„Die wollen sowieso nichts verändern!“ - oder etwa doch? Wie Störungen durch Substanzkonsum behandelt werden Ringvorlesung Forschungs- und Anwendungsfelder der Klinischen Psychologie 25.01.2016 Dr. Silke Behrendt Dr. Silke Behrendt, Dipl.-Psych. Professur für Suchtforschung Forschungsschwerpunkte: • Epidemiologische Forschung zur Entwicklung von Substanzkonsum und -störungen • Prospektives Gedächtnis bei Substanzstörungen • Psychotherapie für Alkoholstörungen bei Senioren In Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (VT) [email protected] Hinweis Klausur am 01.02.2016 für Studium Generale / AQUA Prüfungsvorbereitung • Lehrbuch Klinische Psychologie und Psychotherapie • Ggf. Folien • Inhalte sind alle Themen mit Ausnahme vom 25.01.2016 (Dozent: Dr. Silke Behrendt) • Multiple Choice, Einfachwahlaufgaben, Freitext (ca. 20%) • Definitionen, Begrifflichkeiten & Konzepte, Fakten Prüfungsformat • Klausur am 01.02.2016, im ASB 0028/H, 11:10 bis 12:40 Uhr, 90 Minuten Anmeldung für die Klausur: • formlose Anmeldung per e-mail ist bis 29.01.2016 möglich an susanne.knappe@tu-dresden • Teilnehmer bringen zur Klausur bitte einen vorbereiteten Leistungsschein mit: Name, Fachrichtung / Studium, Semester, Matr. Nummer sind schon ausgefüllt! Lernziele Lernziel der heutigen Vorlesung: 1. Was wird behandelt – und bei wem? Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Psychotherapeutische Interventionen 3. Wie hilfreich sind existierende Behandlungsansätze? Effektivität der psychotherapeutischen Behandlung von Substanzstörungen heute 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Dual process model of addiction Neue Interventionen & erste Ergebnisse Offene Forschungsfragen 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Was sind Substanzstörungen? 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen • Konsum einer psychotropen Substanz • Der Konsum führt bei einem Teil der Konsumenten zu: verstärktem Konsum, Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen, Kontrollverlust ist das eine Substanzstörung ? • DSM-IV: Substanzmissbrauch, Substanzabhängigkeit • DSM-V: Substanzkonsumstörung • ICD-10: Schädlicher Substanzkonsum, Substanzabhängigkeit • Konsequenzen: Gesundheitlich (Morbidität, Mortalität), sozial, psychisch, finanziell, rechtlich, Schädigung Dritter, Kosten….. 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Struktur des Substanzstörungskapitels im DSM-IV-TR Substanz-bezogene Störungen Substanzstörungen Substanzmissbrauch Substanzabhängigkeit Hierarchieregel! Substanz-induzierte psychische Störungen Substanzintoxikation Substanzentzug Substanzinduzierte(s): (z.B.) Delir, Demenz, psychotische Störung, affektive Störung, Angststörung…… 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Struktur des Substanzstörungskapitels im ICD-10 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychoaktive Substanzen • Intoxikation • Schädlicher Gebrauch • Abhängigkeitssyndrom • Entzugssyndrom • Psychotische Störung, Demenz, affektive Störung Hierarchieregel 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Substanzklassen im DSM-IV-TR und ICD-10 DSM-IV-TR ICD-10 Alkohol Alkohol Cannabis Cannabis Halluzinogene Halluzinogene Kokain Kokain Inhalantien Inhalantien Opioide Opioide Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika Sedativa und Hypnotika Nikotin Tabak Amphetamine Stimulantien Koffein Phencyclidin Polysubstanzbedingt Andere Nicht alle Diagnosen können für alle Substanzen vergeben werden 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen DSM-IV ICD-10 Missbrauch Schädlicher Gebrauch • Wiederholter Gebrauch, der zu einem • Nachweis, dass Substanzgebrauch Versagen bei der Erfüllung wichtiger Pflichten führt • Wiederholter Gebrauch in Situationen, in denen es zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann • Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz in Zusammenhang mit dem Gebrauch • Fortgesetzter Gebrauch trotz persistierender oder wiederholter sozialer Probleme verantwortlich ist für die körperlichen oder psychischen Schäden 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen DSM-IV ICD-10 Abhängigkeit Abhängigkeitssyndrom 3 oder mehr der folgenden Kriterien innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums: 3 oder mehr der folgenden Kriterien innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums: • Toleranzentwicklung • Entzugssymptome • Gebrauch in größeren Mengen oder • • • • • länger als beabsichtigt • Anhaltender Wunsch / erfolglose Versuche, den Gebrauch zu vermindern Starker Wunsch / Zwang zu konsumieren Verminderte Kontrollfähigkeit Körperliches Entzugssyndrom Nachweis einer Toleranz Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Konsums • Viel Zeit für Beschaffung, Gebrauch und • Konsum trotz schädlicher Folgen Erholung von den Wirkungen • Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher oder Freizeitaktivitäten • Fortgesetzter Gebrauch trotz Kenntnis der persönlichen Schädigung 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen DSM-V Substanzkonsumstörung 2 oder mehr der folgenden 11 Kriterien innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums: • Toleranzentwicklung • Entzugssymptome • Gebrauch in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt • Anhaltender Wunsch / erfolglose Versuche, den Gebrauch zu vermindern • Viel Zeit für Beschaffung, Gebrauch und Erholung von den Wirkungen • Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher oder Freizeitaktivitäten • Fortgesetzter Gebrauch trotz Kenntnis der persönlichen Schädigung • Starker Wunsch / Zwang zu konsumieren • Wiederholter Gebrauch, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Pflichten führt • Wiederholter Gebrauch in Situationen, in der es zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann • Fortgesetzter Gebrauch trotz persistierender oder wiederholter sozialer Probleme 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Inzidenzalter bei Substanzstörungen 0,4 0,35 alcohol abuse (N= 735) 0,3 cannabis abuse (N=303) 0,25 0,2 0,15 0,1 0,05 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 Age 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Inzidenzalter bei Substanzstörungen 0,5 0,45 0,4 alcohol dependence (N= 320) 0,35 nicotine dependence (N= 838 0,3 cannabis dependence (N= 102) 0,25 0,2 0,15 0,1 0,05 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Age 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Inzidenzalter bei Substanzstörungen 0,5 0,45 alcohol dependence (N= 320) nicotine dependence (N= 838 cannabis dependence (N= 102) Major Depression 0,4 0,35 0,3 0,25 0,2 0,15 0,1 0,05 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Age 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Inzidenzalter bei Substanzstörungen • Hochrisikophasen für Störungsinzidenz in der 2. und 3. Lebensdekade (z.B. Hingson et al., 2006) • Wahrscheinlichkeit der Konsuminzidenz bei Älteren ist gering (z.B. für Cannabis; Agrawal et al., 2009) • Evtl. mehr Berichte von später Störungsinzidenz in altersangepassten spezifischen Therapiestudien (Elderly-Studie, 68% Onset DSM-V Alkoholstörung bei >40 Jahre) • Prävalenzraten für Störungen und Konsum sind bei jungen Erwachsenen am höchsten (z.B. Harford et al., 2005) 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Stabilität und Remission bei Substanzstörungen • Veraltete Vorstellung: Speziell Abhängigkeit ausnahmslos progredient – Versterben als unausweichliche Folge • Epidemiologische Studien: Substanzstörungen haben einen variablen Verlauf mit Remissionen, Stabilität, Progression und „Waxing and Waning“ (z.B. Dawson et al., 2005; Wells et al., 2006) • Lebenszeitprävalenz für Remission bei Abhängigkeit: > 80% (Lopez-Quintero et al., 2011) • Latenz bis 50% Remission nach Beginn der Abhängigkeit: 26 Jahre (Nikotin), 14 Jahre (Alkohol), 6 Jahre (Cannabis) und 5 Jahre (Kokain) (Lopez-Quintero et al., 2011) • Prädiktoren der Stabilität: Abhängigkeit, ausgeprägter Konsum, männliches Geschlecht, geringes Einkommen, komorbide Substanzstörung (Perkonigg et al., 2008; Lopez-Quintero et al., 2011) 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Hilfesuchen bei Substanzstörungen • Ein großer Teil an Personen mit Lebenszeitdiagnose erreicht die Remission ohne jegliche fachliche Hilfe (z.B. Cunningham et al., 2000) • Ein großer Teil erhält keine fachliche Behandlung (Lebenszeit und 12-Monate) (z.B. Hasin et al., 2007, Jacobi et al., 2004, Mack et al., 2014). • Latenzen zwischen Störungsinzidenz und erster Behandlung bis zu 10 Jahre (Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit) (Hasin et al., 2007) • Prädiktoren für Behandlung: Komorbidität, alleinstehend, geringes Einkommen, geringe Bildung, weniger Angst vor bzw. Erleben von Stigmatisierung 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Hilfesuchen bei Substanzstörungen Alter in Jahren bei Erstkontakt zu Einrichtungen (amb.) des Suchthilfesystems* Hauptdiagnose Mittelw ert (Alter) Absolut (N) Prozent F10 Alkohol 45,0 151535 48,4% F11 Opioide 37,2 63916 20,4% F12 Cannabinoide 24,9 44716 14,3% F13 Sedativa/ Hypnotika 44,6 2469 0,8% F14 Kokain 33,8 6618 2,1% F15 Stimulanzien 27,9 18291 5,8% F16 Halluzinogene 31,4 181 0,1% F17 Tabak 38,7 2172 0,7% F18 Flüchtige Lösungsmittel 22,5 95 0,0% F19 And. psychotrope Substanz 30,9 1922 0,6% *ausgewählte Diagnosen, Dt. Suchthilfestatistik, 2014/Braun et al., 2015 1. Definition, Merkmale, Spontanverlauf und Hilfesuchen bei Substanzstörungen Zusammenfassung Substanzstörungen sind psychische Störungen mit meist frühem Erstauftreten und einem heterogenen Erscheinungsbild in Bezug auf: • • • • • Substanz(en) Symptomen Schweregrad Verlauf Folgen Eine fachgerechte Behandlung erfolgt: • Selten • Spät • Mit erhöhter Wahrscheinlichkeit z.B. bei Komorbidität 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Grundstruktur von Versorgungssystem & Behandlung Das Suchthilfesystem Träger: Kommunen und Rentenversicherung Beratungsstellen & Fachkliniken Psychiatrische Kliniken, Allgemeinkrankenhäuser Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten Berufsgruppen: Ärzte (z.B. FA Psychiatrie, Suchtmedizin), Psychologen, Sozialarbeiter und -pädagogen (Soziotherapie Sucht) Interdisziplinär und ganzheitlich, Schwerpunkt: Rehabilitation 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Grundstruktur von Versorgungssystem & Behandlung 3 Bausteine der Behandlung 1. Entzug: Dauer mehrere Tage je nach Schweregrad (Alkohol 7-13 Tage), Allgemeinkrankenhaus oder Psychiatrie; niedergelassene Ärzte, Suchtfachambulanzen. Qualifizierter Entzug: Mit psychosozialer Unterstützung (Entspannung und Ablenkung, Gruppentherapie, Psychoedukation). Ziel: Motivation zu weiterer Behandlung) (14-21 Tage) 2. Entwöhnung: Aufbau Abstinenzmotivation, Rückfallprävention, soziale Stabilisierung, Aufbau von Bewältigungsfertigkeiten (2-6 Monate; Fachklinik, Psychiatriestationen, ambulante Suchtberatung oder Psychotherapie) 3. Nachsorge: Psychotherapie, Suchtberatung (2-6 Monate), Selbsthilfegruppe 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Grundstruktur von Versorgungssystem & Behandlung Suchtberatungsstellen Ambulante Einrichtungen behandeln ca. 11.000 Pat. im Jahr Ziel: Rehabilitation, soziale und berufliche Teilhabe; nicht explizit: Störungsremission! Mitarbeiter: Psychologen, Sozialarbeiter und –pädagogen Weitere Angebote: Prävention, Hilfe für Angehörige, Angebote zu nicht-stoffgebundenen „Süchten“ und Essstörungen 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Ambulante Psychotherapie (PT) für Substanzstörungen? Außerhalb des Suchthilfesystems ist PT auch in ambulanter Entwöhnung und Nachsorge möglich Für ambulante Psychotherapie gilt die Psychotherapierichtlinie (nach Änderung im Juli 2011) Psychotherapierichtlinie (vom 08.07. 2011): Anwendungsbereiche: § 22 Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie…….können nur sein……Affektive Störungen, Angststörungen und Zwangsstörungen, Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen, Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, Essstörungen, Nichtorganische Schlafstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen, Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit/ Jugend 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Ambulante Psychotherapie (PT) für Substanzstörungen? Fortsetzung…… (2) Psychotherapie kann neben oder nach einer somatisch ärztlichen Behandlung von Krankheiten oder deren Auswirkungen angewandt werden, wenn psychische Faktoren einen wesentlichen pathogenetischen Anteil daran haben und sich ein Ansatz für die Anwendung von Psychotherapie bietet; Indikationen hierfür können nur sein: 1a. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (schädlicher Konsum, Missbrauch, Abhängigkeit), … …mit Sonderregelung für Abhängigkeit! 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Ambulante Psychotherapie für Substanzstörungen? Postalische Befragung niedergelassener PPT in fünf Bundesländern (Behrendt et al., 2014) N=229, 16.6% 83.4% der PPT sahen mindestens einen Patienten mit Substanzstörungen (inkl. Probatorik) 13.5% hatten das Vorliegen von Substanzstörungen nicht immer diagnostisch abgeklärt 3.1% gaben an, definitiv keinen Patienten mit Substanzstörungen zu behandeln 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Behandlungsangebote für Substanzstörungen Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie Spezifische Substanzstörungen als primärer Behandlungsanlass: Substanzabhängigkeit* 30,00 Alkohol Prozent 20,00 Medikamente Nikotin/Tabak Cannabis 10,00 andere illegale Drogen 0,00 *4-Wochen Prävalenz der Behandlung mindestens eines Patienten, ohne probatorische Sitzungen 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Behandlungsangebote für Substanzstörungen Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie Spezifische Substanzstörungen als sekundärer Behandlungsanlass: Substanzabhängigkeit* 50,00 Prozent 40,00 30,00 Alkohol Medikamente Nikotin/Tabak 20,00 Cannabis andere illegale Drogen 10,00 0,00 *4-Wochen Prävalenz der Behandlung mindestens eines Patienten, ohne probatorische Sitzungen 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Behandlungsangebote für Substanzstörungen Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie Behandlung von Patienten mit Opiatabhängigkeit in agonistischer Therapie* Durchgeführt von N=14/229; 6.1% Durchschnittliche Anzahl der behandelten Patienten: 1,4 (SD: 0.65; 1-3 Patienten) *4-Wochen Prävalenz der Behandlung mindestens eines Patienten, ohne probatorische Sitzungen 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Behandlungsangebote für Substanzstörungen Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie Erwünschtheit der Behandlung von Substanzstörungen in der eigenen Praxis Prozent 60,00 Substanzstörungen durch… 50,00 Alkohol 40,00 Medikamente Nikotin/Tabak 30,00 Cannabis 20,00 andere illegale Drogen 10,00 Opiate (mit Substitution) 0,00 Stimme voll zu Stimme teilweise zu Stimme gar nicht zu 2. (Psycho-)therapeutische Hilfe bei Substanzstörungen: Struktur der Behandlungsangebote für Substanzstörungen Zusammenfassung Es gibt ein eigenes Behandlungssystem für Substanzstörungen, das Suchthilfesystem Es ist interdisziplinär und umfasst verschiedene Arten von Einrichtungen Konsequenzen für erlebte und tatsächliche Zuständigkeit (z.B. Psychotherapie) 2. Wo gibt es welche (psycho-)therapeutische Hilfe? Psychotherapeutische Interventionen Allgemeiner Aufbau und Inhalt einer Psychotherapie (VT) für Substanzstörungen Behandlungsschritt Intervention (Bsp.) Diagnostik Klassifikatorische Diagnostik, Fragebögen, biol. Marker, Berichte Dritter Entwicklung Störungsbewusstsein und -modell Tagebuch, Lebenslinie, Situationsanalyse, Psychoedukation Förderung der Veränderungsmotivation Motivational Interviewing, 4-FelderSchema Rückfallprophylaxe Bestimmung von Risikosituationen, Skillstraining (z.B. Umgang mit Craving), Bewältigungstonband, Ablehnungstraining, Exposition, Notfallplan, Tagesstrukturierung, Aufbau von Aktivitäten 3. Wie hilfreich sind existierende Behandlungsansätze? Häufige Annahmen über die Therapie von Substanzstörungen (und einige Gegenargumente): • Mangelnde intrinsische Motivation („von Dritten geschickt“) • "Rückfälle sind vorprogrammiert“ • Substanzstörung als persönlicher Fehler („Wer aufhören will, der kann das auch so“) • Im höheren Lebensalter: „Lasst doch den Opa trinken, es ist seine einzige Freude!“ • Vieles trifft auch auf andere Störungen zu (z.B. Rückfälle, ambivalente Motivation) • Bsp.: 2/3 aller Raucher bereuen mit 18 Jahren angefangen zu haben; die Mehrheit initiiert Aufhörversuche (Hoch et al., 2008) • Es gibt Interventionen zur Erarbeitung der Motivation • Erhöhung der Bewältigungskompetenz statt „reine Willenssache“ • Schutz vor z.B. Folgeerkrankungen 3. Wie hilfreich sind existierende Behandlungsansätze? • Psychosoziale Interventionen für Substanzstörungen sind effektiv! • Man findet moderate Effekte für psychosoziale Interventionen für: • verschiedene illegale Substanzen (Cannabis > Opiate) (Dutra et al., 2008) • Alkoholstörungen (0.37) (Berglund et al., 2003) • Rauchen (Lancaster & Stead, 2005) • Abstinenzraten nach Behandlungsende: • 30% für illegale Drogen • 20-30% für Rauchen (12-Monats Follow-Up) • 60% für Alkoholabhängigkeit (6-Monats Follow-Up) • Abstinenzraten sinken nach Behandlungsende – besonders im ersten Jahr! 3. Wie hilfreich sind existierende Behandlungsansätze? Candis-Studie (Hoch et al., 2012) • Ambulante Psychotherapie (VT) für Cannabisstörungen • N = 122, Alter 16 – 44 Jahre • 10 Sitzungen (90 Minuten), 2x wöchentlich, manualbasierte Therapie Inhalte: • Motivational Enhancement Therapy • KVT: Psychoedukation, Bewältigung des Entzugs, Skills, Modifikation von Kognitionen, Einbezug sozialer Unterstützung Ergebnisse: • 7-Tage Abstinenz (post-treatment, Urintest): 41% vs. 12% in Wartekontrollgruppe • Höhere Abstinenzraten bei vollständiger Behandlung • 7-Tage Abstinenz nach 6 und 12 Monaten: 44% und 41% • Signifikant weniger Tage mit Beeinträchtigung (post-treatment) • Reduzierte allgemeine psychopathologische Belastung (BSI, post-treatment) • Reduzierter Schweregrad der Problematik (ASI; post-treatment) 3. Wie hilfreich sind existierende Behandlungsansätze? Zusammenfassung Ein genereller Pessimismus bzgl. der Therapie von Substanzstörungen ist unangebracht Rückfälle und ambivalente Motivation sind Therapieinhalt und kein Grund gegen Therapie Interventionen sind wirksam; allerdings sind die Effekte eher moderat …es gibt noch Verbesserungsbedarf! 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Offene Fragen zur Effektivität der Behandlung von Substanzstörungen: • Lässt sich die Wirksamkeit der Behandlung verbessern? • Welche spezifischen Interventionen helfen? • Über welche Wirkmechanismen? 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Das Dual process model of addiction Automatische vs. kontrollierte Prozesse/ Implizite vs. reflektive Prozesse Relativ automatische appetitive oder impulsive bzw. implizite Prozesse Relativ kontrollierte oder reflektive Prozesse Annahme: • Bei Substanzstörungen dominieren automatische Prozesse • Diese sind schneller als die kontrollierten/reflektiven Prozesse Dies spielt eine Rolle für Aufrechterhaltung und Rückfallgefahr! 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Das Dual process model of addiction Automatische vs. Kontrollierte Prozesse Aussagen von Patienten: „Ich war mir sicher, ich trinke nie wieder. Ich habe keine Ahnung, wie es wieder passiert ist, wirklich keine Ahnung“ „Als ich vom Einkaufen kam, hatte ich die Flasche Bier im Rucksack. Als wäre ich auf Auto-Pilot gewesen….“ „Der bietet mir das Sektglas an und bevor ich was sagen kann, ich meine, hatten wir ja geübt in der Klinik, wie man ablehnt, da greife ich schon zu und trinke – verrückt sowas!“ „Die erzählen groß was sich ändert und es ändert sich nix“ (Angehörige) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Das Dual process model of addiction Substanzstörungen gehen mit Beeinträchtigungen kognitiver Kontrollfunktionen einher Substanzabhängige zeigen beeinträchtigte Leistungen und veränderte Hirnaktivität in Aufgaben, die kognitive Kontrolle erfordern: • Ausrichtung an langfristigen Konsequenzen • Konflikt- und Fehlerüberwachung • Inhibition automatisierter oder impulsiver Reaktionen • Korrektur des Verhaltens nach Fehlern oder negativen Rückmeldungen • Regulation der eigenen Emotionen Caveat: Es fehlen longitudinale Studien zur Untersuchung zeitlicher Zusammenhänge! 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Das Dual process model of addiction Relativ automatische appetitive oder impulsive bzw. implizite Prozesse Relativ kontrollierte oder reflektive Prozesse Auf dem Weg zu neuen Interventionen: • Welche automatischen/impliziten Prozesse könnten zur Stabilität/ zu Rückfällen bei Substanzstörungen beitragen? • Welche automatischen/impliziten Prozesse sind bei Substanzstörungen verändert? • Kann man diese Prozesse aktiv beeinflussen? • Kann man kontrollierte bzw. reflektive Prozesse stärken? 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Das Dual process model of addiction Ansatzpunkte für neue Interventionen (Bezeichnung: Cognitive bias modification or retraining) • Attentional bias • Approach bias • Working memory 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Attentional Bias für substanzbezogene Stimuli • Vermehrte Hinwendung der Aufmerksamkeit zu substanzbezogenen Stimuli Warum ist das wichtig? • Mehr Hinwendung zu substanzbezogenen Reizen (vs. neutrale Reize) • Hinweise, dass Attentional Bias mit Craving assoziiert ist • Cue reactivity - motivationale Bereitschaft 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Attentional Bias für substanzbezogene Stimuli Menschen mit Substanzkonsum- und störungen zeigen Attentional Bias für substanzbezogene Reize: • z.B. Raucher vs. Nichtraucher • Abhängige vs. gesunde Kontrollen für: Alkohol, Kokain, Heroin • Regelmäßige Cannabiskonsumenten vs. Nicht-Konsumenten • Korrelation zwischen Ausmaß des Attentional Bias und Konsumintensität: Alkohol, Cannabis, Heroin • Korrelation mit Rückfallrisiko: Kokain, Heroin, Alkohol, Rauchen (Befund nicht einheitlich) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse „Attentional Bias Modification Training“ (Schoenmakers et al., 2010) • Frage: • Kann Attentional Bias bei Personen mit Alkoholabhängigkeit modifiziert werden? • Hat dies auch Auswirkungen auf andere wichtige Variablen (Abstinenz,Craving)? • Methoden: • N=43, Diagnose Alkoholabhängigkeit, in Behandlung (Entgiftung + KVT), Alter (Durchschnitt) ca. 45 Jahre (SD: ca. 10 Jahre) • Erhebung: Visual-Probe Task, Desires for Alcohol Questionnaire • Zielvariablen: Attentional bias, Craving, Time-to-relapse, Time-to-discharge • Intervention: 5 Sitzungen (á 30 Minuten), modifizierte Visual-probe task, Kontrollgruppe (Kategorisierungsaufgabe) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse „Attentional Bias Modification Training“ (Schoenmakers et al., 2010) Ergebnisse: • Kürzere Hinwendung zu Alkoholstimuli (alt und neu) in der Interventionsbedingung • keine Assoziation mit Craving, aber mit subjektiver Kontrollzuversicht • Time-to-relapse: durchschnittlich 1.25 Monate länger nach Intervention • Time-to-discharge: durchschnittlich 28 Tage früher als Kontrollen 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse „Retraining Attentional Bias“ (Fadardi & Cox, 2008) • Studie mit Personen mit starkem Alkoholkonsum (50 / 35 SD) • Training des Attentional Bias führte zu Reduktion des Attentional Bias • Reduktion der Trinkmenge zu Post-Training • Keine Kontrollgruppe, hoher Drop-Out zur Folgeerhebung 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Attentional Bias Modification: Kritik • Instrumente haben schlechte Reliabilität (Christiansen et al., 2015, Ataya et al. 2012) • Andere Methodenprobleme: Fehlende KG, Validität, geringe stat. Power • Hinweise auf fehlende Generalisierung nach Trainings • In der Gesamtschau: Gemischte Ergebnisse bzgl. Attentional Bias und Rückfall und Attentional Bias Modification und Konsumverhalten • Attentional bias ist evtl. nicht stabil sondern abhängig von Stimuli und Motivation sowie anderen Faktoren wie Chronizität, exekutive Funktionen (Christiansen et al., 2015; Loeber et al., 2009) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Approach Bias für substanzbezogene Stimuli Frage: Zeigen Menschen mit Alkoholabhängigkeit einen Approach Bias für substanzbezogene Reize? Kann man diesen Bias modifizieren? Warum ist das wichtig? Rückfallgefahr durch schnelle, automatische Annäherung an Substanz Approach bias bei Personen mit starkem Cannabiskonsum sagt Konsumsteigerung vorher (Cousijn, 2011) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Approach Bias für substanzbezogene Stimuli: Ergebnisse aus einer Fachklinik Wiers et al. (2011) • N= 214 Patienten mit Alkoholabhängigkeit • Training: Alkoholstimuli vermeiden • Baseline: Starker Approach Bias für Alkohol-Stimuli • Post-Training: Avoidance Bias in Trainingsbedingung (vs. Kontrollen) • 12-Monats-Follow-Up: Tendenz zur niedrigeren Rückfallrate in Trainingsgruppe • Teils repliziert von Eberl et al.(2013) mit N=509 • 10% weniger Rückfälle nach 12 Monaten (vs. kein Training) • Avoidance bias nach Training • Kein approach bias vor dem Training 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Inhibition gegenüber substanzbezogenen Stimuli: Ergebnisse aus einer Studie mit Studierenden Houben et al., 2011 • N= 52, hoher Alkoholkonsum • Go-/No-Go Task • 2 Trainingsgruppen (Beer/Go und Beer/No-Go) • Signifikante Prä-Post Reduktion des Alkoholkonsums nach Training in Beer/No-Go Group 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Neue Interventionen & erste Ergebnisse Working Memory Training (Houben et al., 2011) • Prinzip „Train the rider“ • N=48, starker Alkoholkonsum, Altersdurchschnitt 44 Jahre (SD: 15.4) • Training: Visuospatial WM task, backward digit span task, letter span task mit gesteigerter Schwierigkeit • Kontrollen: Gleiches Training mit gleichbleibendem einfachem Niveau • 25 Sessions (online), 1-Monats Follow-Up • Ergebnis: Reduzierter Alkoholkonsum in Trainingsbedingung 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Offene Fragen zu Cognitive Bias Modification als neuer Ansatz zur Behandlung von Substanzstörungen: • Methodische Fragen: Fehlende Studien mit Störungsdiagnosen, Bildmaterialauswahl, Generalisierung, kleine Stichproben, unterschiedliche Ergebnisse, fehlende Replikationen (wenige Studien) • Individuelle Indikation (z.B. Chronizität, exekutive Funktionen) • Benötigter Trainingsumfang (Eberl et al., 2014) • Einbettung in manualbasierte Psychotherapie inkl. Psychoedukation und Motivierung • Wirksamkeit bei verschiedenen Substanzstörungen • Anwendung in verschiedenen Kontexten (z.B. online) (Wiers et al., 2015) 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Ausblick: Weitere - mögliche - Ansätze • Reward/ punishment learning • Prospective memory • Implicit evaluation bias 4. Wie werden aktuell neue Interventionen entwickelt? Zusammenfassung Cognitive bias modification als vielversprechender Ansatz für neue Interventionen für Substanzstörungen Ansatz an automatischen bzw. impliziten Prozessen – theoretisch sehr relevant für Rückfallprophylaxe Ergänzung bestehender, einsichtsbasierter Interventionen Möglichkeit des gezielten Ansetzens an ausgewählten Prozessen Aber: Viele offene methodische und therapeutische Fragen Referenzen, Teil 1 Lehrbuch Wittchen & Hoyer (2011): Alle vier Kapitel zu Substanzstörungen (Einführung, Nikotin, Alkohol, illegale Drogen) Weiterführende Literatur: Agrawal, A., et al., 2009. Evidence for an Interaction Between Age at First Drink and Genetic Influences on DSM-IV Alcohol Dependence Symptoms. AlcoholismClinical and Experimental Research 33(12), 2047-2056. Ataya, A.F.; Adams, S.; Mullings, E.; Cooper, R.M.; Attwood, A.S. & Munafo, M.R. 2012. Internal reliability of measures of substance-related cognitive bias. Drug and Alcohol Dependence 121 (1-2):148-151. Behrendt, S.; Buhringer, G. & Hoyer, J. 2014. Outpatient psychotherapy of substance use disorders. Broadened options after revision of the psychotherapy guidelines in 2011. Psychotherapeut 59 (4):310-316. Berglund, M., et al., 2003. Treatment of alcohol abuse: An evidence-based review. Alcoholism-Clinical and Experimental Research 27(10), 1645-1656. Braun, B., Brand, H., Künzel, J. (2015). Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (alle Bundeländer; alle Betreuungen mit Einmalkontakt). http://www.suchthilfestatistik.de/download.html Bühringer, G., Wittchen, H.-U., Gottlebe, K., Kufeld, C., Goschke, T., 2008. Why people change? The role of cognitive- control processes in the onset and cessation of substance abuse disorders. International Journal of Methods in Psychiatric Research 17, 4-15. Christiansen, P.; Schoenmakers, T.M. & Field, M. 2015. 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