b-adische Darstellungen und betrachten Sie speziell den Fall b = 2 für die Visualisierung (2). © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen Wir definieren nun Grenzwerte von Folgen (xn )n P N = (x0 , x1 , x2 , …, xn , …) und unendlichen Reihen ∑ n xn = x0 + x1 + x2 + … + xn + … in R formal mit Hilfe der Epsilontik. Diese Definitionsform wird heute in der Analysis zur Präzisierung aller Arten von Grenzwertbegriffen verwendet. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 272 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Folgen Wir präzisieren zunächst den Begriff einer Folge. Allgemein definieren wir: Definition (Folge in einer Menge) Sei M eine Menge. Eine Folge in M (mit Definitionsbereich N) ist eine Funktion der Form f : N → M. Notation (Folgennotation) Wir notieren eine Folge f : N → M in einer Menge M oft als f = (xn )n P N , mit xn = f(n) für alle n P N. Einen Wert xn = f(n) nennen wir auch ein Glied der Folge und die Stelle n einen Index. Anstelle von (xn )n P N schreiben wir auch (x0 , x1 , x2 , …, xn , …) oder x0 , x1 , x2 , …, xn , … Eine Folge wird üblicherweise nicht mit einem Funktionsnamen wie f,g,h versehen (man kann dies natürlich tun, wenn man möchte), sondern einfach in der Form (xn )n P N angegeben. Besonders nützlich ist die Folgennotation, wenn die Funktionswerte durch Terme definiert sind. So ist zum Beispiel (n2 )n P N die Funktion f auf N mit f(n) = n2 für alle n P N. Folgen tauchen in vielen Varianten auf. Oft beginnt man mit dem Index 1 statt 0 und notiert eine solche Folge in der Form (xn )n ≥ 1 oder x1 , x2 , …, xn , … (n ≥ 1). Da eine Folge eine Funktion (einer bestimmten Form) ist, stehen ohne weitere Definitionen alle funktionalen Begriffe zur Verfügung: Beispiele (1) Die Folge (1)n P N ist die Folge (xn )n P N mit xn = 1 für alle n. In der alternativen Notation lautet sie 1, 1, 1, … (2) Die Folge (1/n)n ≥ 1 ist die Folge (xn )n ≥ 1 mit xn = 1/n für alle n ≥ 1. Wir können sie auch notieren als 1, 1/2, 1/3, …, 1/n, … (3) Eine Folge (xn )n P N ist injektiv, wenn alle Folgenglieder paarweise verschieden sind, d. h. wenn xn ≠ xm für alle n ≠ m. (4) Eine Folge (xn )n P N in R ist monoton wachsend, wenn xn ≤ xn + 1 für alle n gilt. Gilt stärker xn < xn + 1 für alle n, so ist sie streng monoton wachsend. (5) Ist (xn )n P N eine Folge in R und (nk )k P N eine Folge in N, so ist (xn )n P N + (nk )k P N = (xnk )k P N . Der besseren Lesbarkeit halber kann man den Index nk auch in der Form n(k) schreiben und die Komposition als (xn(k) )k P N angeben. Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 273 Zur Visualisierung einer reellen Folge stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Zwei davon betrachten wir genauer. Visualisierung einer reellen Folge, Typ I Die Folge (xn )n P N wird als Punktfolge auf der x-Achse gezeichnet. Man trägt die Folgenglieder xn als Punkte auf der x-Achse ein und benennt die Punkte derart, dass die Indizes eindeutig aus dem Diagramm hervorgehen. Visualisierung einer reellen Folge, Typ II Die Folge (xn )n P N wird als Funktionsgraph (bestehend aus Punkten der Ebene) gezeichnet: Der Graph besteht aus den Punkten (n, xn ) P R2 , n P N. x2 n + 1 -2 x2 n -1 0 1 2 Typ I: Visualisierung der Folge 1, −1, 1, −1, 1, −1, … 1.0 0.5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 -0.5 -1.0 Typ II: Visualisierung der Folge 1, −1, 1, −1, 1, −1, … 1.0 0.5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 -0.5 Typ II: Visualisierung der Folge (xn )n ≥ 1 mit xn = (−1)n + 1 /n für alle n ≥ 1 © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 274 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Die Epsilon-Definition des Grenzwerts einer Folge Anschaulich bedeutet x = limn P N xn , dass die Folgenglieder gegen x streben, wenn n gegen unendlich strebt. Wie lässt sich dies präzisieren? Der erste Ansatz ist vielleicht: „Die Folgenglieder xn kommen dem Wert x beliebig nahe.“ Dies ist notwendig für die Konvergenz gegen x, aber nicht ausreichend. Die Folge 1/2, 1, 1/4, 1, 1/8, 1, … kommt zum Beispiel der Null beliebig nahe, hat aber die Null nicht als Grenzwert. Wir müssen also die Bedingung verstärken: „Die Folgenglieder xn sind ab einer bestimmten Stelle beliebig nahe bei x.“ Mit dieser Formulierung sind wir schon fast am Ziel. Wir müssen nur noch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen „ab einer bestimmten Stelle“ und „beliebig nahe“ klären, um eine exakte Definition zu erhalten, mit der wir arbeiten können. Allen Ansprüchen an Genauigkeit gerecht wird: Definition (Grenzwert, Limes, Konvergenzbedingung) Sei (xn )n P N eine Folge in R, und sei x P R. Dann heißt x Grenzwert oder Limes der Folge (xn )n P N , falls gilt ∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |x − xn | < ε. (Konvergenzbedingung) x+ x x- 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Visualisierung der Konvergenz-Bedingung für eine Folge (xn )n P N Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 275 Die Konvergenzbedingung besagt, dass für jedes (noch so kleine) ε > 0 ein Index n0 existiert, sodass alle xn ab der Stelle n0 (d. h. für n ≥ n0 ) im Intervall I(x, ε) = ] x − ε, x + ε [ liegen. Mit der Konvention „fast alle“ = „alle bis auf höchstens endlich viele Ausnahmen“ können wir die Konvergenzbedingung so formulieren: Umformulierung der Konvergenzbedingung Für alle ε > 0 gilt: Fast alle Folgenglieder sind Elemente von I(x, ε) = ] x − ε, x + ε [. Diese Umformulierung lässt sich anschaulich so ausdrücken: „Jedes (noch so kleine) Intervall ] x − ε, x + ε [ fängt die Folge schließlich ein.“ Im Fall der Existenz ist ein Grenzwert eindeutig bestimmt (Beweis als Übung). Damit können wir einführen: Limesnotation Ist x P R der Grenzwert der Folge (xn )n P N , so schreiben wir x = limn →∞ xn oder kurz x = limn xn . Schließlich definieren wir: Definition (konvergent, divergent) Sei (xn )n P N eine Folge in R. Besitzt (xn )n P N einen Grenzwert x P R, so heißt die Folge konvergent. Andernfalls heißt sie divergent. Definition (Nullfolge) Gilt limn xn = 0, so nennen wir (xn )n P N auch eine Nullfolge. Uneigentliche Grenzwerte Wie für die Bildung von Supremum und Infimum ist es oft nützlich, auch die symbolischen Werte ∞ und −∞ als Grenzwerte zuzulassen. Definition (uneigentliche Konvergenz) Für eine Folge (xn )n P N in R definieren wir limn xn = ∞ falls limn xn = −∞ falls ∀k > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 xn ≥ k, ∀k > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 xn ≤ −k. Gilt limn xn = ± ∞, so nennen wir die Folge (xn )n P N uneigentlich konvergent. Die Bedingungen besagen anschaulich, dass fast alle Glieder der Folge größer- © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 276 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen gleich (bzw. kleinergleich) einer beliebigen vorgegebenen Schranke sind. Eine uneigentlich konvergente Folge ist nach wie vor divergent im Sinne der (eigentlichen) Konvergenz einer Folge in R. Beispiele (1) Es gilt limn ≥ 1 1/n = 0. Die Folge (1/n)n ≥ 1 ist eine Nullfolge. (2) Es gilt limn n = ∞. Die Folge (n)n P N ist uneigentlich konvergent. (3) limn (−1)n existiert nicht. Die Folge ((−1)n )n P N ist beschränkt und divergent. limn (−1)n n existiert nicht. Die Folge ((−1)n n)n P N konvergiert weder eigentlich noch uneigentlich. (4) Es gilt limn xn = ∞ genau dann, wenn limn −xn = −∞. Die Limesregeln Für die Berechnung von Grenzwerten sind die folgenden Regeln unentbehrlich, die wir hier ohne Beweis angeben: Satz (Limesregeln) Seien (xn )n P N und (yn )n P N (x n )n P N konvergente Folgen in R. Dann gilt: (a) lim n (x n + yn ) = lim n x n + lim n yn , (b) lim n (c x n ) = c lim n x n für alle c P R, (c) lim n (x n − yn ) = lim n x n − lim n yn , (d) lim n (x n yn ) = lim n x n lim n yn . (e) lim n ( xn yn ) = lim n xn , falls yn ≠ 0 für alle n und limn yn ≠ 0. lim n yn Beispiele (1) Es gelte lim n x n = x. Dann gilt lim n (xn2 ) = lim n (x n x n ) = (lim n x n ) ⋅ (lim n x n ) = x x = x2 . Analoges gilt für höhere Exponenten. (2) Es gilt lim n ≥ 1 ( 2 + n3 n3 2 lim n ≥ 1 1 n )3 Einführung in die Mathematik 1 = lim n ≥ 1 ( 2 n3 + n3 n3 ) = + lim n ≥ 1 1 = 2 ⋅ 0 3 + 1 = 1. © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 277 Eine Charakterisierung der konvergenten Folgen Welche Folgen konvergieren und welche nicht? Für monotone Folgen und Pendelfolgen können wir einfache Kriterien angeben: Konvergenzkriterium für monotone Folgen Eine monotone Folge (xn )n P N konvergiert genau dann, wenn sie beschränkt ist. In diesem Fall gilt je nach Monotonietyp limn xn = supn xn bzw. (bei monotoner Zunahme) limn xn = infn xn . (bei monotoner Abnahme) Konvergenzkriterium für Pendelfolgen Eine Pendelfolge (xn )n P N konvergiert genau dann, wenn die Folge der Abstände gerader und ungerader Folgenglieder gegen Null konvergiert, d. h. wenn limn |x2n + 1 − x2n | = 0. In diesem Fall gilt je nach Typ limn xn = supn x2n = infn x2n + 1 bzw. (bei Linksstart) limn xn = supn x2n + 1 = infn x2n . (bei Rechtsstart) Was kann man über die Konvergenz allgemeiner Folgen sagen, die nicht notwendig diesen beiden Grundtypen angehören? Erstaunlicherweise gibt es eine Bedingung, die für alle Folgen geeignet ist. Sie besagt anschaulich, dass sich die Folgenglieder beliebig verdichten: Definition (Cauchy-Folge, Cauchy-Bedingung) Eine Folge (xn )n P N in R heißt Cauchy-Folge, falls gilt ∀ε > 0 ∃n0 ∀n, m ≥ n0 |xn − xm | < ε. (Cauchy-Bedingung) Diese Bedingung fängt genau die konvergenten Folgen ein: Satz (Charakterisierung der konvergenten Folgen) Sei (xn )n P N eine Folge in R. Dann konvergiert die Folge genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist. In diesem Fall ist limn xn = infn supk ≥ n xk = supn infk ≥ n xk . Der Beweis dieses Satzes wird in der Analysis geführt. Die Formeln für den Grenzwert zeigen, dass der Grenzwert auch im allgemeinen Fall mit Hilfe einer Supremums- und Infimums-Bildung identifiziert werden kann. Die Formeln sind deutlich komplizierter als die Formeln für monotone Folgen und Pendelfolgen, dafür aber für alle Folgen anwendbar. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 278 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Konvergenz von Cauchy-Folgen als Axiom Die Aussage „Jede Cauchy-Folge in R konvergiert.“ wird auch oft als Axiom für die reellen Zahlen verwendet und als (metrisches) Vollständigkeitsaxiom bezeichnet. Zusammen mit dem Archimedischen Axiom ist das metrische Vollständigkeitsaxiom äquivalent zu unserem linearen Vollständigkeitsaxiom, das die Existenz eines Supremums für nichtleere und beschränkte Teilmengen von R fordert. Welchen Zugang man für die reellen Zahlen bevorzugt, ist letztendlich Geschmackssache. Die Existenz eines Supremums einer nichtleeren beschränkten Teilmenge von R ist vielleicht etwas anschaulicher als die Existenz des Grenzwerts einer Cauchy-Folge. Ganz unabhängig davon ist der Begriff der Cauchy-Folge unverzichtbar zur Beschreibung der Vollständigkeit von Räumen, die eine Abstandsmessung zulassen, aber keine lineare Struktur mehr aufweisen. Unendliche Reihen Wir haben schon mehrfach unendliche Summen der Form (+) x0 + x1 + … + xn + … betrachtet, sog. unendliche Reihen. Mit Hilfe des Grenzwerts für Folgen können wir die Konvergenz unendlicher Reihen präzisieren ohne weitere Grenzwertdefinitionen einzuführen. Dies erfolgt durch Betrachtung der Partialsummen s0 = x0 , s1 = x0 + x1 , s2 = x0 + x1 + x2 , …, sn = x0 + … + xn , …, die auftreten, wenn wir die Summe (+) schrittweise berechnen. Definition (Partialsumme, unendliche Reihe, Summe, Wert) Sei (x n )n P N eine Folge in R. Für alle n P N sei sn = x0 + … + xn = ∑ k ≤ n x k die n-te Partialsumme der Folge. Wir setzen ∑ n P N x n = (sn )n P N und nennen ∑ n P N xn die unendliche Reihe mit den Summanden xn . Im Fall der Konvergenz der Folge der Partialsummen setzen wir zudem ∑ n P N x n = limn sn . Diesen Grenzwert nennen wir die Summe von (xn )n P N oder den Wert der unendlichen Reihe. Notation Neben ∑ n P N x n verwenden wir gleichwertig auch die Notationen ∞ ∑ n = 0 x n , ∑ n ≥ 0 x n , ∑ n x n , x0 + x1 + x2 + … + xn + … Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 279 Das Summenzeichen hat eine Doppelbedeutung: Für jede Folge (xn )n P N ist die unendliche Reihe ∑ n xn definiert als die Folge (sn )n P N der Partialsummen der Folge. Konvergiert die Folge der Partialsummen, so bezeichnet ∑ n xn nun auch den Grenzwert der Folge der Partialsummen. Die Bedeutung geht in der Regel aus dem Kontext hervor: Beispiel 1. Bedeutung: „Die Reihe ∑ n 1/2n konvergiert.“ 2. Bedeutung: „Es gilt ∑ n 1/2n = 1 + 1/2 + 1/4 + … + 1/2n + … = 2.“ 1. Bedeutung: „Die Reihe ∑ n (−1)n divergiert.“ 2.0 1.5 1.0 0.5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Die Partialsummen sn der unendlichen Reihe ∑ n 1/2n . Es gilt limn sn = 2 und damit ∑ n 1/2n = 2. 1 0.5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Die Partialsummen sn der unendlichen Reihe ∑ n (−1)n . Die Reihe ∑ n (−1)n divergiert, da die Folge der Partialsummen divergiert. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 280 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Die geometrische Reihe Sei q P R. Bei der Diskussion der Polynomdivision hatten wir bereits die geometrische Summe q0 + … + qn = 1 − qn + 1 , 1−q falls q ≠ 1 betrachtet, die sich aus der (auch für q = 1 gültigen) Teleskop-Summe (q0 + … + qn ) (1 − q) = q0 − q1 + q2 − q2 + … − qn + 1 = 1 − qn + 1 ergibt. Die zugehörige unendliche Reihe ist ∑ n qn = q0 + … + qn + … (geometrische Reihe) Ihr Konvergenzverhalten wird zusammengefasst in: Satz (Konvergenz der geometrischen Reihe) Sei q P R. Ist |q| < 1, so ist ∑ n qn konvergent und es gilt ∑ n qn = 1 . 1−q Ist |q| ≥ 1, so divergiert ∑ n qn . Wir erinnern an den Beweis. Ist |q| < 1, so gilt ∑ n qn = limn sn = limn 1 − qn + 1 1−q = 1 , 1−q wobei wir verwenden, dass limn qn + 1 = limn qn = 0 (da |q| < 1). Ist dagegen |q| > 1, so gilt |sn + 1 − sn | ≥ 1 für alle n, sodass die Folge (sn )n P N der Partialsummen divergent ist. Nützlich ist: Geometrische Reihe ab dem Index 1 ∑ n ≥ 1 qn = q 1−q für alle |q| < 1. Diese Formel ergibt sich aus 1 1−q − q0 = 1 1−q Einführung in die Mathematik 1 − 1 = q . 1−q © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 281 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Die Folge Partialsummen sn der geometrischen Reihe ∑ n qn mit q = −2/3. Die Reihe konvergiert gegen 1/(1 − q) = 3/5. 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Die Partialsummen sn der geometrischen Reihe ∑ n qn mit q = −9/10. Die Reihe konvergiert (deutlich langsamer als oben) gegen 1/(1 − q) = 10/19. Für positive q sind die Partialsummen der geometrischen Reihe ∑ n qn streng monoton wachsend. Für q P [ 0, 1 ] konvergiert die Reihe. Strebt q im Intervall [ 0, 1 ] gegen 1, wird der Wert der Reihe beliebig groß, da dann 1/(1 − q) gegen unendlich konvergiert. Ab einschließlich q = 1 ist die geometrische Reihe uneigentlich konvergent gegen ∞. Für negative q bilden die Partialsummen von ∑ n qn eine rechtsstartende Pendelfolge. Für q P ] −1, 0 [ konvergiert die Reihe mit Werten im Intervall ] 1/ 2, 1 [. Für q ≤ −1 ist die Reihe divergent und auch nicht uneigentlich konvergent. Für q = −1 ergibt sich 1, 0, 1, 0, … als Folge der Partialsummen. Die Formel 1/(1 − q) liefert für q = −1 den Wert 1/2, aber die Folge der Partialsummen divergiert. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 282 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Die harmonische Reihe Die harmonische Reihe ist die Reihe 1 n ∑n ≥ 1 1 2 = 1 + + 1 3 + 1 4 + … Die Partialsummen sn dieser Reihe sind aufgrund der positiven Summanden streng monoton steigend. Das Wachstum ist jedoch sehr langsam. Durch folgende geistreiche Zusammenfassung von Summanden können wir sehen, dass die harmonische Reihe divergiert: 1 + 1 2 = 1 + ≥ 1 2 + 1 3 1 + 2 1 2 + 1 4 + ( + … 1 1 + 3 4 + 1 2 )+( 1 1 +…+ 5 8 )+( 1 1 +…+ 9 16 )+… + … = ∞. Die harmonische Reihe zeigt: Eine Nullfolge aus positiven Summanden führt nicht immer eine endliche Summe. Man kann zeigen, dass die Folge der Partialsummen sn = 1 + … + 1/n der harmonischen Reihe bis auf eine Konstante so wächst wie der natürliche Logarithmus. Es gilt limn ( sn − log(n) ) = γ = 0,57721… (Euler-Mascheroni-Konstante) 5 4 3 log(x) 2 log(x) + 1 5 10 15 20 25 -1 Die Partialsummen der harmonischen Reihe im Vergleich mit dem Logarithmus Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser 2. Grenzwerte für Folgen und Reihen 283 In den Übungen werden wir sehen, dass ∑n ≥ 1 1 n2 = 1 + 1 4 1 9 + + 1 16 + … konvergiert. Euler zeigte, dass π2 /6 der Wert dieser Reihe ist. s 1.5 1 0.5 0 5 10 15 20 25 Die Partialsummen der Reihe ∑ n 1/n2 und ihr Wert s = π2 /6 = 1,6449… Allgemeiner konvergiert die Reihe ∑n ≥ 1 1 nk = 1 + 1 2k 1 3k + + … für jedes k ≥ 2. Die Werte dieser Reihen konnten für gerade Exponenten k berechnet werden. So gilt zum Beispiel ∑n ≥ 1 1 n4 = π4 , 90 ∑n ≥ 1 1 n6 = π6 . 945 Für ungerade Exponenten k ist dagegen nur wenig bekannt. Ein einfacher Zusammenhang zwischen ∑ n ≥ 1 1/n3 und π3 scheint nicht zu bestehen. Eine unendliche Reihe, die noch langsamer divergiert als die harmonische Reihe, ist ∑ p prim 1 p = 1 2 + 1 3 + 1 5 + 1 7 + 1 11 + … = ∞. Die Divergenz dieser Reihe kann mit Methoden der analytischen Zahlentheorie gezeigt werden. Das Wachstum entspricht dem von log(log(x)) und wieder taucht die Euler-Mascheroni-Konstante γ auf. Ein bemerkenswertes Ergebnis einer wunderbaren Theorie. © Oliver Deiser Einführung in die Mathematik 1 284 3. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen 2.0 1.5 1.0 log(log(x)) 0.5 log(log(x)) + 5 10 15 20 25 30 35 40 -0.5 -1.0 Die Partialsummen der Reihe ∑ p prim 1/p im Vergleich mit log(log(x)) Konvergenzkriterien für unendliche Reihen Wir betrachten drei klassische Kriterien, mit denen sich in vielen Fällen die Konvergenz einer Reihe feststellen lässt. Satz (Leibniz-Kriterium für alternierende Reihen) Sei (xn )n P N eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert ∑ n (−1)n xn = x0 − x1 + x2 − x3 + … Der einfache Beweis besteht in der Beobachtung dass die Partialsummen sn = ∑ k ≤ n (−1)k xk eine konvergente (in x0 rechtsstartende) Pendelfolge bilden. Beispiele Die unendlichen Reihen ∑n≥1 (−1)n − 1 n = 1 − 1 1 1 + − + … 2 3 4 (alternierende harm. Reihe) ∑n≥1 (−1)n − 1 2n − 1 = 1 − 1 1 1 + − + … 3 5 7 (Leibniz-Reihe) konvergieren nach dem Leibniz-Kriterium. Weitaus schwieriger als die Feststellung der Konvergenz ist die Berechnung der Grenzwerte. Man kann zeigen, dass die alternierende harmonische Reihe gegen log(2) und die Leibniz-Reihe π/4 konvergiert; der Leser vergleiche hierzu die TaylorEntwicklungen des Logarithmus und Arkustangens in Abschnitt 2. Einführung in die Mathematik 1 © Oliver Deiser