Analysis I Frank Müller 2. Februar 2009 Inhaltsverzeichnis 1 Zahlen, Folgen, Reihen 1 Zahlen und Körper . . . . . . . . . . . 2 Vollständige Induktion . . . . . . . . . 3 Die Definition der reellen Zahlen . . . 4 Folgen und Reihen . . . . . . . . . . . 5 Vollständigkeit reeller Zahlen . . . . . 6 Punktmengen in R . . . . . . . . . . . 7 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . 8 Konvergenzkriterien für Reihen (in C) 9 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . 10 Der d-dimensionale reelle Raum Rd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 14 19 29 35 42 49 55 66 69 2 Funktionen und Stetigkeit 1 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen . . . 2 Der Stetigkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kompakta und gleichmäßige Stetigkeit . . . . . 4 Funktionenfolgen und gleichmäßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 81 87 91 93 3 Differential- und Integralrechnung 1 Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 2 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexität 3 Die elementaren Funktionen . . . . . . . . . 4 Das eindimensionale Riemannsche Integral . 5 Integration und Differentiation . . . . . . . 6 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 99 106 113 124 135 143 . . . . . . . . . . . . Kapitel 1 Zahlen, Folgen, Reihen 1 Zahlen und Körper Grundlegend für alle Mathematik sind selbstverständlich die Zahlen. Und nach dem deutschen Mathematiker Leopold Kronecker sind die einzig göttlichen Zahlen“ die ” natürlichen Zahlen N := {1, 2, 3, . . .} oder zusammen mit dem Nullelement 0: N0 := N ∪ {0} = {0, 1, 2, 3, . . .}. Nehmen wir noch die negativen Zahlen hinzu, so erhalten wir die ganzen Zahlen: Z := {x : x ∈ N0 oder − x ∈ N} = {0, ±1, ±2, ±3, . . .}. (Hier sehen Sie übrigens die drei typischen Schreibweisen von Mengen: die aufzählende Schreibweise, die Definition als Vereinigung, Durchschnitt, Differenz, ... von anderen Mengen und die Definition durch Angabe der Eigenschaften ihrer Elemente.) Je zwei Zahlen a, b ∈ Z lassen sich verknüpfen durch Addition a + b ∈ Z und Multiplikation a · b = ab ∈ Z, wie wir sie aus der Schule kennen. Bezüglich der Addition haben wir folgende Rechenregeln, die wir als gegeben annehmen wollen: Axiome der Addition. (A1) Kommutativität: Für alle a, b ∈ Z gilt a + b = b + a. (A2) Assoziativität: Für alle a, b, c ∈ Z gilt (a + b) + c = a + (b + c). (A3) Existenz der 0: Es existiert ein neutrales Element 0 ∈ Z, d.h. für alle a ∈ Z gilt a + 0 = a. (A4) Existenz des Negativen: Für alle a ∈ Z existiert ein −a ∈ Z, so dass a + (−a) = 0 richtig ist. 1 2 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Die Existenz des Negativen (A4) zeichnet die ganzen Zahlen gegenüber N0 aus. Zusätzlich haben wir das folgende Distributivgesetz. (D) Für alle a, b, c ∈ Z gilt a · (b + c) = a · b + a · c. Bemerkung: Man kann die natürlichen Zahlen mittels der Peanoschen Axiome zusammen mit der Addition und Multiplikation induktiv erklären und anschließend durch die Lösung der Gleichungen n + x = 0 für n ∈ N formal auf die ganzen Zahlen erweitern; siehe z.B. Rannachers Skript, Abschnitt 1.2. Innerhalb der ganzen Zahlen können i.A. keine Gleichungen der Form q · x = p für gegebene p ∈ Z, q ∈ N (1.1) gelöst werden. Hierzu erweitern wir Z auf die Menge der rationalen Zahlen n o p Q := x = : p ∈ Z, q ∈ N , q wobei x = pq für die (eindeutige) Lösung der Gleichung (1.1) steht. Wir verzichten auf die formal exakte Definition über Äquivalenzklassen und verweisen wieder auf Rannachers Skript, Abschnitt 1.2. (Mit x = pq löst auch ap aq für jedes a ∈ N die Gleichung (1.1); diese ungekürzten“Brüche müssten identifiziert werden.) Die Arbeit ” mit Äquivalenzklassen werden wir später bei der Konstruktion der reellen Zahlen üben. Man beachte noch, dass sich für q = 1 die Lösung von (1.1) zu x = p ∈ Z ergibt, d.h. wir haben Z ⊂ Q. Wir zeigen unten in Satz 1.1, dass in Q zusätzlich zu den Gesetzen (A1)–(A4) und (D) (nun natürlich für a, b, c ∈ Q) auch die folgenden Regeln gelten: Axiome der Multiplikation. (M1) Kommutativität: Für alle a, b ∈ Q gilt a · b = b · a. (M2) Assoziativität: Für alle a, b, c ∈ Q gilt (a · b) · c = a · (b · c). (M3) Existenz der 1: Es existiert ein neutrales Element 1 ∈ Q \ {0}, d.h. für alle a ∈ Q gilt a · 1 = a. (M4) Existenz der Inversen: Für alle a ∈ Q \ {0} existiert ein a−1 ∈ Q, so dass a · a−1 = 1 richtig ist. Natürlich gelten (M1)–(M3) schon in Z, wesentlich ist also die Existenz der Inversen (M4). In obigen Axiomen haben wir übrigens Addition und Multiplikation wie folgt auf Q fortgesetzt: Für x1 = pq11 , x2 = pq22 ∈ Q setzen wir x1 + x2 := p1 q2 + p2 q1 ∈ Q, q1 q2 x1 · x2 = x1 x2 := p1 p2 ∈ Q. q1 q2 (1.2) 1. ZAHLEN UND KÖRPER 3 Dies scheint Ihnen natürlich aus der Schule völlig klar (Regeln der Bruchrechnung), ergibt sich aber erst aus der Definition der rationalen Zahlen und den gewünschten Rechenregeln als einzig sinnvolle Wahl! Definition 1.1: Ein Tripel (K, +, ·), kurz mit K bezeichnet, heißt Körper mit der nichtleeren Grundmenge K und den Rechenoperationen +, ·, wenn mit a, b ∈ K auch a + b ∈ K und a · b ∈ K gilt und die Körperaxiome (A1)–(A4), (M1)–(M4) und (D) für beliebige Elemente aus K erfüllt sind. Bemerkung: In einem Körper können wir noch Subtraktion und Division erklären: a − b := a + (−b) ∈ K für a, b ∈ K, a := a · b−1 ∈ K für a ∈ K, b ∈ K \ {0}. b Wie bereits oben behauptet haben wir den: Satz 1.1: Die Menge Q der rationalen Zahlen ist (zusammen mit + und ·) ein Körper. Beweis: Für den Beweis dürfen wir die Rechenregeln (A1)–(A4), (M1)–(M3) und (D) nur in Z anwenden; wir schreiben dafür (A1)Z usw. 1. Wir beginnen mit den Axiomen der Addition: (A3) ist offensichtlich. Ist x = pq mit p ∈ Z, q ∈ N, so gilt (A4) mit dem Negativen −x := −p q ∈ Q, denn wegen (1.2) gilt dann x + (−x) = p −p pq + (−p)q + = q q q·q (M 1)Z ,(D)Z = (p + (−p))q q·q (A4)Z = 0 q · q q (M 3)Z = 0 , q d.h. q(x + (−x)) = 0 und daher x + (−x) = 0, da q · 0 = 0 für alle q ∈ Z richtig ist (letzteres ergibt sich aus q · 0 + q · 0 = q(0 + 0) = q · 0 nach Subtraktion von q · 0 auf beiden Seiten.) (A1) können wir direkt nachrechnen: Mit x1 = x1 + x2 = p1 q2 + p2 q1 q1 q2 (A1)Z ,(M 1)Z = p1 q1 , x2 = p2 q2 haben wir p2 q1 + p1 q2 = x2 + x1 . q2 q1 4 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Ist zusätzlich x3 = (x1 + x2 ) + x3 p3 q3 , so finden wir schließlich p1 q2 + p2 q1 p3 (p1 q2 + p2 q1 )q3 + p3 (q1 q2 ) + = q1 q2 q3 (q1 q2 )q3 ((p1 q2 )q3 + (q1 p2 )q3 ) + p3 (q2 q1 ) (q1 q2 )q3 p1 (q2 q3 ) + (q1 (p2 q3 ) + (p3 q2 )q1 ) q1 (q2 q3 ) p1 (q2 q3 ) + (p2 q3 + p3 q2 )q1 q1 (q2 q3 ) p1 p2 q3 + p3 q2 + = x1 + (x2 + x3 ), q1 q2 q3 = (D)Z ,(M 1)Z = (A2)Z ,(M 2)Z = (M 1)Z ,(D)Z = = also (A2). 2. Die Axiome der Multiplikation: Die Gesetze (M1) und (M2) folgen in trivialer Weise aus der Definition (1.2) und den entsprechenden Gesetzen in Z. Wegen 1 = 11 haben wir für x = pq : x·1= p·1 p 1 · = q 1 q·1 also (M3). Die Inverse zu x = ( −1 x := p q (M 3)Z = p = x, q 6= 0 (d.h. p 6= 0) erklären wir zu q p, −q −p , falls p ∈ N falls − p ∈ N ∈ Q. (M 3)Z Im ersten Fall ist dann offenbar x · x−1 = 1, wenn man noch pp = 1 für beliebige p ∈ Z \ {0} beachtet. Im zweiten Fall benötigen wir noch die folgende Beobachtung: Für beliebiges p ∈ Z gilt p + (−1) · p (M 3)Z ,(M 1)Z = (D)Z 1 · p + (−1) · p = (1 + (−1)) · p = 0 · p = 0, also −p = (−1)p. Damit berechnen wir x · x−1 = also (M4). p · ((−1) · q) p −q · = q −p q · ((−1) · p) (M 1)Z ,(M 2)Z = (−1)(pq) = 1, (−1)(pq) 1. ZAHLEN UND KÖRPER 5 3. Schließlich beweisen wir das Distributivgesetz (D) in Q: Mit x1 = x3 = pq33 berechnen wir x1 · (x2 + x3 ) = = (D)Z ,(M 2)Z = (M 2)Z ,(M 1)Z = = p1 q1 , x2 = p2 q2 , p1 p2 q3 + p3 q2 (D)Z p1 (p2 q3 ) + p1 (p3 q2 ) · = q1 q2 q3 q1 (q2 q3 ) (p1 (p2 q3 ) + p1 (p3 q2 ))q1 (q1 (q2 q3 ))q1 ((p1 p2 )q3 )q1 + ((p1 p3 )q2 )q1 ((q1 q2 )q3 )q1 (p1 p2 )(q1 q3 ) + (p1 p3 )(q1 q2 ) (q1 q2 )(q1 q3 ) p1 p2 p1 p3 + = x1 · x2 + x1 · x3 . q1 q2 q1 q3 Also ist Q ein Körper. q.e.d. Es stellt sich nun heraus, dass auch der Bereich der rationalen Zahlen i.A. nicht ausreicht. Z.B. besitzt die einfache Gleichung x2 = 2 keine Lösung in Q. Wäre nämlich x = ( pq )2 p2 q2 p q (1.3) eine Lösung mit p ∈ Z, q ∈ N teilerfremd, so müsste also = = 2 bzw. p2 = 2q 2 gelten. Damit wäre aber p2 und daher auch p durch 2 teilbar, d.h. p = 2l mit einem l ∈ Z und folglich q2 = p2 = 2l2 . 2 Also wäre auch q 2 und somit q durch 2 teilbar, im Widerspruch zur Annahme, dass p und q teilerfremd sind. Bemerkung: Wir haben soeben ein wichtiges Beweisprinzip in der Mathematik benutzt, den indirekten Beweis oder Beweis durch Widerspruch: Um unter den Voraussetzungen (V) eine Aussage (A) zu beweisen, nimmt man an, dass (A) falsch ist und zeigt, dass dann eine der Voraussetzungen (V) oder eine andere, bereits bewiesene Aussage (B) nicht erfüllt sein kann. Hierbei benutzt man eine der Grundannahmen der Mathematik: Eine Aussage (A) ist entweder wahr oder falsch. √ Aus der Schule wissen wir, dass x =√ 2 ein guter Kandidat zur Lösung von (1.3) ist. Nach dem eben Gesagten ist aber 2 keine rationale Zahl. Wir werden später Q konstruktiv durch einen Abschlussprozess auf den Bereich der reellen Zahlen R erweitern. R entspricht dann der gesamten Zahlengeraden. Um schließlich auch Gleichungen wie x2 + 1 = 0 6 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN lösen zu können, werden wir R zu den komplexen Zahlen C erweitern; diese kann man sich in der Gaußschen Zahlenebene veranschaulichen. Insgesamt haben wir also die Zahlenbereiche N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ C. Die größten Bereiche Q, R, C haben die Eigenschaft, Körper im Sinne der Definition 1.1 zu sein; für Q haben wir dies bereits gezeigt, für R und C wird dies aus der Konstruktion folgen. Hingegen sind N und Z keine Körper; beiden fehlt die Inverse, d.h. (M4) ist verletzt, den naürlichen Zahlen fehlt auch das Negative und sogar das Nullelement 0. Ein Körper muss nach (A3) und (M3) mindestens zwei Elemente enthalten, nämlich das Nullelement 0 und das Einselement 1. Umgekehrt kann man jede zweielementige Menge M = {x, y} durch geeignete Definition der Verknüpfungen zu einem Körper machen: + x y x x y y y x und · x y x x x y x y (1.4) Hierbei wird x als Nullelement und y als Einselement interpretiert. Wir werden nun einige Folgerungen der Körperaxiome angeben, deren Aussagen Ihnen zum Teil offensichtlich erscheinen mögen. Allerdings gelten diese Rechenregeln in beliebigen Körpern, also z.B. auch für die komplexen Zahlen. Durch diese Vorgehensweise ersparen wir uns später ermüdende Wiederholungen. Satz 1.2: In einem Körper K gelten folgende Rechenregeln: (a) Die Gleichung a + x = b besitzt für beliebig vorgegebene a, b ∈ K genau eine Lösung x ∈ K. Insbesondere sind das Nullelement 0 und das negative Element eindeutig bestimmt. (b) Die Gleichung ax = b besitzt für beliebig vorgegebene a ∈ K \ {0}, b ∈ K genau eine Lösung x ∈ K. Insbesondere sind das Einselement 1 und das inverse Element eindeutig bestimmt. (c) Für alle x ∈ K gilt x · 0 = 0 und (−1) · x = −x. (d) Für alle x ∈ K gilt −(−x) = x und falls zusätzlich x 6= 0 auch (x−1 )−1 = x. (e) Für alle x, y ∈ K \ {0} ist xy 6= 0 richtig. (f ) Für alle x, y ∈ K ist −(x + y) = −x − y richtig und falls zusätzlich x, y 6= 0 gilt auch (xy)−1 = x−1 y −1 . 1. ZAHLEN UND KÖRPER 7 Beweis: (a) Wir zeigen zunächst, dass x := b + (−a) = b − a die Gleichung a + x = b löst, d.h. wir beweisen die Existenz einer Lösung: a+x = a + (b − a) (A4) = 0+b (A1) = (A1) = a + ((−a) + b) (A3) b+0 = (A2) = (a + (−a)) + b b. Die Eindeutigkeit der Lösung ergibt sich wie folgt: Angenommen es gibt zwei Lösungen x1 , x2 , d.h. a + x1 = b = a + x2 . Addieren wir von rechts auf beiden Seiten −a, so folgt (a + x1 ) + (−a) = (a + x2 ) + (−a) (A1),(A2) =⇒ x1 + (a + (−a)) = x2 + (a + (−a)) (A4) =⇒ x1 + 0 = x2 + 0 (A3) =⇒ x1 = x2 , wie behauptet. (b) Existenz: x := a−1 b ist Lösung, denn ax = a(a−1 b) (M 2) = (aa−1 )b (M 4) = 1·b (M 1) = b·1 (M 3) = b. Eindeutigkeit: Für zwei Lösungen x1 , x2 hätten wir ax1 = b = ax2 und nach Multiplikation mit a−1 von rechts: (ax1 )a−1 = (ax2 )a−1 (M 1),(M 2) =⇒ x1 (aa1 ) = x2 (aa−1 ) (M 4) =⇒ x1 · 1 = x2 · 1 (M 3) =⇒ x1 = x2 . (c) x · 0 = 0: Nach (A3) gilt 0 + 0 = 0 und folglich (D) x · 0 + x · 0 = x · (0 + 0) = x · 0. Addition von −(x·0) auf beiden Seiten von rechts (und Ausnutzen der Axiome (A2), (A4) und (A3)) liefert die Behauptung. (−1) · x = −x: Es gilt x + (−1) · x (M 3),(M 1) = (D) x · 1 + x · (−1) = x · (1 + (−1)) (A4) = x · 0 = 0. Nach Addition von −x auf beiden Seiten von links folgt die Behauptung. 8 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN (d) −(−x) = x: Per Definition ist −(−x) erklärt durch die Gleichung −x + (−(−x)) = 0. Andererseits gilt auch −x + x (A1) = x + (−x) (A4) = 0. Da aber die Lösung y ∈ K der Gleichung −x + y = 0 nach (a) eindeutig ist, folgt x = −(−x). (x−1 )−1 = x: Wegen x 6= 0 ist auch x−1 6= 0; wäre nämlich x−1 = 0, so hätten wir (c) 1 = x · x−1 = x · 0 = 0, im Widerspruch zu (M3). Also ist (x−1 )−1 erklärt, nämlich als Lösung von x−1 (x−1 )−1 = 1. Andererseits haben wir x−1 x (M 1) = xx−1 (M 4) = 1. Da aber die Gleichung x−1 y = 1 nach (b) eine eindeutige Lösung y ∈ K besitzt folgt x = (x−1 )−1 . (e) Beweis durch Widerspruch: Angenommen es gibt x, y ∈ K \ {0} mit xy = 0. Nach Multiplikation mit y −1 (beachte y 6= 0) von rechts folgt x (M 3) = x·1 (M 4) = x(yy −1 ) (M 2) = (c) (xy)y −1 = 0 · y −1 = 0, also ein Widerspruch zur Annahme x 6= 0. Somit ist die Behauptung richtig. (f) −(x + y) = −x − y: Per Definition ist (x + y) + (−(x + y)) = 0 richtig. Addieren wir −x beidseitig von links, so folgt nach Ausnutzung von (A2) und (A3): ((−x) + x) + (y + (−(x + y))) = −x. Verwenden wir noch (A1), (A4) und (A3), so ergibt sich y + (−(x + y)) = −x. Nach (a) hat aber die Gleichung y + z = −x die eindeutige Lösung z = −x − y und die Behauptung folgt. (xy)−1 = x−1 y −1 : Aus der Definition haben wir (xy)(xy)−1 = 1 und nach Multiplikation von x−1 von links und Verwendung von (M2), (M3) folgt (x−1 x)(y(xy)−1 ) = x−1 . Dies liefert wegen (M1), (M4) und (M3): y(xy)−1 = x−1 . Da aber nach (b) die eindeutige Lösung von yz = x−1 durch z = y −1 x−1 = x−1 y −1 gegeben ist, ergibt sich die Behauptung. q.e.d. 1. ZAHLEN UND KÖRPER 9 Bemerkung: In Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten lassen wir i.F. die Klammern meist weg, also a+b+c+. . . und a·b·c·. . . für a, b, c, . . . ∈ K, denn wegen (A2) und (M2) spielt die Reihenfolge der Summierung bzw. Multiplikation keine Rolle. Ebenso können wir in Mehrfachsummen und Mehrfachprodukten die Reihenfolge der Summanden bzw. Faktoren beliebig vertauschen. Für das in der Analysis wesentliche Rechnen mit Ungleichungen benötigen wir noch eine Anordnung“, wir müssen also entscheiden können, ob ein Element eines ” Körpers größer“ oder kleiner“ als ein anderes Element ist. Hierzu verwenden wir ” ” die folgende Definition 1.2: Wir nennen einen Körper K angeordnet, wenn gewisse Elemente x ∈ K als positiv ausgezeichnet sind (in Zeichen: x > 0), wobei folgende Regeln erfüllt seien: Anordnungsaxiome (O1) Für jedes x ∈ K gilt genau eine der drei Beziehungen x > 0, x = 0, −x > 0. Die x ∈ K mit −x > 0 heißen die negativen Elemente. (O2) Für alle x, y ∈ K mit x > 0 und y > 0 gilt x+y >0 und xy > 0. Bemerkungen: 1. (O1) ist das sogenannte Trichotomiegesetz, bei (O2) spricht man von der Abgeschlossenheit von >“ bezüglich der Addition und Multiplikation. ” 2. Der Körper Q der rationalen Zahlen ist natürlich angeordnet mittels p x > 0 :⇐⇒ x = mit p, q ∈ N q Dann sind die x = pq mit −p, q ∈ N gerade die negativen Zahlen. Dies entspricht unserer Vorstellung der Anordung von Q auf der Zahlengeraden (vgl. auch Definition 1.3 unten). 3. Aus der Konstruktion von R wird folgen, dass auch die reellen Zahlen einen angeordneten Körper bilden. Hingegen stellt sich C als nicht angeordneter Körper heraus. 4. Auch der Körper ({x, y}, +, ·) mit den in (1.4) erklärten Relationen +, · kann nicht angeordnet werden: Da x das Nullelement ist, müsste für y gelten: entweder y > x oder −y > x. Per Definition ist −y ∈ {x, y} Lösung von y+(−y) = x. Nach (1.4) ist dann aber −y = y, Widerspruch! 10 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Definition 1.3: (Größer- und Kleinerrelation) In einem angeordneten Körper definieren wir: x > y :⇐⇒ x − y > 0, x < y :⇐⇒ y > x, x ≥ y :⇐⇒ x > y oder x = y, x ≤ y :⇐⇒ x < y oder x = y. Satz 1.3: In einem angeordneten Körper K gelten folgende Aussagen: (a) Für je zwei Elemente x, y ∈ K gilt genau eine der Relationen x < y, x = y, x > y. (b) Transitivität: Für alle x, y, z ∈ K gilt: x < y und y < z implizieren x < z. (c) Translationsinvarianz: Für alle x, y, a ∈ K gilt: Aus x < y folgt x + a < y + a. (d) Skalierungsinvarianz: Für alle x, y, a ∈ K mit x < y und a > 0 gilt xa < ya. (e) Spiegelung: Für alle x, y ∈ K mit x < y haben wir −x > −y. (f ) Für alle x ∈ K \ {0} ist x2 > 0 richtig; insbesondere gilt 1 > 0. (g) Für jedes x ∈ K mit x > 0 ist x−1 > 0 erfüllt. (h) Für alle x, y ∈ K mit 0 < x < y gilt x−1 > y −1 . Bemerkung: Wegen Satz 1.3 (a) sind in einem angeordneten Körper für je zwei Elemente x, y ∈ K das Minimum und Maximum wohl definiert: ( ( x, falls x ≤ y x, falls x ≥ y min{x, y} := , max{x, y} := . y, sonst y, sonst Beweis von Satz 1.3: Wir werden die Körperaxiome und deren Folgerungen aus Satz 1.2 ohne Kommentar benutzen. (a) Ist klar aus (O1) und Definition 1.3. (b) Per Voraussetzung ist y − x > 0 und z − y > 0, so dass (O2) liefert z − x = (y − x) + (z − y) > 0 bzw. x < z. (c) Aus der Voraussetzung y − x > 0 folgt sofort (y + a) − (x + a) = y − x > 0 bzw. x + a < y + a. 1. ZAHLEN UND KÖRPER 11 (d) Wegen y − x > 0 und a > 0 liefert (O2) ya − xa = (y − x)a > 0 bzw. xa < ya, wie behauptet. (e) Es gilt (−x) − (−y) = y − x > 0 nach Voraussetzung, also −x > −y. (f) Für x > 0 folgt x2 = x · x > 0 aus (O2). Für x < 0 multiplizieren wir diese Ungleichung mit −x > 0 durch und erhalten aus (d): −x2 < 0 bzw. x2 = −(−x2 ) > 0 nach Definition 1.3. Schließlich beachten wir noch 1 = 1 · 1 > 0. (g) Es sei x > 0 und angenommen es gilt x−1 < 0, d.h. −x−1 > 0. Aus (O2) folgt dann aber −1 = −xx−1 = x(−x−1 ) > 0 bzw. 1 < 0, im Widerspruch zu (f). (h) Wegen x > 0 und y > x erhalten wir aus (b) auch y > 0 und (O2) liefert xy > 0: Aus (g) folgt also x−1 y −1 = (xy)−1 > 0. Wenden wir nun (d) mit a = x−1 y −1 auf die Ungleichung x < y an, so folgt (d) y −1 = x−1 y −1 x < x−1 y −1 y = x−1 , wie behauptet. q.e.d. Definition 1.4: Zu einem x ∈ K aus dem angeordneten Körper K erklären wir den (Absolut-)Betrag als ( x, falls x ≥ 0 |x| := . −x, sonst Bemerkung: Offenbar sind |x| = max{x, −x} und −|x| ≤ x ≤ |x| für alle x ∈ K richtig. Satz 1.4: Der Absolutbetrag hat folgende Eigenschaften: (a) Für jedes x ∈ K gilt |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇐⇒ x = 0. 12 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN (b) Multiplikativität: Für alle x, y ∈ K gilt |x · y| = |x| · |y|. (c) Dreiecksungleichung: Für beliebige x, y ∈ K haben wir |x + y| ≤ |x| + |y|. Beweis: (a) |x| ≥ 0 ist klar nach Definitionen 1.2–1.4. Auch |x| = 0 ⇐⇒ x = 0 entnimmt sofort der Definition 1.4. (b) Falls x ≥ 0, y ≥ 0, so gilt xy ≥ 0 gemäß (O2) und folglich auch |xy| = xy = |x| |y|. Falls x < 0, y ≥ 0, so folgt xy ≤ 0 nach Satz 1.3 (d); also finden wir |xy| = −(xy) = (−x)y = |x| |y|. Entsprechend lässt sich der Fall x ≥ 0, y < 0 behandeln. Gilt schließlich x < 0, y < 0, so folgt xy = (−x)(−y) > 0 (hier haben zusätzlich zu Satz 1.3 (d) noch Satz 1.2 (c), (d) verwendet), also |xy| = xy = (−x)(−y) = |x| |y|. (c) Wegen x ≤ |x|, y ≤ |y| haben wir (nach Satz 1.3 (c)): x + y ≤ |x| + y ≤ |x| + |y|. Entsprechend folgt aus −x ≤ |x|, −y ≤ |y| auch −(x + y) = −x − y ≤ |x| + |y|. Insgesamt ergibt sich also |x + y| = max{x + y, −(x + y)} ≤ |x| + |y|, wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Einen Körper K, auf dem eine Abbildung | · | : K → K0 vermöge x 7→ |x| mit den Eigenschaften (a)–(c) aus Satz 1.4 erklärt ist, nennt man bewerteten Körper ; hierbei ist K0 ein (eventuell anderer) angeordneter Körper. Insbesondere sind also die angeordneten Körper auch bewertet mit dem oben erklärten Absolutbetrag |·| : K → K. Andererseits ist aber nicht jeder bewertete Körper auch angeordnet, wie z.B. die komplexen Zahlen C. Für die folgenden Eigenschaften des Absolutbetrages benutzen wir nur Satz 1.4 (a)–(c), so dass diese auch z.B. für den (später zu definierenden) Absolutbetrag in C gültig bleiben. 1. ZAHLEN UND KÖRPER 13 Satz 1.5: (Rechnen in bewerteten Körpern) (a) Für jedes x ∈ K ist | − x| = |x| richtig. (b) Für jedes x ∈ K \ {0} ist |x−1 | = |x|−1 erfüllt. ¯ ¯ (c) Für beliebige x, y ∈ K gilt |x − y| ≥ ¯|x| − |y|¯. ¯ x ¯ |x| ¯ ¯ (d) Für alle x, y ∈ K mit y 6= 0 gilt ¯ ¯ = . y |y| Beweis: (a) Satz 1.4 (b) mit x = y = 1 liefert zunächst |1| = |1 · 1| = |1| · |1| bzw. 1 = |1|. Setzen wir x = y = −1 ein, so folgt 1 = |1| = |(−1)(−1)| = | − 1|2 . Nach Satz 1.4 (a) ist | − 1| > 0. Wegen 0 = | − 1|2 − 12 = (| − 1| − 1)(| − 1| + 1), muss also | − 1| = 1 richtig sein. Für beliebige x ∈ K finden wir nun | − x| = |(−1)x| = | − 1| |x| = 1 · |x| = |x|, wie behauptet. (b) Wegen xx−1 = 1 und |1| = 1 liefert Satz 1.4 (b): |x| |x−1 | = |xx−1 | = |1| = 1. Also ist |x−1 | das inverse Element zu |x|, d.h. |x|−1 = |x−1 |. (c) Mit der Dreiecksungleichung berechnen wir |x| = |(x − y) + y| ≤ |x − y| + |y| bzw. |x| − |y| ≤ |x − y| und (a) |y| = |(y − x) + x| ≤ |x − y| + |x| bzw. also − (|x| − |y|) ≤ |x − y|, ¯ © ª ¯ |x − y| ≥ max |x| − |y|, −(|x| − |y|) = ¯|x| − |y|¯. (d) Mit der Relation (b) und Satz 1.4 (b) berechnen wir ¯x¯ |x| ¯ ¯ , ¯ ¯ = |xy −1 | = |x| |y −1 | = |x| |y|−1 = y |y| wie behauptet. q.e.d. 14 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Beispiel: Im Körper R erklärt man das arithmetische bzw. geometrische Mittel zweier Zahlen x, y ≥ 0 gemäß 1 mA (x, y) := (x + y), 2 mG (x, y) := √ xy. Für diese gilt die Ungleichung mA (x, y) ≥ mG (x, y). In der Tat haben wir für a := √ √ x und b := y: 0 ≤ (a − b)2 = a2 − 2ab + b2 ⇐⇒ 1 2 (a + b2 ) ≥ ab, 2 also 1 √ (x + y) ≥ xy. 2 Gleichheit tritt übrigens genau dann auf, wenn x = y richtig ist. Das Rechnen in R, insbesondere mit rationalen Potenzen, werden wir später genauer entwickeln. Für den späteren Gebrauch bemerken wir noch, dass Q sogar ein archimedisch angeordneter Körper ist, d.h. neben den Ordnungsaxiomen (O1) und (O2) gilt noch folgendes: Archimedisches Axiom. (O3) Zu je zwei Elementen x, y ∈ Q mit x, y > 0 existiert eine natürliche Zahl n ∈ N, so dass gilt nx > y. Zum Beweis von (O3) in Q seien x = pq , y = rs mit p, q, r, s ∈ N zwei beliebig gewählte, positive rationale Zahlen. Wählen wir dann n := rq + 1 ∈ N, so folgt p p r p nx = (rq + 1) = rp + = (ps) + ≥ y · 1 + x > y, q q s q wie behauptet. Wir werden hieraus folgern, dass auch R archimedisch angeordnet ist. Bemerkung: Archimedes hat (O3) geometrisch formuliert: Hat man zwei Strecken auf einer Geraden, so kann man, in dem man die kürzere hinreichend oft abträgt, die längere übertreffen. 2 Vollständige Induktion Wir lernen nun ein wichtiges Beweisprinzip kennen und anwenden, welches darauf beruht, dass jede natürliche Zahl n ∈ N0 = N ∪ {0} einen eindeutig definierten Nachfolger, nämlich n + 1 ∈ N, besitzt. Will man also eine Aussage A(n) für alle 2. VOLLSTÄNDIGE INDUKTION 15 n ≥ n0 mit einem n0 ∈ N0 beweisen (d.h. man möchte eigentlich unendlich viele Aussagen A(n) in Abhängigkeit von n zeigen), dann geht man wie folgt vor: Beweisprinzip der vollständigen Induktion. Eine Aussage A(n) gilt für alle n ∈ N0 mit n ≥ n0 ∈ N0 , falls man folgendes beweisen kann: (IA) Induktionsanfang: Die Aussage A(n0 ) ist richtig. (IS) Induktionsschritt: Für alle n ≥ n0 gilt: Ist A(n) richtig, so ist auch A(n + 1) richtig. Die Wirkungsweise ist klar: Sind (IA) und (IS) erfüllt und angenommen, A(n) gilt nicht für ein n > n0 . Wegen (IS) ist dann auch A(n−1) falsch und dann A(n−2), A(n − 3) usw. Nach n − n0 Schritten würde also folgen, dass auch A(n0 ) falsch ist, im Widerspruch zu (IA). Als erste Anwendung beweisen wir den Satz 2.1: (Bernoullische Ungleichung) Sei K ⊃ N ein angeordneter Körper und x ∈ K mit x ≥ −1 gewählt. Dann gilt für alle n ∈ N0 die Ungleichung (1 + x)n ≥ 1 + nx. Bemerkung: Die n-te Potenz ist dabei für a ∈ K wie folgt induktiv erklärt: a0 := 1, an+1 := an · a für n ∈ N. Für a 6= 0 erhalten wir dann auch negative Potenzen: a−n := (a−1 )n für alle n ∈ N. Rechenregeln: Für alle a, b ∈ K \ {0} und n, m ∈ Z gilt: (i) an am = an+m . (ii) (an )m = anm . (iii) an bn = (ab)n . Beweis von Satz 2.1: mittels vollständiger Induktion. (IA) n = 0: Wir haben zu zeigen, dass A(0) gilt, also in unserem Fall (1 + x)0 ≥ 1 + 0 · x. Das ist offenbar richtig. 16 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN (IS) n → n + 1: Es sei A(n) also (1 + x)n ≥ 1 + nx für ein n ∈ N0 richtig (genannt Induktionsvoraussetzung (IV)). Zu zeigen ist A(n + 1), d.h. (1 + x)n+1 ≥ 1 + (n + 1)x. Hierzu berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (1 + x)n+1 = (1 + x)n (1 + x) = 1 + nx + x + (IV ) nx2 ≥ (1 + nx)(1 + x) ≥ 1 + (n + 1)x, d.h. A(n + 1) gilt. Also ist auch der Induktionsschritt (IS) erfüllt und nach dem Prinzip der vollständigen Induktion gilt die Aussage für alle n ∈ N0 . q.e.d. Satz 2.2: Für jede natürliche Zahl n ∈ N gilt 1 + 2 + 3 + ... + n = n(n + 1) . 2 Bemerkung: Die Punkte deuten an, dass die Summation in der gleichen Weise fortgesetzt wird. Dies kann man m.H. von Summen- und Produktzeichen wie folgt kompakter schreiben: Hat man viele, eventuell unendlich viele Variablen, so benutzt man statt a, b, c, . . . sinnvoller die Bezeichnungen a1 , a2 , a3 , . . .. Die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, . . . heißen hierbei Indizes und dienen der Unterscheidung der Variablen ak , k ∈ N. Für n ∈ N Variablen a1 , a2 , . . . , an setzen wir n X k=1 n Y ak := a1 + a2 + . . . an (Summe), ak := a1 · a2 · . . . · an (Produkt). k=1 Hierbei kann man die Indexmenge 1, . . . , n natürlich auch durch andere (endliche) Teilmengen von N oder allgemeiner von Z ersetzen. Die Formel in Satz 2.2 liest sich nun (ak := k für k = 1, . . . , n): n X k= k=1 n(n + 1) . 2 Beweis von Satz 2.2: mit vollständiger Induktion. (IA) n = 1: Offenbar gilt 1 P k=1 k = 1 und 1·(1+1) 2 = 1, d.h. A(1) ist korrekt. 2. VOLLSTÄNDIGE INDUKTION 17 n P (IS) n → n+1: Die Induktionsvorraussetzung = k=1 n(n+1) 2 gelte für ein n ∈ N. Für den Beweis von (IS) berechnen wir m.H. der Induktionsvoraussetzung (IV): n+1 X k = n X k=1 k + (n + 1) (IV ) = k=1 n(n + 1) + (n + 1) 2 n(n + 1) + 2(n + 1) (n + 1)(n + 2) = , 2 2 d.h. es folgt A(n + 1). Somit gilt die Aussage für alle n ∈ N. = q.e.d. Satz 2.3: (geometrische Reihe) Für alle x ∈ K \ {1} im Körper K und alle n ∈ N gilt n−1 X 1 − xn . 1−x xk = k=0 Beweis (vollständige Induktion): P (IA) n = 1: Es gilt 0k=0 xk = x0 = 1 und 1−x1 1−x = 1, also A(1). (IS) n → n + 1: Die zu beweisende Relation gelte für festes n ∈ N (IV). Wir berechnen dann (n+1)−1 X k x = n X x k k=0 k=0 = 1− xn = n−1 X xk + xn (IV ) = k=0 xn (1 1 − xn + xn 1−x + − x) 1 − xn+1 = , 1−x 1−x wie behauptet. q.e.d. Definition 2.1: Wir erklären für n, k ∈ N0 die Binomialkoeffizienten µ ¶ k Y n n−j+1 n(n − 1) · . . . · (n − k + 1) := = . k j 1 · 2 · ... · k j=1 Bemerkung: Offenbar gilt µ ¶ ( n! n k!(n−k)! , falls k ≤ n = k 0, falls k > n mit der bekannten Fakultät: 0! := 1, Insbesondere halten wir ¡n¢ 0 = 1, ¡n¢ 1 n! := n Y l. l=1 = n und ¡n¢ k = ¡ n n−k ¢ für k ≤ n fest. 18 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Hilfssatz 2.1: Für alle natürlichen Zahlen k, n ∈ N gilt die Relation µ ¶ µ ¶ µ ¶ n n−1 n−1 = + . k k−1 k (Veranschaulichung: Pascalsches Dreieck). Beweis: Für k ≥ n ist nach obiger Bemerkung nichts zu zeigen. Sei also k < n. Dann finden wir µ ¶ µ ¶ n−1 n−1 (n − 1)! (n − 1)! + + = (k − 1)!(n − k)! k!(n − k − 1)! k−1 k k(n − 1)! + (n − 1)!(n − k) = k!(n − k)! µ ¶ n! n = = , k!(n − k)! k wie behauptet. q.e.d. Satz 2.4: (Binomischer Lehrsatz) Sei K Körper und n ∈ N0 beliebig. Dann gilt für alle a, b ∈ K die Identität (a + b)n = n µ ¶ X n k n−k a b . k k=0 Beweis: durch vollständige Induktion über n. (IA) n = 0: Wegen x0 = 1 für alle x ∈ K haben wir 0 µ ¶ X 0 k 0−k a b = 1 = (a + b)0 , k k=0 d.h. (IA) gilt. (IS) n → n + 1: (2.1) gelte für festes n ∈ N0 . Wir beachten (a + b)n+1 = (a + b)n a + (a + b)n b und formen die Terme getrennt um. Zunächst gilt n µ ¶ n+1 µ ¶ X n k n−k+1 X n k n−k+1 (a + b) b = a b = a b , k k n (IV ) k=0 k=0 (2.1) 3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 19 ¡ n ¢ wobei wir noch n+1 = 0 benutzt haben. Zur Behandlung des Terms (a + b)n a verwenden wir noch die offensichtliche Beziehung n X xk+1 = k=0 n+1 X xk (Indexverschiebung) k=1 für beliebige Summanden x1 , x2 , . . . , xn+1 ∈ K. Wir erhalten ¶ n µ ¶ n+1 µ X n k+1 n−k X n (a + b) a = a b = ak bn−k+1 . k k−1 n (IV ) k=0 k=1 Insgesamt ergibt sich also unter Beachtung von Hilfssatz 2.1: (a + b)n+1 = = HS 2.1 = = n+1 Xµ ¶ n+1 X µn¶ n ak bn−k+1 + ak bn−k+1 k−1 k k=1 k=0 µ ¶ n+1 X ·µ n ¶ µn¶¸ n 0 n+1 k n−k+1 + a b + a b k−1 k 0 k=1 µ ¶ n+1 X µn + 1¶ n + 1 0 n+1−0 k n+1−k a b + a b k 0 k=1 n+1 X µn + 1¶ ak bn+1−k , k k=0 also Relation (2.1) für n + 1. 3 q.e.d. Die Definition der reellen Zahlen Wir haben die Notwendigkeit der Einführung der reellen Zahlen bereits erkannt, da die Lösung von x2 −2 = 0 nicht rational ist, was übrigens schon in√ der Antike bekannt war. Aus der Schule wissen wir, dass die positive Lösung x = 2 eine unendliche Dezimalbruchdarstellung besitzt √ 2 = 1, 414213562 . . . (bekannt sind die ersten 5 Millionen Nachkommastellen!) Wenn wir die Darstellung an der n-ten Nachkommastelle abbrechen, haben wir n X ak xn := ∈ Q für n = 1, 2, . . . 10k k=0 mit Zahlen ak ∈ {0, 1, 2, . . . , 9} für alle k ∈ N0 (a0 = 1, a1 = 4, a2 = 1, . . . ). (3.1) 20 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Definition 3.1: Eine Abbildung f : N → K vermöge n 7→ xn := f (n) heißt (Zahlenfolge {xn }n∈N (oder {xn }n , {xn }n=1,2,... ) im Körper K, kurz {xn }n∈N ⊂ K. Das Element xn heißt n-tes Glied der Zahlenfolge. Für K = Q sprechen wir von rationalen (Zahlen-)Folgen. Die Idee ist nun, die rationale Zahlenfolge {xn }n∈N mit den in (3.1) erklärten √ Gliedern mit der irrationalen Zahl 2 zu identifizieren. Dazu schätzen wir die Streuung“ der Folge wie folgt ab: Für beliebiges N ∈ N seien m, n ≥ N und ” o.B.d.A. n > m. Dann folgt ¯X ¯ ¯ X ¯ m X ¯ n ak ¯ n ak ¯¯ ak ¯¯ ¯ ¯ − |xn − xm | = = ¯ ¯ 10k 10k ¯ 10k ¯ Satz 1.4 (c) ≤ l:=k−m−1 = Satz 2.3 = = k=0 n X k=0 ¯a ¯ ¯ k ¯ ¯ k¯ ≤ 10 k=m+1 n−m−1 X ³ k=m+1 n X k=m+1 10 = 10k n ³ 1 ´k−1 X 10 k=m+1 n−m−1 X ³ ³ 1 ´m 1 ´l+m 1 ´l = 10 10 10 l=0 l=0 1 ³ 1 ´m 1 − ( )n−m ³ 1 ´m 1 10 ≤ 1 1 10 10 1 − 10 1 − 10 ³ ´m ³ ´N 10 1 10 1 ≤ . 9 10 9 10 (3.2) Wir benötigen nun noch folgenden Hilfssatz 3.1: Sei b ∈ Q positiv, so gilt: (a) Ist b > 1, so existiert zu jedem K ∈ Q mit K > 0 ein n ∈ N mit der Eigenschaft bn > K. (b) Ist 0 < b < 1, so existiert zu jedem δ ∈ Q mit δ > 0 ein n ∈ N mit der Eigenschaft bn < δ. Beweis: (a) Wegen b > 1 ist x := b − 1 > 0 richtig. Also ist die Bernoullische Ungleichung, Satz 2.1, anwendbar: Für alle n ∈ N gilt bn = (1 + x)n ≥ 1 + nx. Nach dem Archimedischen Axiom (O3), welches ja in Q gilt, können wir nun n ∈ N speziell so wählen, dass nx > K ausfällt. Dann folgt bn ≥ 1 + nx > 1 + K > K. 3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 21 (b) Wegen 0 < b < 1 ist b̂ := 1b > 1 richtig. Nach (a) existiert zu K̂ := mit b̂n > K̂ ⇐⇒ bn = (b̂n )−1 < K̂ −1 = δ, wie behauptet. 1 δ ein n ∈ N q.e.d. Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass die Aussage von Hilfssatz 3.1 richtig bleibt, wenn wir Q durch einen beliebigen, archimedisch angeordneten Körper K ⊃ N ersetzen. 1 Wir wenden nun Hilfssatz 3.1 auf unsere Ungleichung (3.2) an mit b = 10 <1 9 und δ = 10 ε > 0 für beliebig gewähltes ε ∈ Q mit ε > 0. Es existiert also ein N = N (ε) ∈ N mit |xn − xm | ≤ 10 ³ 1 ´N 10 < δ = ε für alle m, n ≥ N (ε). 9 10 9 (3.3) Das bedeutet, die Streuung“ der Folge {xn }n wird für hinreichend große Glieder ” beliebig klein. Die Ungleichung (3.2) und damit auch (3.3) gilt übrigens für beliebige rationale Folgen der Form (3.1) mit ak ∈ {0, 1, 2, . . . , 9}. Definition 3.2: Eine rationale Zahlenfolge {xn }n heißt Cauchyfolge, wenn gilt: Zu jedem ε ∈ Q mit ε > 0 existiert ein N = N (ε) ∈ N so, dass |xn − xm | < ε für alle m, n ≥ N (ε) erfüllt ist. Definition 3.3: Eine rationale Zahlenfolge {xn }n heißt Nullfolge, falls gilt: Zu jedem rationalen ε > 0 existiert ein N = N (ε) ∈ N so, dass |xn | < ε für alle n ≥ N (ε) richtig ist. Man sagt auch, {xn }n konvergiert gegen 0. Bemerkungen: 1. Jede Nullfolge ist auch Cauchyfolge: Wähle N = N (ε) ∈ N so, dass |xn | < für alle n ≥ N (ε) gilt. Dann folgt für m, n ≥ N (ε): |xn − xm | ≤ |xn | + |xm | < ε 2 ε ε + = ε. 2 2 Die Umkehrung ist natürlich falsch, wie etwa das Beispiel {xn }n = {1 + ( 12 )n }n zeigt. 22 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN 2. Beispiel: { n1 }n ist Nullfolge. In der Tat existiert nach (O3) zu jedem rationalen ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N mit N ε > 1. Also folgt ¯1¯ 1 1 ¯ ¯ < ε für alle n ≥ N (ε). ¯ ¯= ≤ n n N Wir wollen nun die reellen Zahlen durch rationale Cauchyfolgen darstellen. Da aber einige Folgen, wie wir sehen werden, die gleiche reelle Zahl darstellen, müssen wir diese identifizieren im Sinne einer Äquivalenzrelation: Definition 3.4: Eine Äquivalenzrelation auf einer beliebigen Menge M ist eine Beziehung zwischen je zwei ihrer Elemente a, b ∈ M , in Zeichen a ∼ b, mit folgenden Eigenschaften: Für jedes geordnete Paar (a, b) ∈ M × M steht fest, ob a ∼ b richtig oder falsch ist, und es gelten: (R) Reflexivität: Für alle a ∈ M gilt: a ∼ a. (S) Symmetrie: Für alle a, b ∈ M gilt: a ∼ b =⇒ b ∼ a. (T) Transitivität: Für alle a, b, c ∈ M gilt: a ∼ b und b ∼ c =⇒ a ∼ c. Zwei Elemente a, b ∈ M nennen wir äquivalent, wenn a ∼ b gilt. Zu a ∈ M heißt die Menge © ª [a] := x ∈ M : x ∼ a die zugehörige Äquivalenzklasse. Ein x ∈ [a] nennen wir dann Repräsentant der Äquivalenzklasse [a]. Bemerkung: Jedes Element a ∈ M gehört zu genau einer Äquivalenzklasse. Wir können also M als disjunkte Vereinigung ihrer Äquivalenzklassen darstellen: [ M= [a]. a∈M Bevor wir auf der Menge aller rationalen Cauchyfolgen eine Äquivalenzrelation erklären, geben wir noch ein paar einfache Beispiele: 1. Die Gleichheitsrelation auf einem geordneten Körper K ist eine Äquivalenzrelation. Für je zwei Zahlen a, b ∈ K gilt nämlich entweder a = b oder a 6= b und offenbar sind (R), (S) und (T) erfüllt. 2. Die Ungleichrelation (nicht reflexiv und transitiv), die Kleinerrelation (nicht reflexiv und symmetrisch) und die Kleinergleichrelation (nicht symmetrisch) sind z.B. keine Äquivalenzrelationen. 3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 23 3. Auf der Menge G aller Geraden in der Ebene ist durch die Relation g1 ∼ g2 :⇐⇒ g1 ist parallel zu g2 eine Äquivalenzrelation definiert. Die Äquivalenzklasse von g ∈ G sind die zu g parallelen Geraden. 4. Für M = Z definiert a∼b :⇐⇒ a−b ∈Z 2 eine Äquivalenzrelation. Die zugehörigen Äquivalenzklassen sind die geraden und die ungeraden Zahlen. Satz 3.1: Auf der Menge F := {{xn }n ⊂ Q : {xn }n ist Cauchyfolge} der rationalen Cauchyfolgen ist durch {xn }n ∼ {yn }n :⇐⇒ {xn − yn }n ist Nullfolge eine Äquivalenzrelation definiert. Zwei Folgen {xn }n , {yn }n sind also äquivalent, wenn zu jedem rationalen ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |xn − yn | < ε für alle n ≥ N . Beweis: Wir prüfen (R), (S) und (T) nach: (R) Ist klar, denn {xn − xn }n = {0}n ist die konstante Nullfolge. (S) Falls {xn }n ∼ {yn }n , dann existiert also zu jedem ε > 0 ein N (ε) ∈ N mit |yn − xn | = |xn − yn | < ε für alle n ≥ N (ε). Somit ist auch {yn − xn }n Nullfolge, d.h. {yn }n ∼ {xn }n . (T) Seien {xn }n ∼ {yn }n und {yn }n ∼ {zn }n . Dann gibt es zu jedem rationalen ε > 0 Zahlen N1 (ε), N2 (ε) ∈ N mit ε für alle n ≥ N1 (ε), 2 ε |yn − zn | < für alle n ≥ N2 (ε). 2 © ª Setzen wir nun N = N (ε) := max N1 (ε), N2 (ε) ∈ N, so folgt |xn − yn | < |xn − zn | ≤ |xn − yn | + |yn − zn | < also {xn }n ∼ {zn }n , wie behauptet. ε ε + = ε für alle n ≥ N (ε), 2 2 q.e.d. 24 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Beispiel: Die Folgen {1 + ( 12 )n }n und {1}n sind z.B. äquivalent. Ebenso gilt { n1 }n ∼ {( 13 )n }n , da beide und somit auch ihre Differenz Nullfolgen sind. Wir kommen nun zur zentralen Definition 3.5: (Die reellen Zahlen) Die Menge der reellen Zahlen R erklären wir als die Menge aller Äquivalenzklassen rationaler Cauchyfolgen. Jede rationale Cauchyfolge {an }n definiert also genau eine reelle Zahl α ∈ R durch α := [an ] := [{an }n ]. Bemerkung: Wir nennen α ∈ R rational, falls ein Repräsentant {an }n von α existiert mit an = pq (mit p ∈ Z, q ∈ N) für alle n ∈ N; sonst heißt α irrational. Die konstanten rationalen Folgen sind also Repräsentanten der rationalen reellen Zahlen. In diesem Sinne gilt Q ⊂ R, wir schreiben kurz pq := [ pq ]. (Hier ist übrigens auch die Äquivalenzklassenbildung enthalten, die wir bei der etwas laxen Definition der rationalen Zahlen in § 1 unterschlagen haben: Ungekürzte“ rationale ” p Zahlen werden mit gekürzten“ identifiziert, denn { ap aq }n mt a ∈ N und { q }n gehören ” offenbar zur gleichen Äquivalenzklasse.) Im folgenden zeigen wir über Definition 3.5, dass R ein archimedisch angeordneter Körper ist, wobei wir natürlich noch die Rechenoperationen und den Begriff der Positivität in R erklären müssen. Wir beginnen mit dem Hilfssatz 3.2: Jede rationale Cauchyfolge {xn }n ist beschränkt, d.h. es existiert ein rationales c > 0, so dass |xn | ≤ c für alle n ∈ N gilt. Beweis: Gemäß Definition 3.2 gibt es speziell zu ε = 1 ein N ∈ N mit |xn − xm | < 1 für alle n, m ≥ N . Damit folgt insbesondere für m = N : |xn | = |(xn − xN ) + xN | ≤ |xn − xN | + |xN | < |xN | + 1 für alle n ≥ N. Setzen wir c := max{|x1 |, . . . , |xN −1 |, |xN | + 1}, so folgt die Behauptung. q e.d. Hilfssatz 3.3: (a) Sind {an }n , {bn }n ⊂ Q Cauchyfolgen, so gilt dies auch für {an + bn }n und {an · bn }n . (b) Sind {xn }n , {yn }n ⊂ Q weitere Cauchyfolgen mit {an }n ∼ {xn }n und {bn }n ∼ {yn }n , dann folgt {an + bn }n ∼ {xn + yn }n und {an · bn }n ∼ {xn · yn }n . 3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 25 Beweis: (a) Es existiert zu vorgegebenem δ > 0 ein N = N (δ) ∈ N, so dass |an − am | < δ, |bn − bm | < δ für alle m, n ≥ N (δ). Wähle nun ε > 0 rational beliebig. Setzen wir N1 (ε) := N ( 2ε ), so folgt |(an + bn ) − (am + bm )| ≤ |an − am | + |bn − bm | < ε für alle m, n ≥ N1 (ε), also ist {an + bn }n Cauchyfolge. Nach Hilfssatz 3.2 existiert ferner ein rationales c > 0 mit |an | ≤ c, |bn | ≤ c für ε alle n ∈ N. Setzen wir nun N2 (ε) := N ( 2c ), so folgt auch |an bn − am bm | = |an (bn − bm ) + bm (an − am )| ≤ |an | |bn − bm | + |bm | |an − am | ³ε ε´ + = ε für alle m, n ≥ N2 (ε), < c 2c 2c d.h. {an bn }n ist Cauchyfolge. (b) Zu zeigen ist, dass {(an + bn ) − (xn + yn )}n Nullfolge ist. Wegen |an − xn | < ε, |bn − yn | < ε für beliebiges ε > 0 und alle n ≥ N (ε), erhalten wir |(an + bn ) − (xn + yn )| ≤ |an − xn | + |xn − yn | < 2ε für alle n ≥ N (ε). Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung (gehe über ε → 2ε ). Um zu zeigen, dass auch {an bn − xn yn }n Nullfolge ist, beachten wir wieder |an |, |yn | ≤ c für alle n ∈ N und mit geeignetem c > 0. Wir finden dann |an bn − xn yn | = |an (bn − yn ) + yn (an − xn )| ≤ |an | |bn − yn | + |yn | |an − xn | ≤ 2εc für alle n ≥ N (ε), wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Mit Hilfssatz 3.3 können wir bereits Addition und Multiplikation sowie das Negative in R erklären; siehe Definition 3.7 unten. Um aber auch die Existenz der Inversen zu sichern, benötigen wir noch einen weiteren Hilfssatz, für dessen Beweis wir die folgende Definition benutzen: Definition 3.6: Ist {xn }n ⊂ K eine Zahlenfolge und seien natürliche Zahlen 1 ≤ n1 < n2 < n3 < . . . gewählt (also {nk }k ⊂ N mit nk < nk+1 für alle k ∈ N). Dann heißt {xnk }k∈N = {xn1 , xn2 , xn3 , . . .} Teilfolge von {xn }n . 26 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Hilfssatz 3.4: Es sei {xn }n ⊂ Q eine Cauchyfolge. Dann tritt genau einer der folgenden Fälle ein: (a) {xn }n ist Nullfolge. (b) Typ A+ : Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit xn > δ für alle n ≥ N. (c) Typ A− : Es existiert ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N mit −xn > δ für alle n ≥ N. Beweis: Wir zeigen, dass, falls (a) nicht gilt, genau einer der Fälle (b) oder (c) eintreten muss. Sei also {xn }n keine Nullfolge. Dann gibt es also ein rationales δ > 0 und eine Teilfolge {xnk }k mit |xnk | ≥ 2δ für alle k ∈ N. Da {xn }n Cauchyfolge ist, existiert andererseits ein N ∈ N mit |xn − xm | < δ für alle m, n ≥ N . Wählen wir p ∈ N so groß, dass np ≥ N ist, so folgt speziell für m = np : |xm − xnp | < δ für alle m ≥ N. Wir unterscheiden nun zwei Fälle: (i) xnp ≥ 2δ: Dann folgt xm = xnp + (xm − xnp ) ≥ 2δ − |xm − xnp | > 2δ − δ = δ für alle m ≥ N, also gehört {xn }n zum Typ A+ . (ii) xnp ≤ −2δ: Dann haben wir −xm = −xnp − (xm − xnp ) ≥ 2δ − |xm − xnp | > δ für alle m ≥ N, d.h. {xn }n gehört zum Typ A− . q.e.d. Die Definition der Inversen ergibt sich nun aus dem folgenden Hilfssatz 3.5: Seien die Cauchyfolgen {xn }n , {yn }n ⊂ Q zueinander äquivalent und keine Nullfolgen. Ferner gelte xn , yn 6= 0 für alle n ∈ N. Dann sind auch {x−1 n }n −1 und {yn }n Cauchyfolgen, und es gilt −1 {x−1 n }n ∼ {yn }n . Beweis: 1. Nach Hilfssatz 3.4 existiert ein δ > 0, so dass |xn | > δ, |yn | > δ für alle n ∈ N gilt. Damit folgt ¯ 1 1 ¯¯ ¯¯ xm − xn ¯¯ 1 ¯ − ¯ ¯=¯ ¯ < 2 |xn − xm | für alle m, n ≥ N. xn xm xn xm δ 3. DIE DEFINITION DER REELLEN ZAHLEN 27 Da {xn }n Cauchyfolge ist, existiert zu beliebigem ε > 0 ein N̂ (ε) ≥ N , so dass −1 |xn − xm | < εδ 2 richtig ist. Es folgt |x−1 n − xm | < ε für alle m, n ≥ N̂ (ε), −1 d.h. {xn }n ist Cauchyfolge. Die entsprechenden Überlegungen zeigen, dass auch {yn−1 }n Cauchyfolge ist. 2. Wegen ¯ 1 1 ¯¯ ¯¯ yn − xn ¯¯ 1 ¯ − ¯=¯ ¯ < 2 |xn − yn | für alle n ≥ N, ¯ xn yn x n yn δ −1 folgt aus der Nullfolgeneigenschaft von {xn − yn }n sofort {x−1 n }n ∼ {yn }n , wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Die Bedingung xn 6= 0 für alle Glieder einer Nicht-Nullfolge {xn }n kann immer durch Übergang zu einer äquivalenten Folge {x̂n }n mittels eventueller Addition von n1 zum n-ten Glied erreicht werden. Alternativ kann man das durch Wegstreichen der (gemäß Hilfssatz 3.4) endlich vielen Glieder xn = 0 erreichen, denn: Jede Teilfolge einer Cauchyfolge ist zu ihr äquivalent. Definition 3.7: (Rechenoperationen in R) • Für α = [an ] ∈ R, β = [bn ] ∈ R setzen wir α + β := [an + bn ] ∈ R α · β = αβ := [an bn ] ∈ R (Summe), (Produkt). • Die neutralen Elemente der Addition und Multiplikation sind erklärt als 0 := [0] ∈ R, 1 := [1] ∈ R. • Das Negative und das Inverse erklären wir wie folgt: – Zu α = [an ] setzen wir −α := [−an ] ∈ R. – Zu α = [an ] 6= 0 mit einem Repräsentanten {an }n , der an 6= 0 für alle n ∈ N erfüllt, setzen wir α−1 := [a−1 n ]. Bemerkung: Wegen der Hilfssätze 3.3 und 3.5 sind alle Größen wohl definiert. Zum Beispiel ist nach Hilfssatz 3.3 (a) mit {an }n und {bn }n auch {an bn }n eine rationale Cauchyfolge, also [an bn ] ∈ R. Und nach Hilfssatz 3.3 (b) ist die Definition von αβ unabhängig von der Wahl der Repräsentanten {an }n , {bn }n . Definition 3.8: (Positivität in R) Eine reelle Zahl α = [an ] heißt positiv, in Zeichen α > 0, falls {an }n zum Typ A+ aus Hilfssatz 3.4 gehört. 28 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Bemerkung: Man überzeugt sich leicht, dass auch Definition 3.8 von der Wahl des jeweiligen Repräsentanten unabhängig ist. Satz 3.2: (R, +, ·) mit den in Definition 3.5, 3.7 und 3.8 erklärten reellen Zahlen, Rechenoperationen und Positivität ist ein archimedisch angeordneter Körper. Beweis: 1. Dass R ein Körper ist, ist per Konstruktion offensichtlich. Z.B. ist 1 = [1] in der Tat das neutrale Element der Multiplikation: Ist nämlich α = [an ], so folgt {an · 1)}n ∼ {an }n , also gilt α · 1 = [an · 1] = [an ] = α für alle α ∈ R. 2. R ist auch angeordnet, denn nach Hilfssatz 3.4 und Definition 3.7 gilt für jede reelle Zahl α genau eine der Beziehungen α > 0, α = 0 oder −α > 0, also (O1). Und (O2) ist aus Definition 3.7 wieder offensichtlich. Die in Definition 3.8 erklärte Positivität auf R impliziert also in der Tat eine Ordnung. Mit ihr können wir wie in den Definitionen 1.3 und 1.4 die Größerbzw. Kleinerrelationen und den Betrag erklären. 3. Schließlich ist in R auch das Archimedische Axiom (O3) erfüllt: Sind nämlich α = [ak ] > 0, β = [bk ] > 0 gewählt, so suchen wir n ∈ N mit nα > β. Da α > 0 gilt, ist {ak }k vom Typ A+ , siehe Hilfssatz 3.4. Also gibt es ein rationales δ > 0 und ein N ∈ N, so dass ak > δ für alle k ≥ N richtig ist. Andererseits ist {bk }k nach Hilfssatz 3.2 beschränkt, d.h. es existiert ein rationales c > 0 mit 0 < bk < c für alle k ≥ N . Wir wählen nun n ∈ N mit n 2δ > c (beachte: Q ist archimedisch!) und berechnen δ δ δ δ nak > nδ = n + n > c + n > bk + n für alle k ≥ N. 2 2 2 2 Also ist die Folge {ck }k mit ck := nak − bk vom Typ A+ , d.h. [n][ak ] − [bk ] = [nak − bk ] > 0 und somit ist nα − β > 0 bzw. nα > β, wie behauptet. q.e.d. 4. FOLGEN UND REIHEN 4 29 Folgen und Reihen Wir betrachten nun reelle Zahlenfolgen {xn }n ⊂ R, vgl. Definition 3.1. Analog zum rationalen Fall erklären wir Definition 4.1: • Eine Folge {xn }n ⊂ R heißt Cauchyfolge, falls zu jedem (reellen) ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |xn − xm | < ε für alle m, n ≥ N (ε). • Eine Folge {xn }n ⊂ R heißt Nullfolge, falls zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |xn | < ε für alle n ≥ N (ε). Definition 4.2: Eine Folge {xn }n ⊂ R nennen wir konvergent gegen α ∈ R, wenn {xn − α}n eine Nullfolge ist. Wir schreiben dann lim xn = α n→∞ oder xn → α (n → ∞). α heißt der Grenzwert der Folge {xn }n . Schließlich nennen wir eine Folge divergent, wenn sie nicht konvergiert. Bemerkungen: 1. ∞ ist das Symbol für den unendlich fernen Punkt oder einfach unendlich. 2. Offenbar gilt xn → α (n → ∞) genau dann, wenn |xn − α| → 0 (n → ∞). 3. Geometrische Deutung: Das Intervall (α − ε, α + ε) := {x ∈ R : |x − α| < ε} für α ∈ R und ε > 0 enthält alle reellen Zahlen, die von α einen Abstand kleiner ε haben. Wir nennen (α − ε, α + ε) eine ε-Umgebung von α. Eine Folge konvergiert genau dann gegen α, wenn in jeder ε-Umgebung von α fast alle Glieder der Folge liegen. Dabei bedeutet fast alle“, alle bis auf endlich viele ” Ausnahmen. 4. Der Grenzwert einer Folge {xn }n ⊂ R ist eindeutig bestimmt. Gäbe es nämlich α, β ∈ R mit xn → α und xn → β für n → ∞, dann finden wir zu beliebig vorgegebenem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N mit |xn − α| < 2ε und |xn − β| < 2ε für alle n ≥ N . Daher folgt insbesondere für n = N : |α − β| ≤ |α − xN | + |β − xN | < ε. Also muss α = β gelten. 30 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Aus der Konstruktion der reellen Zahlen folgt nun unmittelbar der Hilfssatz 4.1: Ist {xn }n eine rationale Cauchyfolge und α := [xn ], so folgt xn → α (n → ∞). Beweis: Ist ε = [εn ] ∈ R mit ε > 0 beliebig, so haben wir zu zeigen, dass ein N (ε) > 0 existiert mit |xk − α| < ε für alle k ≥ N (ε). Wegen ε > 0 gibt es per Definition ein δ > 0 und ein N̂ (ε) ∈ N, so dass εn > δ für alle n ≥ N̂ (ε) gilt. Da nun {xn }n Cauchyfolge ist, gibt es ein N (ε) ≥ N̂ (ε), so dass |xk − xn | < 2δ für alle k, n ≥ N (ε) gilt. Also ist {εn − |xk − xn |}n vom Typ A+ für jedes feste k ≥ N (ε). Und wegen |β| = [|yn |] für beliebiges β = [yn ] ∈ R erhalten wir ¯ ¯ £ ¤ 0 < εn − |xk − xn | = [εn ] − ¯[xk − xn ]¯ = ε − |xk − α|, bzw. |xk − α| < ε für alle k ≥ N (ε). q.e.d. Wir werden übrigens in § 5 zeigen, dass auch jede reelle Cauchyfolge einen Grenzwert in R besitzt. Beim Umgang mit Grenzwerten haben wir nun folgende Rechenregeln: Satz 4.1: Seien {xn }n , {yn }n ⊂ R zwei Folgen mit xn → α, yn → β (n → ∞). Dann gelten (a) Es konvergieren auch {xn + yn }n und {xn yn }n mit lim (xn + yn ) = α + β, n→∞ lim (xn yn ) = αβ. n→∞ (b) Falls zusätzlich β 6= 0 und yn 6= 0 für alle n ∈ N richtig ist, so konvergiert auch { xynn }n mit α xn = . lim n→∞ yn β (c) Gilt xn ≥ yn für alle n ≥ N mit einem N ∈ N, so ist auch α ≥ β erfüllt. (d) Jede Teilfolge {xnk }k ⊂ {xn }n (vgl. Definition 3.6) konvergiert und es gilt limk→∞ xnk = α. Wir halten noch die folgende direkte Konsequenz aus Satz 4.1 (a) fest: Folgerung 4.1: Konvergieren {xn }n , {yn }n ⊂ R und sind a, b ∈ R beliebig, so konvergiert auch {axn + byn }n mit lim (axn + byn ) = a lim xn + b lim yn . n→∞ n→∞ n→∞ 4. FOLGEN UND REIHEN 31 Beweis von Satz 4.1: (a) ist offensichtlich, (c) und (d) sind Übungsaufgaben. Wir zeigen (b): Wegen |β| > 0 gibt es ein N ∈ N mit |yn − β| < |β| 2 für alle n ≥ N . Wir |β| folgern |yn | ≥ |β| − |yn − β| > 2 > 0 und somit ¯x ¯ 2 1 ¯ n α¯ − ¯= |βxn − αyn | ≤ |βxn − αyn | für n ≥ N. ¯ yn β |yn | |β| |β|2 Nach (a) bzw. Folgerung 4.1 konvergiert βxn − αyn → βα − αβ = 0 (n → ∞), also ist { xynn − αβ }n Nullfolge, wie behauptet. q.e.d. Beispiele: 1. Die konstante Folge {a}n = {a, a, a, . . .} für ein a ∈ R konvergiert trivialerweise gegen a. 2. limn→∞ 3n n+1 = 3. Denn es gilt für beliebiges ε > 0: ¯ ¯ 3n − 3(n + 1) ¯ ¯ 3n 3 ¯ ¯ ¯ ¯ − 3¯ = ¯ < ε, ¯ ¯= n+1 n+1 n+1 falls n ≥ N (ε) mit N (ε) ≥ 3ε . 3. limn→∞ 2nn = 0. Mit vollständiger Induktion zeigt man nämlich 2n ≥ n2 für alle n ≥ 4 (Übungsaufgabe). Es folgt 21n ≤ n12 bzw. 2nn ≤ n1 und somit ¯n ¯ n 1o n 1 ¯ ¯ . ¯ n − 0¯ = n ≤ < ε für n ≥ N > max 3, 2 2 n ε 4. Die Folge {xn }n = {(−1)n }n konvergiert nicht. Sonst müsste z.B. für ε = 1 ein N ∈ N existieren mit |xn − α| < 1 für alle n ≥ N , wobei α ∈ R der Grenzwert der Folge sei. Insbesondere für xn und xn+1 mit n ≥ N hätten wir dann den Widerspruch 2 = |xn − xn+1 | ≤ |xn − α| + |xn+1 − α| < 2. Also ist {(−1)n }n divergent. 5. limn→∞ 5n3 +8n2 n3 −4 = 5. Wir kürzen 5 + 8 n1 5n3 + 8n2 = . n3 − 4 1 − n43 Da { n1 }n Nullfolge ist, konvergieren nach Satz 4.1 (a) und Folgerung 4.1 auch {5 + 8 n1 }n und {1 − 4 n13 }n , nämlich gegen 5 bzw. 1. Satz 4.1 (b) liefert dann lim (5 + 8 n1 ) 5n3 + 8n2 5 n→∞ lim = = = 5. 4 3 n→∞ n − 4 1 lim (1 − n3 ) n→∞ 32 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Bevor wir weitere Beispiele untersuchen benötigen wir noch die folgende Definition 4.3: Eine Folge {xn }n ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschränkt, falls ein c ∈ R existiert mit xn ≤ c (bzw. xn ≥ c) für alle n ∈ N. Falls sogar |xn | ≤ c für alle n ∈ N gilt, heißt die Folge beschränkt. Bemerkung: Eine Folge ist genau dann beschränkt, wenn sie nach oben und unten beschränkt ist. Satz 4.2: Jede konvergente Folge {xn }n ⊂ R ist beschränkt. Beweis: Zu ε = 1 existiert ein N ∈ N mit |xn − α| < 1 für alle n ≥ N , wobei α = limn→∞ xn sei. Wir haben also |xn | ≤ |xn − α| + |α| < 1 + |α| für alle n ≥ N. Also ist {xn }n beschränkt mit c := max{1 + |α|, |x1 |, . . . , |xN −1 |} > 0. q.e.d. Bemerkung: Die Umkehrung des Satzes gilt natürlich nicht; z.B. ist {(−1)n }n offenbar beschränkt aber nach obigem Beispiel 4 nicht konvergent. Beispiele: 1. Fibonacci-Zahlen: f1 := 0, f2 := 1 und rekursiv fn := fn−1 + fn−2 . Das gibt {fn }n = {0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, . . .}. Die Folge {fn }n ist unbeschränkt: Durch vollständige Induktion zeigt man nämlich fn ≥ n − 2 für alle n ∈ N, und {n − 2}n ist offensichtlich nicht nach oben beschränkt. Nach Satz 4.2 ist die Folge der Fibonacci-Zahlen also divergent. 2. Die Folge {xn }n für ein x ∈ R. Das Konvergenzverhalten hängt von x ab, wir unterscheiden vier Fälle. (i) Für |x| < 1 gilt limn→∞ xn = 0, da nach Hilfssatz 3.1 (b) – der nun natürlich auch in R gilt – zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |x|N < ε und folglich |xn − 0| = |x|n ≤ |x|N < ε für alle n ≥ N (ε). (ii) Für x = 1 haben wir die konstante Folge {1n }n = {1}n mit limn→∞ 1n = 1. (iii) Für x = −1 haben wir die divergente Folge {(−1)n }n . 4. FOLGEN UND REIHEN 33 (iv) Für |x| > 1 ist {xn }n unbeschränkt nach Hilfssatz 3.1 (a), also divergent. Definition 4.4: (Bestimmte Divergenz) Eine Folge {xn }n ⊂ R heißt bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞), wenn zu jedem c ∈ R ein N ∈ N existiert, so dass xn > c (bzw. xn < c) für alle n ≥ N richtig ist. Wir schreiben dann lim xn = +∞ n→∞ (bzw. lim xn = −∞). n→∞ Bemerkung: Offensichtlich divergiert {xn }n genau dann bestimmt gegen +∞, wenn {−xn }n bestimmt gegen −∞ divergiert. Beispiele: 1. Die Folge {n}n divergiert bestimmt gegen +∞. Das erklärt auch die Schreibweise limn→∞ , die nun eigentlich genauer limn→+∞ lauten müsste. 2. Nach obigem Beispiel divergiert die Folge der Fibonacci-Zahlen bestimmt gegen +∞. 3. Für b > 1 divergiert {bn }n bestimmt gegen +∞, vgl. Hilfssatz 3.1 (a). 4. Die Folge {(−1)n n}n ist divergent, aber nicht bestimmt divergent. Ist nämlich (−1)n n > c für ein n ∈ N und ein c ≥ 12 , so folgt für das (n + 1)-te Glied der Folge: (−1)n+1 (n + 1) = −(−1)n n − (−1)n < −c + 1 ≤ c. Bemerkung: Mit den Symbolen +∞, −∞ wird R zu der erweiterten Zahlengeraden R := {−∞} ∪ R ∪ {+∞}, die wir gemäß−∞ < x < +∞ für alle x ∈ R anordnen können. Allerdings können wir ±∞ nicht als reelle Zahlen auffassen, d.h. R ist kein Körper, wie auch immer Addition und Multiplikation in R erklärt werden. Satz 4.3: (a) Es sei {xn }n ⊂ R bestimmt divergent gegen +∞ oder −∞. Dann gilt xn 6= 0 für alle n ≥ N mit einem N ∈ N, und {x−1 n }n≥N ist eine Nullfolge. (b) Es sei {xn }n Nullfolge mit xn > 0 (bzw. xn < 0) für alle n ≥ N . Dann ist {x−1 n }n≥N bestimmt divergent gegen +∞ (bzw. gegen −∞). 34 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Beweis: Wir zeigen nur (a) und überlassen (b) zur Übung. Sei {xn }n bestimmt divergent gegen +∞. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 ein N (ε) ∈ N mit xn > 1ε für alle n ≥ N (ε). Also folgt −1 0 < x−1 n < ε bzw. |xn | < ε für alle n ≥ N (ε), d.h. {x−1 n }n ist Nullfolge. Gilt schließlich limn→∞ xn = −∞, so gehen wir zur negativen Folge {−xn }n über. q.e.d. Definition 4.5: (Unendliche Reihen) Sei {xk }k ⊂ R eine Folge, so erklären wir die zugehörigen Partialsummen sn := n X xk = x1 + x2 + . . . + xn . k=1 Die Folge {sn }n ⊂ R der Partialsummen heißt dann (unendliche) Reihe. Konvergiert {sn }n , so sagen wir, dass die zugehörige Reihe konvergiert und schreiben für den Grenzwert ¶ µX n ∞ X xk . xk := lim sn = lim k=1 n→∞ n→∞ k=1 Bemerkungen: P 1. Etwas lax schreiben wir meist auch ∞ k=1 xk für die Folge der Partialsummen, also als Symbol für die Reihe selbst (unabhängig von deren Konvergenz). 2. Eine Reihe ist also eine spezielle Folge, nämlich die von Partialsummen. Umgekehrt kann man jede Folge {yn }n auch durch eine Reihe darstellen, denn es gilt n X yn = y1 + (yk − yk−1 ) (Teleskopsumme). k=2 3. Aus Folgerung 4.1 angewendet auf P die Folge der Partialsummen ergibt sich P∞ sofort:PKonvergieren k=1 xk und ∞ k=1 yk und sind a, b ∈ R, so konvergiert auch ∞ (ax + by ), und es gilt k k k=1 ∞ ∞ ∞ X X X (axk + byk ) = a xk + b yk . k=1 k=1 k=1 5. VOLLSTÄNDIGKEIT REELLER ZAHLEN 35 Beispiele: 1. Es gilt limn→∞ n n+1 = limn→∞ rerseits yk − yk−1 = 1 1 1+ n = 1. Setzen wir yn = n n+1 , k k−1 k 2 − (k 2 − 1) 1 − = = k+1 k k(k + 1) k(k + 1) so folgt ande- für k ≥ 2 und somit n n n k=2 k=2 k=1 X X n 1 X 1 1 = yn = y1 + = . (yk − yk−1 ) = + n+1 2 k(k + 1) k(k + 1) Wir erhalten also ∞ X k=1 n X 1 n 1 = lim = lim = 1. k(k + 1) n→∞ k(k + 1) n→∞ n + 1 k=1 2. Unendliche geometrische Reihe: einem der obigen Beispiele: ∞ X k=0 5 xk = lim n→∞ n X ∞ P xk . Für |x| < 1 gilt nach Satz 2.3 und k=0 ¢ 1 − xn+1 1 ¡ 1 = 1 − x lim xn = . (4.1) n→∞ 1 − x n→∞ 1−x 1−x xk = lim k=0 Vollständigkeit reeller Zahlen Wir widmen uns nun wieder dem Studium der reellen Zahlen. Insbesondere werden wir die sogenannte Vollständigkeit“ von R beweisen, die der eigentliche Grund für ” die Konstruktion von R war und die reellen Zahlen gegenüber den rationalen Zahlen auszeichnet. Aus der Vollständigkeit folgt auch die Lösbarkeit der Gleichung xs = c in R, wobei s ∈ N beliebig und c ∈ R positiv ist. Wir beginnen mit der Definition 5.1: Eine Menge M ⊂ R heißt dicht in R, falls es zu jedem α ∈ R eine Folge {an }n ⊂ M so gibt, dass lim an = α gilt. n→∞ Bemerkung: Ist M ⊂ R dicht in R, so lässt sich jede reelle Zahl also beliebig gut durch Elemente aus M approximieren. Natürlich liegt R selbst dicht in R. Erstes Hauptziel des Paragraphen ist der folgende Satz 5.1: Q liegt dicht in R. Für den Beweis benötigen wir noch die anschließende einfache Folgerung des Archimedischen Axioms: 36 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Hilfssatz 5.1: Zu jeder Zahl x ∈ R existiert genau ein ν ∈ Z, so dass ν ≤ x < ν + 1 richtig ist. Beweis: Übungsaufgabe! Beweis von Satz 5.1: Zu gegebenem x ∈ R konstruieren wir mittels vollständiger Induktion eine Folge {xn }n ⊂ Q von Dezimalbrüchen xn = n X ak · 10−k ∈ Q mit a0 ∈ Z, ak ∈ {0, 1, . . . , 9} für k ∈ N, k=0 so dass xn → x (n → ∞) erfüllt ist. 1. Sei zunächst 0 ≤ x < 1 richtig. Wir behaupten, dass dann eine Folge {ak }k ⊂ {0, 1, . . . , 9} und eine Nullfolge {ξn }n ⊂ R so existieren, dass für alle n ∈ N gilt n X ak · 10−k + ξn und 0 ≤ ξn < 10−n . (5.1) x= k=1 Offenbar folgt daraus die Behauptung mit a0 = 0. (IA) n = 1. Wegen 0 ≤ x · 10 < 10 und Hilfssatz 5.1 existiert ein a1 ∈ {0, 1, 2, . . . , 9}, so dass a1 ≤ x·10 < a1 +1 richtig ist. Mit ξ1 := x−a1 ·10−1 haben wir dann x = a1 · 10−1 + ξ1 und 0 ≤ ξ1 < 10−1 . (IS) n → n + 1: Angenommen wir haben die Darstellung (5.1) für ein n ∈ N. Dann ist 0 ≤ ξn ·10n+1 < 10 richtig und wieder nach Hilfssatz 5.1 existiert ein an+1 ∈ {0, 1, . . . , 9} mit an+1 ≤ ξn · 10n+1 < an+1 + 1. Setzen wir noch ξn+1 := ξn − an+1 · 10−(n+1) , so finden wir (IV ) x = n X k=1 ak 10−k + ξn = n+1 X ak · 10−k + ξn+1 k=1 und 0 ≤ ξn+1 < 10−(n+1) , wie behauptet. 2. Sei nun x ∈ R beliebig. Nach Hilfssatz 5.1 existiert ein ν ∈ Z mit ν ≤ x < ν +1. Dann gilt für y := Px − ν natürlich 0 ≤ y < 1 und nach 1) existiert eine Folge {yn }n mit yn = nk=1 ak · 10−k , ak ∈ {0, 1, . . . , 9}, so dass yn → y (n → ∞) richtig ist. Also hat xn := ν + yn die gesuchte Form mit a0 := ν ∈ Z, und es gilt xn → x (n → ∞), wie behauptet. q.e.d. 5. VOLLSTÄNDIGKEIT REELLER ZAHLEN 37 Bemerkung: Der Beweis von Satz 5.1 bestätigt übrigens unsere Vorstellung, dass sich jede reelle Zahl als (unendlicher) Dezimalbruch darstellen lässt. Wir haben hier nämlich ∞ X x = lim ak · 10−k = a0 , a1 a2 a3 . . . n→∞ k=0 gezeigt. Allerdings ist diese Darstellung nicht eindeutig, denn z.B. lässt sich die Zahl 1 sowohl als 1, 00000 . . . schreiben, als auch als 0, 999999 . . . = ∞ X 9 · 10−n = 9 · n=1 ∞ ³ X 9 1 ´n (4.1) −9 = 1 − 9 = 1. 10 1 − 10 n=0 Das zentrale Ergebnis dieses Paragraphen (und eigentlich des gesamten Kapitels) ist nun der folgende Satz 5.2: (Cauchysches Konvergenzkriterium) Eine Folge {xn }n ⊂ R ist genau dann konvergent, wenn {xn }n eine Cauchyfolge ist. Definition 5.2: Ein bewerteter Körper K heißt vollständig, wenn jede Cauchyfolge {xn }n ⊂ K einen Grenzwert x ∈ K besitzt. Bemerkungen: 1. Obiger Satz enthält also die Aussage, dass R vollständig ist; genau das ist die zusätzliche Eigenschaft von R gegenüber Q. 2. Wir haben Cauchyfolgen und Konvergenz bisher nur in R erklärt. Hierzu benötigt man aber nur einen Abstandsbegriff“, der in bewerteten Körpern ” erklärt ist; vgl. Satz 1.4 und die anschließende Bemerkung. Insbesondere ist Definition 5.2 in C sinnvoll, vgl. § 7. Beweis von Satz 5.2: • ⇒“: Sei {xn }n konvergent mit Grenzwert x ∈ R. Dann existiert zu jedem ” ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N mit |xn − x| < 2ε für alle n ≥ N . Folglich haben wir |xn − xm | ≤ |xn − x| + |xm − x| < ε für alle m, n ≥ N (ε), d.h. {xn }n ist Cauchyfolge. • ⇐“: Sei nun {xn }n Cauchyfolge. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 ein ” N = N (ε) ∈ N, so dass |xn − xm | < 4ε für alle m, n ≥ N (ε). Zu jedem xn , n ∈ N, existiert nach Satz 5.1 ein an ∈ Q mit |xn − an | < 2ε . Somit folgt |an − am | ≤ |an − xn | + |xn − xm | + |xm − am | < ε für alle m, n ≥ N (ε). 38 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Also ist {an }n eine rationale Cauchyfolge und nach Hilfssatz 4.1 gilt an → x (n → ∞) mit der reellen Zahl x := [an ]. Wählen wir N̂ (ε) ≥ N (ε) so groß, dass |x − an | < 2ε für alle n ≥ N̂ (ε), so erhalten wir schließlich |x − xn | ≤ |x − an | + |an − xn | < ε ε + = ε für alle n ≥ N̂ (ε), 2 2 d.h. die Folge {xn }n konvergiert gegen x. q.e.d. So kompakt sich das Cauchysche Konvergenzkriterium auch formulieren lässt, so ist es doch etwas unanschaulich. Genau umgekehrt verhält es sich mit dem folgenden, praktischen Intervallschachtelungs-Prinzip: Zunächst benötigen wir aber noch die Definition 5.3: (Intervalle reeller Zahlen) Zu a, b ∈ R mit a < b erklären wir: • offenes Intervall: (a, b) := {x ∈ R : a < x < b}. • abgeschlossenes Intervall: [a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b}. • halboffene Intervalle: (a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b}, [a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b}. Bemerkungen: 1. Es kann auch a = −∞ und b = +∞ gewählt werden, wenn der jeweilige Endpunkt nicht zum Intervall gehört. 2. Mit |I| = diam(I) := b − a > 0 bezeichnen wie den Durchmesser oder Länge des abgeschlossenen Intervalls I = [a, b]. Offensichtlich gilt für beliebige x, x0 ∈ I = [a, b] dann |x − x0 | ≤ |I|. Satz 5.3: (Intervallschachtelungsprinzip) Es sei I1 ⊃ I2 ⊃ . . . ⊃ In ⊃ In+1 ⊃ . . . eine absteigende Folge von abgeschlossenen Intervallen in R mit der Eigenschaft lim |In | = 0. n→∞ Dann gibt es genau eine reelle Zahl x mit x ∈ In für alle n ∈ N, d.h. {x} = (5.2) T In . n∈N Bemerkung: Die Aussage scheint offensichtlich: Eine Folge von Intervallen, deren Durchmesser gegen 0 geht, zieht sich auf einen Punkt zusammen. Jedoch wird die Aussage in Q falsch, da der gemeinsame Punkt dann keine rationale Zahl sein muss. 5. VOLLSTÄNDIGKEIT REELLER ZAHLEN 39 Beweis von Satz 5.3: Schreiben wir In = [an , bn ], so besagt Formel (5.2), dass zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit 0 ≤ bn − an < ε für alle n ≥ N (ε). Sind nun m, n ≥ N , so folgt am , an ∈ IN und somit |an − am | ≤ |IN | = bN − aN < ε für alle m, n ≥ N (ε), d.h. {an }n ist eine Cauchyfolge. Nach Satz 5.2 existiert daher ein Punkt x ∈ R mit limn→∞ an = x. Nun gilt am ≤ an ≤ bm für beliebiges m ∈ N und alle n ≥ m. Gemäß Satz 4.1 (c) liefert der Grenzübergang n → ∞ nun am ≤ x ≤Tbm bzw. x ∈ Im für alle m ∈ N. Gäbe es schließlich ein weiteres Element x0 ∈ n∈N In , so hätten wir für beliebiges ε > 0: |x − x0 | ≤ bN − aN < ε mit dem oben bestimmten N = N (ε). Also folgt x = x0 . q.e.d. Bemerkung: Die Konstruktion zeigt, dass für eine Intervallschachtelung mit In = T [an , bn ] und {x} = In gilt n∈N lim an = x = lim bn . n→∞ n→∞ Satz 5.4: Sei c > 0 eine beliebige reelle Zahl. Dann besitzt die Gleichung xs = c für jedes s ∈ N genau eine positive Lösung x ∈ R. Beweis: • Eindeutigkeit: Sind x1 , x2 ∈ R zwei positive Lösungen von xs1 = xs2 = c, so folgt s−1 X 0 = xs1 − xs2 = (x1 − x2 ) xj1 x2s−j−1 , j=0 also x1 = x2 . • Existenz: (i) Sei zunächst c ∈ (0, 1). Wir konstruieren induktiv eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃ . . ., für die gilt: ³ 1 ´n−1 , asn ≤ c ≤ bsn für alle n ∈ N. (5.3) In := [an , bn ], |In | = 2 Setzen wir I1 = [a1 , b1 ] := [0, 1], so gilt (5.3) offenbar für n = 1. Haben wir die gesuchte Schachtelung bis zu einem n ∈ N konstruiert, so setzen wir xn := 12 (an + bn ) ∈ In und erklären ( [an , xn ], falls xsn ≥ c . In+1 = [an+1 , bn+1 ] := [xn , bn ], falls xsn < c 40 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Dann ist offenbar In+1 ⊂ In richtig, und wir haben |In+1 | = 12 ( 21 )n−1 = ( 12 )n sowie asn+1 ≤ c ≤ bsn+1 , also (5.3) für n + 1. T Nach Satz 5.3 existiert nun genau ein x ∈ n∈N In , d.h. an ≤ x ≤ bn und somit asn ≤ xs ≤ bsn für alle n ∈ N. Nun liefert auch Jn := [asn , bsn ] eine Intervallschachtelung, denn offenbar gilt Jn+1 ⊂ Jn für alle n ∈ N und wir berechnen s−1 ³ 1 ´n−1 X → 0 (n → ∞). |Jn | = bsn − asn = (bn − an ) ajn bs−j−1 ≤ s n 2 j=0 T s Da aber nun c, x ∈ n∈N Jn richtig ist, liefert Satz 5.3 xs = c. (ii) Für c = 1 löst offenbar x = 1 die Gleichung xs = c. Für c > 1 ist c̃ := c−1 ∈ (0, 1) erfüllt. Mit der in (i) konstruierten positiven Lösung x̃ der Gleichung x̃s = c̃, löst dann x := x̃−1 > 0 die Gleichung xs = c. q.e.d. Definition 5.4: Die in Satz 5.4 konstruierte eindeutige Lösung x > 0 von xs = c √ heißt s-te Wurzel von c > 0, und wir schreiben s c. Ist q = rs ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N) beliebig, so setzen wir für die q-te Potenz von c > 0: √ r cq = c s := ( s c)r . Bemerkung: Für alle x, y > 0 und p, q ∈ Q gelten die Rechenregeln xp y p = (xy)p , xp xq = xp+q , (xp )q = xpq . Ebenfalls mittels Intervallschachtelung beweisen wir den fundamentalen Satz 5.5: (Bolzano–Weierstraß) Jede beschränkte Folge {xn }n ⊂ R besitzt eine konvergente Teilfolge. Beweis: Da {xn }n beschränkt ist, existiert ein c > 0 mit −c ≤ xn ≤ c für alle n ∈ N. Wir konstruieren nun eine Intervallschachtelung I1 ⊃ I2 ⊃ . . . mit den Eigenschaften • Ik enthält unendlich viele Glieder der Folge {xn }n , • |Ik | = 2c · ( 12 )k−1 für alle k ∈ N. Wir starten dazu mit I1 := [−c, c] und definieren im k-ten Schritt Ik+1 wie folgt: Ist Ik = [ak , bk ], so setzen wir yk := 12 (ak + bk ) und erklären [ak , yk ], falls [ak , yk ] unendlich viele Glieder von {xn }n enthält Ik+1 = [ak+1 , bk+1 ] := . [yk , bk ], sonst Wir konstruieren nun eine Teilfolge {xnk }k mit xnk ∈ Ik für alle k ∈ N induktiv wie folgt: 5. VOLLSTÄNDIGKEIT REELLER ZAHLEN 41 • Für k = 1 setzen wir n1 = 1, also xn1 = x1 ∈ I1 . • Ist xnk ∈ Ik für ein k ∈ N, so existiert per Konstruktion ein nk+1 > nk mit xnk+1 ∈ Ik+1 (da in Ik+1 wieder unendlich viele Glieder von {xn }n liegen). Wir haben also ak ≤ xnk ≤ bk für alle k ∈ N. Nach Satz 5.3 und der anschließenden Bemerkung liefert der Grenzübergang k → ∞: x = lim ak ≤ lim xnk ≤ lim bk = x k→∞ k→∞ k→∞ mit einem x ∈ R. Also konvergiert {xnk }k gegen x, wie behauptet. q.e.d. Definition 5.5: x ∈ R heißt Häufungswert einer Folge {xn }n , wenn es eine Teilfolge {xnk }k gibt mit lim xnk = x. k→∞ Satz 5.5 besagt also: Jede beschränkte Folge hat einen Häufungswert. Beispiele: 1. {(−1)n }n besitzt die Häufungswerte −1 und +1. 2. {n}n besitzt keine Häufungswerte, da jede Teilfolge unbeschränkt und damit nach Satz 4.2 divergent ist. 3. Es gibt aber auch unbeschränkte Folgen mit Häufungswerten, z.B. hat {[1 + (−1)n ]n}n den Häufungswert 0, da gilt x2k−1 = 0 für alle k ∈ N. Definition 5.6: Eine Folge {xn }n ⊂ R heißt (i) monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn ≤ xn+1 (bzw. xn ≥ xn+1 ) für alle n ∈ N gilt. (ii) streng monoton wachsend (bzw. fallend), falls xn < xn+1 (bzw. xn > xn+1 ) für alle n ∈ N richtig ist. Bemerkung: Die Sprechweise ist leider nicht eindeutig. In der Literatur wird häufig z.B. für monoton wachsende Folge auch schwach monoton wachsende“ oder mo” ” noton nicht fallende“ Folge geschrieben. Satz 5.6: (Monotone Konvergenz) Jede beschränkte monotone Folge {xn }n ⊂ R ist konvergent. Beweis: Sei {xn }n monoton fallend. Da {xn }n beschränkt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß eine konvergente Teilfolge {xnk }k . Aus der Relation xnk ≥ xnl für alle k ≤ l erhalten wir nach Grenzübergang l → ∞ die Ungleichung xnk ≥ x := lim xnl l→∞ für alle k ∈ N. 42 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Zu beliebigem ε > 0 gibt es nun ein k0 = k0 (ε) ∈ N mit |xnk − x| < ε für alle k ≥ k0 (ε). Wir setzen N = N (ε) := nk0 (ε). Für jedes n ≥ N existiert dann ein k ≥ k0 mit nk ≤ n < nk+1 . Die Monotonie liefert nun xnk ≥ xn ≥ xnk+1 ≥ x, bzw. xnk − x ≥ xn − x ≥ 0. Zusammen mit der Konvergenz der Teilfolge {xnk }k folgt |xn − x| ≤ |xnk − x| < ε für alle n ≥ N (ε), wie behauptet. Der Fall einer monoton wachsenden Folge {xn }n ergibt sich nun durch Übergang zur monoton fallenden Folge {−xn }n . q.e.d. Bemerkung: Satz 5.6 liefert ein handliches Konvergenzkriterium. Z.B. ist jeder Dezimalbruch monoton wachsend.; vgl. Satz 5.1. Übrigens ist jede monoton wachsende Folge nach unten beschränkt, nämlich durch x1 . Entsprechend ist jede monoton fallende Folge nach oben durch x1 beschränkt. 6 Punktmengen in R Ist M eine Menge mit endlich vielen Elementen, so kann man diese mittels 1, 2, . . . , n durchnummerieren: M = {a1 , a2 , . . . , an } mit n = Anzahl der Elemente. Wir sagen, M ist abzählbar. Um die Situation für unendliche Mengen zu untersuchen, erinnern wir zunächst an den Begriff einer Bijektion oder bijektiven Abbildung f : M → N zwischen zwei Mengen M, N : • f ist surjektiv, falls zu jedem y ∈ N ein x ∈ M mit f (x) = y existiert, d.h. f (M ) = N . • f ist injektiv, falls für x1 , x2 ∈ M mit x1 6= x2 gilt f (x1 ) 6= f (x2 ). • f ist bijektiv, wenn f surjektiv und injektiv ist. Definition 6.1: Eine unendliche Menge M heißt (unendlich) abzählbar, wenn eine Bijektion f : N → M existiert. Anderenfalls heißt M überabzählbar. Bemerkungen: 1. Ist M unendlich abzählbar, so gibt es also eine Folge {xn }n , so dass M = {xn : n ∈ N}. Wir schreiben auch kurz (und etwas unexakt) M = {xn }n . 2. Zwei Mengen M, N , für die eine Bijektion f : M → N existiert, heißen gleichmächtig. Eine unendlich abzählbare Menge ist also gleichmächtig zu den natürlichen Zahlen. 6. PUNKTMENGEN IN R 43 Beispiele: 1. Die Menge N der natürlichen Zahlen ist abzählbar mit der identischen Abbildung f : N → N, n 7→ n. 2. Die ganzen Zahlen Z sind abzählbar mit der Bijektion ( 1 falls n gerade ist 2 n, f (n) := , 1 2 (1 − n), falls n ungerade ist n ∈ N. 3. Sind M und N abzählbar, so ist auch M ∪ N abzählbar. Deutlich allgemeiner gilt der folgende Satz 6.1: Die Vereinigung abzählbar vieler abzählbarer Mengen Mn , n ∈ N, ist abzählbar. Beweis: Wir schreiben Mn = {xnm : m ∈ N} für n ∈ N. Die Elemente der Vereinigungsmenge [ Mn = {xnm : m, n ∈ N} n∈N können wir wie folgt abzählen: M1 : M2 : M3 : M4 : .. . x11 → . x21 ↓ % x31 . x41 → .. . x12 x13 → x14 . x23 x24 . % x33 x34 % x43 x44 .. .. . . ... % x22 x32 x42 .. . ... ... , ... also mit der Abzählung y1 := x11 , y2 := x12 , y3 := x21 , y4 := x31 , . . . Eventuell doppelt auftretende Elemente werden bei der Abzählung einfach übergangen. q.e.d. Folgerung 6.1: Die Menge der rationalen Zahlen ist abzählbar. Beweis: Wir setzen Mn := { m n : m ∈ Z} für n ∈ N. Da Z abzählbar ist, ist auch Mn abzählbar für jedes n ∈ N. Und nach Satz 6.1 gilt dies auch für die Vereinigung nm o [ Mn = : m ∈ Z n ∈ N = Q, n n∈N wie behauptet. q.e.d. Folgerung 6.1 besagt, dass die rationalen Zahlen gleichmächtig zu den natürlichen Zahlen sind. Diese Aussage wird für die reellen Zahlen falsch: 44 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Satz 6.2: Die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar. Beweis (Cantorsches Diagonalverfahren): Wir zeigen, dass bereits die Menge (0, 1) = {x ∈ R : 0 < x < 1} überabzählbar ist. Wäre nämlich (0, 1) abzählbar, so gäbe es eine Folge {xn }n mit (0, 1) = {xn : n ∈ N}. Nach Satz 5.1 können wir jedes xn ∞ P als Dezimalbruch darstellen: xn = anm · 10−m mit anm ∈ {0, 1, . . . , 9} für alle m=1 n, m ∈ N, also x1 = 0, a11 a12 a13 a14 . . . , x2 = 0, a21 a22 a23 a24 . . . , x1 = 0, a31 a32 a33 a34 . . . , x1 = 0, a41 a42 a43 a44 . . . Wir betrachten nun y = ∞ P m=1 cm · 10−m ∈ (0, 1) mit ( cm := amm + 2, falls amm ≤ 4, amm − 2, falls amm > 4 . Dann gilt also |cm − amm | = 2 für alle m ∈ N. Also unterscheidet sich y von xm an der m-ten Nachkommastelle mindestens um 2, so dass folgt |y − xm | ≥ 10−m für alle m ∈ N und insbesondere y 6∈ {xn : n ∈ N}. Also war die Annahme falsch, d.h. (0, 1) und damit auch R sind überabzählbar. q.e.d. Folgerung 6.2: Die Menge der irrationalen Zahlen R \ Q ist überabzählbar. Beweis: Anderenfalls wäre nach Folgerung 6.1 auch (R \ Q) ∪ Q = R abzählbar, im Widerspruch zu Satz 6.2. q.e.d. Wir untersuchen nun Teilmengen von R genauer und beginnen mit der Definition 6.2: Eine Menge M ⊂ R heißt nach oben (bzw. unten) beschränkt, wenn ein c ∈ R existiert mit x≤c (bzw. x ≥ c) für alle x ∈ M. Man nennt dann c obere (bzw. untere) Schranke von M . Schließlich heißt die Menge M beschränkt, wenn sie sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt ist. Bemerkungen: 6. PUNKTMENGEN IN R 45 1. M ist genau dann beschränkt, wenn ein c > 0 existiert mit |x| ≤ c für alle x ∈ M. 2. Die einer beschränkten Folge {xn }n ⊂ R zugehörige {xn : n ∈ N} ist offenbar beschränkt. Definition 6.3: (a) Ist M ⊂ R nach oben beschränkt, so heißt σ ∈ R kleinste obere Schranke oder Supremum von M , i.Z. σ = sup M , falls folgendes gilt: (i) σ ist obere Schranke von M , d.h. x ≤ σ für alle x ∈ M . (ii) Für jede weitere obere Schranke σ̂ von M gilt σ ≤ σ̂. (b) Entsprechend heißt τ ∈ R größte untere Schranke oder Infimum, i.Z. τ = inf M , zu einer nach unten beschränkten Menge M ⊂ R, wenn gilt (i) τ ist untere Schranke von M . (ii) Für jede weitere untere Schranke τ̂ von M gilt τ ≥ τ̂ . Aus der Definition ist sofort klar, dass Infimum und Supremum, wenn sie existieren, eindeutig bestimmt sind. Außerdem haben wir die folgende Charakterisierung von Infimum und Supremum: Hilfssatz 6.1: Sei M ⊂ R nach oben beschränkt. Dann gilt σ = sup M genau dann, wenn σ obere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiert mit x ≥ σ − ε. Entsprechend ist τ = inf M für eine nach unten beschränkte Menge M ⊂ R genau dann richtig, wenn τ untere Schranke ist und zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiert mit x ≤ τ + ε. Beweis: Übungsaufgabe! Satz 6.3: Jede nichtleere, nach oben (bzw. unten) beschränkte Menge M ⊂ R besitzt ein Supremum (bzw. Infimum). Beweis: Wir zeigen nur die Existenz des Supremums. Die des Infimums folgt dann durch Übergang zur Menge −M := {x ∈ R : −x ∈ M }. Zum Beweis betrachten wir wieder eine Intervallschachtelung: Wir konstruieren Intervalle In = [xn , cn ] mit In+1 ⊂ In für alle n ∈ N, so dass gilt: |In | ≤ ³ 1 ´n−1 2 (c1 − x1 ), xn ∈ M, cn ist obere Schranke an M. (6.1) • n = 1: Da M nichtleer und nach oben beschränkt ist, existiert ein x1 ∈ M und ein c1 mit x ≤ c1 für alle x ∈ M . 46 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN • n → n + 1: Sei In = [xn , cn ] konstruiert mit den Eigenschaften (6.1). Dann setzen wir yn := 12 (xn + cn ) und erklären In+1 wie folgt: (i) Falls M ∩ [yn , cn ] = ∅, dann ist yn obere Schranke an M und wir setzen xn+1 := xn ∈ M , cn+1 := yn . (ii) Falls M ∩ [yn , cn ] 6= ∅, so existiert ein xn+1 ≥ yn mit xn+1 ∈ M . Dann setzen wir cn+1 := cn . Offenbar ist dann (6.1) erfüllt für In+1 und wir haben In+1 ⊂ In . Nach Satz 5.3 und der T anschließenden Bemerkung konvergieren die Folgen {xn }n und {cn }n gegen σ ∈ n∈N In . Wir zeigen noch σ = sup M : Wegen x ≤ cn für alle x ∈ M und n ∈ N liefert Grenzübergang x ≤ σ für alle x ∈ M , d.h. σ ist obere Schranke. Gäbe es eine obere Schranke σ̂ < σ, so wäre σ − σ̂ > 0. Wegen limn→∞ xn = σ existiert nun ein N ∈ N mit |xN − σ| < σ − σ̂, also erhalten wir xN ≥ σ − |xN − σ| > σ − (σ − σ̂) = σ̂, also einen Widerspruch zu xN ∈ M . q.e.d. Beispiele: 1. Sei [a, b) ein halboffenes Intervall mit a < b. Dann gilt inf[a, b) = a, sup[a, b) = b. In der Tat ist a offenbar untere Schranke von [a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b}. Und jede weitere untere Schranke a0 muss a0 ≤ a erfüllen, d.h. a = inf[a, b). Andererseits ist offenbar b obere Schranke für [a, b). Und ist ε > 0 beliebig gewählt, so setzen wir x := max{a, b − ε}. Dann ist x ∈ [a, b) und x ≥ b − ε richtig, und nach Hilfssatz 6.1 gilt b = sup[a, b). 2. Für A := { n+1 : n ∈ N} ist inf A = 1 erfüllt, denn es gelten n+1 n n > 1 für n+1 = 1, also auch ≤ 1 + ε für beliebiges ε > 0 und alle n ∈ N und lim n+1 n n→∞ n hinreichend großes n ∈ N. Bemerkungen: 1. Obige Beispiele zeigen, dass inf M zur Menge M dazu gehören kann oder nicht. Wenn inf M ∈ M gilt, so schreiben wir auch min M := inf M für das Minimum von M . Ebenso sprechen wir vom Maximum von M , falls sup M ∈ M gilt und schreiben dann max M := sup M . Man beachte, dass für Mengen mit endlich vielen Elementen immer min M = inf M und max M = sup M erfüllt sind. 6. PUNKTMENGEN IN R 47 2. Für nach oben bzw. nach unten unbeschränkte Mengen M ⊂ R schreiben wir auch sup M = +∞ bzw. inf M = −∞. Wir wenden uns nun wieder reellen Folgen zu. In Definition 5.5 haben wir den Begriff des Häufungswertes einer Folge {xn }n als Grenzwert einer Teilfolge {xnk }k erklärt. Betrachtet man alle Häufungswerte einer Folge, wird man auf die folgenden Begriffe geführt: Definition 6.4: Sei {xn }n ⊂ R eine beschränkte Folge und bezeichne H die Menge ihrer Häufungswerte. Wir setzen dann lim inf xn := inf H (Limes inferior), n→∞ lim sup xn := sup H n→∞ (Limes superior). Bemerkung: Offenbar ist H beschränkt, wenn {xn }n beschränkt ist. Man beachte noch lim inf (−xn ) = − lim sup xn , lim sup(−xn ) = − lim inf xn . n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ Beispiel: Die Folge {xn }n = {(−1)n + n1 }n ist offenbar beschränkt und wir haben die konvergenten Teilfolgen x2k = 1 + 1 → 1 (k → ∞), 2k x2k−1 = −1 + 1 → −1 (k → ∞). 2k − 1 Also gilt H = {−1, 1} und lim inf n→∞ xn = −1, lim supn→∞ xn = 1. Man beachte, dass lim inf n→∞ xn und lim supn→∞ xn zu H gehören. Dies ist immer so: Satz 6.4: lim inf n→∞ xn ist der kleinste, lim supn→∞ xn der größte Häufungswert einer beschränkten Folge {xn }n ⊂ R, d.h. lim inf xn = min H, n→∞ lim sup xn = max H. n→∞ Beweis: Wir haben zu zeigen, dass ξ := lim inf n→∞ xn = inf H ∈ H richtig ist, also eine Teilfolge {xnk }k mit limk→∞ xnk = ξ existiert. Angenommen es gäbe keine solche Teilfolge. Dann existiert also ein ε > 0 und ein N ∈ N, so dass |ξ − xn | ≥ ε für alle n ≥ N (6.2) erfüllt ist. Andererseits ist ξ = inf H, d.h. es gibt ein y ∈ H mit ε ξ≤y≤ξ+ . 2 (6.3) 48 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Zum Häufungspunkt y ∈ H existiert eine Teilfolge {xnk }k von {xn }n mit xnk → y (k → ∞). Wir wählen nun k̂ so groß, dass nk̂ ≥ N und |xnk̂ − y| < 2ε gilt. Wegen ξ ≤ y haben wir dann ξ−xnk̂ ≤ y−xnk̂ < 2ε und folglich liefert (6.2) sogar ξ ≤ xnk̂ −ε. Aus (6.3) folgt schließlich xnk̂ < (6.3) ε + y ≤ ξ + ε ≤ xnk̂ − ε + ε = xnk̂ , 2 also der Widerspruch xnk̂ < xnk̂ . Somit muss doch lim inf n→∞ xn ∈ H gelten. Durch Übergang zur Folge {−xn }n folgt schließlich noch lim supn→∞ xn ∈ H. q.e.d. Satz 6.5: (Charakterisierung von lim sup) Sei {xn }n ⊂ R eine beschränkte Folge und η ∈ R. Dann ist η = lim supn→∞ xn genau dann erfüllt, wenn gilt: (i) η ist Häufungswert von {xn }n . (ii) Für alle ε > 0 existiert ein N = N (ε) ∈ N, so dass gilt xn < η + ε für alle n ≥ N (ε). Beweis: • ⇒“: Sei also η = lim supn→∞ xn . Nach Satz 6.4 ist dann η ∈ H, also (i) erfüllt. ” Wäre (ii) falsch, so gäbe es ein ε > 0 und eine Teilfolge {x0k }k = {xnk }k mit x0k ≥ η + ε für alle k ∈ N. (6.4) Da {x0k }k beschränkt ist, existiert nach dem Satz von Bolzano–Weierstraß eine weitere Teilfolge {x0kl }l ⊂ {x0k }k ⊂ {xn }n und ein ζ ∈ R mit x0kl → ζ (l → ∞). Also ist ζ ∈ H und somit ζ ≤ η. Andererseits liefert aber (6.4) angewendet auf {x0kl }l nach Grenzübergang l → ∞: ζ ≥ η + ε, Widerspruch! • ⇒“: Seien nun (i) und (ii) erfüllt. Wäre η 6= lim supn→∞ xn = max H, so gäbe ” es ein ζ ∈ H mit ζ > η. Wir setzen ε := ζ−η 2 . Für die Teilfolge {xnk }k mit limk→∞ xnk = ζ existiert dann ein k̂ ∈ N, so dass nk̂ ≥ N (ε) und|xnk̂ − ζ| < ε richtig ist. Aus (ii) für n = nk̂ erhalten wir dann xnk̂ < η + ε = η + ζ −η = ζ − ε < xnk̂ , 2 Widerspruch! Also ist η = max H, wie behauptet. Wir halten noch die entsprechende Aussage für den Limes inferior fest: q.e.d. 7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 49 Satz 6.6: (Charakterisierung von lim inf) Sei {xn }n eine beschränkte Folge und ξ ∈ R. Dann ist ξ = lim inf n→∞ xn genau dann erfüllt, wenn gilt: (i) ξ ist Häufungswert von {xn }n . (ii) Für alle ε > 0 existiert ein N = N (ε) ∈ N, so dass gilt xn > ξ − ε für alle n ≥ N (ε). Bemerkungen: 1. Ohne Beweis notieren wir die Identitäten ¡ ¢ lim sup xn = lim sup{xk : k ≥ n} , n→∞ n→∞ ¡ ¢ lim inf xn = lim inf{xk : k ≥ n} . n→∞ n→∞ Diese Darstellungen werden häufig auch als Definition von lim sup und lim inf verwendet. Sie sind zwar etwas unanschaulich, haben aber den Vorteil, dass sie auch für unbeschränkte Folgen Sinn machen: Ist {xn }n etwa nach oben unbeschränkt, so ist sup{xk : k ≥ n} = +∞ für alle n ∈ N. Dann setzen wir lim sup xn = +∞. n→∞ Entsprechend ist für eine nach unten unbeschränkte Folge lim inf xn = −∞. n→∞ 2. Als Übungsaufgabe zeige man: Eine Folge {xn }n ⊂ R ist genau dann konvergent gegen α ∈ R, wenn sie beschränkt ist und wenn gilt lim inf xn = α = lim sup xn . n→∞ 7 n→∞ Die komplexen Zahlen Ausgehend von der reellen Ebene R2 = R × R der geordneten Paare z = (x, y) ∈ R2 , wollen wir nun den Körper der komplexen Zahlen C definieren. Hierzu erklären wir Addition und Multiplikation wie folgt: Für z1 = (x1 , y1 ), z2 = (x2 , y2 ) setzen wir z1 + z2 := (x1 + x2 , y1 + y2 ) (komplexe Addition), z1 · z2 = z1 z2 := (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2 y1 ) (komplexe Multiplikation). (7.1) Geometrisch entspricht die Addition in C der Vektoraddition in R2 . Eine geometrische Deutung der komplexen Multiplikation folgt erst im nächsten Kapitel. 50 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Satz 7.1: (R2 , +, ·) ist ein Körper mit Nullelement: 0 := (0, 0), Einselement: 1 := (1, 0), negativem Element: zu z = (x, y) setzen wir −z := (−x, −y), ¡ x −y ¢ inversem Element: zu z = (x, y) 6= 0 setzen wir z −1 := x2 +y 2 , x2 +y 2 . Wir schreiben (C, +, ·) oder einfach C für den Körper der komplexen Zahlen. Beweis: 1. Die Axiome (A1) und (A2) sind offensichtlich, indem man die entsprechenden Gesetze für R komponentenweise benutzt. Ebenso folgt auch (A3) mit dem oben erklärten Nullelement. Schließlich haben wir für z = (x, y): (7.1) z + (−z) = ¡ ¢ x + (−x), y + (−y) = (0, 0) = 0, also (A4). 2. (M1) ist wieder klar, da die komplexe Multiplikation symmetrisch bezüglich der xk und yk ist. Zum Beweis von (M2) betrachten wir z1 = (x1 , y1 ), z2 = (x2 , y2 ), z3 = (x3 , y3 ) und berechnen (z1 z2 )z3 = (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2 y1 ) · (x3 , y3 ) ¢ ¡ = (x1 x2 − y1 y2 )x3 − (x1 y2 + x2 y1 )y3 , (x1 x2 − y1 y2 )y3 + (x1 y2 + x2 y1 )x3 und z1 (z2 z3 ) = (x1 , x2 ) · (x2 x3 − y2 y3 , x2 y3 + x3 y2 ) ¡ ¢ = x1 (x2 x3 − y2 y3 ) − y1 (x2 y3 + x3 y2 ), x1 (x2 y3 + x3 y2 ) + y1 (x2 x3 − y2 y3 ) . Ein Vergleich der rechten Seiten zeigt (M2). Mit dem oben erklärten Einselement (1, 0) haben wir für beliebiges z = (x, y) ∈ C: z · 1 = (x, y) · (1, 0) = (x · 1 − y · 0, x · 0 + y · 1) = (x, y) = z, also (M3). Schließlich gilt auch (M4), denn wir berechnen mit der Inversen zu z = (x, y): ³ x −y ´ zz −1 = (x, y) · , x2 + y 2 x2 + y 2 ³ −y −y x ´ x − y , x + y = x 2 x + y2 x2 + y 2 x2 + y 2 x2 + y 2 = (1, 0) = 1. 7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 51 3. Das Distributivgesetz lässt sich leicht als Übungsaufgabe nachrechnen. q.e.d. Bemerkungen: 1. Wir können wieder Subtraktion und Division erklären: z1 − z2 := z1 + (−z2 ), z1 := z1 · z2−1 , z2 falls z2 6= 0. 2. Es gelten alle für beliebige Körper abgeleiteten Rechenregeln. Insbesondere sind Null- und Einselement sowie negatives und inverses Element eindeutig bestimmt. Wir wollen nun den Körper R als Unterkörper von C identifizieren: Hierzu betrachten wir die Teilmenge © ª CR := z = (x, y) ∈ C : y = 0 . Für beliebige z1 = (x1 , 0), z2 = (x2 , 0) ∈ CR erhalten wir dann aus (7.1): (x1 , 0) + (x2 , 0) = (x1 + x2 , 0), (x1 , 0) · (x2 , 0) = (x1 · x2 , 0). Also sind mit z1 , z2 ∈ CR auch z1 + z2 , z1 · z2 ∈ CR . Ferner gilt 0, 1 ∈ CR . Und mit z ∈ CR ist offenbar auch −z ∈ CR und für z 6= 0 auch z −1 ∈ CR richtig. Also ist CR ein Unterkörper von C, d.h. eine Teilmenge von C, die bez. der Rechenoperationen in C einen Körper bildet. Da außerdem die komplexe Addition und Multiplikation von Elementen aus CR in der ersten Komponente den reellen Operationen entsprechen, können wir CR mit R identifizieren durch den Körperisomorphismus: i : R → CR , x 7→ (x, 0). In diesem Sinne gilt also R ⊂ C. Geometrisch: In der komplexen Ebene C werden die Zahlen auf der x-Achse als reelle Zahlen aufgefasst; man spricht daher von der reellen Achse. Die y-Achse heißt imaginäre Achse. Die wichigste komplexe Zahl ist die imaginäre Einheit i := (0, 1). 52 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Sie hat die Eigenschaft i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1, (7.2) d.h. z = i ist Lösung der Gleichung z 2 + 1 = 0. Mit i berechnen wir für beliebige z = (x, y) ∈ C: x + iy = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = (x, y) = z. Die linke Seite dieser Gleichung werden wir i.F. als Schreibweise für die komplexe Zahl z verwenden, also z = x + iy, x, y ∈ R. Dabei heißt x Realteil und y Imaginärteil von z, und wir schreiben x = Re z, y = Im z. Zwei Zahlen z1 , z2 ∈ C stimmen genau dann überein, wenn sowohl ihr Real- als auch ihr Imaginärteil übereinstimmen. Wir bemerken, dass man mit komplexen Zahlen wie mit reellen rechnen kann, wenn man (7.2) beachtet. Z.B. ist z 2 = (x + iy)2 = x2 + 2ixy + (iy)2 (7.2) = x2 + 2ixy + i2 y 2 = x2 + 2ixy − y 2 richtig, also Re(z 2 ) = x2 − y 2 , Im(z 2 ) = 2xy. Schießlich sei angemerkt, dass C nicht angeordnet werden kann: Gäbe es nämlich den Begriff der Positivität, so dass (O1) und (O2) aus Definition 1.2 erfüllt sind, so folgte daraus z.B. für i 6= 0 nach Satz 1.3 (f): i2 > 0. Wegen Formel (7.2) ist aber i2 = −1 < 0, denn es gilt 1 = 12 > 0, Widerspruch! Wir werden aber gleich sehen, dass wir C bewerten können. Definition 7.1: Sei z = x + iy ∈ C, so heißt z := x − iy die konjugiert komplexe Zahl zu z. Mit |z| := bezeichnen wir den Betrag von z. p x2 + y 2 7. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 53 Bemerkungen: 1. Die Konjugation z 7→ z entspricht geometrisch einer Spiegelung an der reellen Achse. Es gelten die Rechenregeln 1 1 Re z = (z + z), Im z = (z − z) (7.3) 2 2i sowie z = z, z1 + z2 = z1 + z2 , z1 · z2 = z1 · z2 . (7.4) 2. Der Betrag |z| von z ∈ C entspricht geometrisch dem Abstand zum Nullpunkt (gemessen in der euklidischen Metrik). Es gilt |z|2 = z · z, |z| = |z|. (7.5) Satz 7.2: Der Betrag in C hat folgende Eigenschaften: (a) Es gilt |z| ≥ 0 für alle z ∈ C und |z| = 0 ⇔ z = 0. (b) Für alle z1 , z2 ∈ C ist |z1 z2 | = |z1 | |z2 | erfüllt. (c) Für alle z1 , z2 ∈ C ist |z1 + z2 | ≤ |z1 | + |z2 | richtig. Also ist C ein bewerteter Körper im Sinne von § 1. Bemerkung: Die geometrische Deutung der komplexen Addition als Vektoraddition im R2 erklärt nun auch den Begriff Dreiecksungleichung für die Relation (c). Beweis von Satz 7.2: (a) |z| p ≥ 0 für alle z ∈ C ist per Definition klar. Und wir bemerken |z| = x2 + y 2 = 0 gdw. x2 + y 2 = 0 gdw. x = y = 0 gdw. z = 0. (b) Für z1 , z2 ∈ C berechnen wir p (7.5) p (7.4) p |z1 z2 | = |z1 z2 |2 = (z1 z2 )(z1 z2 ) = (z1 z2 )(z1 z2 ) p p (7.5) (z1 z1 )(z2 z2 ) = |z1 |2 |z2 |2 = |z1 | |z2 |, = wie behauptet. (c) Wir beachten |z| ≥ |Re z| für beliebige z ∈ C. Damit erhalten wir |z1 + z2 |2 (7.5) = (7.4),(7.5) = (7.3) = (b),(7.5) ≤ (z1 + z2 )(z1 + z2 ) (7.4) = z1 z1 + (z1 z2 + z2 z1 ) + z2 z2 |z1 |2 + (z1 z2 + z1 z2 ) + |z2 |2 |z1 |2 + 2Re(z1 z2 ) + |z2 |2 |z1 |2 + 2|z1 | |z2 | + |z2 |2 = (|z1 | + |z2 |)2 , und die Behauptung folgt. q.e.d. 54 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Wir wollen nun Punktfolgen {zn }n im Körper C betrachten und erklären in Analogie zu den Definitionen 4.1 und 4.2: Definition 7.2: Eine Folge {zn }n ⊂ C heißt • beschränkt, falls ein c > 0 existiert mit |zn | ≤ c für alle n ∈ N. • Cauchyfolge, falls für alle ε > 0 ein N (ε) ∈ N existiert mit |zn − zm | < ε für alle m, n ≥ N (ε). • konvergent gegen z ∈ C, falls für alle ε > 0 ein N (ε) ∈ N existiert mit |zn − z| < ε für alle n ≥ N (ε). Wir schreiben lim zn = z oder zn → z (n → ∞). n→∞ • Nullfolge, falls {zn }n gegen 0 konvergiert. Bemerkung: Nennen wir {ζ ∈ C : |z −ζ| < ε} wieder eine ε-Umgebung von z ∈ C, so konvergiert {zn }n genau dann gegen z, wenn in jeder (noch so kleinen) ε-Umgebung von z fast alle Glieder der Folge liegen. In C ist eine ε-Umgebung von z, geometrisch gesehen, eine (offene) Kreisscheibe um z vom Radius ε > 0; wir schreiben daher auch © ª Kε (z) := ζ ∈ C : |z − ζ| < ε . Wir wollen nun zeigen, dass C auch vollständig ist. Zur Vorbereitung notieren wir den folgenden Hilfssatz 7.1: Eine Folge {zn }n ⊂ C ist genau dann konvergent (bzw. Cauchyfolge, Nullfolge, beschränkt), wenn die reellen Folgen {Re(zn )}n und {Im(zn )}n konvergent (bzw. Cauchyfolgen, Nullfolgen, beschränkt) sind. Für konvergente Folgen {zn }n gilt lim zn = lim Re(zn ) + i lim Im(zn ). n→∞ n→∞ n→∞ Beweis: Die Aussagen ergeben sich sofort aus den Relationen |Re z| ≤ |z|, |Im z| ≤ |z|, die man leicht als Übungsaufgabe bestätigt. |z| ≤ |Re z| + |Im z|, q.e.d. Satz 7.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in C) Eine Folge {zn }n ⊂ C ist genau dann konvergent, wenn sie Cauchyfolge ist. Insbesondere ist C ein vollständiger (bewerteter) Körper. 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) 55 Beweis: Aus Hilfssatz 7.1 und dem Cauchyschen Konvergenzkriterium in R folgern wir: {zn }n ist konvergent HS 7.1 ⇐⇒ {Re(zn )}n , {Im(zn )}n ⊂ R sind konvergent Satz 5.2 ⇐⇒ {Re(zn )}n , {Im(zn )}n ⊂ R sind Cauchyfolgen HS 7.1 ⇐⇒ {zn }n ist Cauchyfolge, wie behauptet. q.e.d. Als Übung beweist man noch den folgenden Satz 7.4: (Rechenregeln für komplexe Grenzwerte) • Ist {zn }n ⊂ C eine konvergente Folge, so konvergiert auch {zn }n und es gilt lim zn = lim zn . n→∞ n→∞ • Ist {ζn }n ⊂ C eine weitere konvergente Folge, so konvergieren auch {zn + ζn }n und {zn · ζn }n mit lim (zn + ζn ) = lim zn + lim ζn , n→∞ n→∞ ¢ ¢ ¡ ¡ lim (zn · ζn ) = lim zn · lim ζn . n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ • Gilt schließlich noch ζn 6= 0 für alle n ∈ N und limn→∞ ζn 6= 0, so konvergiert auch { zζnn }n mit ³z ´ lim zn n lim = n→∞ . n→∞ ζn lim ζn n→∞ 8 Konvergenzkriterien für Reihen (in C) In § 4 haben wir Reihen in R definiert und den Begriff der Konvergenz einer Reihe eingeführt. Mit dem in § 7 gegebenen Konvergenzbegriff P für Folgen in C sagen wir nun entsprechend: Ist {zk }k∈N ⊂ C, so heißt diePReihe ∞ k=1 zk konvergent, wenn n die Folge der Partialsummen {s } mit s := z , n ∈ N, konvergiert. Wir n n n k k=1 P∞ schreiben wieder z sowohl für die Reihe als auch, wenn existent, für den k=1 k Grenzwert µX ¶ n ∞ X lim sn = lim zk =: zk , n→∞ n→∞ k=1 k=1 56 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN also den Wert der Reihe. Wenden wir Hilfssatz 7.1 Pnauf die Folge {sn }n der Partialsummen P an, so folgt noch: P∞ Die komplexe Reihe k=1 zk konvergiert genau dann, wenn ∞ Re(z ) und k k=1 k=1 Im(zk ) konvergieren, und es gilt ∞ X zk = k=1 ∞ X Re(zk ) + i k=1 ∞ X Im(zk ). k=1 P Wenn die Reihe ∞ k=1 zk nicht konvergent ist, heißt sie divergent. Wenn zk = xk ∈ R für alle k ∈ N und lim sn = ±∞ n→∞ gilt, so heißt die Reihe bestimmt divergent (gegen ±∞). P Es sei schließlich angemerkt, dass wir natürlich auch Reihen der Form ∞ k=k0 zk mit einem k0 ∈ N0 (oder sogar k0 ∈ Z) betrachten können (und P werden). Falls klar ist, über welche k summiert wird, schreiben wir auch kurz k zk für die Reihe bzw. ihren Wert. Im vorliegenden Paragraphen werden wir eine Anzahl wichtiger Konvergenzkriterien für Reihen kennenlernen, die wir (soweit sinnvoll) in C formulieren und die als Spezialfall natürlich auch für reelle Reihen gelten. Wir beginnen mit dem Satz 8.1: (Cauchysches Konvergenzkriterium für Reihen) P∞ z in C konvergiert genau dann, wenn für beliebige ε > 0 ein Eine Reihe k=1 k N = N (ε) ∈ N existiert, so dass gilt ¯ X ¯ ¯ n ¯ ¯ zk ¯¯ < ε ¯ für alle n > m ≥ N (ε). (8.1) k=m+1 Beweis: Wir bemerken ¯ n ¯ ¯ n ¯ m X ¯ ¯ X ¯X ¯ zk ¯¯ = ¯¯ |sn − sm | = ¯¯ zk − zk ¯¯ für alle n > m. k=1 k=1 k=m+1 Also ist (8.1) äquivalent dazu, dass {sn }n eine Cauchyfolge bildet und somit P nach Satz 7.3 auch äquivalent zur Konvergenz der Folge {sn }n bzw. der Reihe k zk . q.e.d. P Bemerkung: Satz 8.1 zeigt übrigens auch: Die Reihe ∞ konvergiert (bzw. dik=1 zk P vergiert) genau dann, wenn für beliebige k0 ∈ N die Reihe ∞ k=k0 zk konvergiert (bzw. divergiert). Die ersten endlich vielen Glieder beeinflussen das Konvergenzverhalten der Reihe also nicht (aber natürlich ihren Wert). Das folgende Kriterium eignet sich eher zum Ausschluss der Konvergenz: 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) Satz 8.2: Wenn P∞ k=1 zk 57 (zk ∈ C für alle k ∈ N) konvergiert, so muss gelten lim zk = 0. k→∞ P Beweis: Sei k zk konvergent und ε > 0 beliebig gewählt. Nach Satz 8.1 existiert dann ein N (ε) ∈ N mit |zn | < ε für alle n > N (ε) (wende (8.1) mit m = n − 1 an). Also ist {zn }n Nullfolge. q.e.d. P k k Zum Beispiel divergiert also die Reihe ∞ k=1 (−1) , da {(−1) }k keine Nullfolge ist. Wie wir am Beispiel der harmonischen Reihe jetzt sehen werden, ist das Kriterium aus Satz 8.2 nicht hinreichend: ∞ P 1 Beispiel: Harmonische Reihe k. k=1 Zwar bildet { k1 }k eine Nullfolge, aber die Reihe ist nicht konvergent. In der Tat gilt für beliebiges m ∈ N: 2m 2m X X 1 1 m 1 ≥ = = . |s2m − sm | = k 2m 2m 2 k=m+1 k=m+1 Also ist das Cauchysche Konvergenzkriterium (8.1) für ε < 1 2 nicht erfüllbar. Für reelle Reihen mit nichtnegativen Einträgen gilt der folgende P Satz 8.3: Die Reihe ∞ k=1 xk mit xk ∈ R und xk ≥ 0 für alle k ∈ N konvergiert genau dann, wenn die zugehörige Folge der Partialsummen beschränkt ist. P∞ k=1 zk Bemerkung: Falls die Folge der Partialsummen einer (komplexen) Reihe beschränkt ist, sagen wir die Reihe ist beschränkt und schreiben ¯X ¯ ¯ ∞ ¯ ¯ zk ¯¯ < +∞. ¯ k=1 P Beweis von Satz 8.3: Wegen xk ≥ 0 ist die Folge der Partialsummen sn = nk=1 xk monoton wachsend. Satz 5.6 liefert also die Konvergenz der Reihe. Umgekehrt ist natürlich jede konvergente Reihe auch beschränkt. q.e.d. Im Falle sogenannter alternierender Reihen haben wir die folgende bessere Aussage: Satz 8.4: (Konvergenzkriterium von Leibniz) Ist {xk }k ⊂ R ein monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Reihe ∞ P (−1)k xk . k=1 58 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Wir verzichten an dieser Stelle auf einen Beweis, da sich Satz 8.4 als Spezialfall von Satz 9.3 ergeben wird. Beispiel: Die Reihen ∞ X (−1)k k=1 ( alternierende harmonische Reihe), k ∞ X (−1)k 2k + 1 ( Leibnizreihe) k=0 konvergieren offenbar nach Satz 8.4. Wir werden später berechnen ∞ X (−1)k k=1 k = − log 2, ∞ X (−1)k π = . 2k + 1 4 k=0 Definition P∞ 8.1: Eine komplexe Reihe Reihe k=1 |zk | konvergiert. P∞ k=1 zk heißt absolut konvergent, wenn die Bemerkungen: 1. Jede absolut konvergente Reihe konvergiert auch im gewöhnlichen Sinn: Denn nach der Dreiecksungleichung in C gilt ¯ X ¯ n X ¯ n ¯ ¯ ¯ zk ¯ ≤ |zk | für alle n > m, ¯ k=m+1 k=m+1 und Satz 8.1 liefert die Behauptung. 2. Es gibt Reihen, die zwar im gewöhnlichen Sinn aber nicht absolut konvergieren, z.B. die alternierende harmonische Reihe. P∞ P 3. Sind ∞ k=1 ζk zwei k=1 zk und Pabsolut konvergente Reihen, so ist auch jede (komplexe) Linearkombination ∞ k=1 (αzk + βζk ) mit α, β ∈ C absolut konvergent. Eines der wichtigsten Konvergenzkriterien enthält nun der folgende Satz 8.5: (Majorantenkriterium) Zwei Folgen {zk }k ⊂ C und {µk }k ⊂ R mit |zk | ≤ µk für alle k ∈ N P∞ P∞ seien gegeben. Dann P gilt: Konvergiert die ReiheP k=1 µk , so konvergiert k=1 zk absolut. Die Reihe k µk heißt Majorante von k zk . 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) 59 Beweis: Zu beliebigem ε > 0 existiert nach Satz 8.1 ein N (ε) ∈ N mit n X k=m+1 |zk | ≤ n X µk < ε für alle n > m ≥ N (ε). k=m+1 Wiederum nach Satz 8.1 konvergiert also auch lut. P k |zk |, d.h. P k zk konvergiert absoq.e.d. Folgerung 8.1: (Minorantenkriterium) Sind {xk }k , {µk }k ⊂ R gegeben mit xk ≥ µk ≥ 0 für alle k ∈ N P∞ P∞ P und divergiert k=1 µk , so divergiert auch k=1 xk . Die Reihe k µk heißt MinoP rante von k xk . P P Beweis: Wäre nämlich k µk nach Satz 8.5 ebenfalls k xk konvergent, so wäre konvergent, Widerspruch! q.e.d. Beispiele: P k 1. Die Reihe ∞ k=0 z konvergiert absolut für |z| < 1 und divergiert für |z| > 1. Ersteres folgt aus Satz 8.5, da ∞ X k=0 (4.1) |z|k = 1 1 − |z| eine konvergente Majorante ist. Und letzteres aus Satz 8.2, da {z k }k keine Nullfolge ist für |z| > 1. P∞ 1 2. Die Reihe k=1 kα konvergiert (absolut) für rationales α ≥ 2. Wir haben nämlich 1 1 2 für alle k ∈ N, 0< α ≤ 2 ≤ k k k(k + 1) P 2 also ist ∞ k=1 k(k+1) eine Majorante, die gemäß des vorletzten Beispiels in § 4 konvergiert mit ∞ ∞ X X 2 1 =2 = 2. k(k + 1) k(k + 1) k=1 k=1 Sehr nützlich ist auch der folgende Satz 8.6: P (Quotientenkriterium) Es sei ∞ k=1 zk eine komplexe Reihe mit zk 6= 0 für alle k ≥ k0 . Dann gilt: 60 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN (a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit ¯z ¯ ¯ k+1 ¯ ¯ ¯ ≤ q < 1 für alle k ≥ k0 , zk P so konvergiert die Reihe ∞ k=1 zk absolut. (b) Existiert ein k0 ∈ N, so dass gilt ¯z ¯ ¯ k+1 ¯ ¯ ¯≥1 zk für alle k ≥ k0 , dann divergiert die Reihe. Beweis: (a) Es gilt ¡ ¢ |zk | ≤ |zk0 |q −k0 q k für alle k ≥ k0 , wie man leicht P mit vollständiger Induktion zeigt. Nach Satz 8.5 konvergiert also die Reihe k zk absolut, da sie (ab dem k0 -ten Glied) die konvergente Majorante ∞ ∞ X ¡ ¢ ¡ ¢X |zk0 |q −k0 q k = |zk0 |q −k0 qk k=k0 k=k0 besitzt. (b) Offensichtlich gilt |zk | ≥ |zk0 | > P 0 für alle k ≥ k0 . Also bildet {zk }k keine Nullfolge, nach Satz 8.2 ist somit k zk divergent. q.e.d. Bemerkung: Wir können in Satz 8.6 (a) die Voraussetzung nicht durch die schwächere Bedingung ¯ ¯z ¯ k+1 ¯ ¯ < 1 für alle k ≥ k0 ¯ zk P 1 ersetzen, wie das Beispiel der divergenten harmonischen Reihe ∞ k=1 k zeigt. Umgekehrt ist die P dort1angegebene Bedingung aber auch keine notwendige Bedingung, denn z.B. ∞ k=1 k2 konvergiert wie oben gesehen, aber es gilt ¯z ¯ k2 ¯ k+1 ¯ → 1 (k → ∞). ¯ ¯= zk (k + 1)2 Beispiele: 1. Die Reihe P∞ k2 k=1 2k konvergiert, denn mit xk := k2 2k haben wir ¯x ¯ (k + 1)2 1³ 1 ´2 8 ¯ k+1 ¯ (k + 1)2 2k = = 1 + ≤ <1 ¯ ¯= xk 2k+1 k 2 2k 2 2 k 9 Satz 8.6 (a) liefert die Behauptung. für alle k ≥ 3. 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) 2. Die Reihe P∞ kk k=1 k! divergiert, denn mit xk = kk k! 61 gilt ¯x ¯ ³ k + 1 ´k ¯ k+1 ¯ (k + 1)k+1 k! = ≥ 1 für alle k ∈ N, ¯ ¯= xk (k + 1)! k k k wir können also Satz 8.6 (b) anwenden. 3. Die komplexe Exponentialreihe k C. Mit zk := zk! gilt nämlich P∞ zk k=0 k! konvergiert absolut für beliebiges z ∈ ¯z ¯ |z|k+1 k! |z| 1 ¯ k+1 ¯ = ≤ ¯ ¯= k zk (k + 1)! |z| k+1 2 für alle k ≥ 2|z| − 1. Als Übungsaufgabe beweise man noch den folgenden Satz 8.7: P (Wurzelkriterium) Es sei ∞ k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann gilt: (a) Existiert ein q ∈ (0, 1) und ein k0 ∈ N mit p k |zk | ≤ q < 1 für alle k ≥ k0 , so konvergiert P∞ k=1 zk absolut. (b) Gilt lim sup k→∞ p k |zk | > 1, so divergiert die Reihe. Wir wenden uns nun dem Produkt von absolut konvergenten Reihen zu: Satz 8.8:P(Cauchysche Produktformel) P∞ Es seien ∞ z , ζ komplexe, absolut konvergente Reihen. Setzen wir l k k=1 l=1 cj := j X zk ζj−k+1 für j ∈ N, k=1 P so konvergiert auch die Reihe ∞ j=1 cj absolut, und es gilt die Cauchysche Produktformel µX ¶µ X ¶ X ∞ ∞ ∞ zk ζl = cj . k=1 l=1 j=1 62 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Beweis: 1. Wir erklären die Partialsummen rn := n X zk , sn := k=1 n X ζl , tn := n X cj . j=1 l=1 Dann gilt rn sn = µX n ¶µ X ¶ X ¶ n n µX n n X zk ζl = zk ζl =: zk ζl . k=1 l=1 k=1 l=1 k,l=1 Diese Schreibweise für eine (endliche)Doppelsumme ist offenbar sinnvoll, da die Reihenfolge der Summation irrelevant ist. Setzen wir © ª Qn := (k, l) ∈ N × N : 1 ≤ k ≤ n, 1 ≤ l ≤ n , so haben wir X rn sn = zk ζl . (8.2) (k,l)∈Qn Die Definition der cj lässt sich auch schreiben als cj = X zk ζl , k+l=j+1 k,l∈N so dass sich für die n-te Partialsumme der cj ergibt tn = X zk ζl ; (8.3) (k,l)∈Dn hierbei haben wir noch © ª Dn := (k, l) ∈ N × N : k + l ≤ n + 1 gesetzt. Da nun Dn ⊂ Qn für jedes n ∈ N richtig ist, haben wir insgesamt X rn sn − tn = zk ζl für alle n ∈ N. (8.4) (k,l)∈Qn \Dn 2. Setzen wir noch rn∗ := n X k=1 |zk |, s∗n := n X l=1 |ζl |, 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) 63 so finden wir wie in (8.2): X rn∗ s∗n = |zk | |ζl |, n ∈ N. (8.5) (k,l)∈Qn Nun beachten wir Q2n \ D2n ⊂ Q2n \ Qn , da Qn ⊂ D2n für alle n ∈ N richtig ist. Damit können wir abschätzen ¯ ¯ X X ¯ (8.4) ¯ |r2n s2n − t2n | = ¯¯ zk ζl ¯¯ ≤ |zk | |ζl | (k,l)∈Q2n \D2n ≤ X (k,l)∈Q2n \D2n |zk | |ζl | (8.5) ∗ ∗ = |r2n s2n − rn∗ s∗n | → 0 (n → ∞), (k,l)∈Q2n \Qn P P da k |zk | und k |ζk | konvergieren, also auch das Produkt ihrer Partialsummen {rn∗ s∗n }n eine Cauchyfolge bildet. Ganz entsprechend folgt aus Q2n−1 \ D2n−1 ⊂ Q2n−1 \ Qn auch ∗ |r2n−1 s2n−1 − t2n−1 | ≤ |r2n−1 s∗2n−1 − rn∗ s∗n | → 0 (n → ∞). Da schließlich |r2n s2n − r2n−1 s2n−1 | → 0 (n → ∞) gilt (denn {rn sn }n konvergiert), haben {t2n }n und {t2n−1 }n den gleichen Grenzwert, nämlich lim tn = lim (rn sn ) = ( lim rn )( lim sn ), n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ wie behauptet. 3. Zum Beweis der absoluten Konvergenz von t∗n := n X |cj |, P j cj betrachten wir noch n ∈ N. j=1 Wie in (8.3) erhalten wir dann X X (8.5) 0 ≤ t∗n ≤ |zk | |ζl | ≤ |zk | |ζl | = rn∗ s∗n ≤ K (k,l)∈Dn für alle n ∈ N (k,l)∈Qn P P mit K := ( k |zk |)( l |ζl |) < +∞. Also ist {t∗n }n beschränkt, monoton wachsend und nach Satz 5.6 somit auch konvergent. q.e.d. Schließlich untersuchen wir das Verhalten von Reihen unter Umordnungen. P∞ P∞ Definition 8.2: P∞Sei k=1 zk eine komplexe Reihe. Dann heißt k=1 ζk eine Umordnung von k=1 zk , wenn es eine bijektive Abbildung σ : N → N gibt, so dass gilt ζn = zσ(n) für alle n ∈ N. 64 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Man nennt σ eine unendliche Permutation der Reihenglieder. Für endliche Summen ist die Reihenfolge der Summation bekanntlich irrelevant für das Ergebnis; jede Umordnung einer endlichen Summe liefert also den gleichen Wert. Bei unendlichen Reihen muss das nicht gelten: P Definition 8.3: Wir nennen eine komplexe konvergente Reihe ∞ k=1 zk unbedingt konvergent, wenn jede ihrer Umordnungen ebenfalls konvergiert und den gleichen P∞ Wert wie die ursprüngliche Reihe besitzt. Anderenfalls heißt k=1 zk bedingt konvergent. Satz 8.9: (Dirichletscher Umordnungssatz) Eine komplexe konvergente Reihe ist genau dann unbedingt konvergent, wenn sie absolut konvergent ist. Beweis: Wir zeigen nur, dass jede absolut konvergente Reihe auch unbedingt konvergent ist. P Die umgekehrte Aussage folgt ausP dem anschließenden Satz 8.10. ∞ z absolut konvergent, d.h. Sei also ∞ k=1 |zk | < +∞. Dann existiert nach k=1 k Satz 8.1 zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N , so dass N +p X k=N +1 |zk | < ε 2 für alle p ∈ N (8.6) P P richtig ist. Ist nun ∞ k zk , so existiert ein k=1 ζk eine beliebige Umordnung von K ∈ N mit K ≥ N , so dass gilt {z1 , . . . , zN } ⊂ {ζ1 , . . . , ζK }. (8.7) P P Es bezeichne nun sn := nk=1 zk bzw. tn := nk=1 ζk die n-ten Partialsummen der beiden Reihen. Aus (8.6) und (8.7) folgt dann |sn − tn | < ε ε + = ε für alle n > K ≥ N, 2 2 da sich die Terme z1 , . . . , zN aufheben und die übrigen Terme in den Summen sn bzw. tn jeweils durch (8.6) abgeschätzt werden können. Es folgt also limn→∞ |sn − P tn | = 0. Bezeichnet nun s den Wert von k zk , so folgt |tn − s| ≤ |tn − sn | + |sn − s| → 0 (n → ∞), d.h. auch P k ζk konvergiert gegen s, wie behauptet. q.e.d. Satz 8.10: (Riemannscher Umordnungssatz) P∞ Ist die reelle Reihe k=1 xk konvergent, aber nicht absolut konvergent, so gibt es zu P P∞ jedem t ∈ R eine Umordnung ∞ ξ der Reihe, so dass t = ξ gilt. k=1 k k=1 k 8. KONVERGENZKRITERIEN FÜR REIHEN (IN C) 65 Bemerkungen: P P 1. Ist P k zk eine komplexe, unbedingt konvergente Reihe, so sind auch k Re(zk ) und k Im(zk ) unbedingt konvergent. Nach P Satz 8.10 müssen die reellen Reihen absolut konvergent sein, also ist auch k zk absolut konvergent. Das vervollständigt den Beweis von Satz 8.9. P 2. Man kann sogar Umordnungen k ξk einer beliebigen reellen P konvergenten, aber nicht absolut konvergenten Reihe konstruieren, so dass k ξk = ±∞ gilt (Übungsaufgabe). Beweis von Satz 8.10: 1. Zu {xk }k setzen wir pk := max{0, xk }, qk := − min{0, xk }, k ∈ N. Dann gilt pk , qk ≥ 0, Da P k xk = pk − qk , |xk | = pk + qk für alle k ∈ N. xk konvergiert, muss |xk | → 0 (k → ∞) gelten und folglich auch lim pk = lim qk = 0. k→∞ Außerdem haben wir Wäre nämlich z.B. X pk = X k P (8.8) k→∞ qk = +∞. (8.9) k pk < +∞, so konvergiert auch X X X X xk . pk − (pk − xk ) = qk = k k P k k P k Dann wäre aber auch k ) konvergent, im Widerspruch k (pk + q k |xk | = P zur k xk . Entsprechend zeigt man P nicht absoluten Konvergenz der Reihe q = +∞. k k 2. Wir zerlegen nun die Folge {xk }k in die Teilfolgen der positiven Glieder {ak }k und nichtpositiven Glieder {bk }k . Nach (8.8) und (8.9) bilden beide Nullfolgen und es gilt X X ak = +∞, bk = −∞. k k Nun wählen wir n1 als kleinste natürliche Zahl, so dass zu unserem vorgegebenen t ∈ R gilt n1 X ak > t. k=1 66 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Dann wählen wir n2 als kleinste natürliche Zahl, so dass n1 X ak + k=1 n2 X bk < t k=1 richtig ist. Danach bestimmen wir ein kleinstes n3 > n1 wiederum so, dass gilt n1 X ak + k=1 n2 X bk + k=1 n3 X ak > t. k=n1 +1 Es ist klar, wie dieses Verfahren fortgesetzt und welche Umordnung der ursprünglichen Reihe dabei erstellt wird. Da n1 , n2 , n3 , . . . jeweils minimal gewählt waren, muss gelten nX 1 −1 ak ≤ t, k=1 n1 X ak + k=1 nX 2 −1 bk ≥ t, . . . k=1 (ersteres nur, falls t ≥ 0 ist). Somit haben die zugehörigen Teilsummen höchstens einen Abstand von an1 , bn2 , an3 , bn4 , . . . zu t. Da aber sowohl {ak }k als auch {bk }k Nullfolgen sind, konvergieren die Partialsummen der umgeordneten Reihe gegen t, wie behauptet. q.e.d. 9 Potenzreihen Wir wollen nun noch spezielle komplexe Reihen betrachten, nämlich Reihen der Form ∞ X ak z k P(z) = k=0 mit den Koeffizienten ak ∈ C (k ∈ N0 ) und der Variablen z ∈ C. Die Partialsummen P Pn (z) := nk=0 ak z k einer Potenzreihe sind für alle n ∈ N komplexe Polynome. Wir kennen bereits zwei Beispiele von Potenzreihen, welche wohl auch die beiden wichtigsten sind: • Geometrische Reihe: ∞ P k=0 • Exponentialreihe: ∞ P k=0 zk k! , z k , d.h. ak = 1 für alle k ∈ N0 . d.h. ak = 1 k! für alle k ∈ N0 . Während letztere für alle z ∈ C absolut konvergiert, konvergiert die geometrische Reihe absolut für |z| < 1 und divergiert für |z| > 1. I.A. hängt also das Konvergenzverhalten einer Potenzreihe von der Wahl der Variablen z ab. Genauer haben wir den folgenden 9. POTENZREIHEN 67 Satz 9.1: (Cauchy-Hadamard) p P∞ k k Für eine Potenzreihe P(z) = |ak | ∈ k=0 ak z setzen wir α := lim supk→∞ [0, +∞) ∪ {+∞}. Erklären wir dann +∞, falls α = 0 α−1 , falls α ∈ (0, +∞) , R := 0, falls α = +∞ (9.1) so konvergiert P(z) für |z| < R absolut und divergiert für |z| > R. Bemerkung: Die in (9.1) erklärte Größe R ∈ [0, +∞)∪{+∞} heißt Konvergenzradius der Reihe P(z). Die Kreisscheibe KR := {z ∈ C : |z| < R} nennen wir das Konvergenzgebiet. Beweis von Satz 9.1: Offenbar gilt |z| < R (bzw. |z| > R) genau dann, wenn |z|α < (bzw. |z|α > 1) also q lim sup k |ak z k | < 1 (bzw. > 1) k→∞ p k richtig ist. Wegen Satz 6.5 ist für lim sup |ak z k | < 1 der Fall (a) aus Satz 8.7 k→∞ p P k k k |a gültig, d.h. a z konvergiert absolut. Im Fall lim sup k z | > 1 divergiert k→∞ k k P P(z) = k ak z k nach Satz 8.7 (b). q.e.d. Als sehr praktisch erweist sich der folgende P k Satz 9.2: Ist P(z) = ∞ k=0 ak z im Punkt z0 ∈ C \ {0} konvergent, so konvergiert P(z) absolut für alle z ∈ C mit |z| < |z0 |. P Beweis: Da k ak z0k konvergiert, gilt limk→∞ |ak z0k | = 0. Insbesondere ist {|ak z0k |}k beschränkt, es gibt also ein c > 0 mit |ak z0k | ≤ c für alle k ∈ N0 . Sei nun z ∈ C mit |z| < |z0 | bzw. q := | zz0 | ∈ [0, 1) beliebig gewählt. Dann folgt ¯ z ¯k ¯ ¯ |ak z k | = |ak z0k | ¯ ¯ ≤ cq k für alle k ∈ N0 . z0 P P k c k Wegen q ∈ [0, 1) konvergiert die Reihe k cq = c k q = 1−q und nach dem Majorantenkriterium, Satz 8.5, konvergiert auch P(z) absolut für |z| < |z0 |, wie behauptet. q.e.d. Wir wollen nun einen Satz beweisen, der u.a. Aussagen über das Konvergenzverhalten auf dem Rand des Konvergenzgebietes macht und außerdem das Konvergenzkriterium von Leibniz als Spezialfall enthält. Wir beginnen mit dem 68 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN P Hilfssatz 9.1: Sei {zk }k∈N0 ⊂ C eine Folge, so dass ∞ ist, und sei k=0 zk beschränkt P {ak }k ⊂ R eine monoton fallende Nullfolge. Dann konvergiert die Reihe ∞ k=0 ak zk . Pn Beweis: Wir wollen Satz 8.1 anwenden, also den Ausdruck | k=m+1 ak zk | für hinreichend große P m, n ∈ N0 mit n > m klein bekommen. Dazu setzen wir für festes m ∈ N0 : sn := nk=m+1 zk für n > m. Mit vollständiger Induktion zeigt man dann leicht die Relation n X ak zk = sn an + k=m+1 n−1 X sk (ak − ak+1 ) für alle n > m. k=m+1 Da {ak }k eine monoton fallende Nullfolge ist, gilt ak ≥ ak+1 ≥ 0 für alle k ∈ N0 . Daher können wir abschätzen ¯ X ¯ n−1 X ¯ n ¯ ¯ ¯ a z ≤ |s |a + |sk |(ak − ak+1 ) n n k k ¯ ¯ k=m+1 k=m+1 ¸ · n−1 X © ª (ak − ak+1 ) ≤ max |sm+1 |, . . . , |sn | an + k=m+1 © ª = am+1 · max |sm+1 |, . . . , |sn | für n > m. Da nun {ak }k Nullfolge ist, existiert zu jedem ε > 0 ein N (ε) ∈ N, so dass 0 ≤ ak < ε für alle k ≥ N (ε) richtig ist. Ferner gibt es ein c > 0 mit |sn | ≤ c für alle n ∈ N, denn {sn }n ist beschränkt nach Voraussetzung. Insgesamt folgt ¯ X ¯ ¯ n ¯ ¯ ak zk ¯¯ < cε für alle n > m ≥ N (ε), ¯ k=m+1 also nach Satz 8.1 die Konvergenz der Reihe. q.e.d. Satz 9.3: IstP {ak }k∈N0 eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Potenzk reihe P(z) = ∞ k=0 ak z für alle z ∈ C \ {1} mit |z| ≤ 1. Beweis: Aus der Summenformel der geometrischen Reihe, Satz 2.3, erhalten wir für beliebige z ∈ C \ {1} mit |z| ≤ 1: ¯ ¯ n ¯ X k ¯ ¯¯ 1 − z n+1 ¯¯ 1 + |z|n+1 2 ¯ z ¯¯ = ¯ ≤ für alle n ∈ N. ¯≤ ¯ 1−z |1 − z| |1 − z| Somit ist P(z). P k=0 k z k für solche z beschränkt, Hilfssatz 9.1 liefert also die Konvergenz von q.e.d. Bemerkung: P∞ Setzen kwir in Satz 9.3 speziell z = −1 ein, so folgt die Konvergenz der Reihe k=0 ak (−1) . Dies ist gerade die Aussage des Leibnizschen Konvergenzkriteriums, Satz 8.4. 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 69 Satz 9.4: (Cauchyscher P∞ Produktsatz P∞für Potenzreihen) k Sind die Potenzreihen k=0 ak z P und k=0 bk z k für |z| < R absolut konvergent, so k gilt dies auch für die Potenzreihe ∞ k=0 ck z mit den Koeffizienten ck := k X al bk−l , k ∈ N0 , l=0 und wir haben die Identität µX ∞ k=0 ak z k ¶µ X ∞ ¶ bk z k k=0 = µX ∞ ¶ ck z . k k=0 Beweis: Dies ergibt sich nach einer Indexverschiebung k → k + 1 aus Satz 8.8, wenn man noch ¶ µX k k X l k−l (al z )(bk−l z ) = al bk−l z k = ck z k l=0 l=0 beachtet. q.e.d. Bemerkung: Alle Resultate lassen sich direkt auf komplexe Potenzreihen der Form Pz0 (z) := ∞ X ak (z − z0 )k k=0 übertragen. Das Konvergenzgebiet von Pz0 (z) ist dann eine Kreisscheibe KR (z0 ) = {z ∈ C : |z − z0 | < R} vom Radius R ∈ [0, +∞) ∪ {+∞} um den Entwicklungspunkt z0 ∈ C. Die bisher betrachteten Potenzreihen P(z) sind also Spezialfälle von Pz0 (z) mit z0 = 0. 10 Der d-dimensionale reelle Raum Rd Für den Umgang mit Funktionen in den folgenden Kapiteln benötigen wir noch einige topologische Begriffe. Da wir Funktionen sowohl in R als auch C (also für Punkte aus R2 ) betrachten wollen, führen wir an dieser Stelle allgemeiner den ddimensionalen (reellen) Raum Rd mit d ∈ N ein: (i) Wir betrachten die Menge aller d-Tupel x = (x1 , . . . , xd ) ∈ Rd := R × . . . × R, wobei zwei Punkte x = (x1 , . . . , xd ), y = (y1 , . . . , yd ) ∈ Rd gleich heißen, wenn ihre Koordinaten übereinstimmen, d.h. xk = yk für alle k = 1, . . . , d. Das Element 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd heißt Nullpunkt oder Ursprung des Rd . (ii) Sind x, y ∈ Rd beliebig, so erklären wir die Addition auf Rd gemäß x + y := (x1 + y1 , . . . , xd + yd ) ∈ Rd . 70 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Ist ferner λ ∈ R gewählt, so definieren wir die skalare Multiplikation durch λx := (λx1 , . . . , λxd ) ∈ Rd . Bemerkungen: 1. Den R2 veranschaulichen wir uns wie üblich in der Ebene, den Punkten x = (x1 , x2 ) ∈ R2 entsprechen die Vektoren ~x = (x1 , x2 ). Dann entspricht die Addition in R2 der Vektoraddition und die skalare Multiplikation der Skalierung eines Vektors. 2. Die Addition in Rd , d ∈ N, genügt den Axiomen (A1)-(A4) aus § 1 mit dem neutralen Element 0 = (0, . . . , 0) ∈ Rd und dem negativen Element −x := (−x1 , . . . , −xd ) ∈ Rd . Zusammen mit der skalaren Multiplikation spricht man dann von einer Vektorraumstruktur, d.h. Rd ist ein Vektorraum. 3. Während man R1 und R2 mit einer Körperstruktur ausstatten kann, nämlich mit der von R bzw. C, ist das für d ≥ 3 nicht mehr möglich. Trotzdem können wir (wie in R und C) einen Abstandsbegriff erklären m.H. der folgenden Definition 10.1: Seien x, y ∈ Rd , so erklären wir deren (euklidisches) Skalarprodukt oder auch inneres Produkt als hx, yi = x · y := d X xj yj . (10.1) j=1 Die (euklidische) Länge oder den Betrag von x ∈ Rd definieren wir als p |x| := hx, xi = µX d ¶1 x2j 2 . j=1 Schließlich heißt µX ¶1 d 2 2 |x − y| = (xj − yj ) j=1 der (euklidische) Abstand zweier Punkte x, y ∈ Rd . Bemerkungen: 1. (Rd , h·, ·i) heißt euklidischer Vektorraum; wir schreiben kurz Rd und stellen uns diesen mit dem euklidischen Abstandsbegrif ausgestattet vor. Es sei aber angemerkt, dass es viele weitere Abstandsbegriffe im Rd gibt. 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 71 2. Das in (10.1) erklärte Skalarprodukt hat die Eigenschaften hx, yi = hy, xi (Symmetrie) hλx + µy, zi = λhx, zi + µhy, zi hx, xi ≥ 0, (10.2) (Bilinearität) hx, xi = 0 ⇔ x = 0 (Positivität) (10.3) (10.4) für beliebige x, y, z ∈ Rd und λ, µ ∈ R (Übungsaufgabe). 3. Im R2 entspricht der Betrag gerade dem in C erklärten Betrag, in R1 dem in R erklärten Absolutbetrag. Der Abstand | · | hat sehr ähnliche Eigenschaften wie der Betrag in R oder C (das erklärt auch das verwendete Symbol): Satz 10.1: Für alle x, y ∈ Rd und λ ∈ R gilt (i) |x| ≥ 0 und |x| = 0 ⇔ x = 0. (ii) |λx| = |λ| |x|. (iii) |x + y| ≤ |x| + |y| ( Dreiecksungleichung). Bemerkung: Also unterscheidet sich nur (ii) von der entsprechenden Eigenschaft |xy| = |x| |y| des Betrages in R bzw. C. Dies ist im Rd i.A. falsch, es gilt aber der berühmte Satz 10.2: (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung) Sind x, y ∈ Rd beliebig, so gilt |hx, yi| ≤ |x| |y|. (10.5) Gleichheit tritt genau dann ein, wenn x = ty oder y = tx mit einem t ∈ R gilt, d.h. wenn x, y linear abhängig sind. Beweis: Falls y = 0 gilt, ist nichts zu zeigen. Sei also y 6= 0. Dann folgt (10.4) 0 ≤ |x + ty|2 (10.2),(10.3) = |x|2 + 2thx, yi + t2 |y|2 für alle t ∈ R. Das ist bekanntlich genau dann der Fall, wenn hx, yi2 ≤ |x|2 |y|2 gilt, und nach Wurzelziehen erhalten wir (10.5). Andererseits hat die Gleichung 0 = |x + ty|2 = |x|2 + 2thx, yi + t2 |y|2 bekanntlich genau dann eine Lösung t ∈ R, wenn hx, yi2 ≥ |x|2 |y|2 gilt. Wegen (10.5) ist also |x + ty| = 0 für ein t ∈ R genau dann erfüllt, wenn hx, yi2 = |x|2 |y|2 richtig ist, wie behauptet. q.e.d. 72 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Beweis von Satz 10.1: (i) entspricht (10.4), und (ii) folgt unmittelbar aus (10.2), (10.3). Zum Beweis von (iii) berechnen wir (10.5) |x + y|2 = |x|2 + 2hx, yi + |y|2 ≤ |x|2 + 2|x| |y| + |y|2 = (|x| + |y|)2 , also nach Wurzelziehen die behauptete Dreiecksungleichung. q.e.d. Bemerkung: Aus der Dreiecksungleichung folgt wie in Satz 1.5 (c) noch die umgekehrte Dreiecksungleichung ¯ ¯ |x − y| ≥ ¯|x| − |y|¯ für alle x, y ∈ Rd . Mit Hilfe des Betrages im Rd können wir nun auch die Begriffe für Folgen in R bzw. C auf den Rd übertragen: Definition 10.2: Eine Folge {xn }n∈N ⊂ Rd mit den Gliedern xn = (xn1 , . . . , xnd ) ∈ Rd für n ∈ N heißt • beschränkt, falls ein c > 0 existiert mit |xn | ≤ c für alle n ∈ N, • Cauchyfolge, wenn für alle ε > 0 ein N (ε) ∈ N existiert mit |xn − xm | < ε für alle m, n ≥ N (ε), • konvergent gegen den Grenzwert x ∈ Rd , wenn es für alle ε > 0 ein N (ε) ∈ N gibt mit |xn − x| < ε für alle n ≥ N (ε); Schreibweise limn→∞ xn = x oder xn → x (n → ∞), • Nullfolge, wenn {xn }n gegen 0 ∈ Rd konvergiert. Ferner heißt y ∈ Rd Häufungswert von {xn }n , wenn eine Teilfolge {xnk }k ⊂ {xn }n existiert mit limk→∞ xnk = y. Z.B. ist also {xn }n ⊂ Rd gegen x ∈ Rd konvergent, wenn in jeder ε-Umgebung Bε (x) := {y ∈ Rd : |y − x| < ε} fast alle Glieder der Folge liegen. Man beachte, dass Bε (x) in R = R1 ein offenes Intervall, in R2 eine Kreisscheibe um x vom Radius ε > 0 und in Rd für d ≥ 3 eine Kugel um x vom Radius ε > 0 ist. Bemerkung: Zur Übung beweise man folgende Rechenregeln für Grenzwerte im Rd : Sind {xn }n , {yn }n ⊂ Rd konvergente Folgen mit limn→∞ xn = x und limn→∞ yn = y, so folgt • Sind α, β ∈ R beliebig, so konvergiert auch {αxn + βyn }n mit αxn + βyn → αx + βy (n → ∞). 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 73 • Es gilt hxn , yn i → hx, yi und |xn | → |x| für n → ∞. • Ist {αn }n ⊂ R eine Folge mit αn → α (n → ∞), so gilt αn xn → αx (n → ∞). Satz 10.3: (Cauchysches Konvergenzkriterium in Rd ) Eine Folge {xn }n ⊂ Rd ist genau dann konvergent, wenn {xn }n Cauchyfolge ist. Der Beweis erfolgt genau wie der des Cauchyschen Konvergenzkriteriums in C, Satz 7.3, in dem man die Aussage auf die Komponentenfolgen {xnj }n , j = 1, . . . , d, zurückführt mittels des folgenden Hilfssatz 10.1: Eine Folge {xn }n ⊂ Rd ist genau dann beschränkt (bzw. konvergent, Cauchyfolge, Nullfolge), wenn alle Komponentenfolgen {xnj }n ⊂ R, j = 1, . . . , d, beschränkt (bzw. konvergent, Cauchyfolgen, Nullfolgen) sind. Für konvergente Folgen {xn }n gilt ¢ ¡ lim xn = lim xn1 , . . . , lim xnd . n→∞ n→∞ n→∞ Beweis: Als Übungsaufgabe zeigt man: Ist y = (y1 , . . . , yd ) ∈ Rd beliebig, so gelten die Ungleichungen |yj | ≤ |y| für j = 1, . . . , d, |y| ≤ d X |yk |. k=1 Hieraus ergeben sich sofort die Behauptungen. q.e.d. Satz 10.4: (Bolzano-Weierstraß in Rd ) Jede beschränkte Folge {xn }n ⊂ Rd besitzt eine konvergente Teilfolge. Beweis: Vollständige Induktion über die Raumdimension d ∈ N. • d = 1: Das ist die Aussage von Satz 5.5. • d → d + 1: Die Aussage sei für beschränkte Folgen {xn }n ⊂ Rd mit einem d ∈ N erfüllt. Sei nun {x̃n }n ⊂ Rd+1 beschränkt mit den Folgengliedern x̃n = (x̃n1 , . . . x̃nd , x̃n,d+1 ) = (xn , ξn ) mit xn := (x̃n1 , . . . , x̃nd ), ξn := x̃n,d+1 . Damit sind auch {xn }n ⊂ Rd und {ξn }n ⊂ R beschränkt. Nach Induktionsvoraussetzung existiert also eine konvergente Teilfolge {x0k }k = {xnk }k von {xn }n mit limk→∞ x0k = x ∈ Rd . Die entsprechende Teilfolge {ξk0 }k = {ξnk }k ⊂ R von {ξn }n muss zwar nicht konvergieren, ist aber sicher beschränkt. Also gibt es nach Satz 5.5 eine weitere Teilfolge {ξk0 l }l ⊂ {ξk0 }k mit liml→∞ ξk0 l = ξ ∈ R. 74 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN Die entsprechende Teilfolge {x0kl }l ⊂ {x0k }k konvergiert auch gegen x, so dass schließlich für {x̃0kl }l gilt lim x̃0kl = lim (x0kl , ξk0 l ) l→∞ l→∞ HS 10.1 = (x, ξ), wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Satz 10.4 für d = 2 liefert auch: Jede beschränkte Folge {xn }n ⊂ C besitzt eine konvergente Teilfolge. Denn die Beträge in R2 und C stimmen überein. Wir wollen nun Teilmengen M ⊂ Rd betrachten und beginnen mit der Definition 10.3: Eine Teilmenge M ⊂ Rd nennen wir • offen, wenn zu jedem x0 ∈ M ein r > 0 existiert, so dass gilt Br (x0 ) = {x ∈ Rd : |x − x0 | < r} ⊂ M. • abgeschlossen, wenn für jede konvergente Folge {xn }n ⊂ M gilt x0 := lim xn ∈ M. n→∞ Beispiele: 1. Intervalle in R: • Das offene Intervall (a, b) = {x ∈ R : a < x < b} ist im Sinne von Definition 10.3 offen. Ist nämlich x0 ∈ (a, b) gewählt, so setzen wir r := min{x0 −a, b−x0 } > 0. Für x ∈ Br (x0 ) folgt dann x = x0 + (x − x0 ) ≥ x0 − |x − x0 | > x0 − r ≥ x0 − (x0 − a) = a, also x > a und entsprechend x < b, also x ∈ (a, b) und somit Br (x0 ) ⊂ (a, b). • Das abgeschlossene Intervall [a, b] = {x ∈ R : a ≤ x ≤ b} ist abgeschlossen im Sinne von Definition 10.3. Ist nämlich {xn }n ⊂ [a, b] konvergent mit xn → x0 (n → ∞), so folgt a ≤ xn ≤ b und nach Grenzübergang n → ∞ auch a ≤ x0 ≤ b, also x0 ∈ [a, b]. • Das halboffene Intervall [a, b) ist weder offen noch abgeschlossen. Denn die konvergente Folge {b + n1 }n≥N ⊂ [a, b) mit hinreichend großem N ∈ N hat den Grenzwert limn→∞ (b + n1 ) = b 6∈ [a, b). Und für a ∈ [a, b) gilt offenbar Br (a) 6⊂ [a, b) für alle r > 0. 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 75 2. Kugeln in Rd : • BR (ξ) ⊂ Rd ist offen für beliebige R > 0, ξ ∈ Rd . Ist nämlich x0 ∈ BR (ξ) beliebig, so ist r := R − |x0 − ξ| > 0. Für x ∈ Br (x0 ) haben wir dann die Abschätzung |x − ξ| ≤ |x − x0 | + |x0 − ξ| < r + |x0 − ξ| = R, also x ∈ BR (ξ) und somit Br (x0 ) ⊂ BR (ξ). Man bezeichnet daher BR (ξ) auch als offene Kugel im Rd . • Im Gegensatz dazu ist B̂R (ξ) := {x ∈ Rd : |x − ξ| ≤ R} abgeschlossen und heißt abgeschlossene Kugel im Rd . Ist nämlich {xn }n ⊂ B̂R (ξ) mit xn → x0 (n → ∞) beliebig, so liefert Grenzübergang n → ∞ in der Ungleichung |xn − ξ| ≤ R für alle n ∈ N: ¯ ¯ R ≥ lim |xn − ξ| = ¯ lim (xn − ξ)¯ = |x0 − ξ|, n→∞ n→∞ also x0 ∈ BR (ξ). • Die Kugelschale S%,R (ξ) := BR (ξ) \ B% (ξ) = {x ∈ Rd : % ≤ |x − ξ| < R} mit 0 < % < R ist weder offen noch abgeschlossen. Für x0 ∈ S%,R (ξ) mit |x0 − ξ| = % gilt nämlich Br (x0 ) 6⊂ S%,R (ξ) für alle ξ−x0 für hinreichend kleines ε ∈ (0, r) zwar r > 0, da z.B. y := x0 + ε |ξ−x 0| in Br (x0 ) aber nicht in S%,R (ξ) liegt, d.h. S%,R (ξ) ist nicht offen. Und andererseits finden wir für konvergentes {xn }n ⊂ S%,R (ξ) mit |xn − ξ| = R − n1 , n ≥ N , die Relation limn→∞ xn =: x0 6∈ S%,R (ξ), d.h. S%,R (ξ) ist auch nicht abgeschlossen. 3. Q ist weder offen noch abgeschlossen. 4. Rd und ∅ sind die einzigen Teilmengen von Rd , die sowohl offen als auch abgeschlossen sind (Übungsaufgabe). Wir erinnern an den Begriff der Komplementärmenge oder des Komplements einer Menge M ⊂ Rd , nämlich M c := Rd \ M = {x ∈ Rd : x 6∈ M }. Satz 10.5: Eine Menge M ⊂ Rd ist genau dann offen, wenn ihr Komplement M c abgeschlossen ist. Weiter ist M genau dann abgeschlossen, wenn M c offen ist. Beweis: Es genügt, die erste Aussage zu beweisen. Die zweite folgt dann unmittelbar aus der Relation (M c )c = M . 76 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN • ⇒“: Sei M ⊂ Rd offen. Wäre dann M c nicht abgeschlossen, so gäbe es eine ” konvergente Folge {xn }n ⊂ M c mit xn → x0 6∈ M c (n → ∞). Das heißt aber x0 ∈ M , und da M offen ist, gäbe es eine Kugel Br (x0 ) ⊂ M mit geeignetem Radius r > 0. Da andererseits |xn − x0 | → 0 (n → ∞) gilt, müsste also xn ∈ Br (x0 ) ⊂ M für hinreichend großes n ∈ N erfüllt sein, im Widerspruch zu {xn }n ⊂ M c . Also ist M c abgeschlossen. • ⇐“: Sei nun M c abgeschlossen. Wäre M nicht offen, so gäbe es ein x0 ∈ M ” mit Br (x0 ) 6⊂ M für alle r > 0. Wählen wir insbesondere r = n1 , so gäbe es also xn ∈ B 1 (x0 ) mit xn ∈ M c für alle n ∈ N. Für die so gewählte Folge n {xn }n ⊂ M c gälte dann aber |xn − x0 | < n1 → 0 (n → ∞). Und da M c abgeschlossen ist, müsste x0 ∈ M c folgen, Widerspruch! Also ist M offen. q.e.d. Notation: Meist werden wir offene Mengen mit dem (ggf. indizierten) Symbol Ω ⊂ Rd und abgeschlossene Mengen mit A ⊂ Rd bezeichnen. Satz 10.6: (a) Sind Ω1 , . . . , Ωn ⊂ Rd offen, so gilt dies auch für (b) Sind A1 , . . . , An ⊂ Rd abgeschlossen, so ist auch n T j=1 n S j=1 Ωj . Aj abgeschlossen. (c) Sei J eine beliebige IndexmengeSund {Ωj }j∈J eine Familie offener Mengen. Dann ist auch die Vereinigung Ωj offen. j∈J (d) Ist {Aj }j∈J eine Familie abgeschlossener Mengen mit beliebiger Indexmenge T J, so ist auch der Durchschnitt Aj abgeschlossen. j∈J Beweis: Wegen Satz 10.5 und der allgemeinen Relationen µ[ ¶c µ\ ¶c \ [ Mj = Mjc , Mj = Mjc j∈J j∈J j∈J j∈J genügt es die (nahezu trivialen) Aussagen (a) und (c) zu beweisen (Übungsaufgabe). q.e.d. Definition 10.4: Sei M ⊂ Rd eine beliebige Menge. Dann heißt ein Punkt x0 ∈ Rd : • innerer Punkt von M , wenn ein r > 0 mit Br (x0 ) ⊂ M existiert. 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 77 • Randpunkt von M , wenn zu jedem r > 0 Punkte y ∈ M und z ∈ M c mit y, z ∈ Br (x0 ) existieren. • Häufungspunkt von M , wenn zu jedem r > 0 ein x ∈ M \ {x0 } existiert mit x ∈ Br (x0 ). • isolierter Punkt von M , wenn x0 ∈ M gilt und x0 kein Häufungspunkt von M ist. Die Menge der inneren Punkte von M ⊂ Rd heißt das Innere von M ; wir schreiben int M oder M̊ . Die Menge der Randpunkte heißt Rand von M und wird mit ∂M bezeichnet. Schließlich heißt M := M ∪ ∂M der Abschluss von M . Bemerkungen: Ein Punkt x0 ∈ Rd ist offenbar genau dann Häufungspunkt von M ⊂ Rd , wenn eine Folge {xn }n ⊂ M \ {x0 } existiert mit xn → x0 (n → ∞). Ferner ist x0 genau dann Randpunkt von M , wenn zwei Folgen {yn }n ⊂ M und {zn }n ⊂ M c existieren mit yn → x0 , zn → x0 (n → ∞). Satz 10.7: Für eine beliebige Menge M ⊂ Rd gelten die folgenden Aussagen: (i) ∂M = ∂(M c ). (ii) M ist genau dann offen, wenn M = int M gilt. (iii) M = int M ∪ ∂M , ∂M = M \ int M . (iv) Ist {xn }n ⊂ M konvergent, so gilt limn→∞ xn =: x0 ∈ M . (v) M ist abgeschlossen ⇔ ∂M ⊂ M ⇔ M = M . Beweis: (i) und (ii) sind aus den Definitionen sofort klar. Wir beweisen (iii)-(v): (iii) Wir zeigen M \int M ⊂ ∂M . In der Tat: Ist x0 ∈ M \int M , so gilt Br (x0 ) 6⊂ M für alle r > 0. D.h. für jedes r > 0 existieren y := x0 ∈ M , z ∈ M c mit y, z ∈ Br (x0 ), also folgt x0 ∈ ∂M . Aus der Definition von M folgt nun M = M ∪ ∂M = (M \ int M ) ∪ int M ∪ ∂M = int M ∪ ∂M und damit auch ∂M = M \ int M , wie behauptet. (iv) Sei {xn }n ⊂ M konvergent und x0 = limn→∞ xn . Falls x0 ∈ int M gilt, ist nichts zu zeigen wegen int M ⊂ M ⊂ M . Sei also x0 6∈ int M , d.h. es gilt Br (x0 ) 6⊂ M für alle r > 0. Also existiert zu jedem n ∈ N ein zn ∈ M c mit |zn − x0 | < n1 , d.h. zn → x0 (n → ∞). Nach obiger Bemerkung folgt x0 ∈ ∂M ⊂ M , also die Behauptung. 78 KAPITEL 1. ZAHLEN, FOLGEN, REIHEN (v) Zunächst ist ∂M ⊂ M ⇔ M = M wieder per Definition klar. Wir beweisen die erste Äquivalenz: ⇒“: Sei M abgeschlossen und x0 ∈ ∂M gewählt. Dann existiert eine Folge ” {xn }n ⊂ M mit xn → x0 (n → ∞). Und es folgt x0 ∈ M wegen der Abgeschlossenheit von M , also ∂M ⊂ M . ⇐“: Sei umgekehrt ∂M ⊂ M . Und sei eine konvergente Folge {xn }n ⊂ M ” gewählt. Nach (iv) gilt dann x0 := limn→∞ xn ∈ M = M ∪ ∂M = M , also ist M abgeschlossen. q.e.d. Beispiel: Für die offene Einheitskugel BR (ξ) im Rd gilt: int BR (ξ) = BR (ξ), BR (ξ) = {x ∈ Rd : |x − ξ| ≤ R} = B̂R (ξ), ∂BR (ξ) = {x ∈ Rd : |x − ξ| = R} =: SR (ξ). Mit S d−1 := {x ∈ Rd : |x| = 1} bezeichnen wir die Einheitssphäre im Rd . Definition 10.5: Eine Teilmenge M ⊂ Rd heißt • beschränkt, falls ein R > 0 existiert mit M ⊂ BR (0); anderenfalls nennen wir M unbeschränkt. • kompakt, falls M beschränkt und abgeschlossen ist. Bemerkung: Ist M nichtleer und beschränkt, so ist der Durchmesser diam M := sup{|x − y| : x, y ∈ M } wohl definiert, d.h. diam M ist endlich und eindeutig bestimmt. Satz 10.8: Eine Teilmenge K ⊂ Rd ist genau dann kompakt, wenn jede Folge {xn }n ⊂ K eine konvergente Teilfolge {xnl }l enthält mit lim xnl =: x0 ∈ K. l→∞ Bemerkung: Eine Menge K nennt man folgenkompakt, wenn jede Folge {xn }n ⊂ K eine Teilfolge {xnl }l enthält mit xnl → x0 ∈ K (l → ∞). Satz 10.8 besagt also, dass für Teilmengen des Rd Kompaktheit und Folgenkompaktheit äquivalent sind. Für Teilmengen aus unendlich dimensionalen“ Räumen gilt dies i.A. nicht mehr. In ” solchen Räumen wird der Begriff der Kompaktheit abweichend von Definition 10.5, nämlich durch die Heine-Borel Eigenschaft“, erklärt. Im Rd ist auch diese Eigen” schaft äquivalent zu unserer Definition; vgl. Analysis 2. 10. DER D-DIMENSIONALE REELLE RAUM RD 79 Beweis von Satz 10.8: ⇒“: Sei K beschränkt und abgeschlossen. Eine beliebige Folge {xn }n ⊂ K ist dann ” beschränkt und nach Satz 10.4 existiert eine konvergente Teilfolge {xnl }l ⊂ K. Da nun K abgeschlossen ist, gilt liml→∞ xnl =: x0 ∈ K. ⇐“: Nun sei K folgenkompakt. Dann ist K offenbar abgeschlossen (siehe Definiti” on 10.3). Wäre K nicht beschränkt, so gäbe es zu jedem n ∈ N ein xn ∈ M mit xn 6∈ Bn (0). Also gilt |xn | > n für alle n ∈ N, d.h. aus {xn }n können wir keine konvergente Teilfolge auswählen, Widerspruch! Also ist K kompakt. q.e.d. Wir beschließen das Kapitel mit dem Begriff der dichten Teilmenge des Rd : Definition 10.6: Eine Teilmenge S ⊂ M heißt dicht in M ⊂ Rd , wenn zu jedem x0 ∈ M eine Folge {xn }n ⊂ S existiert mit xn → x0 (n → ∞). Zum Beispiel liegt Qd dicht in Rd , denn zu beliebigem x0 = (x01 , . . . , x0d ) ∈ Rd können wir nach Satz 5.1 Folgen {xnj }n ⊂ Q, j = 1, . . . , d, finden mit xnj → x0j (n → ∞) und folglich Qd 3 xn := (xn1 , . . . , xnd ) → (x01 , . . . , x0d ) = x0 für n → ∞. Kapitel 2 Funktionen und Stetigkeit 1 Beispiele und Grenzwerte von Funktionen Definition 1.1: • Es sei D ⊂ Rn (n ∈ N) eine beliebige, nichtleere Menge. Jedem Punkt x ∈ D werde vermöge der Funktion f : D → Rd (d ∈ N) genau ein Wert y = f (x) ∈ Rd zugeordnet. Man schreibt auch x 7→ f (x) oder f = f (x) oder y = f (x) für die Funktion. In Koordinaten haben wir d Funktionen f1 (x1 , . . . , xn ), . . . , fd (x1 , . . . , xn ), x = (x1 , . . . , xn ) ∈ D, mit ¡ ¢ (y1 , . . . , yd ) = y = f (x) = f1 (x1 , . . . , xn ), . . . , fd (x1 , . . . , xn ) . • Die Menge D ⊂ Rn heißt Definitionsbereich der Funktion f : D → Rd , die Menge W := {f (x) : x ∈ D} =: f (D) ist der Wertebereich von f . Schließlich ist der Graph von f erklärt als © ª graph f := (x, f (x)) : x ∈ D ⊂ Rn × Rd = Rn+d . Bemerkungen: 1. Eine Funktion ist also eine Abbildung zwischen Teilmengen n- bzw. d-dimensionaler reeller Räume, nämlich f : D → W , D ⊂ Rn , W ⊂ Rd . Daher sprechen wir gleichwertig von Funktionen und Abbildungen. 2. Gilt speziell n = 2 oder/und d = 2, so können wir D bzw. W mit einer komplexen Struktur ausstatten, d.h. D ⊂ C bzw. W ⊂ C auffassen. So kann z.B. jede Funktion f : D → R2 als Funktion f : D → C interpretiert werden. In diesem Sinne sind Funktionen f : D → R also Spezialfälle von Funktionen f : D → C. 81 82 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Definition 1.2: Eine Funktion f : D → Rd heißt beschränkt, wenn ein c > 0 so existiert, dass gilt |f (x)| ≤ c für alle x ∈ D. Anderenfalls heißt die Funktion unbeschränkt. Bemerkung: Eine Funktion f : D → Rd ist also genau dann beschränkt, wenn ihr Wertebereich W = f (D) ⊂ Rd beschränkt ist. Beispiele: 1. Für den Fall d = 1 lässt sich der Graph von f : D → R, also die Punkte (x, f (x)) ∈ Rn+1 , x ∈ D, als Höhenfunktion über D ⊂ Rn veranschaulichen (→ Berglandschaft). Alternativ (für n ≥ 2) kann man sich die Funktion durch Niveaumengen veranschaulichen. Hierzu skizziert man Γf (c) := {x ∈ D : f (x) = c}, die Niveuamenge zum Niveau c ∈ R. Zum Beispiel skizziere man die Niveaumengen (hier Niveaulinien) für f = (x1 , x2 ) := x21 − x22 , x = (x1 , x2 ) ∈ R2 . Man beachte, dass f unbeschränkt ist, da Γ(c) 6= ∅ für alle c ∈ R gilt. Konvention: Für n = 2, d = 1 schreibt man häufig x1 =: x, x2 =: y und y =: z, also z = f (x, y). 2. Eine Funktion f : D → Rd , d ≥ 2, kann man als Vektorfeld interpretieren, indem man an jeden Punkt x ∈ D ⊂ Rn den Vektor f (x) ∈ Rd anheftet“. ” Diese Interpretation spielt vor allem in der Physik eine Rolle, etwa bei der Beschreibung von Kraftfeldern. 3. Alternativ lässt sich f : D → Rd , d ≥ 2, für D ⊂ Rn mit n = 1 als Kurve und für n = 2 als Fläche im Rd interpretieren. Ist allgemeiner 2 ≤ n < d, so spricht man von einer n-dimensionalen Fläche im Rd . Dabei heißt m := d − n ∈ N die Codimension der Fläche. Speziell lässt sich für g : D → R mit D ⊂ Rn , n ≥ 2, der Graph von g als n-dimensionale Fläche im Rn+1 interpretieren: f (x) := (x, g(x)) : D → Rn+1 . In diesem Fall ist also die Codimension m = (n + 1) − n = 1; man spricht dann von einer Hyperfläche. 4. Jedes komplexe Polynom f (z) = an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 (a0 , . . . , an ∈ C) 1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 83 ist eine Funktion f : C → C. Auch Potenzreihen P(z) = ∞ X ak z k (al ∈ C für alle l ∈ N0 ) k=0 sind komplexe Funktionen P : KR (0) → C, wobei R ∈ [0, +∞) ∪ { ∞} den Konvergenzradius der Reihe bezeichne. Alle nichtkonstanten Polynome sind unbeschränkt! 5. Funktionen müssen keine geschlossene Darstellung besitzen. Beispiele sind die Signumfunktion −1, x < 0 0, x=0 : R→R sgn(x) := +1, x > 0 oder die Dirichletsche Sprungfunktion ( 1, x ∈ Q f (x) := : R → R. 0, x ∈ R \ Q Beide Funktionen sind beschränkt. Definition 1.3: Sei D ⊂ Rn und x0 ein Häufungspunkt von D. Zu der Funktion f : D → Rd gäbe es ein a ∈ Rd , so dass für alle ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiere mit der Eigenschaft |f (x) − a| < ε für alle x ∈ D mit 0 < |x − x0 | < δ. Dann heißt a der Grenzwert oder Limes der Funktion f = f (x) im Punkt x0 und wir schreiben lim f (x) = a oder f (x) → a (x → x0 ). x→x0 Man sagt auch: f (x) konvergiert gegen a, wenn x gegen x0 strebt. Geometrisch: Es gilt limx→x0 f (x) = a genau dann, wenn für alle ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dass f (x) ∈ Bε (a) für alle x ∈ Bδ0 (x0 ) ∩ D richtig ist. Hier bezeichnet Bδ0 (x0 ) := Bδ (x0 ) \ {x0 } die punktierte Kugel. Satz 1.1: Für f : D → Rd , x0 Häufungspunkt von D ⊂ Rn , gilt f (x) → a (x → x0 ) genau dann, wenn für jede Folge {xp }p ⊂ D \ {x0 } mit xp → x0 (p → ∞) die Beziehung limp→∞ f (xp ) = a gilt. 84 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Beweis: • ⇒“: Sei also limx→x0 f (x) = a erfüllt und {xp }p ⊂ D \ {x0 } eine Folge mit ” xp → x0 (p → ∞). Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 wählen wir δ = δ(ε) > 0 wie in Definition 1.3 und N = N (ε) ∈ N so, dass gilt 0 < |xp − x0 | < δ(ε) für alle p ≥ N (ε). Dann folgt aus Definition 1.3 |f (xp ) − a| < ε für alle p ≥ N (ε), also limp→∞ f (xp ) = a. • ⇐“: Sei nun limp→∞ f (xp ) = a richtig für jede Folge {xp }p ⊂ D \ {x0 } ” mit limp→∞ xp = x0 . Angenommen es gilt nicht limx→x0 f (x) = a, d.h.: Es gibt ein ε > 0, so dass für alle δ > 0 ein x ∈ D existiert mit 0 < |x − x0 | < δ und |f (x) − a| ≥ ε. Wählen wir speziell δ = p1 , so finden wir also xp ∈ D mit 0 < |xp − x0 | < p1 und |f (xp ) − a| ≥ ε > 0 für alle p ∈ N. Da dann aber für die Folge {xp }p ⊂ D \ {x0 } gilt limp→∞ xp = x0 , müsste nach Voraussetzung |f (xp ) − a| → 0 (p → ∞) erfüllt sein, Widerspruch! Also gilt doch limx→x0 f (x) = a. q.e.d. Satz 1.2: (Rechenregeln für Funktionsgrenzwerte) Seien Funktionen f, g : D → Rd erklärt mit limx→x0 f (x) = a, limx→x0 g(x) = b, wobei x0 Häufungspunkt von D ⊂ Rn sei. Dann gelten die Rechenregeln: lim [λf (x) + µg(x)] = λa + µb x→x0 für alle λ, µ ∈ R, lim hf (x), g(x)i = ha, bi x→x0 und für d = 2, also f, g : D → C, auch lim [λf (x) + µg(x)] = λa + µb x→x0 für alle λ, µ ∈ C, lim f (x)g(x) = ab, x→x0 lim x→x0 a f (x) = , g(x) b falls g 6= 0 in D und b 6= 0 ist. Beweis: Mit Satz 1.1 ergeben sich die Aussagen sofort aus den entsprechenden Rechenregeln für Folgengrenzwerte. Zur Übung kann man die Aussagen auch direkt über die ε-δ-Definition“ 1.1 beweisen. ” Wir betrachten noch einige spezielle Grenzprozesse für Funktionen einer reellen Veränderlichen: 1. BEISPIELE UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 85 Definition 1.4: Es seien D ⊂ R und f : D → Rd gegeben. (i) Gilt (x0 , x0 + α) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd , so dass für alle ε > 0 ein δ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit |f (x) − a| < ε für alle 0 < x − x0 < δ, so heißt a der rechtsseitige Limes von f an der Stelle x0 ; wir schreiben dann f (x0 +) := lim f (x) = a x→x0 + oder f (x) → a (x → x0 +). (ii) Gilt (x0 − α, x0 ) ⊂ D und gibt es ein a ∈ Rd , so dass für alle ε > 0 ein δ = δ(ε) ∈ (0, α) existiert mit |f (x) − a| < ε für alle 0 < x0 − x < δ, so heißt a der linksseitige Limes von f an der Stelle x0 ; wir schreiben dann f (x0 −) := lim f (x) = a x→x0 − oder f (x) → a (x → x0 −). (iii) Gilt (β, +∞) ⊂ D, so sagen wir, f (x) konvergiert gegen b ∈ Rd für x → +∞, wenn f ( 1t ) → b (t → 0+) gilt; wir schreiben dann lim f (x) = b x→+∞ oder f (x) → b (x → +∞). (iv) Ist schließlich (−∞, β) ⊂ D, so sagen wir, f (x) konvergiert gegen b ∈ Rd für x → −∞, wenn f ( 1t ) → b (t → 0−) richtig ist; wir schreiben dann lim f (x) = b x→−∞ oder f (x) → b (x → −∞). Bemerkung: Ist f : D → Rd , D ⊂ R und (x0 − α, x0 + α) \ {x0 } ⊂ D, so besitzt f in x0 genau dann den Grenzwert limx→x0 f (x) =: a, wenn gilt lim f (x) = a = lim f (x). x→x0 − x→x0 + 86 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Beispiele: 1. Für die Signumfunktion sgn(x) : R → R gilt in x0 = 0: lim sgn(x) = −1, lim sgn(x) = +1. x→x0 + x→0− Also besitzt sgn(x) in x0 = 0 keinen Grenzwert. 2. Für die Funktion f (x) := x1 : (0, +∞) → R gilt limx→+∞ f (x) = 0, denn wir haben f ( 1t ) = t → 0 (t → 0+). Definition 1.5: Wir sagen, eine Funktion f : D → R konvergiert gegen +∞ (bzw. −∞) für x → x0 (x0 Häufungspunkt von D ⊂ Rn ), wenn zu jedem c > 0 ein δ > 0 existiert mit f (x) > c für alle x ∈ Bδ0 (x0 ) ∩ D. (bzw. f (x) < −c) Wir schreiben lim f (x) = ±∞ x→x0 oder f (x) → ±∞ (x → x0 ). Bemerkungen: 1. Man erweitert entsprechend für Funktionen f : D → R, D ⊂ R, die einseitigen Grenzwerte aus Definition 1.4 auf Werte ±∞. 2. M.H. von Satz 4.3 aus Kap. 1 und Satz 1.1 sieht man leicht: Sei f : D → R, D ⊂ Rn , x0 Häufungspunkt von D, mit f (x) > 0 nahe“ x0 . Dann gilt ” 1 = 0. lim f (x) = +∞ ⇔ lim x→x0 x→x0 f (x) Entsprechendes gilt im Falle n = 1 für die einseitigen Grenzwerte. Beispiele: √ 1. limx→0+ x = 0. Ist nämlich ε > 0 beliebig, so wählen wir δ = δ(ε) := ε2 > 0 √ und erhalten 0 < x < ε für 0 < x < δ(ε). Nach der letzten Bemerkung folgt √ noch limx→+∞ x = +∞, denn 1 lim √ x→+∞ x 2. Wir wissen bereits Satz 1.2: 1 x Def. 1.4 (iii) = lim t→0+ √ t = 0. → 0 (x → +∞). Somit liefern die Rechenregeln aus 7− 7x − 2 = lim x→+∞ 3 + x→+∞ 3x + 1 lim 2 x 1 x 7 = . 3 2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 87 √ √ 3. Für beliebiges a ∈ R gilt limx→+∞ ( x + a − x) = 0, denn für positives x > −a folgt aus Beispiel 1 √ √ √ √ √ √ |( x + a − x)( x + a + x)| √ 0 ≤ | x + a − x| = √ x+a+ x |a| |a| = √ √ < √ → 0 (x → +∞). x x+a+ x 4. limx→+∞ x3 +1 x2 +1 = +∞. Denn wir haben 1+ x2 + 1 1 = lim · lim 3 x→+∞ x + 1 x→+∞ x x→+∞ 1 + lim 1 x2 1 x3 = 0 · 1 = 0, also die Behauptung aus obiger Bemerkung. 2 Der Stetigkeitsbegriff Definition 2.1: Seien D ⊂ Rn , x0 ∈ D und eine Funktion f : D → Rd gegeben. Dann heißt f in x0 stetig, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dass gilt |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x ∈ D mit |x − x0 | < δ. Anderenfalls heißt f in x0 unstetig. Bemerkungen: 1. Ist x0 ∈ D isolierter Punkt von D, so ist offenbar jede Funktion f : D → Rd in x0 stetig. 2. Die Stetigkeit ist eine lokale Eigenschaft“, d.h.: Ist f in x0 stetig und ändern ” wir f in D \ Br (x0 ) für ein r > 0 beliebig ab, so bleibt die resultierende Funktion in x0 stetig. Satz 2.1: (Charakterisierung der Stetigkeit) Sei f : D → Rd auf D ⊂ Rn erklärt und sei x0 ∈ D Häufungspunkt. Dann sind folgende Aussagen äquivalent: (i) f ist stetig in x0 . (ii) Es gilt lim f (x) = f (x0 ). x→x0 (iii) Für jede Folge {xp }p ⊂ D \{x0 } mit xp → x0 (p → ∞) gilt lim f (xp ) = f (x0 ). p→∞ Beweis: Sofort aus den Definitionen 1.3 und 2.1 sowie Satz 1.1. q.e.d. 88 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Satz 2.2: (Rechenregeln) (a) Sind f, g : D → Rd stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch für das Skalarprodukt hf, gi und jede Linearkombination λf + µg mit λ, µ ∈ R. (b) Sind f, g : D → C stetig in x0 ∈ D, so gilt dies auch für jede Linearkombination λf + µg mit λ, µ ∈ C, das Produkt f g und, falls g 6= 0 in D, auch für den Quotienten fg . Beweis: Sofort aus Satz 1.2 und Satz 2.1. q.e.d. Beispiele: P 1. Polynomfunktionen p(z) = nk=0 ak z k mit Koeffizienten a0 , . . . , an ∈ C sind in jedem Punkt z0 ∈ C stetig nach Satz 2.2, da dies für die konstante f1 (z) := c ∈ C und die lineare Funktion f2 (z) := z erfüllt ist. 2. Die Dirichletsche Sprungfunktion ( f (x) := 1, x ∈ Q 0, x ∈ R \ Q ist in keinem Punkt aus R stetig. Die Funktion ( x, x ∈ Q f (x) := 0, x ∈ R \ Q ist in x = 0 und nur dort stetig (→ Übungsaufgaben). 3. Die Signumfunktion −1, x < 0 0, x=0 sgn(x) := 1, x>0 ist für alle x ∈ R \ {0} stetig und in x = 0 unstetig. Satz 2.3: (Komposition stetiger Funktionen) Seien Funktionen f : D → Rd und g : E → Rm gegeben mit D ⊂ Rn , E ⊂ Rd und f (D) ⊂ E. Weiter seien f in x0 ∈ D und g in y0 = f (x0 ) ∈ E stetig. Dann ist auch die Komposition h := g ◦ f : D → Rm in x0 stetig. Beweis: Da für isolierte Punkte x0 ∈ D nichts zu zeigen ist, können wir annehmen, dass x0 Häufungspunkt von D ist. Sei nun {xp }p ⊂ D \ {x0 } mit xp → x0 (p → ∞) eine beliebige Folge. Nach Satz 2.1 gilt dann lim f (xp ) = f (x0 ) = y0 . p→∞ 2. DER STETIGKEITSBEGRIFF 89 Somit folgt wiederum nach Satz 2.1 lim h(xp ) = lim g(f (xp )) = g(y0 ) = h(x0 ), p→∞ p→∞ also die behauptete Stetigkeit von h = g ◦ f . q.e.d. Definition 2.2: Eine Funktion f : D → Rd , D ⊂ Rn , nennen wir stetig (auf D), wenn f in allen Punkten x ∈ D stetig ist. Mit C 0 (D, Rd ) bezeichnen wir die Klasse aller auf D stetigen Funktionen. Für d = 1 schreiben wir auch kurz C 0 (D) := C 0 (D, R) und für d = 2 auch C 0 (D, C) := C 0 (D, R2 ). Bemerkung: Gemäß Satz 2.2 wird C 0 (D, Rd ) durch die Verknüpfungen (f + g)(x) := f (x) + g(x), (λf )(x) := λf (x) für x ∈ D zu einem (unendlich dimensionalen) Vektorraum. Wir wollen nun die Umkehrfunktion zu einer injektiven Funktion f : D → Rd mit D ⊂ Rn betrachten, d.h. die Funktion f −1 : W → Rn mit W := f (D), die durch die Forderung f (x) = y ⇔ f −1 (y) = x für x ∈ D, y ∈ W eindeutig bestimmt ist. Satz 2.4: (Stetigkeit der Umkehrfunktion) Sei K ⊂ Rn kompakt und f : K → Rd sei stetig und injektiv mit Wertebereich W := f (K). Dann ist auch die Umkehrfunktion f −1 : W → Rn von f stetig auf W . Beweis: Sei y0 ∈ W beliebig gewählt und sei {yp }p ⊂ W mit yp → y0 (p → ∞). Zu zeigen ist dann xp := f −1 (yp ) → f −1 (y0 ) =: x0 (p → ∞). Die Folge {xp }p ⊂ K ist beschränkt, da K beschränkt ist. Sei nun ξ ∈ Rn ein beliebiger Häufungspunkt von {xp }p und {xpk }k eine Teilfolge mit xpk → ξ (k → ∞). Da K abgeschlossen ist, gilt ξ ∈ K. Die Stetigkeit von f liefert also f (xpk ) → f (ξ) (k → ∞). Andererseits wissen wir f (xpk ) = f (f −1 (ypk )) = ypk → y0 (p → ∞), also f (ξ) = y0 = f (x0 ), so dass die Injektivität von f liefert ξ = x0 für alle Häufungspunkte von {xp }p . Das bedeutet lim xp = x0 , wie behauptet. p→∞ q.e.d. Wir wollen uns nun der Frage nach der Existenz der Umkehrfunktion für reellwertige Funktionen einer reellen Veränderlichen widmen. Wir beginnen mit einem Satz, der von unabhängigem Interesse ist: 90 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Satz 2.5: (Zwischenwertsatz von Bolzano-Weierstraß) Sei f : [a, b] → R stetig mit f (a) 6= f (b). Dann existiert zu jedem Wert c zwischen f (a) und f (b) mindestens ein ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = c. Beweis: Wir können f (a) < c < f (b) annehmen; anderenfalls gehen wir zu −f und −c über. Wir betrachten nun die Menge M := {x ∈ [a, b] : f (x) < c}, die offenbar nichtleer und beschränkt ist. Setzen wir ξ := sup M , so gibt es eine Folge {xp }p ⊂ M mit xp → ξ (p → ∞); vgl. Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1. Die Stetigkeit von f liefert also f (ξ) = limp→∞ f (xp ) ≤ c, und nach Voraussetzung folgt ξ < b. Wäre nun f (ξ) < c, so gäbe es wegen der Stetigkeit von f ein δ ∈ (0, b − ξ), so dass gilt f (x) < c für alle x ∈ [ξ, ξ + δ), im Widerspruch zur Wahl von ξ = sup M . Also folgt f (ξ) = c. q.e.d. Folgerung 2.1: Sei I ⊂ R ein beliebiges, nicht notwendig beschränktes Intervall und f : I → R eine stetige Funktion. Dann ist auch f (I) ⊂ R ein Intervall. Beweis: Wir setzen I ∗ = f (I) und ξ := inf I ∗ ∈ R ∪ {−∞}, η := sup I ∗ ∈ R ∪ {+∞}. Wir zeigen nun (ξ, η) ⊂ I ∗ : Ist nämlich y ∈ (ξ, η) beliebig, so gibt es gemäß Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1 Zahlen a, b ∈ I mit ξ ≤ f (a) < y < f (b) ≤ η. Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein x ∈ [a, b] ⊂ I mit f (x) = y, d.h. y ∈ I ∗ . Wir erhalten, dass I ∗ eines der folgenden Intervalle sein muss: (ξ, η), [ξ, η), (ξ, η] oder [ξ, η]. Sonst gäbe es nämlich ein z ∈ I ∗ mit z < ξ oder z > η, im Widerspruch zur Definition von ξ und η. q.e.d. Definition 2.3: Eine Funktion f : D → R, D ⊂ R, heißt monoton wachsend (bzw. fallend), wenn f (x) ≤ f (y) (bzw. f (x) ≥ f (y)) für alle x, y ∈ D mit x < y erfüllt ist. f heißt streng monoton wachsend (bzw. fallend), wenn gilt f (x) < f (y) (bzw. f (x) > f (y)) für alle x, y ∈ D mit x < y. 3. KOMPAKTA UND GLEICHMÄSSIGE STETIGKEIT 91 Satz 2.6: Sei I ⊂ R ein Intervall. Dann besitzt jede stetige, streng monotone Funktion f : I → R eine stetige, streng monotone Umkehrfunktion f −1 : I ∗ → R mit dem Intervall I ∗ := f (I). Beweis: Zunächst ist eine streng monotone Funktion offensichtlich injektiv. Also existiert die Umkehrfunktion f −1 : I ∗ → R, und nach Folgerung 2.1 ist I ∗ ein Intervall. O.B.d.A. sei nun f streng monoton wachsend, sonst gehen wir zu −f über. Dann ist auch f −1 streng monoton wachsend. Zu zeigen bleibt also die Stetigkeit von f −1 : • Sei dazu zunächst y0 ∈ int I ∗ . Dann ist auch x0 := f −1 (y0 ) ∈ int I aufgrund der Monotonie. Also existiert ein ε > 0 mit [x0 − ε, x0 + ε] ⊂ I, und nach Satz 2.4 ist f −1 stetig auf f ([x0 − ε, x0 + ε]), also insbesondere in f (x0 ) = y0 . • Sei nun y0 6∈ int I ∗ . Dann ist y0 ein Endpunkt von I ∗ , sagen wir der linke Endpunkt. Somit muss, wieder wegen der Monotonie, auch x0 := f −1 (y0 ) linker Endpunkt von I sein. Es gibt dann ein ε > 0, so dass gilt [x0 , x0 + ε] ⊂ I und nach Satz 2.4 ist f −1 stetig auf f ([x0 , x0 + ε]) und insbesondere in f (x0 ) = y0 . q.e.d. 3 Stetige Funktionen auf Kompakta, gleichmäßige Stetigkeit Wir haben in Paragraph 2 gesehen, dass stetige, injektive Funktionen auf kompakten Mengen eine stetige Umkehrfunktion besitzen. In diesem Paragrphen wollen wir weitere Eigenschaften kennenlernen, die Kompakta als Definitionsgebiete auszeichnen. Wir beginnen mit dem Satz 3.1: Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C 0 (K, Rd ), dann ist auch f (K) ⊂ Rd kompakt. Beweis: Sei {yp }p ⊂ f (K) eine beliebige Folge. Zu jedem yp gibt es (mindestens) ein xp ∈ K mit f (xp ) = yp . Da K kompakt ist, können wir nach Kap. 1, Satz 10.8 aus {xp }p ⊂ K eine konvergente Teilfolge {xpl }l auswählen mit liml→∞ xpl =: x0 ∈ K. Die Stetigkeit von f ergibt nun ypl = f (xpl ) → f (x0 ) =: y0 ∈ f (K) für l → ∞. Wiederum Satz 10.8 aus Kap. 1 liefert die behauptete Kompaktheit von f (K). q.e.d. Eines der wichtigsten Hilfsmittel der Analysis enthält der folgende 92 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Satz 3.2: (Weierstraßscher Hauptlehrsatz) Sei K ⊂ Rn kompakt und nichtleer und sei f ∈ C 0 (K, R). Dann gibt es Punkte x, x ∈ K, so dass gilt f (x) ≤ f (x) ≤ f (x) für alle x ∈ K. (3.1) Bemerkung: Relation (3.1) können wir auch schreiben als f (x) = inf f (K) =: inf f (x) = inf f, x∈K K f (x) = sup f (K) =: sup f (x) = sup f. x∈K K Das heißt: Eine stetige, auf einem Kompaktum erklärte Funktion nimmt dort ihr Infimum (=Minimum) bzw. Supremum (=Maximum) an. Die Aussage wird offenbar falsch, wenn man eine der Voraussetzungen fallen lässt. Beweis von Satz 3.2: Nach Satz 3.1 ist f (K) ⊂ R beschränkt und abgeschlossen. Inbesondere existieren also m := inf f ∈ R, K m := sup f ∈ R. K Nach Hilfssatz 6.1 aus Kap. 1 gibt es nun zwei Folgen {xp }p , {xp }p ⊂ K mit f (xp ) → m, f (xp ) → m (p → ∞). (3.2) Da K kompakt ist, können wir andererseits konvergente Teilfolgen {xpl }l , {xpl }l auswählen mit x := liml→∞ xpl ∈ K und x := liml→∞ xpl ∈ K. Die Stetigkeit von f liefert dann f (xpl ) → f (x), f (xpl ) → f (x) (l → ∞). (3.3) Ein Vergleich von (3.2) und (3.3) ergibt also f (x) = m ≤ f (x) ≤ m = f (x) für alle x ∈ K, wie behauptet. q.e.d. Für die Formulierung des dritten grundlegenden Resultats benötigen wir noch die folgende Verschärfung des Stetigkeitsbegriffs: Definition 3.1: Sei D ⊂ Rn und f : D → Rd gegeben. Dann heißt f gleichmäßig stetig auf D, wenn zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 existiert, so dass gilt |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x, x0 ∈ D mit |x − x0 | < δ. (3.4) 4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMÄSSIGE KONVERGENZ 93 Bemerkung: Für eine stetige Funktion f ∈ C 0 (D, Rd ) gilt (3.4) ebenfalls, jedoch mit einem i.A. von x, x0 ∈ D abhängigen δ = δ(ε, x, x0 ). Jede gleichmäßig stetige Funktion ist also stetig. Die Umkehrung gilt jedoch nicht, wie etwa das Beispiel f (x) := x1 , x ∈ (0, 1], zeigt: Angenommen es gäbe z.B. für ε = 1 ein δ > 0, so dass |f (x) − f (x0 )| < 1 für alle x, x0 ∈ (0, 1] mit |x − x0 | < δ richtig ist. Speziell für 0 < x < min{δ, 12 } und x0 = 2x folgte dann aber |x−x0 | = x < δ und |f (x)−f (x0 )| = 1 1 | = 2x > 1, Widerspruch! | x1 − 2x Satz 3.3: (Heine) Ist K ⊂ Rn kompakt und f ∈ C 0 (K, Rd ), so ist f gleichmäßig stetig. Beweis: Angenommen, f ist nicht gleichmäßig stetig. Dann gibt es also ein ε > 0, so dass für alle δ > 0 Punkte x, x0 ∈ K mit |x − x0 | < δ existieren, für die gilt |f (x) − f (x0 )| ≥ ε. Wählen wir insbesondere δ = p1 , p ∈ N, so finden wir also Folgen {xp }p , {x0p }p ⊂ K mit 1 |xp − x0p | < für alle p ∈ N (3.5) p und |f (xp ) − f (x0p )| ≥ ε für alle p ∈ N. (3.6) Da nun K kompakt ist, existiert nach Satz 10.8 aus Kap. 1 eine konvergente Teilfolge {xpl }l ⊂ {xp }p mit liml→∞ xpl = x0 ∈ K. Für die entsprechende Teilfolge {x0pl }l liefert (3.5) ebenfalls liml→∞ x0pl = x0 . Und aus der Stetigkeit von f und (3.6) folgern wir ¯ ¯ ¯ ¯ 0 = |f (x0 ) − f (x0 )| = ¯ lim f (xpl ) − lim f (x0pl )¯ = lim |f (xpl ) − f (x0pl )| ≥ ε > 0, l→∞ l→∞ l→∞ also einen Widerspruch! q.e.d. Bemerkung: Im obigen Beispiel f (x) = nicht kompakt. 4 1 x, x ∈ (0, 1], ist zwar f stetig aber (0, 1] Funktionenfolgen und gleichmäßige Konvergenz Wir betrachten nun Folgen {fn }n von Funktionen fn : D → Rd , die alle auf ein und derselben nichtleeren Menge D ⊂ Rm erklärt seien. Definition 4.1: Eine Funktionenfolge {fn }n mit fn : D → Rd , n ∈ N, heißt punktweise konvergent auf D ⊂ Rm , wenn die Punktfolge {fn (x)}n ⊂ Rd für jedes x ∈ D konvergent ist. Die Grenzwerte f (x) := lim fn (x), n→∞ x ∈ D, definieren dann eine Funktion f : D → Rd , den sogenannten punktweisen Limes der Funktionenfolge {fn }n . Schreibweise: fn → f (n → ∞) auf D. 94 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Beispiele: 1. D = [0, 1] ⊂ R, fn (x) := xn . {fn }n konvergiert bekanntlich punktweise gegen die Funktion ( 0, x ∈ [0, 1) f (x) := . 1, x = 1 1 2. D = [0, +∞), gn (x) := x n . Dann konvergiert {gn }n punktweise gegen ( 1, x ∈ (0, +∞) g(x) := . 0, x = 0 Die Beispiele zeigen, dass der punktweise Limes einer Folge stetiger Funktionen nicht wieder stetig sein muss. Um beim Grenzübergang in der Klasse der stetigen Funktionen zu bleiben, benötigen wir einen stärkeren Konvergenzbegriff, der auf Weierstraß zurückgeht: Definition 4.2: Eine Folge {fn }n von Funktionen fn : D → Rd mit D ⊂ Rm heißt gleichmäßig konvergent gegen f : D → Rd , in Zeichen fn → → f (n → ∞) auf D, wenn zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |fn (x) − f (x)| < ε für alle x ∈ D und n ≥ N (ε). (4.1) Bemerkung: Formel (4.1) gilt natürlich auch für den punktweisen Limes einer Funktionenfolge, allerdings mit einem i.A. von x ∈ D abhängigen N = N (ε, x) ∈ N. Satz 4.1: (Weierstraßscher Konvergenzsatz) Die Folge {fn }n stetiger Funktionen fn : D → Rd konvergiere auf D ⊂ Rm gleichmäßig gegen f : D → Rd . Dann ist f stetig auf D. Beweis: Nach Definition 4.2 gibt es zu beliebig gewähltem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N mit ε |fN (x) − f (x)| < für alle x ∈ D. (4.2) 3 Sei nun x0 ∈ D gewählt. Da fN stetig ist, finden wir ein δ = δ(ε) > 0, so dass gilt |fN (x) − fN (x0 )| < ε 3 für alle x ∈ D mit |x − x0 | < δ. Mit der Dreiecksungleichung erhalten wir nun aus (4.2) und (4.3) |f (x) − f (x0 )| ≤ |f (x) − fN (x)| + |fN (x) − fN (x0 )| + |fN (x0 ) − f (x0 )| ε ε ε + + = ε für alle x ∈ D mit |x − x0 | < δ, < 3 3 3 (4.3) 4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMÄSSIGE KONVERGENZ wie behauptet. 95 q.e.d. Der nächste Satz besagt insbesondere, dass der Raum der stetigen Funktionen“ ” im unten zu präzisierenden Sinne vollständig ist: Satz 4.2: (Cauchys Konvergenzkriterium bei gleichmäßiger Konvergenz) Sei {fn }n eine Folge von Funktionen fn : D → Rd , D ⊂ Rm . Dann konvergiert {fn }n genau dann gleichmäßig (gegen ein f : D → Rd ), wenn zu jedem ε > 0 ein N = N (ε) ∈ N existiert mit |fn (x) − fk (x)| < ε für alle x ∈ D und n, k ≥ N (ε). (4.4) Beweis: • ⇒“: Sei fn → → f (n → ∞) auf D erfüllt. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 ” ein N (ε) ∈ N mit |fn (x) − f (x)| < 2ε für alle x ∈ D und n ≥ N (ε). Mit der Dreiecksungleichung folgt dann (4.4). • ⇐“: Sei umgekehrt (4.4) erfüllt. Wegen der Vollständigkeit des Rd existiert ” dann der punktweise Limes f (x) = limk→∞ fk (x), x ∈ D. Wenden wir (4.4) auf 2ε statt ε an und gehen zur Grenze k → ∞ über, so folgt |fn (x) − f (x)| = lim |fn (x) − fk (x)| ≤ k→∞ ε < ε für alle x ∈ D, n ≥ N (ε), 2 also fn → → f (n → ∞) auf D. Q.e.d. Definition 4.3: Auf dem (Vektor)-Raum der stetigen, beschränkten Funktionen Cb0 (D, Rd ) := {f ∈ C 0 (D, Rd ) : f ist beschränkt} für nichtleeres D ⊂ Rm erklären wir die Supremumsnorm kf kD := sup |f (x)| < +∞. x∈D Bemerkungen: 1. Falls D = K ⊂ Rm kompakt ist, ist nach Satz 3.2 jede Funktion f ∈ C 0 (K, Rd ) beschränkt. 2. Allgemein heißt eine Abbildung k · k : V → [0, +∞) eine Norm auf dem (i.A. unendlich dimensionalen) Vektorraum V, wenn folgende Normeigenschaften erfüllt sind: (a) kf k ≥ 0 für alle f ∈ V und kf k = 0 ⇔ f = 0. (b) kλf k = |λ| kf k für alle f ∈ V und alle λ ∈ R. 96 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT (c) kf + gk ≤ kf k + kgk für alle f, g ∈ V. Zum Beispiel ist also | · | : Rd → [0, +∞) eine Norm auf dem d-dimensionalen Vektorraum Rd . Als Übungsaufgabe prüft man nach, dass die Supremumsnorm tatsächlich eine Norm mit den Eigenschaften (a)-(c) auf V = Cb0 (D, Rd ) ist. 3. Für eine Funktionenfolge {fn }n ⊂ Cb0 (D, Rd ) gilt fn → → f (n → ∞) auf D ⇔ kfn − f kD → 0 (n → ∞). Das ist sofort klar, wenn man noch f ∈ Cb0 (D, Rd ) für die Grenzfunktion beachtet. 4. Satz 4.2 besagt noch: Eine Folge {fn }n ⊂ Cb0 (D, Rd ) konvergiert genau dann gleichmäßig auf D, wenn zu jedem ε > 0 ein N (ε) ∈ N existiert mit kfn − fk kD < ε für alle n, k ≥ N (ε). (4.5) Eine Funktionenfolge {fn }n mit der Eigenschaft (4.5) nennen wir Cauchyfolge in Cb0 (D, Rd ). Wir haben also die Folgerung 4.1: Der Vektorraum Cb0 (D, Rd ) der stetigen, beschränkten Funktionen auf D ⊂ Rm ist vollständig bez. der Supremumsnorm, d.h. zu jeder Cauchyfolge {fn }n ⊂ Cb0 (D, Rd ) existiert ein f ∈ Cb0 (D, Rd ) mit kfn − f kD → 0 (n → ∞). Bemerkung: Damit ist Cb0 (D, Rd ) mit der Norm k · kD ein Beispiel eines Banachraums oder vollständigen normierten Raums. Banachräume werden vor allem in der Funktionalanalsis genauer untersucht. Wir wollen nun, analog zu komplexen Reihen, Funktionenreihen untersuchen: Definition 4.4: Ist {fk }k eine Folge fk : D → C, D ⊂ Rm , so heißt P P∞ von Funktionen die zugehörige Funktionenreihe k=1 fk = k fk gleichmäßig konvergent, wenn die Folge der Partialsummen sn (x) := n X fk (x), x ∈ D, k=1 gleichmäßig konvergiert. Bemerkungen: 1. P Gilt {fk }k ⊂ C 0 (D, C), so ist auch {sn }n ⊂ C 0 (D, C). Konvergiert also ∞ k=1 fk gleichmäßig, so ist die Grenzfunktion (=Wert der Funktionenreihe) eine stetige Funktion nach Satz 4.1. 4. FUNKTIONENFOLGEN UND GLEICHMÄSSIGE KONVERGENZ 97 2. Wir beschränken uns hier auf komplexwertige Funktionenreihen, da wir bisher nur komplexe Reihen betrachtet haben. Man kann die Aussagen leicht auf Rd -wertige Funktionenreihen übertragen, indem man die entsprechenden Ergebnisse aus Kap. 1, § 8 auf Reihen in Rd erweitert. Satz 4.3: (Majorantenkriterium für Funktionenreihen) Sei D ⊂ Rm und {fk }k eine Folge von Funktionen fk : D → C. Ferner sei {ck }k ⊂ R eine Punktfolge mit der Eigenschaft |fk (x)| ≤ ck für alle x ∈ D. (4.6) P∞ Falls dann k=1 ck konvergiert, so k=1 fk gleichmäßig auf D. Die P P konvergiert Reihe k ck heißt Majorante von k fk . P∞ Beweis: Sei ε > 0 gewählt. Satz 8.1 aus Kap. 1 und (4.6) liefern zunächst n X |fk (x)| ≤ k=m+1 n X ck < ε für alle x ∈ D und n > m ≥ N (ε) k=m+1 mit geeignetem N (ε) ∈ N. Aus der Dreiecksungleichung folgt dann ¯ n ¯ n X ¯ X ¯ ¯ |sn (x) − sm (x)| = ¯ fk (x)¯¯ ≤ |fk (x)| < ε k=m+1 k=m+1 für alle x ∈ D und n > m ≥ N (ε). Satz 4.2 liefert also die Behauptung. q.e.d. Als Folgerung halten wir das folgende wichtige Resultat fest: P k Satz 4.4: Es seien {ak }k ⊂ C, R ∈ (0, +∞) ∪ {+∞} und P(z) := ∞ k=0 ak z eine in KR (0) = {z ∈ C : |z| < R} konvergente Potenzreihe. Dann ist P : KR (0) → C stetig. Beweis: Sei z0 ∈ KR (0) beliebig, so folgt z0 ∈ KR0 (0) mit R0 := |z0 | < R. Nun ist für D := KR0 (0) die Folge {ak z k }k ⊂ C 0 (D, C) durch {|akP |R0k }k ⊂ R majorisiert im Sinne von (4.6), und nach Satz 9.2 aus Kap. 1 konvergiert k |ak |R0k . Satz 4.3 liefert also die gleichmäßige Konvergenz der Potenzreihe P auf D. Und nach Satz 4.1 ist P stetig auf D = KR0 (0), also insbesondere auch im Punkt z0 . Da z0 ∈ KR (0) beliebig war, folgt P ∈ C 0 (KR (0), C), wie behauptet. q.e.d. Folgerung 4.2: Die komplexe Exponentialfunktion z exp z = e := ∞ X zk k=0 ist auf ganz C stetig. k! 98 KAPITEL 2. FUNKTIONEN UND STETIGKEIT Wir werden exp z genauer im nächsten Kapitel untersuchen und hieraus auch die weiteren elementaren Funktionen wie Sinus, Cosinus, Hyperbelfunktionen, Logarithmus und allgemeine Potenz ableiten. Kapitel 3 Differential- und Integralrechnung in einer reellen Veränderlichen 1 Differenzierbarkeit Wir untersuchen Funktionen einer reellen Veränderlichen f : I → Rd für d ∈ N. Hier und im Folgenden sei I ⊂ R ein (nicht notwendig beschränktes) Intervall. Wir beginnen mit einem der wichtigsten Begriffe der Analysis überhaupt: Definition 1.1: Eine Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar an der Stelle t0 ∈ I, falls der Grenzwert f (t0 + h) − f (t0 ) f (t) − f (t0 ) = lim t→t h→0 h t − t0 0 f 0 (t0 ) := lim (1.1) existiert. f 0 (t0 ) heißt (erste) Ableitung oder Differentialquotient von f an der Stelle t0 . Alternativ schreiben wir auch df (t0 ), dt Df (t0 ) oder f˙(t0 ) für die Ableitung. Falls t0 ein Randpunkt von I ist, so ist der Grenzwert h → 0 in (1.1) als einseitiger Grenzwert h → 0+ bzw. h → 0− aufzufassen. Die Funktion f : I → Rd heißt differenzierbar (auf I), wenn f in jedem Punkt t0 ∈ I differenzierbar ist. 99 100 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Bemerkungen: 1. Geometrische Interpretationen: (a) Der Differenzenquotient ∆h f (t0 ) := f (t0 + h) − f (t0 ) h einer Funktionf : I → R ist die Steigung der Sekante an graph f durch (t0 , f (t0 )) und (t0 + h, f (t0 + h)). Bei Grenzübergang h → 0 geht die Sekante in die Tangente © ª T := (t, y) ∈ R2 : y = f 0 (t0 )(t − t0 ) + f (t0 ) an graph f im Punkt (t0 , f (t0 )) über; f 0 (t0 ) ist die Steigung der Tangente. (b) Für eine Kurve f : I → Rd im Rd sind ∆h f (t0 ) Sekantenvektoren in Rd und f 0 (t0 ) wird als Tangentenvektor an die Kurve im Punkt f (t0 ) interpretiert (und abgetragen). 2. Zum Beispiel sind die Funktionen f (t) := t, g(t) := c mit einer Konstanten c ∈ R für alle t ∈ R differenzierbar und es gilt f 0 (t) = 1, g 0 (t) = 0 für alle t ∈ R. 3. Falls f : I → Rd differenzierbar ist, so kann man die Zuordnung t 7→ f 0 (t) wieder als Funktion f 0 : I → Rd interpretieren. Ist f 0 differenzierbar in t0 ∈ I, so können wir f 00 (t0 ) := (f 0 )0 (t0 ) bilden, die zweite Ableitung von f an der Stelle t0 , mit den alternativen Schreibweisen f 00 (t0 ) = d2 f (t0 ) = D2 f (t0 ) = f¨(t0 ). dt2 Ist f 0 auf ganz I differenzierbar, so fassen wir f 00 : I → Rd wiederum als Funktion auf. Falls allgemein die (n − 1)-te Ableitung f (n−1) : I → Rd für ein n ∈ N definiert und in t0 ∈ I differenzierbar ist, wobei f (0) := f gesetzt wird, so erklären wir die n-te Ableitung von f in t0 als f (n) (t0 ) := (f (n−1) )0 (t0 ). Wir schreiben dann auch dn f f (n) (t0 ) = n (t0 ) = Dn f (t0 ). dt Wenn die n-te Ableitung f (n) auf ganz I existiert, so heißt f n-mal differenzierbar. 1. DIFFERENZIERBARKEIT 101 Satz 1.1: Ist f : I → Rd gegeben, so sind die folgenden Aussagen äquivalent: (i) f ist in t0 ∈ I differenzierbar. (ii) Es existiert ein a ∈ Rd und eine in t0 stetige Funktion ϕ : I → Rd mit ϕ(t0 ) = 0, so dass gilt f (t) = f (t0 ) + (t − t0 )a + (t − t0 )ϕ(t) für alle t ∈ I. (1.2) Beweis: • ⇒“: Sei f in t0 differenzierbar. Wir setzen dann a := f 0 (t0 ) und ” f (t) − f (t0 ) − a, falls t ∈ I \ {t } 0 t − t0 ϕ(t) := . 0, für t = t0 Offenbar ist dann ϕ in t0 stetig mit ϕ(t0 ) = 0, und Umstellen liefert die gesuchte Darstellung (1.2). • ⇐“: Haben wir umgekehrt (1.2), so liefert Umstellen ” f (t) − f (t0 ) = a + ϕ(t) → a (t → t0 ), t − t0 also die Differenzierbarkeit von f in t0 . q.e.d. Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass a eindeutig bestimmt ist und dass gilt a = f 0 (t0 ). Die Darstellung (1.2) liefert also eine lineare Approximation von f durch L(t) := f (t0 ) + (t − t0 )f 0 (t0 ), t ∈ R. Setzen wir noch ψ(t) := a + ϕ(t) füt t ∈ I, so haben wir die zu (1.2) äquivalente Darstellung f (t) = f (t0 ) + (t − t0 )ψ(t), t ∈ I, (1.3) wobei nun ψ : I → Rd in t0 stetig ist und ψ(t0 ) = f 0 (t0 ) erfüllt. Folgerung 1.1: Eine in t0 ∈ I differenzierbare Funktion f : I → Rd ist in t0 stetig. Beweis: Sofort aus Darstellung (1.2). q.e.d. Bemerkungen: 1. Die Umkehrung von Folgerung 1.1 gilt nicht, wie etwa das Beispiel f (t) := |t| im Punkt t0 = 0 zeigt. Es gibt sogar stetige, nirgends differenzierbare Funktionen; siehe S. Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), S. 192. 102 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG 2. Eine Funktion f = (f1 , . . . , fd ) : I → Rd ist genau dann in t0 ∈ I differenzierbar, wenn alle Komponentenfunktionen f1 , . . . , fd in t0 differenzierbar sind; dann gilt ¡ ¢ f 0 (t0 ) = f10 (t0 ), . . . , fd0 (t0 ) . 3. Wie die Stetigkeit ist auch die Differenzierbarkeit (in einem Punkt) eine lokale Eigenschaft. Für komplexwertige Funktionen gelten folgende Rechenregeln: Satz 1.2: Sind f, g : I → C in t0 ∈ I differenzierbar, so gilt dies auch für f + g, f · g und, falls g 6= 0 auf I, auch für fg , und wir haben: (λf + µg)0 (t0 ) = λf 0 (t0 ) + µg 0 (t0 ) für λ, µ ∈ C, (f g)0 (t0 ) = f 0 (t0 )g(t0 ) + f (t0 )g 0 (t0 ) (Produktregel), ³ f ´0 f 0 (t0 )g(t0 ) − f (t0 )g 0 (t0 ) (t0 ) = (Quotientenregel). g g(t0 )2 (1.4) (1.5) (1.6) Beweis: Nach Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung haben wir die Darstellungen f (t) = f (t0 ) + (t − t0 )ψ(t), g(t) = g(t0 ) + (t − t0 )χ(t), mit in t0 stetigen Funktionen ψ, χ : I → C, die ψ(t0 ) = f 0 (t0 ), χ(t0 ) = g 0 (t0 ) erfüllen. Damit folgen λf (t) + µg(t) = [λf (t0 ) + µg(t0 )] + (t − t0 )[λψ(t) + µχ(t)], £ ¤ f (t) · g(t) = [f (t0 )g(t0 )] + (t − t0 ) ψ(t)g(t0 ) + f (t0 )χ(t) + (t − t0 )ψ(t)χ(t) , f (t) g(t) = f (t0 ) ψ(t)g(t0 ) − f (t0 )χ(t) + (t − t0 ) . g(t0 ) g(t)g(t0 ) Wiederum Satz 1.1 liefert die Behauptung. q.e.d. Bemerkung: Eine (1.4) entsprechende Regel gilt natürlich auch für Funktionen f, g : I → Rd , dann mit λ, µ ∈ R. Formel (1.5) ist für solche Funktionen durch die Relation hf, gi0 (t0 ) = hf 0 (t0 ), g(t0 )i + hf (t0 ), g 0 (t0 )i zu ersetzen (Übungsaufgabe). (1.7) 1. DIFFERENZIERBARKEIT 103 Beispiele: 1. d n dx (x ) = nxn−1 für n ∈ N0 und beliebiges x ∈ R. Denn für n = 0, 1 ist die Aussage klar und durch Induktionsschluss n → n + 1 haben wir: Mit xn ist nach Satz 1.2 auch xn+1 = xn · x differenzierbar und es gilt d n+1 (x ) dx = (IV ) = 2. d −n ) dx (x d n (x · x) dx (1.5) (xn )0 x + xn x0 = nxn−1 x + xn · 1 = (n + 1)xn . = −nx−n−1 für n ∈ N und x ∈ R \ {0}. Denn nach Beispiel 1 und Satz 1.2 ist x−n = x1n in R \ {0} differenzierbar, und es gilt d −n (1.6) (1)0 · xn − 1 · (xn )0 (x ) = = −nx−n−1 . dx x2n Insgesamt haben wir also d ν (x ) = νxν−1 dx für alle ν ∈ Z und x ∈ R \ {0}. Definition 1.2: Für beliebige k ∈ N0 erklären wir den Vektorraum C k (I, Rd ) aller k-mal stetig differenzierbaren Funktionen f : I → Rd , die auf I Ableitungen bis zur k-ten Ordnung besitzen und für die f (k) : I → Rd stetig ist. Weiter erklären wir \ C ∞ (I, Rd ) := C k (I, Rd ), k∈N0 den Vektorraum der unendlich oft stetig differenzierbaren Funktionen. Schließlich schreiben wir auch C k (I) bzw. C k (I, C) für die reell- bzw. komplexwertigen k-mal stetig differenzierbaren Funktionen (k ∈ N0 ∪ {∞}) auf I. Bemerkung: Dass C k (I, Rd ) ein Vektorraum ist für alle k ∈ N0 ∪ {∞}, folgt aus Satz 1.2. Nach Folgerung 1.1 sind alle Ableitungen f (= f (0) ), f 0 (= f (1) ), . . . , f (k) einer Funktion f ∈ C k (I, Rd ) stetig auf I. Insbesondere folgt C k (I, Rd ) ⊂ C l (I, Rd ) für l ≤ k. Wir untersuchen nun die Komposition zweier differenzierbarer Funktionen: Satz 1.3: (Kettenregel) Seien I, J ⊂ R Intervalle und f : I → R, g : J → Rd zwei Funktionen mit f (I) ⊂ J. Falls f in x0 ∈ I und g in y0 := f (x0 ) ∈ J differenzierbar sind, so ist auch die Komposition h := g ◦ f : I → Rd in x0 differenzierbar, und es gilt h0 (x0 ) = g 0 (f (x0 ))f 0 (x0 ). (1.8) 104 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis: Aus Satz 1.1 und der anschließenden Bemerkung entnehmen wir f (x) = f (x0 ) + (x − x0 )ψ(x), g(y) = g(y0 ) + (y − y0 )χ(y) mit in x0 bzw. y0 = f (x0 ) stetigen Funktionen ψ : I → R, χ : J → Rd , für die ψ(x0 ) = f 0 (x0 ) bzw. χ(y0 ) = g 0 (y0 ) gilt. Es folgt also ¡ ¢ g(f (x)) = g(f (x0 )) + f (x) − f (x0 ) χ(f (x)) £ ¤ = g(f (x0 )) + (x − x0 )) χ(f (x))ψ(x) . Und da die Funktion χ(f (x))ψ(x) nach Satz 2.3 aus Kap. 2 wieder stetig ist in x0 , ist h = g ◦ f nach Satz 1.1 differenzierbar und es gilt ¯ h0 (x0 ) = χ(f (x))ψ(x)¯x=x0 = g 0 (f (x0 ))f 0 (x0 ), wie behauptet. q.e.d. Wir wenden uns nun wieder der Untersuchung der Umkehrfunktion einer injektiven Funktion f : I → R zu: Satz 1.4: (Ableitung der Umkehrfunktion) Sei f : I → R eine stetige Funktion, die das Intervall I ⊂ R bijektiv auf I ∗ := f (I) abbilde. Ist dann f in x0 ∈ I differenzierbar und gilt f 0 (x0 ) 6= 0, so ist auch die Umkehrfunktion g := f −1 : I ∗ → R in y0 := f (x0 ) differenzierbar und es gilt g 0 (y0 ) = 1 . f 0 (x0 ) (1.9) Beweis: Da f streng monoton ist, ist I ∗ nach Satz 2.6 aus Kap. 2 wieder ein Intervall und g = f −1 stetig auf I ∗ . Ist also {yn }n ⊂ I ∗ \{y0 } eine beliebige (nun existierende) Folge mit limn→∞ yn = y0 , so gilt lim g(yn ) = g(y0 ) = x0 . n→∞ Setzen wir noch xn := g(yn ) ∈ I \ {x0 } für n ∈ N, so haben wir h f (x ) − f (x ) i−1 g(yn ) − g(y0 ) xn − x0 n 0 = = , yn − y0 f (xn ) − f (x0 ) xn − x0 n ∈ N. (1.10) Da f in x0 differenzierbar ist mit f 0 (x0 ) 6= 0, können wir in (1.10) zur Grenze n → ∞ übergehen und erhalten g(yn ) − g(y0 ) 1 = 0 . n→∞ yn − y0 f (x0 ) lim 1. DIFFERENZIERBARKEIT 105 Nach Satz 1.1 aus Kap. 2 existiert also der Grenzwert limy→y0 es gilt (1.9). g(y)−g(y0 ) y−y0 = g 0 (y0 ) und q.e.d. Beispiel: Die Funktion f (x) := xn , n ∈ N, bildet [0, +∞) bijektiv auf [0, +∞) ab √ mit der Umkehrfunktion g(y) = f −1 (y) = n y. Für x > 0 gilt f 0 (x) = nxn−1 > 0, so dass Satz 1.4 liefert ¡ √ ¢0 1 1 1 n = y n −1 . y = √ n−1 n n( y) n Für die Potenzfunktion f (x) := xq , x > 0, mit einem q = rs ∈ Q (r ∈ Z, s ∈ N) folgt somit £ √ ¤h 1 1 −1 i d √ f 0 (x) = ( s x)r = r( s x)r−1 xs = qxq−1 . dx s Wir beschließen den Paragraphen mit der Untersuchung einer Funktionenfolge fn : I → Rd , n ∈ N. In § 5 (dort noch einmal als Satz 5.7 angegeben) werden wir folgende Aussage beweisen: Satz 1.5: Sei I = [a, b] und {fn }n eine Folge von Funktionen fn ∈ C 1 (I, Rd ) für alle n ∈ N. Falls dann gilt fn → f (n → ∞), fn0 → → g (n → ∞) auf I, so folgt für den punktweisen Limes f ∈ C 1 (I, Rd ), und es gilt f 0 = g auf I. Falls also {fn }n punktweise und die Ableitungen {fn0 }n gleichmäßig konvergieren (auf einem kompakten Intervall), dann können wir Limesbildung und Differentiation vertauschen (Vertauschung zweier Grenzprozesse! ): ´ ´ ³d d³ fn (x) = lim fn (x) auf I. n→∞ dx dx n→∞ lim Wir wenden Satz 1.5 nun auf Potenzreihen an: P k Satz 1.6: Es sei f (x) := ∞ k=0 ak x , ak ∈ C, eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R ∈ (0, +∞) ∪ {+∞}. Dann gehört f : (−R, R) → C zur Klasse C 1 ((−R, R), C) und es gilt ∞ X f 0 (x) = kak xk−1 , x ∈ (−R, R). k=1 Bemerkung: Die formal durch gliedweises Differenzieren der Reihe erhaltene Potenzreihe hat also den gleichen Konvergenzradius und stimmt mit der tatsächlichen Ableitung der Reihe überein. 106 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis von Satz 1.6: Wir zeigen, dass die formal differenzierte Reihe, also g(x) := P∞ k−1 , für jedes R ∈ (0, R) gleichmäßig auf [−R , R ] konvergiert: In der 0 0 0 k=1 kak x P k−1 die Reihe g(x) in [−R , R ] und nach dem WurTat majorisiert ja ∞ ka R 0 0 k 0 k=1 zelkriterium konvergiert letztere: q k ³ √ ´ R k p 0 k k k−1 lim sup k|ak |R0 = R0 · lim sup √ |a | = < 1. k k R R0 k→∞ k→∞ Satz 4.3 aus Kap. 2 liefert also die P gleichmäßige Konvergenz gn → → g (n → ∞) auf [−R0 , R0 ], wobei wir noch gn (x) := nk=1 kak xk−1 für die n-te Partialsumme gesetzt haben. Da natürlich fn → f (n → ∞) auf [−R0 , R0 ] richtig ist (sogar gleichmäßig nach Satz 4.3 aus Kap. 2) und da fn0 = gn für alle n ∈ N gilt, liefert Satz 1.5 nun f ∈ C 1 ([−R0 , R0 ], C) sowie 0 f (x) = g(x) = ∞ X kak xk−1 auf [−R0 , R0 ]. k=1 Da schließlich R0 ∈ (0, R) beliebig war, folgt die Behauptung. q.e.d. P k Folgerung 1.2: Die Reihe f (x) = ∞ k=0 ak x (ak ∈ C für k ∈ N0 ) konvergiere auf (−R, R) für ein R ∈ (0, +∞) ∪ {+∞}. Dann folgt f ∈ C ∞ ((−R, R), C) und für die n-te Ableitung gilt f (n) (x) = ∞ X k(k − 1)(k − 2) . . . (k − n + 1)ak xk−n auf (−R, R). (1.11) k=n Beweis: Nach Satz 1.6 ist f ∈ C 1 ((−R, R), C) und f 0 ist wieder eine Potenzreihe. Wenden wir Satz 1.6 sukzessive auf f 0 , f 00 , f 000 , . . . an, so folgt f ∈ C ∞ ((−R, R), C). Formel (1.11) beweist man schließlich mit vollständiger Induktion. q.e.d. 2 Lokale Extrema, Mittelwertsatz, Konvexität Ein wichtiges Teilgebiet der Analysis ist die Behandlung von Extremwertaufgaben. Hierfür grundlegend ist die Definition 2.1: Es sei f : I → R auf dem Intervall I ⊂ R erklärt. Wir sagen, f hat in x0 ∈ I ein lokales Minimum (bzw. lokales Maximum), wenn ein r > 0 so existiert, dass gilt f (x) ≥ f (x0 ) (bzw. f (x) ≤ f (x0 )) für alle x ∈ I ∩ (x0 − r, x0 + r). (2.1) Gilt in (2.1) die strikte Ungleichung, so hat f in x0 ein striktes lokales Minimum (bzw. Maximum). Falls schließlich (2.1) für alle x ∈ I gilt, sprechen wir von einem globalen Minimum (bzw. globalen Maximum). 2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITÄT 107 Bemerkung: Zusammenfassend heißen lokale Minima und Maxima auch lokale Extrema und x0 wird lokale Minimal-, Maximal- oder Extremalstelle genannt (entsprechend im globalen Fall). Als Synonym für lokal“ wird auch relativ verwendet, statt ” global“ sagen wir auch absolut. ” Satz 2.1: (Fermat) Besitzt f : I → R in einem inneren Punkt x0 ∈ int I des Intervalls I ⊂ R ein lokales Extremum und ist f in x0 differenzierbar, so folgt f 0 (x0 ) = 0. Beweis: O.B.d.A. sei f in x0 minimal (sonst gehen wir zu −f über). Da x0 innerer Punkt ist, gibt es ein ε > 0, so dass (x0 − ε, x0 + ε) ⊂ I gilt. Somit folgt 0 ≥ lim x→x0 − also f 0 (x0 ) = 0. f (x) − f (x0 ) f (x) − f (x0 ) = f 0 (x0 ) = lim ≥ 0, x→x0 + x − x0 x − x0 q.e.d. Bemerkungen: 1. Betrachte f (x) := x, I = [0, 1]. Dann ist x0 = 0 (sogar globales) Minimum, aber es gilt f 0 (0) = 1. Also darf x0 in Satz 2.1 kein Randpunkt sein. 2. Die Bedingung f 0 (x0 ) = 0 ist nicht hinreichend für ein Extremum, wie etwa das Beispiel f (x) := x3 , x ∈ (−1, 1), mit f 0 (0) = 0 zeigt. Definition 2.2: Ist f : I → R im inneren Punkt x0 ∈ int I differenzierbar und gilt f 0 (x0 ) = 0, so heißt x0 stationärer oder kritischer Punkt von f . Bemerkung: Satz 2.1 besagt also: Jede innere lokale Extremalstelle von f ist stationär. Geometrisch bedeutet dies, dass die Tangente T = {(x, y) : y = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 )} an graph f im Punkt (x0 , f (x0 )) parallel zur x-Achse verläuft. Satz 2.2: (Satz von Rolle) Sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Gilt zusätzlich f (a) = f (b), so existiert ein ξ ∈ (a, b) mit der Eigenschaft f 0 (ξ) = 0. Beweis: Falls f ≡ const gilt, folgt f 0 ≡ 0 auf [a, b]. Sei also f 6≡ const auf [a, b]. Dann existiert ein x0 ∈ (a, b) mit f (x0 ) 6= f (a), also o.B.d.A. f (x0 ) > f (a). Damit folgt sup[a,b] f > f (a) = f (b). Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz, Satz 3.2 aus Kap. 2, nimmt also f ihr (globales) Maximum in einem inneren Punkt ξ ∈ (a, b) an und nach Satz 2.1 gilt f 0 (ξ) = 0. q.e.d. Wir können nun den Satz von Rolle zum Beweis eines der meistgebrauchten Sätze der Differential- und Intergalrechnung nutzen, nämlich von 108 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Satz 2.3: (Mittelwertsatz) Es sei f : [a, b] → R stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b). Dann gibt es ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt f (b) − f (a) = f 0 (ξ)(b − a). (2.2) Bemerkung: Geometrisch heißt das, dass ein ξ ∈ (a, b) so existiert, dass die Tangente an (ξ, f (ξ)) parallel zur Sekante durch (a, f (a)) und (b, f (b)) verläuft. Satz 2.3 ergibt sich sofort als Spezialfall aus dem folgenden Satz 2.4: (Allgemeiner Mittelwertsatz) Gegeben seien zwei stetige Funktionen f, g : [a, b] → R, die differenzierbar auf (a, b) seien. Weiter gelte g 0 6= 0 auf (a, b). Dann existiert ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt f (b) − f (a) f 0 (ξ) = 0 . g(b) − g(a) g (ξ) Beweis: Nach dem Rolleschen Satz gilt g(a) 6= g(b). Wir betrachten die Hilfsfunktion ϕ(x) := f (x) − f (b) − f (a) [g(x) − g(a)], g(b) − g(a) x ∈ [a, b]. Offenbar ist ϕ stetig in [a, b], differenzierbar in (a, b) und es gilt ϕ(a) = ϕ(b) = 0. Wieder nach dem Rolleschen Satz existiert also ein ξ ∈ (a, b) mit 0 = ϕ0 (ξ) = f 0 (ξ) − f (b) − f (a) 0 g (ξ), g(b) − g(a) also nach Umstellen die Behauptung. q.e.d. Folgerung 2.1: (Monotonieverhalten) Ist f ∈ C 0 ([a, b]) differenzierbar in (a, b), so haben wir: (i) Gilt f 0 (x) > 0 (bzw. f 0 (x) ≥ 0, f 0 (x) < 0, f 0 (x) ≤ 0) auf (a, b), so ist f streng monoton wachsend (bzw. monoton wachsend, streng monoton fallend, monoton fallend) auf [a, b]. (ii) Ist umgekehrt f monoton wachsend (bzw. monoton fallend) auf [a, b], so gilt f 0 (x) ≥ 0 (bzw. f 0 (x) ≤ 0) auf (a, b). (iii) Es gilt f 0 (x) ≡ 0 in (a, b) genau dann, wenn f (x) ≡ const auf [a, b] richtig ist. Bemerkung: Strenge Monotonie impliziert nicht f 0 (x) > 0 bzw. f 0 (x) < 0 auf (a, b). Beispiel: f (x) = x3 , x ∈ (−1, 1). 2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITÄT 109 Beweis von Folgerung 2.1: (i) Wir betrachten nur den Fall f 0 (x) > 0 auf (a, b). Seien x1 , x2 ∈ [a, b] mit x1 < x2 gewählt. Nach Satz 2.3 existiert dann ein ξ ∈ (x1 , x2 ) mit f (x2 ) − f (x1 ) = f 0 (ξ)(x2 − x1 ) > 0, also f (x1 ) < f (x2 ), wie behauptet. (ii) Sei f monoton wachsend (bzw. fallend). Dann gilt für beliebiges x0 ∈ (a, b) und hinreichend kleines h 6= 0: f (x0 + h) − f (x0 ) ≥0 h (bzw. ≤ 0). Grenzübergang h → 0 liefert die Behauptung. (iii) Ist f konstant, so verschwindet die Ableitung bekanntlich identisch. Sei umgekehrt f 0 (x) ≡ 0 auf (a, b) und x ∈ (a, b] beliebig gewählt. Nach dem Mittelwertsatz existiert dann ein ξ ∈ (a, x) mit f (x) − f (a) = f 0 (ξ)(x − a) = 0, also f (x) ≡ f (a) = const für alle x ∈ [a, b]. Damit ist alles gezeigt. q.e.d. Folgerung 2.2: Sei f ∈ C 0 ([a, b]) in (a, b) differenzierbar und x0 ∈ (a, b) sei kritischer Punkt von f . Dann gelten: (i) Falls f 0 (x) < 0 (bzw. f 0 (x) > 0) in (a, x0 ) und f 0 (x) > 0 (bzw. f 0 (x) < 0) in (x0 , b) richtig ist, so hat f in x0 ein striktes globales Minimum (bzw. Maximum). (ii) Falls f 0 (x) < 0 oder f 0 (x) > 0 für alle x ∈ (a, b) \ {x0 } gilt, so ist x0 weder Minimum noch Maximum von f . Beweis: Folgerung 2.1 entnehmen wir < f 0 (x) < > 0 für a < x < x0 ⇒ f (x0 ) > f (x) für a ≤ x < x0 , > f 0 (x) < > 0 für x0 < x < b ⇒ f (x0 ) < f (x) für x0 < x ≤ b. Das liefert unmittelbar die Behauptungen. q.e.d. Beispiel: Unter allen Rechtecken gegebenem Umfangs hat das Quadrat den größten Flächeninhalt. 110 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Denn: Es ist F = ab der Flächeninhalt des Rechtecks mit Seitenlängen a, b > 0. Und U = 2(a + b) ist der fixierte Umfang. Setzen wir b = U2 − a in F ein, so erhalten wir ´ ³U −a , F = F (a) = a 2 h Ui a ∈ 0, . 2 Wegen F 0 (a) = 12 (U − 4a) ist a0 = U4 einziger kritischer Punkt für F . Außerdem gilt F 0 (a) > 0 in (0, a0 ) und F 0 (a) < 0 in (a0 , U2 ). Also hat F nach Folgerung 2.2 in a0 = U4 ihr striktes globales Maximum über [0, U2 ]. Schließlich beachten wir noch b0 := U2 − a0 = a0 , d.h. F wird für das Quadrat mit Seitenlänge a0 = U4 maximal. Satz 2.5: (Hinreichende Extremalbedingung) Es sei f ∈ C 1 (I, R) (I ⊂ R Intervall) und in x0 ∈ int I sei f zweimal differenzierbar mit f 0 (x0 ) = 0 und f 00 (x0 ) > 0 (bzw. f 00 (x0 ) < 0). Dann besitzt f in x0 ein striktes relatives Minimum (bzw. Maximum). Bemerkung: Die oben angegebene Bedingung ist nicht notwendig, wie das Beispiel f (x) = x4 , x ∈ R, mit dem strikten Minimum x0 = 0 zeigt. 0 0 (x0 ) Beweis von Satz 2.5: Es gelte f 00 (x0 ) = limx→x0 f (x)−f > 0 (der Fall f 00 (x0 ) < 0 x−x0 ergibt sich nach Übergang zu −f ). Dann existiert ein ε > 0, so dass [x0 −ε, x0 +ε] ⊂ I und f 0 (x) − f 0 (x0 ) > 0 für alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) \ {x0 } x − x0 erfüllt ist. Wegen f 0 (x0 ) = 0 bedeutet dies f 0 (x) < 0 für alle x ∈ (x0 − ε, x0 ), f 0 (x) > 0 für alle x ∈ (x0 , x0 + ε). Nach Folgerung 2.2 hat f in x0 ein striktes Minimum auf [x0 − ε, x0 + ε], also ein striktes lokales Minimum. q.e.d. Wir wollen noch eine Folgerung des allgemeinen Mittelwertsatzes angeben, die sehr hilfreich bei der Berechnung von Grenzwerten ist: Satz 2.6: (L’Hospitalsche Regel) Es seien f, g : I → R zwei differenzierbare Funktionen auf dem Intervall I = (a, b). Es gelte g 0 6= 0 auf I, und es existiere der Limes f 0 (x) =: c ∈ R. x→a+ g 0 (x) lim 2. LOKALE EXTREMA, MITTELWERTSATZ, KONVEXITÄT 111 Dann folgt: (i) Falls limx→a+ f (x) = limx→a+ g(x) = 0 gilt, so ist g 6= 0 auf I richtig und es gilt f (x) lim = c. x→a+ g(x) (ii) Falls limx→a+ f (x) = ±∞, limx→a+ g(x) = ±∞ gilt, so existiert ein x0 ∈ (a, b) mit g 6= 0 für x ∈ (a, x0 ] und es gilt lim x→a+ f (x) = c. g(x) Analoge Aussagen haben wir für den Grenzwert x → b−. Beweis: (i) Zunächst können wir f und g stetig (zu 0) in den Punkt x = a fortsetzen. Der Satz von Rolle liefert dann g 6= 0 auf (a, b), und nach dem allgemeinen Mittelwertsatz gibt es zu jedem hinreichend kleinen h > 0 ein ϑ = ϑ(h) ∈ (0, 1) mit der Eigenschaft f (a + h) − f (a) f 0 (a + ϑh) f (a + h) = = 0 . g(a + h) g(a + h) − g(a) g (a + ϑh) Für h → 0+ (und somit a + ϑh → a+) erhalten wir die Existenz des Grenz(x) wertes limx→a+ fg(x) und die Relation f (x) f (a + h) f 0 (a + ϑh) = lim = lim 0 = c, x→a+ g(x) h→0+ g(a + h) h→0+ g (a + ϑh) lim wie behauptet. (ii) Wir betrachten nur den Fall limx→a+ f (x) = limx→a+ g(x) = +∞. Wir wählen x1 ∈ (a, x0 ] zunächst fest. Zu beliebigem x ∈ (a, x1 ) existiert dann nach dem allgemeinen Mittelwertsatz ein ξ ∈ (x, x1 ) mit f (x) − f (x1 ) f (x) f 0 (ξ) = = m(x), 0 g (ξ) g(x) − g(x1 ) g(x) wobei wir m(x) := 1− 1− f (x1 ) f (x) g(x1 ) g(x) , (2.3) x ∈ (a, x1 ), gesetzt haben. Für festgehaltenes x1 sehen wir limx→a+ m(x) = 1 und damit 1 auch limx→a+ m(x) = 1. 112 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Wir wählen nun zu vorgegebenem ε > 0 zunächst x1 so nahe an a, dass gilt ¯ f 0 (t) ¯ ¯ ¯ − c¯ < ε für alle t ∈ (a, x1 ), (2.4) ¯ 0 g (t) also insbesondere für t = ξ ∈ (x, x1 ). Dann wählen wir δ > 0 so klein, dass gilt a + δ ≤ x1 und ¯ 1 ¯ ¯ ¯ − 1¯ < ε für alle x ∈ (a, a + δ). (2.5) ¯ m(x) Damit erhalten wir ¯ f (x) ¯ (2.3) ¯ ¯ − c¯ = ¯ g(x) (2.4),(2.5) < also limx→a+ f (x) g(x) ¯ 1 f 0 (ξ) ¯ ¯ ¯ 1 ¯ 1 ¯¯ f 0 (ξ) ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ − c¯ ≤ − c¯ + ¯ − 1¯ |c| ¯ ¯ m(x) g 0 (ξ) m(x) g 0 (ξ) m(x) ε(1 + ε + |c|) für alle x ∈ (a, a + δ), = c, wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Satz 2.6 lässt sich noch erweitern: Einerseits gilt die entsprechende Aussage auch für c = ±∞, andererseits auch für a = −∞ bzw. b = +∞ (Übungsaufgabe). Definition 2.3: Eine Funktion f : I → R, I ⊂ R Intervall, heißt konvex, wenn für alle x1 , x2 ∈ I und alle λ ∈ (0, 1) gilt f (λx1 + (1 − λ)x2 ) ≤ λf (x1 ) + (1 − λ)f (x2 ). (2.6) Die Funktion f heißt konkav, wenn −f konvex ist. Gilt schließlich in (2.6) die strikte Ungleichung für x1 6= x2 , so heißt f streng konvex; gilt dies für −f , so nennen wir f streng konkav. Satz 2.7: Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R ∈ C 2 (I). Dann ist f genau dann konvex, wenn f 00 (x) ≥ 0 für alle x ∈ I gilt. Bemerkung: Es folgt sofort: f ist genau dann konkav, wenn f 00 (x) ≤ 0 auf I gilt. Eine Verschärfung f streng konvex ⇔ f 00 > 0“ von Satz 2.7 gilt übrigens nicht, wie ” das Beispiel f (x) = x4 , x ∈ R, zeigt. Beweis von Satz 2.7: • ⇐“: Sei zunächst f 00 (x) ≥ 0 in I erfüllt. Nach Folgerung 2.1 ist dann f 0 : I → ” R monoton wachsend. Seien x1 , x2 ∈ I und λ ∈ (0, 1) gewählt, so können wir o.B.d.A. x1 < x2 annehmen und setzen x := λx1 + (1 − λ)x2 ∈ (x1 , x2 ). Nach dem Mittelwertsatz finden wir ξ1 ∈ (x1 , x) und ξ2 ∈ (x, x2 ) mit f (x2 ) − f (x) f (x) − f (x1 ) = f 0 (ξ1 ) ≤ f 0 (ξ2 ) = . x − x1 x2 − x 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 113 Beachten wir noch x − x1 = (1 − λ)(x2 − x1 ) und x2 − x = λ(x2 − x1 ), so folgt f (x) − f (x1 ) f (x2 ) − f (x) ≤ 1−λ λ und nach Umstellen schließlich (2.6), d.h. f ist konvex. • ⇒“: Sei nun f : I → R konvex und wir nehmen an, dass nicht f 00 (x) ≥ 0 ” auf I gilt. Dann existiert ein x0 ∈ int I mit f 00 (x0 ) < 0. Wir erklären nun die Hilfsfunktion ϕ(x) := f (x) − f 0 (x0 )(x − x0 ), x ∈ I. Offenbar gilt ϕ ∈ C 2 (I) und ϕ0 (x0 ) = 0, ϕ00 (x0 ) = f 00 (x0 ) < 0. Nach Satz 2.5 besitzt also ϕ in x0 ein striktes lokales Maximum, und insbesondere finden wir ein h > 0, so dass [x0 − h, x0 + h] ⊂ I sowie ϕ(x0 − h) < ϕ(x0 ), ϕ(x0 + h) < ϕ(x0 ) erfüllt sind. Hieraus erhalten wir ¢ 1¡ ¢ 1¡ f (x0 ) = ϕ(x0 ) > ϕ(x0 − h) + ϕ(x0 + h) = f (x0 − h) + f (x0 + h) . (2.7) 2 2 Setzen wir schließlich x1 := x0 − h, x2 := x0 + h und λ = x0 = λx1 + (1 − λ)x2 und (2.7) besagt 1 2, so haben wir f (λx1 + (1 − λ)x2 ) > λf (x1 ) + (1 − λ)f (x2 ), was ein Widerspruch zur vorausgesetzten Konvexität von f ist. Also gilt doch f 00 (x) ≥ 0 auf I. q.e.d. Der Beweis der Richtung ⇐“ in Satz 2.7 lässt sich offenbar so modifizieren, dass ” man das nachstehende Ergebnis erhält: Folgerung 2.3: Gilt f ∈ C 2 (I, R) und f 00 (x) > 0 (bzw. < 0) auf dem Intervall I ⊂ R, so ist f streng konvex (bzw. konkav) auf I. 3 Die elementaren Funktionen In Kap. 2, Folgerung 4.2 haben wir die komplexe Exponentialfunktion oder kurz eFunktion ∞ X zk , z ∈ C, ez = exp z := k! k=0 erklärt und als stetig auf ganz C erkannt. In diesem Paragraphen werden wir Eigenschaften von ez untersuchen und weitere sogenannte elementare Funktionen“ aus ” ihr erklären. 114 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Satz 3.1: (Funktionalgleichung der e-Funktion) Für beliebige z1 , z2 ∈ C gilt die Identität exp(z1 + z2 ) = exp z1 · exp z2 . Beweis: Da die Exponentialreihe für beliebige z ∈ C absolut konvergiert, liefern die Cauchysche Produktformel und der Binomische Satz: ¶µ X ¶ ¶ ∞ ∞ µX k X z1k z2k z1l z2k−l = k! k! l! (k − l)! k=0 k=0 k=0 l=0 µ k µ ¶ ¶ ∞ ∞ X X 1 X k l k−l (z1 + z2 )k = z1 z2 = = exp(z1 + z2 ), k! k! l exp z1 · exp z2 = µX ∞ k=0 l=0 k=0 wie behauptet. q.e.d. Definition 3.1: Die Zahl ∞ X 1 ∈R e := exp 1 = k! k=0 wird Eulersche Zahl genannt. Bemerkung: Mit der Funktionalgleichung zeigt man leicht ³p´ p e q = exp für alle p ∈ Z, q ∈ N. q (3.1) Dies erklärt auch die Schreibweise der Exponentialfunktion als Potenz. Wir konzentrieren uns nun auf die Einschränkungen von exp z auf die reelle bzw. imaginäre Achse: Satz 3.2: Die reelle Exponentialfunktion ex = exp x := zur Klasse C ∞ (R) und es gilt exp0 x = d exp x = exp x, dx P∞ xk k=0 k! , x ∈ R, gehört x ∈ R. (3.2) Beweis: Gemäß Kap. 1, § 8 ist die Exponentialreihe für alle x ∈ R konvergent. Nach Folgerung 1.2 gilt also exp x ∈ C ∞ (R) und wir haben (1.6) exp0 x = ∞ ∞ ∞ X X X 1 1 xl k xk−1 = xk−1 = = exp x, k! (k − 1)! l! k=1 wie behauptet. k=1 l=0 q.e.d. 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 115 Satz 3.3: Die reelle Exponentialfunktion ex = exp x, x ∈ R, bildet R auf (0, +∞) ab, ist streng monoton wachsend, streng konvex und erfüllt lim exp x = 0, x→−∞ exp 0 = 1, lim exp x = +∞. x→+∞ (3.3) Beweis: Offensichtlich ist f (x) := ex , x ∈ R, reellwertig, da die definierende Reihe nur reelle Koeffizienten besitzt. Insbesondere gilt e0 = 1. Ferner haben wir exp x = 1 + ∞ X xk k=1 k! > 0 für alle x ∈ [0, +∞) und nach Satz 3.1 auch exp x = 1 > 0 für alle x ∈ (−∞, 0), exp(−x) also insgesamt f (R) ⊂ (0, +∞). Zum Beweis von (3.3) beachten wir lim exp x ≥ lim (1 + x) = +∞ x→+∞ x→+∞ und lim exp x = lim x→−∞ x→−∞ 1 exp(−x) ξ:=−x = lim ξ→+∞ 1 = 0. exp ξ Ist nun y ∈ (0, +∞) beliebig, so existieren also x1 < 0, x2 > 0 mit ex1 < y < ex2 . Nach dem Zwischenwertsatz, Satz 2.7 aus Kap. 2, existiert ein x ∈ (x1 , x2 ) mit f (x) = y, d.h. y ∈ f (R) und insgesamt f (R) = (0, +∞). Schließlich gilt nach Satz 3.2: exp0 x = exp x > 0 für alle x ∈ R, also ist exp x nach Folgerung 2.1 streng monoton wachsend. Und wiederum Satz 3.2 in Verbindung mit Folgerung 2.3 liefert die strenge Konvexität wegen exp00 x = exp0 x = exp x > 0. q.e.d. Definition 3.2: Die Umkehrfunktion von exp x : R → R nennen wir (natürliche) Logarithmusfunktion y = log x : (0, +∞) → R. Für x > 0 heißt y = log x Logarithmus von x. Satz 3.4: Die Funktion log : (0, +∞) → R ist streng monoton, streng konkav, beliebig oft differenzierbar und wir haben log0 x = 1 d log x = dx x für alle x > 0. (3.4) Ferner gelten die Funktionalgleichung log(x1 x2 ) = log x1 + log x2 für alle x1 , x2 > 0 (3.5) sowie lim log x = −∞, x→0+ log 1 = 0, log e = 1 lim log x = +∞. x→+∞ (3.6) 116 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis: Zunächst gehört log x nach Satz 1.4 als Umkehrfunktion von x = exp y zur Klasse C 1 ((0, +∞), R) und es gilt log0 x = 1 1 1 = = exp0 (log x) exp(log x) x für x > 0. Wegen x1 ∈ C ∞ ((0, +∞), R) ist nun auch log x ∈ C ∞ ((0, +∞), R) richtig. Außerdem ist log x offenbar streng monoton wachsend, und (3.4) liefert log00 x = − x12 < 0 für alle x ∈ (0, +∞), d.h. nach Folgerung 2.3 ist log x streng konkav. Zum Beweis von (3.5) seien x1 , x2 > 0 beliebig gewählt. Wir erhalten dann aus Satz 3.1 exp(log x1 + log x2 ) = exp(log x1 ) · exp(log x2 ) = x1 x2 . Nehmen wir auf beiden Seiten den Logarithmus, so folgt die Behauptung (3.5). Schließlich ist natürlich log 1 = log(e0 ) = 0 und log e = log(e1 ) = 1 richtig. Und die Grenzwerte in (3.6) ergeben sich direkt aus der Monotonie und der Relation log((0, +∞)) = R. Damit ist alles gezeigt. q.e.d. Definition 3.3: Für beliebiges α ∈ R erklären wir die (allgemeine) Potenzfunktion x 7→ xα , x ∈ (0, +∞), durch die Formel xα := eα log x = exp(α log x). Satz 3.5: Die allgemeine Potenzfunktion f (x) := xα erfüllt f ∈ C ∞ ((0, +∞), R) und es gelten die Relationen xα y α = (xy)α , xα xβ = xα+β , (xα )β = xαβ , α log(x ) = α log x, d α (x ) = αxα−1 dx (3.7) (3.8) (3.9) für alle x, y > 0 und beliebige α, β ∈ R. Beweis: Nach Satz 1.3 und der Produktregel ist f ∈ C ∞ ((0, +∞), R) als Komposition zweier C ∞ -Funktionen. Die Relationen (3.7) ergeben sich leicht unter Benutzung der Funktionalgleichungen für Exponential- und Logarithmusfunktion; z.B. berechnen wir xα y α = eα log x eα log y = eα(log x+log y) = eα log(xy) = (xy)α . Formel (3.8) folgt sofort aus der Definition der Potenzfunktion durch Logarithmieren. Schließlich entnehmen wir der Kettenregel d α d α log x d 1 (3.7) (x ) = (e ) = eα log x · (α log x) = xα α = αxα−1 , dx dx dx x wie behauptet. q.e.d. 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 117 Bemerkung: Wir können auch die allgemeine Exponentialfunktion x 7→ cx = ex log c für festes c > 0 betrachten. Es gilt f (x) := cx ∈ C ∞ (R, R) und f 0 (x) = cx · log c, x ∈ R. Für c > 1 ist also f 0 > 0 und f : R → (0, +∞) bijektiv. Die zugehörige Umkehrfunktion heißt Logarithmus zur Basis c > 1 und wird mit logc : (0, +∞) → R bezeichnet. Der Logarithmus zur Basis e > 1 ist der natürliche Logarithmus (→ Übungen). Definition 3.4: Wir erklären die Cosinusfunktion cos : R → R und die Sinusfunktion sin : R → R gemäß 1 cos x := (eix + e−ix ) = Re (eix ), 2 1 sin x := (eix − e−ix ) = Im (eix ), 2i x ∈ R. Satz 3.6: Die Funktionen cos und sin gehören zur Klasse C ∞ (R, R) mit den Ableitungen d cos x = − sin x, cos0 x = dx (3.10) d 0 sin x = sin x = cos x, x ∈ R. dx Es gilt die Eulersche Formel eix = cos x + i sin x, x ∈ R, (3.11) und die Additionstheoreme cos(x1 + x2 ) = cos x1 cos x2 − sin x1 sin x2 , sin(x1 + x2 ) = cos x1 sin x2 + sin x1 cos x2 , x1 , x2 ∈ R. (3.12) Die Cosinusfunktion ist gerade, die Sinusfunktion ist ungerade, d.h. cos(−x) = cos x, sin(−x) = − sin x, x ∈ R. (3.13) Schließlich haben wir die Potenzreihendarstellungen cos x = ∞ X (−1)l l=0 (2l)! x2l , sin x = wobei beide Reihen absolut konvergieren. ∞ X (−1)l x2l+1 , (2l + 1)! l=0 x ∈ R, (3.14) 118 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis: cos, sin ∈ C ∞ (R, R) ist per Definition klar, da exp(±ix) ∈ C ∞ (R, C) gilt d gemäß Satz 1.6. Mit dx (e±ix ) = ±ie±ix berechnen wir 1 1 cos0 x = (ieix − ie−ix ) = − (eix − e−ix ) = − sin x, 2 2i 1 ix 1 ix 0 ix sin x = (ie + ie ) = (e + e−ix ) = cos x, 2i 2 also (3.10). Die Eulersche Formel (3.11) ist direkte Konsequenz der Definition von cos und sin. Und die Funktionalgleichung der Exponentialfunktion liefert in Verbindung mit der Eulerschen Formel: cos(x1 + x2 ) + i sin(x1 + x2 ) = ei(x1 +x2 ) = eix1 eix2 = (cos x1 + i sin x1 )(cos x2 + i sin x2 ) = (cos x1 cos x2 − sin x1 sin x2 ) + i(cos x1 sin x2 + sin x1 cos x2 ). Real- und Imaginärteil dieser Gleichung entsprechen gerade den Formeln (3.12). Formel (3.13) entnimmt man wieder direkt der Definition von cos und sin. Zum Beweis von (3.14) berechnen wir schließlich cos x + i sin x = e ∞ X 1 k k i x = = k! ix k=0 = ∞ X l=0 = 1 2l 2l i x + (2l)! ∞ X l=0 X k gerade 1 k k i x + k! X k ungerade 1 k k i x k! 1 i2l+1 x2l+1 (2l + 1)! ∞ X (−1)l l=0 ∞ X (−1)l 2l x +i x2l+1 . (2l)! (2l + 1)! l=0 Vergleich von Real-und Imaginärteil dieser Identität liefert (3.14). Damit ist alles gezeigt. q.e.d. Bemerkung: Wegen eix = e−ix gilt |eix |2 = eix e−ix = 1 für alle x ∈ R. Der Eulerschen Formel entnehmen wir daher die berühmte Relation 1 = cos2 x + sin2 x für alle x ∈ R. Geometrisch stellt f (x) := eix , x ∈ R, eine gleichförmige Bewegung mit Geschwindigkeit 1 auf der Einheitskreislinie dar, denn es gilt |f (x)| ≡ 1, |f 0 (x)| = |ieix | ≡ 1. Cosinus- und Sinusfunktion sind nach Definition die Projektionen dieser Kreisbewegung auf die reelle bzw. imaginäre Achse, weshalb man sie auch als Kreisfunktionen bezeichnet. 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 119 Wir wollen nun die Nullstellen der Kreisfunktionen untersuchen und beginnen mit dem Satz 3.7: Die Gleichung cos x = 0 besitzt im Intervall [0, 2] genau eine Lösung. Diese kleinste positive Nullstelle von cos bezeichnen wir mit π2 . Es gilt dann h π´ π cos x > 0 für alle x ∈ 0, , cos = 0. 2 2 Beweis: Zunächst gilt per Definition cos 0 = Re (e0 ) = 1. Und aus der Reihendarstellung von cos ermitteln wir x2 x4 x6 x8 x10 x12 cos x = 1 − + − + − + − +... 2! 4! 6! 8! 10! 12! ³ x2 x4 ´ x6 ³ x2 ´ x10 ³ x2 ´ = 1− + − 1− − 1− − ... 2! 4! 6! 7·8 10! 11 · 12 Für x = 2 erhalten wir also 1 26 ³ 4 ´ 210 ³ 4 ´ 1 cos 2 = − − 1− − 1− − ... < − . 3 6! 7·8 10! 11 · 12 3 Nach dem Zwischenwertsatz, Satz 2.5 aus Kap. 2, existiert also ein ξ ∈ (0, 2) mit cos ξ = 0. Weiter entnehmen wir der Reihendarstellung von sin: x3 x5 x7 x9 x11 − + − + − +... cos0 x = − sin x = −x + 3! 5! 7! 9! 11! ³ x2 ´ x5 ³ x2 ´ x9 ³ x2 ´ = −x 1 − − 1− − 1− − ... < 0 2·3 5! 6·7 9! 10 · 11 für x ∈ (0, 2). Nach Folgerung 2.1 ist also cos in [0, 2] streng monoton fallend und somit injektiv. Insbesondere ist also die Nullstelle ξ =: π2 eindeutig bestimmt, wie behauptet. q.e.d. Folgerung 3.1: Die Sinusfunktion ist im Intervall [− π2 , π2 ] streng monoton wachsend und es gilt ³ π´ π = −1, sin 0 = 0, sin = 1. sin − 2 2 Die Cosinusfunktion ist im Intervall [0, π] streng monoton fallend und es gilt cos 0 = 1, cos π = 0, 2 cos π = −1. Beweis: Da cos gerade ist, gilt nach Satz 3.7: sin0 x = cos x > 0 in (− π2 , π2 ), d.h. sin ist in [− π2 , π2 ] streng monoton wachsend nach Folgerung 2.1. Ferner gilt sin 0 = Im (e0 ) = 0 und ³ π´ ³ π´ ³ π´ 1 = cos2 ± + sin2 ± = sin2 ± , 2 2 2 120 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG also wegen der Monotonie sin(− π2 ) = −1, sin π2 = 1. Schließlich erhalten wir die Aussagen über den Cosinus aus den Regeln der Phasenverschiebung ³π ´ ³π ´ cos − x = sin x, sin − x = cos x, x ∈ R, (3.15) 2 2 die man nun sofort aus den Additionstheoremen gewinnt. q.e.d. Satz 3.8: Die Funktionen cos und sin sind 2π-periodisch, d.h. es gilt cos(x + 2π) = cos x, sin(x + 2π) = sin x für alle x ∈ R. (3.16) Ferner haben wir cos(x + π) = − cos x, sin(x + π) = − sin x für alle x ∈ R. Schließlich gilt für die Nullstellenmengen der Funktionen o nπ + kπ : k ∈ Z , {x ∈ R : cos x = 0} = 2 {x ∈ R : sin x = 0} = {kπ : k ∈ Z} (3.17) (3.18) π Beweis: Wir bemerken zunächst ei 2 = cos π2 + i sin π2 = i nach Folgerung 3.1. Damit folgt π eiπ = (ei 2 )2 = i2 = −1, e2iπ = (eiπ )2 = (−1)2 = 1, also cos π = −1, sin π = 0; cos(2π) = 1, sin(2π) = 0. Die Aussagen (3.16) und (3.17) folgen nun wieder unmittelbar aus den Additionstheoremen (3.12). Ferner wissen wir bereits cos x > 0 für alle x ∈ (− π2 , π2 ) und cos π2 = 0. Also folgt die Aussage (3.18) für den Cosinus aus Formel (3.17). Die Nullstellenmenge des Sinus lässt sich daraus m.H. der Phasenverschiebung (3.15) ablesen. q.e.d. Folgerung 3.2: Alle Lösungen der Gleichung eix = 1 haben die Form x = 2kπ mit einem k ∈ Z. Beweis: Wir beachten x sin x¢ 1 ¡ ix e−i 2 ix x = e 2 − e−i 2 = (e − 1). 2 2i 2i Also gilt eix = 1 ⇔ sin x2 = 0. Die Behauptung ergibt sich nun aus (3.18). q.e.d. 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 121 Satz 3.9: (Polarkoordinaten) Jede komplexe Zahl z ∈ C besitzt eine Darstellung z = reiϕ = r(cos ϕ + i sin ϕ) (3.19) mit einem ϕ ∈ R und r = |z|. Für z 6= 0 ist die Darstellung (3.19) eindeutig, wenn wir ϕ ∈ [0, 2π) fordern. Beweis: 1. Für z = 0 ist r = |z| = 0 und (3.19) gilt mit beliebigem ϕ ∈ R. Sei also z = x + iy 6= 0. Dann folgt r := |z| > 0 und ξ := xr , η := yr sind wohldefiniert. Es gilt dann z = r(ξ + iη), ξ 2 + η 2 = 1. (3.20) Insbesondere ist ξ ∈ [−1, 1] = [cos π, cos 0] erfüllt. Nach dem Zwischenwertsatz existiert also ein α ∈ [0, π] mit cos α = ξ. Hieraus folgt noch p p η = ± 1 − ξ 2 = ± 1 − cos2 α = ± sin α. Man beachte sin α ≥ 0 wegen (3.18) und sin π2 = 1. • 1. Fall: Für y ≥ 0 ist η ≥ 0, also η = sin α. Dann wählen wir ϕ := α ∈ [0, π] und erhalten ξ = cos ϕ, η = sin ϕ, also aus (3.20) die gesuchte Darstellung (3.19). • 2. Fall: Für y < 0 folgt α ∈ (0, π) und η = − sin α. Mit ϕ := 2π − α ∈ (π, 2π) erhalten wir dann aus den Symmetrieeigenschaften (3.13) und der Periodizität (3.16): ξ = cos α = cos(2π − ϕ) = cos ϕ, η = − sin α = − sin(2π − ϕ) = sin ϕ, also wieder (3.19). 2. Man beachte, dass der in Teil 1 des Beweises erklärte Winkel ϕ in [0, 2π) liegt. Gäbe es ein weiteres ψ ∈ [0, 2π) mit z = reiψ , so folgte eiϕ = eiψ bzw. ei(ϕ−ψ) = 1. Folgerung 3.2 liefert also ϕ − ψ = 2kπ. Aus |ϕ − ψ| < 2π folgt nun k = 0 bzw. ϕ = ψ, wie behauptet. q.e.d. Bemerkungen: 1. ϕ ∈ [0, 2π) misst den Winkel zwischen der positiven reellen Achse und dem Vektor z = (x, y), gemessen in mathematisch positivem Sinn. Er wird Argument von z genannt und mit ϕ = arg z bezeichnet. 122 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG 2. Auch mit der Forderung ϕ ∈ [ϕ0 , ϕ0 + 2π) für beliebiges ϕ0 ∈ R ist ϕ eindeutig festgelegt; vergleiche Teil 2 des obigen Beweises. Aufgrund der Periodizität von cos und sin folgt dann ϕ = arg z + 2kπ mit einem (eindeutigen) k ∈ Z. ϕ misst also wieder den Winkel zur positiven x-Achse, wobei nun zusätzlich k-mal um den Ursprung gelaufen wird. 3. Die Polarkoordinatendarstellung erlaubt uns eine einfache Interpretation der komplexen Multiplikation: Sind nämlich z1 = |z1 |eiϕ1 und z2 = |z2 |eiϕ2 mit ϕ1 , ϕ2 ∈ [0, 2π) gegeben, so folgt aus der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion: z1 · z2 = |z1 | |z2 | ei(ϕ1 +ϕ2 ) . Bei der Multiplikation werden also die Beträge multipliziert und die Argumente (= Winkel) addiert. Definition 3.5: Wir erklären die Funktionen sin x , cos x cos x , cot x := sin x tan x := x 6= π + kπ, k ∈ Z 2 x 6= kπ, k ∈ Z ( Tangens), ( Cotangens). Satz 3.10: Tangens und Cotangens sind in ihren Definitionsgebieten beliebig oft differenzierbar und es gelten d 1 π tan x = 1 + tan2 x = , x 6= + kπ, k ∈ Z, 2 dx cos x 2 d 1 cot0 x = cot x = −(1 + cot2 x) = − 2 , x 6= kπ, k ∈ Z. dx sin x tan0 x = (3.21) Ferner haben wir tan(x + π) = tan x, und tan ³π ´ − x = cot x, 2 sowie die Additionstheoreme tan x1 + tan x2 tan(x1 + x2 ) = , 1 − tan x1 tan x2 cot(x1 + x2 ) = cot(x + π) = cot x cot −1 + cot x1 cot x2 , cot x1 + cot x2 ³π 2 ´ − x = tan x x1 , x2 , x1 + x2 6= π + kπ, k ∈ Z, 2 x1 , x2 , x1 + x2 6= kπ, k ∈ Z. Schließlich ist tan in (− π2 , π2 ) streng monoton wachsend mit lim x→− π2 + tan x = −∞, tan 0 = 0, lim tan x = +∞. x→ π2 − 3. DIE ELEMENTAREN FUNKTIONEN 123 Und cot ist in (0, π) streng monoton fallend mit ³π ´ lim cot x = +∞, cot = 0, x→0+ 2 lim cot x = −∞. x→π− Beweis: Direkt aus den Aussagen über die Cosinus-und Sinusfunktion. q.e.d. Aufgrund des Monotonieverhaltens von sin, cos, tan und cot können wir nun auch die entsprechenden Umkehrfunktionen erklären, wenn wir uns auf geeignete Monotonieintervalle beschränken: Wir wählen die Bereiche π π y = sin x, − ≤ x ≤ ⇒ −1 ≤ y ≤ 1, 2 2 y = cos x, 0 ≤ x ≤ π ⇒ −1 ≤ y ≤ 1, y = tan x, − y = cot x, π π <x< ⇒ −∞ < y < +∞, 2 2 0 < x < π ⇒ −∞ < y < +∞. Die zugehörigen Umkehrfunktionen heißen Arcus Sinus, Arcus Cosinus, Arcus Tangens bzw. Arcus Cotangens und werden mit arcsin := sin−1 : [−1, 1] → R, arccos := cos−1 : [−1, 1] → R, arctan := tan−1 : R → R, arccot := cot−1 : R → R bezeichnet. Satz 3.11: Es gelten arcsin, arccos ∈ C ∞ ((−1, 1)) und arctan, arccot ∈ C ∞ (R) und wir haben 1 1 arcsin0 y = p , arccos0 y = − p , y ∈ (−1, 1), 2 1−y 1 − y2 (3.22) 1 1 0 0 , arccot y = − , y ∈ R. arctan y = 1 + y2 1 + y2 Ferner gelten die Relationen π 2 π arctan y + arccoty = 2 arcsin y + arccos y = für alle y ∈ [−1, 1], (3.23) für alle y ∈ R. Beweis: Da die ersten Ableitungen von sin, tan auf (− π2 , π2 ) und von cos, cot auf (0, π) nicht verschwinden, sind die Umkehrfunktionen in den angegebenen Bereichen einmal differenzierbar nach Satz 1.4 und es gelten 1 1 1 p =p , |y| < 1, = sin (arcsin y) 1 − y2 1 − sin2 (arcsin y) 1 1 1 arctan0 y = = , y ∈ R. = 0 2 tan (arctan y) 1 + y2 1 + tan (arctan y) arcsin0 y = 0 124 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Entsprechend erhalten wir die ersten Ableitungen für arccos und arccot. Da die 1 Funktionen √ 1 2 , y ∈ (−1, 1), und 1+y 2 , y ∈ R, beliebig oft differenzierbar sind, 1−y folgen die behaupteten Regularitätseigenschaften der Arcusfunktionen. Zum Beweis der ersten Relation in (3.23) wenden wir arccos auf die Relation y = sin x = cos( π2 − x), x ∈ [− π2 , π2 ], an: arccos y = π π − x = − arcsin y, 2 2 y ∈ [−1, 1]. Entsprechend wenden wir arccot auf y = tan x = cot( π2 − x), x ∈ R, an und erhalten die zweite Relation in (3.23). q.e.d. Bemerkung: Ausgehend von der komplexen Exponentialfunktion können wir auch die komplexe Cosinus- bzw. Sinusfunktion erklären: 1 cos z := (eiz + e−iz ), 2 sin z := 1 iz (e − e−iz ), 2i z ∈ C. Für z = x ∈ R erhalten wir dann die reellen Kreisfunktionen. Für z = −ix, x ∈ R, erhalten wir die (reellen) Hyperbelfunktionen 1 cosh x := cos(−ix) = (ex + e−x ) 2 1 x sinh x := sin(−ix) = (e − e−x ) 2 (Cosinus hyperbolicus), (Sinus hyperbolicus). Während (cos x, sin x) eine Parametrisierung der Einheitskreislinie liefert, ergibt (cosh x, sinh x) eine Parametrisierung des rechten Astes der Hyperbel {(x, y) ∈ R2 : x2 − y 2 = 1}. Wir verzichten hier auf eine Diskussion der Hyperbelfunktionen und verweisen auf die Literatur und die Übungen. 4 Das eindimensionale Riemannsche Integral Ist f : [a, b] → R eine positive Funktion, so möchte man das bestimmte Integral Zb f (x) dx a als Flächeninhalt des Stückes des R2 erklären, das von der x-Achse und der Funktion f einerseits und den senkrechten Geraden durch (a, 0) bzw. (b, 0) andererseits beranRb det wird. Die Idee hierbei ist, den Wert a f (x) dx durch den elementargeometrischen Flächeninhalt von einbeschriebenen Rechtecken geeigneter Höhe zu approximieren. Es scheint offensichtlich, dass der Flächeninhalt so immer besser approximiert wird, 4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 125 wenn wir die Breite der Rechtecke verringern (und damit ihre Anzahl erhöhen), zumindest wenn dieses Verfahren konvergiert. Dieser Ansatz soll nun präzisiert werden. Im Folgenden sei f : I → R immer eine beschränkte Funktion auf dem kompakten Intervall I = [a, b] ⊂ R (−∞ < a < b < +∞). Definition 4.1: Sei also I = [a, b] und f : I → R beschränkt. • Es sei N ∈ N und Punkte x0 , x1 , . . . , xN ∈ I seien gewählt mit a = x0 < x1 < . . . < xN = b. Wir setzen Ij := [xj−1 , xj ] und ∆xj := xj − xj−1 = |Ij | für j = 1, . . . , N . Die Menge {x0 , . . . , xN } nennen wir dann eine Zerlegung Z von I und die Punkte x0 , . . . , xN heißen Teilpunkte von Z. Die Länge des größten Teilintervalls ∆(Z) := max{∆x1 , . . . , ∆xN } (4.1) wird als Feinheit der Zerlegung Z bezeichnet. • Aus jedem Teilintervall Ij wählen wir ein ξj ∈ Ij und setzen ξ := (ξ1 , . . . , ξN ). Dann nennen wir SZ (f ) = SZ (f, ξ) := N X f (ξj )∆xj (4.2) j=1 eine Riemannsche Zwischensumme zu f . • Mit den Abkürzungen mj := inf Ij f = inf{f (x) : x ∈ Ij }, mj := supIj f = sup{f (x) : x ∈ Ij }, j = 1, . . . , N, (4.3) bilden wir die Untersumme S Z (f ) := N X mj ∆xj (4.4) mj ∆xj (4.5) j=1 und die Obersumme S Z (f ) := N X j=1 zu f . 126 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Bemerkung: Man beachte, dass wegen mj ≤ f (ξj ) ≤ mj stets S Z (f ) ≤ SZ (f, ξ) ≤ S Z (f ) (4.6) für jede Zerlegung von I und jede Riemannsche Zwischensumme erfüllt ist. Definition 4.2: • Eine Zerlegung Z ∗ von I heißt Verfeinerung der Zerlegung Z von I, wenn alle Teilpunkte von Z auch Teilpunkte von Z ∗ sind. • Eine gemeinsame Verfeinerung Z1 ∨ Z2 zweier Zerlegungen Z1 , Z2 von I ist die Zerlegung von I, deren Teilpunkte gerade die Teilpunkte von Z1 und Z2 sind. Bemerkung: Z1 ∨ Z2 ist also sowohl Verfeinerung von Z1 als auch von Z2 . Hilfssatz 4.1: (i) Ist Z ∗ Verfeinerung von Z, so gilt S Z (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z (f ). (ii) Sind Z1 , Z2 zwei beliebige Zerlegungen von I, so gilt S Z1 (f ) ≤ S Z2 (f ). Beweis: (i) Seien Il∗ ein Teilintervall von Z ∗ und Ij ein Teilintervall von Z mit Il∗ ⊂ Ij . Dann folgt f ≥ inf f =: mj , m∗l := inf ∗ Ij Il m∗l := sup f ≤ sup f =: mj Il∗ Ij und somit mj ∆xj = mj X l:Il∗ ⊂Ij ∆xl ≤ X m∗l ∆xl , mj ∆xj ≥ l:Il∗ ⊂Ij Durch Summierung über j erhalten wir also (4.6) S Z (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z (f ). X l:Il∗ ⊂Ij m∗l ∆xl . 4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 127 (ii) Wir wenden (i) auf die gemeinsame Verfeinerung Z1 ∨Z2 =: Z an und erhalten S Z1 (f ) ≤ S Z (f ) ≤ S Z (f ) ≤ S Z2 (f ), wie behauptet. q.e.d. Definition 4.3: Ist f : I → R beschränkt, I = [a, b], so erklären wir das Unterintegral I(f ) bzw. Oberintegral I(f ) von f als ª © I(f ) := sup S Z (f ) : Z ist Zerlegung von I , © ª I(f ) := inf S Z (f ) : Z ist Zerlegung von I . Bemerkung: Ist Z eine beliebige Zerlegung von I = [a, b] und f : I → R beschränkt, so gilt nach Hilfssatz 4.1 (i): −∞ < |I| inf f ≤ S Z (f ) ≤ S Z (f ) ≤ |I| sup f < +∞. I I Also sind I(f ), I(f ) ∈ R wohl definiert. Hilfssatz 4.1 (ii) entnehmen wir noch durch sup- bzw. inf-Bildung: S Z (f ) ≤ I(f ) ≤ I(f ) ≤ S Z (f ) mit beliebiger Zerlegung Z von I. (4.7) Definition 4.4: Eine beschränkte Funktion f : I → R über dem Intervall I = [a, b] heißt Riemann-integrierbar, wenn gilt I(f ) = I(f ). Wir setzen dann I(f ) := I(f ) = I(f ) für das (bestimmte) Riemannsche Integral von f über [a, b]. Alternative Symbole sind Zb Zb Z I(f ) = f (x) dx = f dx = f (x) dx. a a I Die Klasse aller Riemann-integrierbaren Funktionen auf I wird mit R(I) bezeichnet. Bemerkung: Da wir weitere Integralbegriffe erst in der Analysis III kennenlernen werden, sagen wir i.F. kurz integrierbar für Riemann-integrierbar und Integral für Riemannsches Integral. Satz 4.1: (Integrabilitätskriterium I) Für eine beschränkte Funktion f : I → R, I = [a, b], gilt: f ∈ R(I) ⇔ Für alle ε > 0 existiert eine Zerlegung Z mit S Z (f ) − S Z (f ) < ε. 128 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis: • ⇐“: Aus (4.7) erhalten wir ” 0 ≤ I(f ) − I(f ) ≤ S Z (f ) − S Z (f ) < ε für beliebiges ε > 0 und geeignete Zerlegung Z. Also folgt I(f ) = I(f ) bzw. f ∈ R(I). • ⇒“: Nach Definition 4.3 existieren zu beliebig gewähltem ε > 0 Zerlegungen ” Z und Z von I mit ε S Z (f ) > I(f ) − , 2 ε S Z (f ) < I(f ) + . 2 Setzen wir Z := Z ∨ Z, so liefert Hilfssatz 4.1 (i): S Z (f ) − S Z (f ) ≤ S Z (f ) − S Z (f ) < I(f ) − I(f ) + ε wie behauptet. f ∈R(I) = ε, q.e.d. Satz 4.2: (Integrabilitätskriterium II) Für eine beschränkte Funktion f : I → R, I = [a, b], gilt: f ∈ R(I) ⇔ Für alle ε > 0 existiert ein δ = δ(ε), so dass gilt: S Z (f ) − S Z (f ) < ε für alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ. Beweis: • ⇐“: Klar aus Satz 4.1. ” • ⇒“: Sei also f ∈ R(I) und ε > 0 beliebig gewählt. Nach Satz 4.1 existiert ” eine Zerlegung © ª Z ∗ = x∗0 , x∗1 , . . . , x∗N : a = x∗0 < x∗1 < . . . < x∗N = b mit der Eigenschaft ε S Z ∗ (f ) − S Z ∗ (f ) < . (4.8) 2 Da ferner f beschränkt ist, gibt es ein c > 0 mit |f (x)| ≤ c für alle x ∈ I. Wir setzen nun ε δ = δ(ε) := 8cN und betrachten eine beliebige Zerlegung Z von I mit ∆(Z) < δ. Für Z 0 := Z ∨ Z ∗ folgt dann aus Hilfssatz 4.1 (i) und (4.8): ε S Z 0 (f ) − S Z 0 (f ) ≤ S Z ∗ (f ) − S Z ∗ (f ) < . 2 (4.9) 4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 129 Ferner unterscheiden sich die Ober- bzw. Untersummen von Z und Z 0 in höchstens N Summanden, nämlich jenen, die zu Zerlegungsintervallen von Z gehören, die einen Zerlegungspunkt von Z ∗ im Innern enthalten. Da schließlich auch ∆(Z 0 ) < δ gilt, finden wir also 0 ≤ S Z (f ) − S Z 0 (f ) ≤ 2cN δ, 0 ≤ S Z 0 (f ) − S Z (f ) ≤ 2cN δ, so dass (4.9) liefert (4.9) S Z (f ) − S Z (f ) ≤ S Z 0 (f ) − S Z 0 (f ) + 4cN δ < ε ε + = ε, 2 2 wie behauptet. q.e.d. Folgerung 4.1: Es sei f ∈ R(I), {Zn }n eine beliebige Folge von Zerlegungen von I = [a, b] mit ∆(Zn ) → (n → ∞) und {SZn (f )}n eine zugehörige Folge beliebiger Riemannscher Zwischensummen. Dann gilt Zb f (x) dx = lim SZn (f ). n→∞ (4.10) a Bemerkung: Eine Folge von Zerlegungen {Zn }n mit ∆(Zn ) → 0 (n → ∞) nennt man ausgezeichnete Zerlegungsfolge. Es gilt auch die Umkehrung von Folgerung 4.1: Konvergiert die Folge Riemannscher Zwischensummen {SZn (f )}n für jede ausgezeichnete Zerlegungsfolge {Zn }n und jede Wahl der Zwischenwerte, so ist f integrierbar und es gilt (4.10). Beweis von Folgerung 4.1: Ist ε > 0 beliebig gewählt, so existiert nach Satz 4.2 ein N = N (ε) ∈ N mit S Zn (f ) − S Zn (f ) < ε für alle n ≥ N. Wegen S Zn (f ) ≤ I(f ) ≤ S Zn (f ) und S Zn (f ) ≤ SZn (f ) ≤ S Zn (f ) für alle n ∈ N folgt sofort |I(f ) − SZn (f )| < ε für alle n ≥ N, also die Behauptung. q.e.d. Satz 4.3: (Rechenregeln) (i) Gilt f, g ∈ R(I), so auch αf + βg ∈ R(I) für alle α, β ∈ R mit I(αf + βg) = αI(f ) + βI(g). D.h. R(I) ist ein reeller Vektorraum. 130 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG (ii) Sind f, g ∈ R(I) und gilt f ≤ g auf I, so folgt I(f ) ≤ I(g). (iii) Mit f ∈ R(I) gilt auch |f | ∈ R(I) mit |I(f )| ≤ I(|f |). (iv) Sind f, g ∈ R(I), so auch f · g ∈ R(I) und es gilt ¡ ¢ |I(f g)| ≤ sup |g| I(|f |). I (v) Gilt f, g ∈ R(I) sowie |g| ≥ c > 0 auf I mit einer Konstante c > 0, so folgt auch fg ∈ R(I) mit ¯ ³ f ´¯ 1 ¯ ¯ ¯ ≤ |I(f )|. ¯I g c Bemerkung: Zum Beweis der Aussagen benutzen wir folgende allgemeine Beobachtung, die man leicht als Übungsaufgabe beweist: Ist h : D → R beschränkt, D ⊂ Rm , so folgt sup |h(x) − h(x0 )| = sup h − inf h. (4.11) x,x0 ∈D D D Man nennt diesen Wert die Oszillation von h. Beweis von Satz 4.3: (i) Mit α, β ∈ R und h(x) := αf (x) + βg(x), x ∈ I, finden wir |h(x) − h(x0 )| ≤ |α| |f (x) − f (x0 )| + |β| |g(x) − g(x0 )| für alle x, x0 ∈ I. Zu einer beliebigen Zerlegung Z von I bilden wir in dieser Relation das Supremum über x, x0 ∈ Ij , wenden (4.11) auf den einzelnen Teilintervallen Ij an, multiplizieren mit ∆xj und summieren über j. Dann folgt £ ¤ £ ¤ S Z (h) − S Z (h) ≤ |α| S Z (f ) − S Z (f ) + |β| S Z (g) − S Z (g) . Wegen f, g ∈ R(I) existiert somit nach Satz 4.2 ein δ = δ(ε) > 0, so dass S Z (h) − S Z (h) < ε gilt für alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ. Wiederum Satz 4.2 liefert also h = αf + βg ∈ R(I). Ist nun Z eine beliebige Zerlegung, so gilt bei jeder Wahl der Zwischenwerte für die Riemannschen Zwischensummen: SZ (αf + βg) = αSZ (f ) + βSZ (g). Wenden wir dies auf eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge {Zn }n an, so liefert Folgerung 4.1 nach Grenzübergang n → ∞ die behauptete Linearität des Integrals. 4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 131 (ii) Nach (i) gilt h := g − f ∈ R(I). Wegen h ≥ 0 liefert Formel (4.7) (i) 0 ≤ S Z (h) ≤ I(h) = I(g) − I(f ). also die Behauptung. (iii) Die umgekehrte Dreiecksungleichung liefert ¯ ¯ ¯|f (x)| − |f (x0 )|¯ ≤ |f (x) − f (x0 )| für alle x, x0 ∈ I. Wie in (i) folgern wir hieraus m.H. von (4.11) und Satz 4.2: S Z (|f |) − S Z (|f |) ≤ S Z (f ) − S Z (f ) < ε für alle Zerlegungen Z mit ∆(Z) < δ, wobei ε > 0 beliebig und δ = δ(ε) > 0 geeignet gewählt sind. Satz 4.2 liefert also wieder |f | ∈ R(I). Ferner entnehmen wir (ii): I(f ) ≤ I(|f |), (i) −I(f ) = I(−f ) ≤ I(|f |) bzw. |I(f )| ≤ I(|f |). (iv) Hier erhalten wir (ähnlich wie in (i) und (iii)) die Integrierbarkeit von f · g für f, g ∈ R(I) aus der Relation |f (x)g(x) − f (x0 )g(x0 )| ≤ (sup |f |)|g(x) − g(x0 )| + (sup |g|)|f (x) − f (x0 )| I I für alle x, x0 ∈ I. Aus (i)-(iii) und der Ungleichung |f (x)g(x)| ≤ (sup |g|)|f (x)|, x ∈ I, I folgt noch ³ ´ (i) |I(f g)| ≤ I(|f g|) ≤ I (sup |g|)|f | = (sup |g|)I(|f |). (iii) (ii) I I (v) Wegen |g| ≥ c > 0 haben wir ¯ 1 1 ¯¯ 1 ¯ − ¯ ¯ ≤ 2 |g(x) − g(x0 )| für alle x, x0 ∈ I, 0 g(x) g(x ) c so dass wie oben und wir finden 1 g ∈ R(I) folgt. Damit ist nach (iv) auch f g ∈ R(I) richtig, ¯ 1 ¯´ ¯ ³ f ´¯ (iv) ³ 1 ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ≤ sup ¯ ¯ I(|f |) ≤ I(|f |). ¯I g g c I Damit ist alles gezeigt. q.e.d. 132 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Satz 4.4: Für I = [a, b] gilt C 0 (I) ⊂ R(I). Beweis: Da I = [a, b] kompakt ist, ist jede Funktion f ∈ C 0 (I) gleichmäßig stetig nach Satz 3.3 aus Kap. 2. Zu beliebigem ε > 0 existiert also ein δ = δ(ε) > 0, so dass gilt ε |f (x) − f (x0 )| < für alle x, x0 ∈ I mit |x − x0 | < δ. b−a Ist nun Z eine beliebige Zerlegung von I mit ∆(Z) < δ, so folgt S Z (f ) − S Z (f ) = N X £ ¤ sup f − inf f ∆xj j=1 (4.11) = µX N Ij Ij ¶ sup |f (x) − f (x0 )| ∆xj 0 j=1 x,x ∈Ij N < ε X ∆xj = ε b−a j=1 und somit f ∈ R(I) nach Satz 4.2. q.e.d. Bemerkung: Eine Funktion f : I → R, I = [a, b], heißt stückweise stetig auf I, wenn eine Zerlegung Z = {x0 , . . . , xN : a = x0 < x1 < . . . < xN = b} von I so existiert, dass f in jedem Teilintervall Ij = (xj−1 , xj ) stetig ist und die einseitigen Grenzwerte limξ→xj−1 + f (ξ), limξ→xj − f (ξ) existieren für j = 1, . . . , N . Die Funktionen limξ→xj−1 + f (ξ), x = xj−1 f (x), x ∈ (xj−1 , xj ) ϕj (x) := limξ→xj − f (ξ), x = xj sind also stetig auf [xj−1 , xj ] für j = 1, . . . , N . Aus Satz 4.4 erhält man nun leicht die Folgerung 4.2: Jede stückweise stetige Funktion auf dem Intervall I = [a, b] ist Riemann-integrierbar. Satz 4.5: (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Es sei I = [a, b] und f ∈ C 0 (I) sowie p ∈ R(I) mit p ≥ 0 auf I seien gegeben. Dann existiert ein ξ ∈ (a, b), so dass gilt Zb Zb f (x)p(x) dx = f (ξ) a p(x) dx. a (4.12) 4. DAS EINDIMENSIONALE RIEMANNSCHE INTEGRAL 133 Bemerkung: Speziell für p(x) := 1, x ∈ [a, b], haben wir p ∈ R(I) und z.B. nach Folgerung 4.1: Zb 1 dx = lim SZn (1) = b − a n→∞ a für eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge {Zn }n und beliebige Zwischenwerte. Satz 4.5 liefert also Zb Zb 1 − f (x) dx := f (x) dx = f (ξ). b−a a a Rb Die Größe −a f (x) dx heißt Mittelwert von f über I und gibt die mittlere Höhe“ ” von f an. Beweis von Satz 4.5: Mit m := inf I f , m := supI f haben wir mp(x) ≤ f (x)p(x) ≤ mp(x) für x ∈ I. Satz 4.3 (i), (ii) liefern also Zb Zb p(x) dx ≤ m a Zb f (x)p(x) dx ≤ m a p(x) dx. a Somit existiert ein µ ∈ [m, m] mit Zb Zb p(x) dx. f (x)p(x) dx = µ a (4.13) a Nach dem Weierstraßschen Hauptlehrsatz gibt es x1 , x2 ∈ [a, b] mit f (x1 ) = m, f (x2 ) = m. Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein ξ ∈ [a, b] mit f (ξ) = µ, so dass (4.12) sofort aus (4.13) folgt. Als Übungsaufgabe zeige man noch, dass o.E. ξ ∈ (a, b) angenommen werden kann. q.e.d. Hilfssatz 4.2: Ist I = [a, b] ein kompaktes Intervall und f ∈ R(I), so gilt auch f ∈ R(I 0 ) für jedes abgeschlossene Teilintervall I 0 ⊂ I. Beweis: Wegen f ∈ R(I) existiert nach Satz 4.1 zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z von I mit S Z (f ) − S Z (f ) < ε. Für die Verfeinerung Z ∗ von Z, die zusätzlich die beiden Endpunkte von I 0 enthält, gilt dann nach Hilfssatz 4.1 (i): S Z ∗ (f ) − S Z ∗ (f ) ≤ S Z (f ) − S Z (f ) < ε. Die Teilzerlegung Z 0 von Z ∗ , die nur Teilpunkte in I 0 enthält, ist dann offenbar Zerlegung von I 0 und es gilt S Z 0 (f ) − S Z 0 (f ) ≤ S Z ∗ (f ) − S Z ∗ (f ) < ε, so dass wiederum Satz 4.1 liefert: f ∈ R(I 0 ). q.e.d. 134 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Satz 4.6: (Additivität des Integrals) Es sei I = [a, b] in endlich viele abgeschlossene Teilintervalle I1 , . . . , Iµ zerlegt, die höchstens Randpunkte gemein haben, d.h. I = I1 ∪ . . . ∪ Iµ , int Ij ∩ int Ik = ∅ für j 6= k. Dann gilt für beliebige f ∈ R(I) die Relation Z f (x) dx = µ Z X f (x) dx. (4.14) j=1 I I j Beweis: Nach Hilfssatz 4.2 gilt zunächst f ∈ R(Ij ) für j = 1, . . . , µ, so dass alle Integrale in (4.14) erklärt sind. Es sei nun {Zn }n eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge, deren Elemente die Endpunkte aller Teilintervalle enthalten, und SZn (f ) seien (j) zugehörige Riemannsche Zwischensummen. Schreiben wir dann SZn (f ) für die Zwischensummen, die nur Teilpunkte aus Ij enthalten, so gilt offenbar SZn (f ) = µ X (j) SZn (f ) für alle n ∈ N. j=1 Grenzübergang n → ∞ und Folgerung 4.1 liefern die Behauptung. q.e.d. Definition 4.5: Ist f ∈ R(I), I = [a, b] und seien α, β ∈ I mit α > β gewählt. Dann setzen wir Zβ Zα f (x) dx = 0 Zα f (x) dx := − und α α f (x) dx. β Satz 4.7: Ist f ∈ R(I) und sind α, β, γ ∈ I = [a, b] beliebig gewählt, so folgt Zγ Zβ f (x) dx + α Zγ f (x) dx. f (x) dx = β (4.15) α Beweis: Nach Hilfssatz 4.2 und Definition 4.5 sind alle Integrale sinnvoll erklärt. • Stimmen zwei der Zahlen α, β, γ überein, so ist die Aussage trivial. • Falls α < β < γ gilt, so ist (4.15) ein Spezialfall von (4.14) wegen f ∈ R([α, γ]). 5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 135 • Falls β < α < γ gilt, so haben wir f ∈ R([β, γ]) und Zγ (4.14) f (x) dx = β Zγ Zα f (x) dx f (x) dx + Def. 4.5 = Zβ − f (x) dx + α α β Zγ f (x) dx, α also nach Umstellen wieder (4.15). Ganz entsprechend ergeben sich die übrigen vier Fälle (β < γ < α, α < γ < β, γ < α < β, γ < β < α). q.e.d. Wir betrachten nun noch komplex- bzw. vektorwertige Funktionen: Definition 4.6: (i) Eine beschränkte Funktion f : I → C heißt integrierbar auf I = [a, b], wenn Re f, Im f ∈ R(I) gilt. Wir setzen dann Zb Zb f (x) dx := a Zb Re f (x) dx + i a Im f (x) dx a und schreiben f ∈ R(I, C). (ii) Entsprechend heißt f = (f1 , . . . , fd ) : I → Rd integrierbar auf I = [a, b], wenn fj ∈ R(I) für alle j = 1, . . . , d gilt. Wir schreiben dann f ∈ R(I, Rd ) und setzen µ Zb ¶ Zb Zb f (x) dx := f1 (x) dx, . . . , fd (x) dx . a a a Bemerkung: Mit diesen Definitionen lassen sich die Aussagen der Sätze 4.3 (außer (ii), und (v) nur für f, g ∈ R(I, C)), 4.4, 4.6 und 4.7 direkt auf Funktionen in R(I, C) bzw. R(I, Rd ) übertragen. 5 Integration und Differentiation Definition 5.1: Sei I ⊂ R beliebig und f ∈ C 0 (I) gegeben. Dann heißt F ∈ C 1 (I) Stammfunktion zu f , falls gilt F 0 (x) = f (x) für alle x ∈ I. Satz 5.1: Ist c ∈ I = [a, b] beliebig und f ∈ C 0 (I). Dann ist Zx f (t) dt, F (x) := c eine Stammfunktion zu f . x ∈ I, 136 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Beweis: Für x ∈ I und h 6= 0 mit x + h ∈ I gilt F (x + h) − F (x) h = Def. 4.5 = (4.15) = 1 h µ x+h ¶ Z Zx f (t) dt − f (t) dt c c µ x+h ¶ Z Zc 1 f (t) dt + f (t) dt h 1 h c x+h Z (5.1) x f (t) dt. x Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung existiert ein ξh ∈ I zwischen x und x + h mit x+h Z 1 f (t) dt = f (ξh ). (5.2) h x Wegen |ξh − x| ≤ |h| → 0 (h → 0) und der Stetigkeit von f haben wir ¢ ¡ lim f (ξh ) = f lim ξh = f (x). h→0 h→0 Zusammen mit (5.1) und (5.2) finden wir also lim h→0 F (x + h) − F (x) = lim f (ξh ) = f (x) h→0 h und somit F 0 ≡ f ∈ C 0 (I). q.e.d. Satz 5.2: Sei F ∈ C 1 (I) eine beliebige Stammfunktion von f ∈ C 0 (I), I ⊂ R Intervall. Eine Funktion G ∈ C 1 (I) ist genau dann Stammfunktion von f , wenn G − F ≡ const auf I gilt. Beweis: • ⇒“: Ist G Stammfunktion zu f , so folgt ” (G − F )0 = G0 − F 0 = f − f = 0 auf I. Nach Folgerung 2.1 (iii) ist also G − F ≡ const auf I. • ⇐“: Ist umgekehrt G − F ≡ const auf I, so folgt ” G0 = (F + const)0 = F 0 = f d.h. G ist Stammfunktion. auf I, q.e.d. 5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 137 Bemerkung: Ist also F ∈ C 1 (I) eine Stammfunktion von f (z.B: die in Satz 5.1 erklärte), so ist die Menge aller Stammfunktionen gegeben durch {G ∈ C 1 (I) : G ≡ F + c, c ∈ R}. Diese Menge wird unbestimmtes Intergral von f genannt und wir schreiben Z f (x) dx := {F + c : c ∈ R} oder, wie allgemein gebräuchlich, Z f (x) dx = F (x) + c. Zur Unterscheidung heißt daher den Grenzen a und b). Rb a f (x) dx auch bestimmtes Integral von f (zwischen Satz 5.3: (Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung) Sei F ∈ C 1 (I) eine beliebige Stammfunktion von f ∈ C 0 (I), I = [a, b]. Dann gilt Zb ¯b f (x) dx = F (b) − F (a) =: F (x)¯a . a Rx Beweis: Nach Satz 5.1 ist F0 (x) := a f (t) dt Stammfunktion von f , und nach Satz 5.2 gilt F ≡ F0 + c auf I mit einer Konstanten c ∈ R. Wegen F0 (a) = 0 folgt also Zb f (x) dx = F0 (b) = F0 (b) − F0 (a) = F (b) − F (a), a wie behauptet. q.e.d. Beispiele: 1. Für α 6= −1 gilt Z xα dx = α+1 xα+1 + c, α+1 d x ( α+1 ) = xα nach (3.9). D.h. F (x) = denn dx f (x) = xα auf (0, +∞). Satz 5.3 liefert also Zb für a, b > 0. xα+1 α+1 ist Stammfunktion von xα+1 ¯¯b 1 x dx = (bα+1 − aα+1 ) ¯ = α+1 a α+1 α a x > 0, 138 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG 2. Nach Formel (3.5) gilt Z also Zb a 1 dx = log x + c, x ¯b dx b = log x¯a = log x a x > 0, für a, b > 0. 3. Den Formeln (3.3) und (3.10) entnehmen wir Z exp x dx = exp x + c, Z cos x dx = sin x + c, Z sin x dx = − cos x + c, x ∈ R. Satz 5.4: (Partielle Integration) Ist I = [a, b] und sind f, g ∈ C 1 (I, Rd ) gegeben, so gilt Zb ¯b hf 0 (x), g(x)i dx = hf (x), g(x)i¯a − a Zb hf (x), g 0 (x)i dx. (5.3) a Beweis: Die Produktformel (1.7) und Satz 5.3 liefern sofort ¯b hf (x), g(x)i¯ a Zb = a d hf (x), g(x)i dx dx Zb Zb 0 = hf (x), g 0 (x)i dx hf (x), g(x)i dx + a a und nach Umstellen die Behauptung (3.4). q.e.d. Bemerkung: Die zuweilen nützliche unbestimmte Version“ von (5.3) ist ” Z Z hf 0 (x), g(x)i dx = hf (x), g(x)i − hf (x), g 0 (x)i dx. (5.4) Diese gewinnt man wieder sofort aus der Produktformel (1.7) und der Definition des unbestimmten Integrals. 5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 139 Beispiele: π π Z2 Z2 sin2 x dx = 1. 0 cos2 x dx = 0 π . Denn Satz 5.4 liefert 4 π Z2 π ¯π sin2 x dx = [− cos x · sin x]¯02 + 0 π Z2 Z2 cos2 x dx = 0 π 2 (1 − sin x) dx = 0 bzw. π 2 Z 2 = 0 π 2 Z cos2 x dx Z sin2 x dx dx − 0 0 π π Z2 sin2 x dx = 0 1 2 Z2 0 π 1 ¯π dx = x¯02 = . 2 4 2. Für x > 0 haben wir nach (5.4): Z Z log x dx = Z 1 · log x dx = x log x − x· 1 dx x = x log x − x + const, also Za log x dx = a(log a − 1) + 1 für a > 0. 1 Satz 5.5: (Substitutions- oder Transformationsformel) Es seien I, I ∗ ⊂ R zwei kompakte Intervalle, und f ∈ C 0 (I, Rd ) sowie ϕ ∈ C 1 (I ∗ , R) mit ϕ(I ∗ ) ⊂ I seien gegeben. Dann gilt für beliebige α, β ∈ I ∗ : ϕ(β) Z Zβ f (ϕ(t))ϕ0 (t) dt. f (x) dx = ϕ(α) (5.5) α Beweis: Es sei F ∈ C 1 (I, Rd ) eine Stammfunktion von f , d.h. F 0 ≡ f auf I. Für g := F ◦ ϕ gilt dann g ∈ C 1 (I ∗ , Rd ) und der Kettenregel, Satz 1.3, entnehmen wir g 0 (t) = F 0 (ϕ(t))ϕ0 (t) = f (ϕ(t))ϕ0 (t), t ∈ I ∗. 140 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Satz 5.3 liefert also für beliebige α, β ∈ I ∗ : Zβ Zβ 0 g 0 (t) dt = g(β) − g(α) f (ϕ(t))ϕ (t) dt = α α ϕ(β) Z = F (ϕ(β)) − F (ϕ(α)) = f (x) dx, ϕ(α) wie behauptet. q.e.d. Beispiele: 1. Zu berechnen sei Rr√ r2 − x2 dx, r > 0. 0 Wir betrachten die Transformation x = ϕ(t) = r sin t, t ∈ [0, π2 ]. Dann ist ϕ(0) = 0, ϕ( π2 ) = r und ϕ0 (t) = r cos t. Formel (5.5) liefert also π π Zr p Z2 p Z2 πr2 2 2 2 2 2 2 . r − x dx = r − r sin t · r cos t dt = r cos2 t dt = 4 0 0 0 (→ Flächeninhalt der Kreisscheibe vom Radius r > 0 ist 4 · 2. Zu berechnen ist R1 0 πr2 4 = πr2 ). (1 + t2 )α t dt, α ∈ R \ {−1}. Wir beachten 1 d h(t) := (1 + t2 )α t = (1 + t2 )α (1 + t2 ), 2 dt t ∈ R. Mit f (x) := xα , x > 0, und ϕ(t) := 1 + t2 , t ∈ R, haben wir also 1 h(t) = f (ϕ(t))ϕ0 (t), 2 t ∈ R. Beachten wir noch ϕ(0) = 1, ϕ(1) = 2, so folgt schließlich Z1 1 (1 + t ) t dt = 2 2 α 0 (5.5) Z2 xα dx = 1 1 xα+1 ¯¯2 2α+1 − 1 , ¯ = 2α+1 1 α+1 α 6= −1. 5. INTEGRATION UND DIFFERENTIATION 141 Bemerkungen: 1. Die unbestimmte Form der Substitutionsregel (5.5), nämlich Z Z f (x) dx = f (ϕ(t))ϕ0 (t) dt (5.6) ist häufig ebenfalls hilfreich. Ist F (x) eine Stammfunktion von f (x) und kennt man eine Stammfunktion Ψ(t) von f (ϕ(t))ϕ0 (t), so bedeutet (5.6) gerade F (x) = Ψ(t) + c mit x = ϕ(t). Vorsicht: Möchte man, ähnlich wie in Bsp. 1 oben, eine Stammfunktion von f mittels (5.6) bestimmen, so muss ϕ bijektiv sein: Kennt man nämlich Ψ, so finden wir dann F (x) = Ψ(ϕ−1 (x)) + c. Beispiel: Z dx 2 r + x2 x=ϕ(t)=rt Z = (3.22) = r dt 1 = 2 2 2 r +r t r 1 arctan t + const r Z dt 1 + t2 ϕ−1 (x)= xr = 1 x arctan + const. r r 2. Es gibt eine Vielzahl von Kunsgriffen zur Bestimmung von Integralen bzw. Stammfunktionen, auf die wir nicht im Einzelnen eingehen können. Wir verweisen auf S. Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), Kap. 3, § 10 für einige Beispiele, insbesondere die Integration rationaler Funktionen (→ Partialbruchzerlegung). Wir betrachten nun wieder Funktionenfolgen und beginnen mit dem Satz 5.6: Sei {fn }n eine Folge von Funktionen fn ∈ R(I, Rd ), I = [a, b], mit der Eigenschaft fn → → f (n → ∞) auf I. Dann folgt f ∈ R(I, Rd ) und Zb Zb f (x) dx = lim fn (x) dx. n→∞ a (5.7) a Bemerkungen: 1. Satz 5.6 besagt, dass wir bei gleichmäßig konvergenten, integrierbaren Funktionenfolgen Integration und Grenzwertbildung vertauschen können, denn (5.7) lässt sich schreiben als Zb Zb fn (x) dx. lim fn (x) dx = lim n→∞ a n→∞ a Die Aussage wird falsch bei nur punktweise konvergenten Funktionenfolgen. 142 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG 2. Satz 5.6 lässt sich natürlich wieder auf gleichmäßig konvergente Funktionenreihen übertragen. Beweis von Satz 5.6: Es bezeichne g : I → R die j-te Komponente von f und gn ∈ R(I) die j-te Komponente von fn für ein j ∈ {1, . . . , d}. Wir zeigen g ∈ R(I) und Zb Zb g(x) dx = lim gn (x) dx. (5.8) n→∞ a Rb a Die Definition von a f (x) dx als komponentenweises Integral liefert dann die Behauptung. Sei also ε > 0 beliebig gewählt, so existiert ein N = N (ε) ∈ N mit ε |gn (x) − g(x)| < für alle x ∈ I, n ≥ N. (5.9) 3(b − a) Speziell für n = N erhalten wir also |g(x) − g(x0 )| < |gN (x) − gN (x0 )| + 2ε 3(b − a) für alle x, x0 ∈ I. (5.10) Ist nun Z eine Zerlegung von I mit S Z (gN )−S Z (gN ) < 3ε , die nach Satz 4.1 existiert, so liefern (5.10) und (4.11) die Relation X 2ε ε 2 S Z (g) − S Z (g) < S Z (gN ) − S Z (gN ) + ∆xj < + ε = ε. 3(b − a) 3 3 j Wiederum nach Satz 4.1 ist somit g ∈ R(I) richtig, und Satz 4.3 sowie (5.9) liefern ¯ Zb ¯ ¯ Zb ¯ Zb ¯ ¯ ¯ £ ¤ ¯ ¯ gn (x) dx − g(x) dx¯ = ¯ gn (x) − g(x) dx¯¯ ¯ ¯ ¯ a a Zb ≤ a a ε |gn (x) − g(x)| dx < 3(b − a) (5.9) Zb dx < ε für alle n ≥ N, a also (5.8) wie behauptet. q.e.d. Wir sind nun in der Lage, den ausgelassenen Beweis von Satz 1.5 nachzuliefern, der uns erst die Differenzierbarkeit der elementaren Funktionen in § 3 sicherte. Zur Erinnerung formulieren wir ihn noch einmal als Satz 5.7: Sei I = [a, b] und {fn }n eine Folge von Funktionen fn ∈ C 1 (I, Rd ) für alle n ∈ N. Falls dann gilt fn → f (n → ∞), fn0 → → g (n → ∞) auf I, so folgt für den punktweisen Limes f ∈ C 1 (I, Rd ), und es gilt f 0 = g auf I. 6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 143 Beweis: Da fn0 ∈ C 0 (I, Rd ) gilt, liefert der Weierstraßsche Konvergenzsatz, Satz 4.1 aus Kap. 2, für die Grenzfunktion g ∈ C 0 (I, Rd ). Und wegen C 0 (I, Rd ) ⊂ R(I, Rd ) haben wir nach Satz 5.6: Zx Zx fn0 (t) dt lim n→∞ = a g(t) dt für alle x ∈ [a, b]. a Andererseits entnehmen wir Satz 5.3 die Relation Zx fn0 (t) dt, fn (x) = fn (a) + x ∈ [a, b]. (5.11) a Grenzübergang n → ∞ liefert nun Zx f (x) = f (a) + g(t) dt, x ∈ [a, b]. a Insbesondere ist also f ∈ C 1 (I, Rd ) nach Satz 5.1 und Differentiation liefert f 0 = g auf I, wie behauptet. q.e.d. Bemerkung: Der Beweis zeigt, dass es genügt statt fn → f (n → ∞) auf I die Konvergenz der Punkte {fn (a)}n zu fordern. Die Beziehung fn → f (n → ∞) auf I folgt dann aus (5.11). Dabei kann a noch durch einen beliebigen Punkt c ∈ I ersetzt werden. Beispiel: Es gilt ³ x ´n = ex für alle x ∈ R. 1+ n→∞ n Mit fn (x) := n log(1 + nx ) und f (x) = x für |x| ≤ N und n > N gilt nämlich fn (0) = 0 = f (0) sowie 1 fn0 (x) = , f 0 (x) = 1. 1 + nx Man rechnet leicht fn0 → → f 0 (n → ∞) auf [−N, N ] nach, so dass Satz 5.7 und die anschließende Bemerkung auch fn → f (n → ∞) auf [−N, N ] liefern. Da schließlich exp : R → R stetig ist, folgt h ³ ³ x ´i x ´n = exp lim n log 1 + = exp x. lim 1 + n→∞ n→∞ n n lim 6 Uneigentliche Integrale Bisher haben wir nur beschränkte Funktionen über kompakte Intervalle integriert. Beide Einschränkungen sollen jetzt aufgeweicht werden: 144 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Fall I: Unbeschränktes Integrationsintervall Sei I z.B. nach oben unbeschränkt, also I = [a, +∞). Ferner gelte f ∈ R([a, b]) für jedes b ∈ [a, +∞), insbesondere sei also f auf [a, b] beschränkt für alle b ∈ [a, +∞). Rb Definition 6.1: Wenn limb→+∞ a f (x) dx existiert, so heißt dieser Grenzwert das uneigentliche Integral von f über [a, +∞) und wir schreiben +∞ Z Zb f (x) dx := lim f (x) dx. b→+∞ a a Wir sagenRdann, das uneigentliche Integral R b existiert oder konvergiert, anderenfalls +∞ sagen wir a f (x) dx divergiert. Falls a f (x) dx → ±∞ (b → +∞) gilt, sagen wir R +∞ f (x) dx ist bestimmt divergent und schreiben a +∞ Z f (x) dx = ±∞. a Schließlich heißt R +∞ a f (x) dx absolut konvergent, wenn R +∞ a |f (x)| dx konvergiert. Bemerkungen R +∞ 1. Nach dem Cauchyschen Konvergenzkriterium ist a f (x) dx genau dann konvergent, wenn zu jedem ε > 0 ein ξ ≥ a existiert mit ¯ Zb0 ¯ ¯ Zb0 ¯ Zb ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ f (x) dx¯ = ¯ f (x) dx − f (x) dx¯ < ε für alle b, b0 > ξ. ¯ ¯ ¯ ¯ a b a R +∞ 2. Hieraus und aus Satz 4.3 (iii) folgt auch: Konvergiert a f (x) dx absolut, so auch im gewöhnlichen Sinne. Die Umkehrung gilt i.A. nicht (siehe das u.a. Beispiel). R +∞ 3. Ist ϕ : [a, +∞) → R nichtnegativ, so existiert a ϕ(x) dx nach dem Satz über monotone Konvergenz genau dann, wenn es ein c > 0 gibt mit der Eigenschaft Zb ϕ(x) dx ≤ c für alle b ∈ [a, +∞). a Anderenfalls ist R +∞ a ϕ(x) dx bestimmt divergent. Schreibweise 6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 145 +∞ Z • Konvergenz: ϕ(x) dx < +∞. a +∞ Z • Divergenz: ϕ(x) dx = +∞. a Satz 6.1: (Majorantenkriterium) Sei f : [a, +∞) → R mit f ∈ R([a, b]) für alle b ∈ [a, +∞) gegeben. Falls dann die Relation |f (x)| ≤ ϕ(x) für alle x ∈ [a, +∞) R +∞ gilt mit einer nichtnegativen Funktion ϕ : [0, +∞) → R, die a ϕ(x) dx < +∞ R +∞ erfüllt, dann konvergiert das Integral a f (x) dx absolut. Beweis: Sofort klar aus Zb Zb ϕ(x) dx für alle b ∈ [a, +∞) |f (x)| dx ≤ a a und obigen Bemerkungen. q.e.d. Bemerkung: Die Formulierung und den Beweis eines entsprechenden Minorantenkriteriums überlassen wir dem Leser. R +∞ sin x Beispiel: Wir behaupten: 0 x dx ist konvergent, aber nicht absolut konvergent. Denn: • Wegen limx→0+ sinx x = 1 können wir sinx x als auf [0, +∞) stetige Funktion auffassen. Für beliebige 0 < b < b0 berechnen wir mit partieller Integration Zb0 0 Zb sin x cos x ¯¯b0 cos x dx = − dx. ¯ − x x b x2 b b Es folgt also ¯ ¯ Zb0 Zb0 ¯ sin x ¯ 1 1 2 1 3 dx ¯ dx¯¯ ≤ + 0 + < + = → 0 (b → +∞). ¯ 2 x b b x b b b b Somit ist R +∞ sin x 0 x b +∞ R 0 sin x x dx = π 2 dx konvergent nach obiger Bemerkung 1. Es gilt übrigens (siehe S. Hildebrandt: Analysis 1 (Springer-Verlag), S. 319 ). 146 • KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG R +∞ 0 | sinx x | dx ist nicht konvergent. Hierzu beachten wir Zkπ¯ ¯ ¯ sin x ¯ ¯ ¯ dx x = Zνπ ¯ k k ¯ X X 1 ¯ sin x ¯ ¯ ¯ dx ≥ x νπ ν=1 (ν−1)π Zπ k 0 Period. X 1 = νπ ν=1 ν=1 sin x dx = 0 2 π k X ν=1 Zνπ | sin x| dx (ν−1)π 1 → +∞ (k → ∞), ν wie behauptet. Ganz entsprechend erklärt man für eine Funktion f : (−∞, b] → R mit f ∈ R([a, b]) für alle a ∈ (−∞, b] das uneigentliche Integral Zb Zb f (x) dx, f (x) dx := lim a→−∞ a −∞ falls der Grenzwert existiert. Obige Aussagen lassen sich direkt übertragen. Sei nun f : R → R eine Funktion mit f ∈ R(I) für alle kompakten Intervalle I ⊂ R. Falls dannRfür ein a ∈ R (und damit für alle a ∈ R) die uneigentlichen Integrale Ra +∞ f (x) dx, a f (x) dx existieren, so erklären wir das uneigentliche Integral −∞ +∞ +∞ Z Za Z f (x) dx := f (x) dx + f (x) dx. −∞ (6.1) a −∞ Man rechnet leicht nach, dass diese Definition von der Wahl von a ∈ R unabhängig ist. R +∞ Vorsicht: Die naheliegende Definition des uneigentlichen Integrals −∞ f (x) dx als Grenzwert ZR lim f (x) dx R→+∞ −R liefert i.A. nicht das gleiche Ergebnis: Dieser sogenannte CauchyscheR Hauptwert kann +∞ existieren, ohne dass das in (6.1) erklärte uneigentliche Integral −∞ f (x) dx existiert. Betrachte z.B. f (x) := x: Offenbar gilt ZR x dx = −R x2 ¯¯R = 0, ¯ 2 −R 6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 147 aber ZR x dx = R2 a2 − → +∞ (R → +∞), 2 2 x dx = a2 R 2 − → −∞ (R → +∞). 2 2 a Za −R Beispiele: 1. Wegen arctan0 x = 1 , 1+x2 Za 0 Z0 −a Wegen arctan a → folgt +∞ Z −∞ π 2 x ∈ R, haben wir für beliebige a > 0: dx 1 + x2 ¯a = arctan x¯0 = arctan a, dx 1 + x2 = − arctan(−a) = arctan a. (a → +∞) konvergieren also dx = 1 + x2 +∞ Z 0 dx + 1 + x2 Z0 −∞ R +∞ 0 dx , 1+x2 R0 dx −∞ 1+x2 und es dx π π = + = π. 2 1+x 2 2 2 2. Für beliebige x ∈ R erhält man ex ≥ 1 + x2 > 0 aus der Reihendarstellung 2 1 der e-Funktion. Also folgt 0 < e−x ≤ 1+x 2 . Und nach Beispiel 1 und dem MaR +∞ −x2 R0 2 jorantenkriterium konvergieren 0 e dx, −∞ e−x dx. Also existiert auch das Integral +∞ Z ¡ √ 2 e−x dx = π ). −∞ Fall II: Unbeschränkte Funktionen Sei nun f : [a, b) → R, −∞ < a < b < +∞, gegeben und auf jedem kompakten Teilintervall von [a, b) integrierbar. Definition 6.2: Wenn der Grenzwert Zξ Zb f (x) dx := lim f (x) dx ξ→b− a a 148 KAPITEL 3. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG existiert, bezeichnen wir ihn als das uneigentliche Integral von f über [a, b). Das Rb Rb Integral a f (x) dx heißt absolut konvergent, wenn a |f (x)| dx existiert. Rb Ganz entsprechend erklären wir das uneigentliche Integral a f (x) dx einer FunkRb tion f : (a, b] → R durch den rechtsseitigen Grenzwert limξ→a+ ξ f (x) dx. Ist f nur auf (a, b) erklärt, müssen beide Grenzwerte betrachtet werden. Wie in Fall I zieht absolute Konvergenz wieder gewöhnliche Konvergenz nach sich, und wir haben den Satz 6.1 entsprechenden Satz 6.2: (Majorantenkriterium) Für f : [a, b) → R gelte f ∈ R(I) für alle kompakten Intervalle I ⊂ [a, b). Existiert Rb dann eine nichtnegative Funktion ϕ : [a, b) → R mit a ϕ(x) dx < +∞ so, dass gilt |f (x)| ≤ ϕ(x) dann konvergiert Rb a für alle x ∈ [a, b), f (x) dx absolut. Beispiele: 1. Für α ∈ (0, 1) gilt Z1 R1 dx 0 xα 1 1−α , = denn wir haben 1 dx x1−α ¯¯1 1 (1 − ξ 1−α ) → (ξ → 0+). = ¯ = α x 1−α ξ 1−α 1−α ξ 2. Es gilt R1 0 √ dx 1−x2 Zξ 0 = π2 , denn ¯ξ dx π √ = arcsin x¯0 = arcsin ξ → (ξ → 1−). 2 2 1−x Bemerkung: Ist f : [a, b] \ {c} → R mit einem c ∈ (a, b) gegeben, d.h. f hat in einem inneren Punkt eine singuläre Stelle“, so setzen wir ” Zb Zc Zb f (x) dx := f (x) dx + f (x) dx, a a c Rc Rb wenn die uneigentlichen Integrale a f (x) dx, c f (x) dx existieren. Auch hier gibt es ein Hauptwertphänomen“: Der Grenzwert ” µ Zc−ε ¶ Zb lim f (x) dx + f (x) dx (6.2) ε→0+ a c+ε 6. UNEIGENTLICHE INTEGRALE 149 Rb kann existieren, ohne dass a f (x) dx existiert. R1 Beispiel: −1 dx x existiert nicht, wohl aber der Grenzwert (6.2). Wir wollen schließlich noch ein interessantes Kriterium für Reihenkonvergenz angeben: Satz 6.3: (Riemannsches Integralkriterium) Sei f : [1, +∞) → R eine monoton fallende, nichtnegative P Funktion mit f ∈ R(I) für alle kompakten I ⊂ [1, +∞). Dann konvergiert die Reihe ∞ n=1 an mit den Gliedern R +∞ an := f (n) genau dann, wenn das uneigentliche Integral 1 f (x) dx konvergiert. Beweis: Betrachten wir zu N ∈ N die äquidistante Zerlegung Z = {x0 , x1 , . . . , xN } := {1, 2, . . . , N + 1}, so hat f die Untersumme N N N X X X S Z (f ) = (inf f )∆xj = f (xj ) · 1 = aj+1 Ij j=1 und die Obersumme j=1 j=1 N N X X S Z (f ) = (sup f )∆xj = aj . j=1 Ij j=1 Es folgt somit N +1 X N Z+1 aj ≤ j=2 f (x) dx ≤ aj . j=1 1 R +∞ N X P +1 Falls also 1 f (x) dx existiert, ist { N j=2 aj }N beschränkt und die Konvergenz der Rb P Reihe folgt aus der Monotonie. Falls umgekehrt ∞ j=1 aj konvergiert, ist 1 f (x) dx R +∞ gleichmäßig beschränkt für alle b ≥ 1 und es folgt die Existenz von 1 f (x) dx. q.e.d. Beispiel: Für α > 1 berechnen wir +∞ Z 1 1 dx x1−α ¯¯b = lim . ¯ = α b→+∞ 1 − α 1 x α−1 Nach Satz 6.3 konvergiert somit die Reihe ∞ X 1 nα n=1 für alle α > 1.