Der Raum des Lesens

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„So lange wir eine Stadt mit der Imagination erfassen und umfassen, so lange ist sie Stadt...“
(Bogdanović 1993, S.55)
Steffen Ahl
Städte lesen
Überlegungen zu einer hermeneutischen Sicht auf die Stadt als Text
Die hier vorliegende Arbeit wurde von Mai bis August 2001 angefertigt. Sie ist die Abschlussarbeit des von mir
belegten postgradualen Masterstudiengangs Europäische Urbanistik an der Bauhaus Universität Weimar.
Dank
Mein herzlicher Dank gilt allen, die mich im engeren und weiteren Sinne bei der Anfertigung der Arbeit
unterstützt haben.
An erster Stelle stehen die zwei Betreuer, Prof.Dr.habil.phil. Dieter Hassenpflug und MA Frank Eckardt,
seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrender beim Studiengang Europäische Urbanistik. In der
Auseinandersetzung mit Prof. Hassenpflug wurde mir die ethische Dimension des Themas «Städte lesen» klarer.
Frank Eckardt, heute Prof. Dr. Eckardt am Lehrstuhl Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus
Universität, räumte dem Thema seine Freiheit ein. Prof. Herman van Bergeijk konsultierte ich zur geschichtlichen
Fragen der Renaissance. Kristin Weidmann und Torsten Müller mühten sich ab, das Skript durchzusehen. Die
Abende bei ihnen waren sehr motivierend und entspannend in Phasen der Anspannung.
Diese Arbeit ist dem Andenken meiner römischen Professorin Gabriella Esposito Quaroni gewidmet, die im Juli
des Jahres 2001 verstarb. Im Mai noch unterhielt ich mich mit ihr über das Thema dieser Masterarbeit - aber zu
dem Zeitpunkt war noch unklar, was die Idee «Leggere la città» eigentlich bedeute. Die Vorlesungen von
Professoressa Gabriella Esposito zur «Geschichte der Stadt und des Territoriums», die ich 1998 an der römischen
Universität «La Sapienza» mit wachsender Begeisterung besuchte, kamen mir für diese Arbeit indirekt sehr zu
gute. Die Erinnerung an die Vorlesungen machten mir im Nachhinein klar, dass die Esposito bestimmt eine
derjenigen war, die nicht nur über Städte lasen und viel wussten, sondern so, wie sie verstand, ihr Wissen zu
vermitteln, gehörte sie selbst zu denjenigen, die in der Lage waren, Stadt zu lesen in einem tiefen inneren
Verständnis von dem, was das ist:: die Stadt. Nie werde ich die lebendigen Schilderungen ihrer eigenen
Erfahrungen mit Stadtplanung und Sozialwohnungsbau vergessen - zum Beispiel von «La Martella» in Matera –
eine der ersten Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus im Italien der Nachkriegszeit, die sie zusammen mit
Ludovico Quaroni, ihrem Mann, realisierte. Aber eins war vielleicht die wichtigste Lehre aus dieser persönlich
Bekanntschaft (und allen Freunden, die ich zu ihr mitnahm, ging es ähnlich): Mit der Persönlichkeit Gabriella
Esposito Quaronis verband sich ein unaufgesetztes, eindringliches, unhintergehbares, sozial engagiertes
Berufsethos des Architekten und Planers nach einem fast antiken Muster von Ehrenhaftigkeit. Dieses Ethos
durchzog ihre Lehre, die Praxis und jeden erbetenen Ratschlag.
Ich danke auch meinen Eltern und meiner Familie, welche mein Studienweg begleiteten und meinen Werdegang
kontinuierlich unterstützten.
Steffen Ahl
Inhalt
1
Dank
Seite 4
Ka p ite l I
Ei nle itu ng
I.1
I.2
I.3
I.4
I.5
These und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Relevanz des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Anschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Methodiken und Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 0
Ka p ite l I I
Der Raum des Lesens
II.1 Die metaphysische Dimension des Raums . . . . . . . . . . . 1 0
II.2 Die ontologisch Dimension des Raums . . . . . . . . . . . . . 1 2
II.3 Die anthropologische Dimension des Raums . . . . . . . . . 1 3
Ka p ite l I I I
Argumente des Lesens
III.1 Gestalt und Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4
III.2 Sinn und Verstehen
.... .. .. . .. .. .. .. . .. . .. .. . 1 8
Ka p ite l I V
Das Lesen
IV.1 Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 9
IV.2 Semiotik im Vergleich zur Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 2 4
IV.3 Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 9
Ka p ite l V
Städte schreiben und lesen
V.1
V.2
V.3
V.4
Spekulation zum Verhältnis Welt-Stadt und Sprache-Text . 3 8
Zeit lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4
Raum lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 8
Stadt lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3
Resümee
Seite 58
Konsultierte Literatur
Seite 59
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Kapitel I
2
Einleitung
I.1 These und Fragestellung
Der industriellen Gesellschaft ist es bei aller Anstrengung nur mit großer Mühe und allgemein wenig
gelungen, Stadtraum in komplexen Zusammenhängen zu begreifen und für die Menschen zu gestalten.
Nicht nur in der Realität, sondern auch als Idee ist die Stadt als intaktes, ganzheitliches Gebilde
verschwundenen (wie es in der Tat vielleicht allein die mittelalterliche Stadt gewesen sein mochte). An
einer heute weitgehend wertfrei gewordenen Welt gibt es nichts mehr zu kritisieren und also im
Hinblick auf eine Zukunft auch nichts tiefgründig zu gestalten. Unsere bürgerliche Gesellschaft ist keine
Projektgesellschaft mehr und mithin die Stadt keine Konzept-Stadt (de Certeau 1988, S.182). Die Krise
des Menschen stellt sich ungeschminkt dar und die bürgerliche Ideologie hält zum Verstehen dieser
Existenz an, damit der Mensch seine Krise eigenverantwortlich meistere (Schreiter 1988, S.11). Die
Stadt als seine figürlich-räumliche Lebenswelt hilft ihm dabei nur wenig. Stadtkritische Positionen
sprechen von der Stadt als einer verloren gegangenen Utopie. Wie ist es da möglich, die alte Qualität der
Stadt, Hort geistiger Imagines zu sein, neu zu beleben?
In der Realität steht heute eine Minderzahl durchaus gestalteter öffentlicher Räume (die zumeist
historische Räume sind) einer Mehrzahl minder gestalteter, ja überhaupt ungestaltbarer ZwischenRäume gegenüber. Die mangelnde Kapazität der Raumgestaltung geht einher mit einem abnehmenden
Grad an Urbanität. Bereits die italienische Kunstströmung des Neorealismus der 1950er Jahre hatte den
nicht mehr eindeutig begrenzten, verschwommen konturierten, ungestalteten und hauptsächlich leeren
Raum als Lebensraum der Menschen in zweiten Hälfte der 20.Jahrhunderts filmisch entdeckt. Die
Erfahrung von im Fordismus entstandenen öffentlichen Räumen drückt sich in der Grunderfahrung des
Verlorenseins aus, wie der französische Anthropologe und Ethnologe Marc Augé zu Beginn der 1990er
Jahre in seinem Buch «Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit»
eindringlich darstellte.
Dennoch: für das Zusammenleben und das schöpferische Zusammen-Tätigsein kennt der Mensch zur
Stadt auch in Zukunft praktisch keine Alternative – und zwar die Stadt nicht nur als ökonomischökologischer Organismus, sondern vor allem als Ort von Sozialität und Humanismus.
„Unter dem Maßstab ökonomisch-technischen Fortschritts mag der Begriff der Entwicklung einen eindeutigen
wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Sinn haben. Aber daß das nicht alles ist, b eginnt die heutige Welt
gerade in den höchstentwickelten Ländern am meisten zu spüren.“
(Gadamer 1989, S.47)
Die Sozialgeschichte der Stadt betrachtend, bleiben Städte - insbesondere die alten historischen
Stadtkerne - nach wie vor die einzigen Verortungs- und Akkumulationsorte von Sinn für menschliches
Sein (Wästberg 1999, S.74). Auch aus der Sicht der Nachhaltigkeit ist die Beherbergun g der Menschen
in Städten anerkanntermaßen der in seiner Wirkung nachhaltigste aller Kompromisse. Die anhaltende
Anziehung und Migration von Menschen in Städte (Hall 2000, S.29ff.) oder an deren Ränder spricht für
das Zukunftsmodell der «Stadt», wenngleich als Siedlungslandschaft. Stadt kann global nicht
ausgewichen werden, wenngleich sich seit Alexander Mitscherlichs 1965 erschienene Schrift über die
«Unwirtlichkeit unserer Städte – eine Anstiftung zum Unfrieden» die Literatur der „öden Orte“ mehrt
(vgl. Roth 1998).
Für das Leben der Menschen in Städten spielt der Begriff der Urbanität nach wie vor eine zentrale
Rolle. Ohne Inhalt ist der Urbanitätsbegriff eine reine Form, zu der hin alles drängt (Lefébvre 1990,
S.128). Urbanität, unter der der Volkswirtschaftler und Soziologe Edgar Salin (1892-1974) die von der
Stadtkultur geprägte Lebensform des Menschen verstand (Sieverts 1997, S.32), wird dieser Arbeit als
überwiegend positiver Wert vorangestellt. Zu den positiven Eigenschaften des urbanen Charakters
gehören ein gesundes Maß an permanenter Neugierde und geistiger Beweglichkeit, eine prinzipielle
Weltoffenheit und Toleranz gegenüber dem Fremden, das ein Schlüsselthema in der Arbeit Georg
Simmels (1858-1918) darstellte. Der in der Regel wache Verstand des urbanen Menschen bildet sich
überhaupt erst im ständigen Wechselverhältnis von Rezeption aller in der Stadt auf ihn einströmenden
Reize bei gleichzeitiger Reaktion auf sie. Simmel hat neben einigen negativen Eigenschaften – darunter
die Blasiertheit - diese typischen Charaktereigenschaften des Großstädters herausgearbeitet und erklärt,
wie sie ihr Profil gewannen (Simmel 1995, 119f.). Neben dem persönlichen Umfeld ist das städtische die
zweite Sozialisationsmaschine des Individuums. Wie kann der Einzelne aus dieser Hinsicht Stadt heute
und künftig erfahren?
3
I.2 Relevanz des Themas
„Aus vielen [...] Gründen müßten sich Städte lesen lassen und weise sein wie weise B ücher.“
(Bogdanović 1993, S.50)
In dieser Arbeit geht es um die Untersuchung der theoretischen Möglichkeit einer ganzheitlichen Sicht
auf die Stadt in ihrer Bedeutung als privilegierter Lebensraum des Menschen. Eine ganzheitliche Sicht
kann dabei nicht anders vorgestellt werden, als in Form einer Imagination – eine Imagination wie ein
Leitbild. Leitbilder dienen der Orientierung. Sie gehen von dem zukünftigen Vollkommenheitszustand
eines Ganzen aus und vermögen der Entwicklung eine Richtung zu geben - wenngleich sie
möglicherweise selbst unerreicht bleiben. Hier wird die Sicht auf ein städtisches Leitbild von hoher
Komplexität imaginiert, das Aspekte von Irrationalität und Undurchschaubarkeit zurückgewinnt. An die
Stelle des mit rationalen Mitteln Undurchschaubare wird das intuitiv Fühlbare als komplementäres
Mittel des Erkenntnisgewinns über Stadt vorgestellt. Diese Arbeit schickt sich an, einer Idee
nachzuspüren, die geeignet scheint, einen leitmotivischen, ganzheitlichen Blick auf die Stadt zu fö rdern:
Es geht darum, die Stadt zu lesen.
Der Begriff des «Lesens» steht hier für Interpretieren, Deuten, Begreifen und Verstehen. Meiner
Meinung nach stellt ein geschichtsbezogenes, aufmerksames «Lesen» von physisch-räumlichen
Kontingenzen sozialer Zusammenhänge in der Stadt einen wertvollen, wenn nicht gar einzigen Zugang
zur Gesellschaft dar – einen Zugang, der die in der Moderne in die Krise geratene Stadtplanung und gestaltung künftig autorisieren könnte. Angesichts einer zunehmenden Materialisierung und Faktizität
der in der Diskussion stehenden Stadt von heute sind Politiker, Unternehmer und Urbanis ten in ihrer
Verantwortung für die Gestaltung der Stadt als fundamentales, humanistisches Gut und als Lebensraum
herausgefordert.
Bei der hier gemeinten, im einzelnen zu erläuternden und zu hinterfragenden Theorie des
«Städtelesens» sollte es um die Sensibilisierung und Anregung besonders der raumkompetenten Akteure
der Gesellschaft derart gehen, über eine ethische Haltung hinsichtlich der Stadt als Hort des
Menschseins, nachzudenken. Es geht um die allgemeine Verantwortung des Städtebaus. In den Händen
von Technokraten wäre diese Verantwortung schlecht aufgehoben, sondern besser in den Händen
derjenigen, welche die personelle Fähigkeit rekultivieren, das jeweils Spezifische an einer Stadt und der
Stadtgesellschaft lesend zu verstehen und so für den notwendig planerisch-gestalterischen Umgang mit
der Stadt nutzbar zu machen. Der Schlüssen dazu liegt in der Vergangenheit der Stadt – in ihrer
Geschichte.
„Es geht eben nicht bloß um die Abschilderung der uns fremden Stadt. Sind wir auf der Spurensicherung in
die Vergangenheit hinein doch auch immer uns selbst auf der Spur, und begegnet uns in dem, was uns
ansichtig wird, eine fremde Welt, die uns nur in dem Maße verständlich wird, wie wir sie verstehen, wie wir
mehr wissen und mehr sehen, als der plane Anblick uns freigibt.“
(Schlögel 2000, S.29)
Architekt und Planer sind traditionell keine Intellektuellen. Sie sind keine Philosophen, sondern
Pragmatiker. Sie sind deshalb auch traditionell auch nicht von Natur aus Leser, sondern denken in
Bildern. Bilder erfassen immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Versuche der Rückgewinnung
der Bildimagination von Stadträumen gab es in den 1970er Jahren mit Hilfe der Semiotik. Das war der
Beginn des schwierigen Prozesses der Revision der funktionalistischen Stadtplanung der
Nachkriegsmoderne. In den 1980er Jahren stützte sich dann die Bewegung der Postmoderne mit
Nachdruck auf die Zeichenausdrücklichkeit des Inhalts baulich-architektonischer und städtebaulicher
Formen. Heute gilt die Postmoderne bereits als überwunden. Das gewohnte Bild- und Elementdenken
von Architektur- und Raumgestaltung befriedigt nicht mehr vollends. Aus dieser Erkenntnis resultieren
gegenwärtig häufig unternommene Versuche, Bilder nachträglich zu vertexten. Ich halte das für keine
echte Fortentwicklung. Meiner Meinung nach rührt die ganzheitliche Sicht auf die Stadt, in der die
raumkompetenten Akteure heute und künftig gefragt sind, vornehmlich aus einer anderen, dem «Lesen»
verwandten Praxis her. Die mit dem Thema Stadt umgehenden und verantwortlichen oder lediglich von
einem persönlichen, kulturellen Erkenntnisinteresse an der Stadt geleiteten Menschen sollten jeder für
sich den individuellen Gewinn erschließen, der daraus resultieren könnte, sich heute städtischen
Zusammenhängen lesend anzunähern.
4
In der Nachmoderne muss für die problematischen Modelle der Moderne – wie Ästhetisierung,
Spezialisierung und Funktionalisierung - über Ersatz nachgedacht werden, und zwar in der Hoffnung,
letztendlich die sozialen Raumnachteile zu überwinden, wozu die bekannten Verfahren des
symmetrischen Denkens nicht in der Lage ist. Ein zweckfreies, nachindustrielles «Lesen» nun halte ich
für praktikabel, um die Mängel der Stadt intuitiv – also in dieser Mischung aus Wissen und Fühlen
aufzuspüren. Es geht um die Wiederbelebung der alten kulturellen Begabung, Probleme zu «erfühlen» –
zuerst als Mensch und dann als Professionist. Schelers «Verfehlungstheorie» folgend ist der praktisch
größte Nutzen des Wissens beim Nachstreben nach Wissen als Selbstzweck garantiert (Sc heler 1977,
S.4). Vorausgesetzt also, dass Stadt durch den Planer zunächst grundsätzlich zweckfrei gelesen und er
dadurch sozusagen das Städtische auf sich selbst reflektiert versteht, tut sich dem Planer vermittels des
Modells «Stadt» ein breiter kultureller Hintergrund auf, welcher ihm die Chance bietet, eine persönliche,
moralisch-ethisch orientierte Haltung zu gewinnen, die er ohnehin notwendig für seine Berufstätigkeit
benötigt.
Die einer pragmatischen Planung vorhergehende, bewusste Zweckignoranz ist notwendig für die
Schaffung eines neutralen Denkraums, in dem der Akteur sich seiner professionellen Haltung zunächst
auf der menschlichen Ebene selbst vergewissern kann. Und erst aus diesem theoretischen Raum heraus
gewinnt er die letztendlich notwendige, praktische Handlungsfähigkeit im Berufsleben. Könnte der
Planer also zunächst zu einem intuitiven Leser der «Stadt als Text» werden, brächte ihm das den
Kompetenzvorteil ein, als erster zu intuieren, wo die Stadt Mängel aufweist, denn an diesen Stellen
würde die Kohärenz des Leseflusses ins Stocken geraten. Dort, wo sie ins Stocken gerät, könnte
Planung schonend ansetzten. Und schließlich bietet das Verfahren die Möglichkeit der Überprüfung des
realisierten Ergebnisses. Denn auch nach der Realisierung muss der soziale Erzähltext der Stadt fließen.
„Texte müssen fließen. Die geballten Buchstaben, Sätze und Absätze müssen lückenlos aufeinanderfolgen.
Die Textpartikel müssen in eine Wellenstruktur eingebaut werden. Es geht um Rhythmus, um einander
überlagernde Ebenen von Rhythmus. [...] sie müssen alle zusammenschwingen. Texte müssen «stimmen» [...].
Nur wenn ein Text stimmt, kann er den Leser zustimmen oder nicht zustimmen lassen, ihn in Sympathie
oder Antipathie schwingen lassen.“
(Flusser 1992 b, S.43)
W o r u m e s i n d i e s e r A r b e i t n i c h t g e h e n k a n n , ist aufzuzeigen, wie man es denn nun
praktisch macht, die Stadt zu lesen. Hier muss ich womöglich dahingehende Erwartungen des Lesers
enttäuschen. Aus Gründen, die besonders im Abschnitt IV.3 betrachtet werden, kann es zum einen
keine Anleitung für das Lesen geben – ebenso wenig für ein Buch wie für eine Stadt. Die
Anleitungslosigkeit liegt in der Natur der Sache des Lesens. Zum andern würde eine Anleitung zum
Lesen meinen gegenwärtigen, auf das Thema bezogenen Erkenntnisstand übersteigen und es wäre
vermessen, darüber hinaus zu gehen. So konzentriert sich diese Arbeit auf die theoretische
Umschreibung des Lesens, das Umkreisen seines Kerns ohne ihn zu treffen, dafür aber die Bedi ngungen
wie ein Negativ streifend, die diesen positiven Kern konditionieren. Die Arbeit zieht es vor, das Umfeld
in der Breite zu sondieren, anstatt in die Tiefe zu gehen. In die Tiefe des Kerns ginge meiner Meinung
nach nur ein konkretes Stadtbeispiel. Ein konkretes Beispiel ist aber nicht Inhalt dieser Arbeit - es wäre
ihre Fortsetzung. Als Entschädigung gibt es einige Beispiele wie Italo Calvino und Walter Benjamin
imaginierte oder konkrete Städte lasen. An sie schließt ein Versuch an, besonders im Kapitel V
allgemeine geschichtliche Zusammenhänge auf die Lesemetapher hin zu interpretieren.
I.3 Hypothesen
„Macht gegen die Übermacht der Welt besteht darin, in den Dingen nicht etwas von uns ganz und gar
verschiedenes zu sehen, sondern das, was in emphatischer Sprache ein uns verwandtes, ve rborgenes Du sei.“
(Blumenberg 1983, S.274)
Die These, Städte zu lesen, ist eine Metapher, denn im wörtlichen Sinne lesen kann man nur
geschriebenen Text. Wir müssen aber zugeben, dass alles, was der Mensch schafft und also in eine
relativ eigenständige Existenz entlässt, Anlass bietet, in einem metaphorischen Sinne gelesen zu werden.
Die lesende Zurkenntnisnahme seiner Taten, Schöpfungen und Phänomene als Ausdruckswerke und
Leistungen menschlichen Seins und Weltverhältnisses unter den jeweiligen gesellschaftlichen
5
Umständen einer Epoche ist eine positive Anerkenntnis von Kultur. Eine besondere Rolle, die Taten,
Schöpfungen und Phänomene aufkommen zu lassen, festzuhalten sowie alle Teilzusammenhänge in
einen umfassenden Zusammenhang zu überführen, kommt der Stadt zu.
„Die Stadt ist eine Metapher, ein Abbild des Menschen, sie hat wie er ein Selbstbewusstsein, ein Gedächtnis
und eine Kontinuität, die man lesen kann, in der Architektur, der Geschichte, in einem System aus
Artefakten, in der Stimmung, die man in ihr verspürt.“
(Schürmann-Emanuely 2001)
Die Metapher des Lesens ist an die ursprünglichere Metapher des Schreibens gebunden. Dadurch, dass
alles menschliche Tun zusammenhängendes Tun ist, ist jede Handlung im übertragenen Sinne ein
kulturgenetisches Formulieren, ein Schreiben, ein Einschreiben von Inhalten und Gedanken in den
Ausdruck der Dinge, Räume und Phänomene. Menschliche Handlungen haben gebaute Städte wie einen
Teppich gewoben, auf dem sich die europäischen Kulturen bis heute bewegen. Die Handlung en
vergangener Generationen sind gewissermaßen in den Städten eingefroren. Jedes Tun und Schöpfen
kann somit als ein Texten aufgefasst werden. Jede Eintragung, jedes Bau- oder Kunstwerk, jede
Auslöschung oder Umformulierung in der realen Stadt komplettiert ihren kulturellen Text - selbst in
seiner Lückenhaftigkeit. Raumproduktion ist die kulturelle, gesellschaftliche Praxis, und zwar in sofern
sie Wirtschaft, Politik und Kultur in Kultur stadträumlich künstlerisch ausdrückt. Die Ausdrucksgestalt
städtischer Räume und Phänomene sind der Gestaltausdruck der Gesellschaft. Die Stadt ist ein
geschichtliches Kunst-Werk.
„Die spezifische Geschichtlichkeit von Kunstwerken ist [...] eine solche, welche sich nicht in «Kunstgeschichte»
sondern nur in Interpretation erschließt.“
(Benjamin 1974, S.889)
Historisch übereinandergeschichtete Orte gleichen ineinandergeschriebenen Schichten (de Certeau
1988, S.306). Selbst die imaginierten, nicht gebauten Städte (die Utopien) sind feste B estandteile unseres
kulturellen Seins – sie sind Nekropolen des Denkens und als solche zuweilen gegenwärtiger und
interessanter als die Realität. In einem erweiterten Verständnis des Lesebegriffs ist jeder
Zusammenhang, der auf menschliches Handeln zurückgeht, die Verortung einer Texttheorie (M üller
1990, S.187). Die zeitlich versetzte Wiederauferstehung der Inhalte durch eine spätere Lektüre ist in
jedem Fall eine Wiedergeburt, die einen hohen Anteil an neu Geborenem enthält, denn zu den
Eigenarten der retrospekiven Interpretation gehört es, das im Text Ungehörte und Ungeschriebene –
also das Immaterielle - zu deuten (Honold 2000, S.27). Besonders diese Differenz der
Nichtübereinstimmung ist es, welche die Städte auf alten Ansichtskarten von ihrem heutigen, realen
Pendant so stark entfernt – und zwar zum Teil so weit, dass sie wie völlig verschiedene Städte scheinen.
Für Italo Calvinos erfundene Stadt Maurilia trifft zu, ...
„... daß zuweilen verschiedene Städte auf demselben Boden und mit demselben Namen aufeinander folgen,
entstehen und vergehen ohne gegenseitige Mittelbarkeit. Manchmal bleiben auch die Namen der Einwohner
und der Klang der Stimmen und sogar die Gesichtszüge die gleichen; doch die Götter, die unter den Namen
und über den Orten thronen, sind wortlos gegangen, und an ihrer Stelle haben sich fremde Götter eingenistet.
Unnütz zu fragen, ob sie besser oder schlechter sind als die alten, da es zwischen ihnen keinerlei Beziehung
gibt, wie auch die alten Ansichtskarten nicht Maurilia darstellen, wie es war, sondern eine andere Stadt, die
zufällig auch Maurilia hieß wie diese.“
(Calvino 2000, S.37)
Im Industriezeitalter wurde diese Kohärenz vielfach aufgebrochen. Heute ist der Text der Stadt nicht
mehr der überkommene Diskus von gestern, sondern die Weiterentwicklung des heutigen Diskurses ins
Morgen. Der französische Kunsttheoretiker Michel de Certeau versteht die Vielfältigkeit der Aktivitäten
der Textproduktion in den heute hochentwickelten Gesellschaften als Bestreben, die Gesellschaft selbst
in Form eines Textes zu reproduzieren. Er behauptete, Fortschritt trage den Charakter von Schrift (de
Certeau 1988, S.245).
„... die Idee der Schaffung einer Gesellschaft durch ein Schrift-System [ist,] ständig mit der Überzeugung
einhergegangen, daß die Öffentlichkeit mit mehr oder weniger Widerst and durch die (verbale oder ikonische)
Schrift geformt wird, daß sie sich dem anpaßt, was sie aufnimmt, und daß sie durch den Text geprägt wird
und wie der Text wird, den man ihr aufzwingt.
Früher handelte es sich dabei um einen Schultext. Heute ist der Text die Gesellschaft selber. Er stellt sich in
urbanistischer, industrieller, kommerzieller und televisiver Form dar.“
(de Certeau 1988, S.296)
6
Obwohl vom Menschen im Grunde nicht abzulösen, scheinen die Artikulations- und die
Kommunikationsformen der Gesellschaft (Sprache und Schrift) wie vom Menschen externalisierte
Komplexe, die ein Eigenleben führen, eigene Gesetzlichkeiten aufweisen, eigenen Regeln geho rchen Regeln, die sie selbst zum Teil erst in einer autopoietischen Zeugung hervorbringen. Die Prax is des
Schreibens hat seit dem 16.Jahrhundert alle Bereiche des Lebens umorganisiert. Heute kann man besser
und einfacher denn je scheinbar unzusammenhängende Sachen willkürlich zu begrifflichen
Ordnungseinheiten künstlich, vielleicht computergestützt vertexten und so in neue Zusammenhänge
bringen, deren Sinnerschließung zu völlig neuen Einsichten und Erkenntnissen führen. Aber nicht nur
auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Im Computerzeitalter haben Formeln und Formen die
Bedeutung von Matrizes gewonnen, nach denen letztendlich auch materielle Gestalt erzeugt werden
kann.I Diese Verwandlung läuft Gefahr, eine imperiale Sprache zu kreieren, die lebens- und
stadtbestimmend Einzug hält und das Lesen verhindert. Mit der Produktion einer Sprache geht Macht
einher – eine Macht, die früher das Bürgertum innehatte und heute die Technokraten – die Macht,
Geschichte zu machen (de Certeau 1988, S.252f.).
I.4 Anschlussfähigkeit
„Es mag von den meisten Beteiligten heute für nichts als poetische Ausdrucksweise gehalt en werden, wenn wir
Baudenkmäler, Einzelbauformen, Bildwerke höherer Art, kurz alles künstl erisch Geformte wie eine Sprache
genommen wissen wollen, wenn wir sie wie Buchstaben, Worte, Sätze und Bücher der Schriftsprache als
Versuch betrachten, höchst lebendige, für die Menschheit bedeutsame und in ihr wirksame geistige Wesen
wahrnehmbar zu machen.“
(Andrae 1933, zit. in: Berndt 1978, S.65)
Der französische Philosoph Paul Ricœur behauptet, man könne jegliche kulturelle
Ausdruckszusammenhänge analog wie Texte lesen (Lessing 1999, S.29ff.). Seit ein paar Jahren wird die
Textmetapher geradezu inflationär auf alle möglichen Erklärungszusammenhänge angewandt. Das
kommt zum einen daher, dass die Lesemetapher den Menschen immer schon in einen gewissen
apriorischen Schutz gestellt hat, das noch Übermächtige, Unerklärliche und Unerforschte (einschließlich
unserer Rolle dabei und gleichzeitig von uns selber Abstand nehmend) zu bezwingen. Die Lesemetapher
impliziert zum anderen im Vergleich zu anderen Metaphern ein hohes Maß an Offenheit, da sie eine
bestimmte Sichtweise nicht vorgibt, sondern eine Auffassung als «mögliche Welt» erst im Zuge des
Verstehens erschafft. Das macht sie so undogmatisch, a priori an Sachverhalte setzbar, vielseitig
verfügbar und dadurch recht weit verbreitet.
Die «Welt als Text» ist eine junge Metapher. Sie geht aus der weitaus älteren Metapher der «Welt als
Buch» (vgl. Blumenberg 1999) zurück. Die Buchmetapher wurde von der Textmetapher abgelöst. Es
scheint, dass die spätbürgerliche Philosophie geneigt ist, die Welt in Texte aufzulösen, denn sie „ging
dazu über, soziale Handlungen nicht mehr analog zum Text, sondern als Text zu deuten“ (Schreiter
1988, S.12). Schritte auf dieser Entwicklungslinie sind die Theorie der Sprachspiele von Wittgenstei n
und die Traumdeutung Siegmund Freuds. Seit der Traumdeutung wird vieles unterbewusst „gelesen“, da
- mit Freudscher Optik getrachtet -, vieles plötzlich eine unterliegende Textur aufzuweisen scheint.
Mittlerweile bieten Sprach-, Schrift-, Text- und Lesemetapher allgemein neue Zugänge zum Verständnis
gesellschaftlicher Sachverhalte, die aus Subtexten, Überschreibungen, Wörtern, Lauten und Geräuschen
etc. bestehen. Die Zusammenhänge zu lesen ist entwirrend und anschaulich. Die «Praxis des Lesens» ist
zu einem sehr bildlich gesprochen Terminus geworden, der dem heutigen Erklärungsbedürfnis
entgegenkommt, intellektuell und gleichermaßen künstlerisch zu sein. In der Postmoderne erneuern
Text- und Lesemetapher den alten Wunsch der Menschen, sich ...
„... in anderer Weise als der bloßen Wahrnehmung und [...] der exakten Vorhersehbarkeit ihrer
Erscheinungen [...] im Aggregatzustand der Lesbarkeit als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte
sinnspendend [... zu, d.A.] erschließen.“
(Blumenberg 1983, S.10)
Hier sei auf den tschechischen Kommunikations- und Medienwissenschaftler Vilém Flusser (1920-1991) verwiesen,
der aus seiner phänomenologischen Betrachtung heraus einige Beiträge geliefert hat. (Siehe zum Beispiel: Flu sser, 1993
a.)
I
7
Die Stadt erscheint in der Schrift gespiegelt. Das Lesen ist das dem Schreiben umgekehrte Verfahren.
Auf sozio-räumliche Zusammenhänge übertragen, geht es beim Lesen darum, auf den Stadtraum in
seiner heutigen Präsenz wie durch eine literarisch-geisteswissenschaftliche Brille zu blicken. Diese Brille
gestattet, die in der Figur von Stadt und Raum ausgedrückte kultur- und zeitspezifische Praktika, welche
zur Raumentstehung führten, interpretatorisch auszubreiten. Wie einige Versuche zeigen II, ist ein
hermeneutischer Zugang zum «Phänomen Stadt» möglich und sinnvoll, um nicht unmittelbar erfassbare
Inhalte zu entdecken - wie zum Beispiel das «Wesen» einer Ansiedlung.
Die Untersuchung der Stadt als Bedeutungsträger, die jüngst in der Schweizer Schule thematisiert
wird, will Stadt nicht beschreiben, messen, vergleichen, sondern interpretieren und verstehen.
Verstanden wird nur das, was in irgendeiner Form gelesen und ausgelegt werden kann. „Die
Interpretation, das heißt die Erzeugung von Bedeutung, besteht darin, das Beziehungssystem zu
erkennen, welchem das untersuchte Objekt angehört.“ (Corboz 2001, S.58) Einem solchen
Interpretieren geht es praktisch um das Aufheben, Bewahren und Überliefern. Es stellt sich der These,
nach welcher die kultureinschreibende Texturierung städtischer Bereiche in ihrer Subsummierung unter
die Gesamtstadt zur Entstehung eines Metatextes führt – eines Metatextes, der zwar an die konkrete
Materialität der Stadt gebunden ist, aber über die Realität hinausweist; darin ist er Schrif twerken ganz
ähnlich. In ihrer Metatextualität ruht die autopoietische Veranlagung der Stadt, da (parallel zur Sprache)
ein Metatext selbst ein Text ist. Früher bestand ein solcher Metatext in der metaphysischen Aura, dem
Ruf oder dem Bild einer Stadt wie das der Legende nach untergegangene Vineta. Heute erleben wir nur
noch den schwachen Abglanz einer dezimierten Autopoiesis - das Image.
Das Interpretieren von Stadt hat sich verändert, denn allgemein hat sich das Lesen verändert. Es ist
aggressiver geworden. Es wird heute weniger metaphorisch und viel wörtlicher genommen. Text ist
heute kaum hermeneutisch, sondern eher semiotisch gemeint. Die Metapher «Städtelesen» ist eine
vordergründig poetische und in ihrer künstlerischen Verwendung freie Metapher geworden. Anstatt wie
in klassischen Beispielen passiv, ist der Stadttext zu einem aktiven Text geworden, der sich den
Einwohnern einschärft und sie erzieht (Bollerey 2001, S.366). Michel de Certeau äußert sich überzeugt
von einer solchen Art der Textgleichheit und Lesbarkeit von Stadt (de Certeau 1988, S.179).
Der erste, explizite Leser von Stadt war der Flaneur. Ganz am Ende dieser Arbeit wird seine Praxis
des Lesens untersucht und verglichen. Im Verständnis der Certeaus hat die Stadt lesen heute nichts
mehr mit dem klassischen Flanieren zu tun. Wenn sich de Certeau vorstellt, vom obersten Stock des
World Trade Centers auf das sich unter ihm ausbreitende Manhattan zu schauen, scheint sich ihm die
Stadt so in ein Textgewebe zu verwandeln, das eine Fiktion heraufbeschwört, welche ihrerseits der
Stadt-Text-Leser erst erschafft. Der Flaneur hat in diesem Sinne nichts erschafft. Diesen neuen Text
hingegen stellt sich de Certeau vor als ein kakophones, lautes, monotones Rauschen von Tausend
Schreibmaschinen, Verkehrszeichen, Leuchtreklamen und Videowänden. „Die Netze dieser
vorausschreitenden und sich überkreuzenden «Schriften» bilden ohne Autor oder Zuschauer eine
vielfältige Geschichte“ (de Certeau 1988, S.182). Das ist die Einstellung eines Künstlers, eines real
gewordenen Ikarus, Poeten und Mystikers, der den Blick absichtsvoll, um der Kunst willen verfremdet.
„Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man «besessen» war, in einen Text, den man vor sich
unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick Gottes zu sein [...]
Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.“
(de Certeau 1988, S.180)
Unseren Zwecken der Untersuchung mag diese Einstellung weniger dienlich sein. Es interessiert uns
hier eher „a gentle way of reading“ (Bollerey 2001, S.362ff.) – ein Lesen also, bei dem der Leser sein
Maß an Passivität bewahrt, wie deas Hüten einer Tradition. Die häufig wiedergegebenen Zitate von
Bogdan Bogdanović sprechen die Sprache eins solchen, sanften Lesers. Dieser Leser nähert sich
kontemplativ der Autorität des Lesestoffes an – ein Text, der einfach immer schon da ist und darauf
wartet, gelesen zu werden. Walter Benjamin verfuhr nach diesem Grundsatz. Er hob in seinen
«Denkbildern» Schätze, die seit Urzeiten wie auf dem Grund des jeweiligen Phänomens zu schlummern
scheinen (vgl.: Benjamin, 1974). Eine akribische Empirie würde diese Schätze nicht zu „illuminiertem“
Bewusstsein fördern – dies kann nur die Schau der Traumseite der Phänomene leisten (Hassenpflug
2001).
Die aktuelle Diskussion um eine aggressivere Textmetapher hingegen ist keineswegs gering zu
schätzen. Auch wenn sie nur wenig gemein hat mit der Art des hier favorisierten, schauenden «Lesens»,
Der Architekturprofessor an der Belgrader Universität und spätere Bürgermeister von Belgrad Bogdan Bogdanović
„... lehrte das Stadtlesen, denn nur wer stadtlesen kann, kann schlußendlich auch stadtschreiben.“ (Schürmann-Emanuely,
2001). Siehe auch: Chtouris (u.a.) 1993, S.55ff.: „Das Athener Grundstück und die hermeneutische Frage“ etc.
II
8
bereichert sie den Diskurs um die heute gültigen und allgemein praktizierten Leseerfahrungen von
Wirklichkeit. Beim auf diese Weise entstandenen, gegenwärtigen Nachdenken über die Eigenmächtigkeit
von Texten und über das, was man als «auf die objektive Realität gerichtetes Verständnis» bezeichnet,
haben die neuen Aspekte der Betrachtung auch in den Diskurs der Hermeneutik Einzug gehalten. Die
Arbeiten der in dieser Arbeit zum Teil mehrfach zitierten Persönlichkeiten wie Roland Bartes (1974),
André Corboz (2001), Michel Butor (1992), aber auch Wim Wenders’, Hans -Magnus Enzensberger und
andere gehen den Weg eines neuen, generativen Textverständnisses der menschlichen Realität. Ohne die
modernen Tendenzen zu ignorieren, wird hier jedoch auf ein Verstehen fokussiert, das nicht im
Künstler seinen Ursprung hat, sondern im Wesen der Dinge – in ihrer Seele. Diese Seele ist es, die in
einem inneren Monolog des sanften Leser traumwandlerisch und treffsicher ans Licht gehoben wird.
Ein Verstehen in diesem Sinne ist kein Verstehenmachen-Wollen, sondern ein Vorverstehen, denn es
verlässt die Kontingenzen der objektbezogenen Wahrheit nicht. Dennoch wird es notwendigerweise
vom Leser subjektiviert – ein entscheidendes Moment, ohne das Verstehen nicht abläuft. Und wenn es
gelingt, ist es dem Anschein einer höheren Eingebung nicht fern.
„Als wahr empfinden wir die blitzartigen Erkenntnisse, die mit der Kraft der Intuition ins Wesen [...] einer
Frage hineinleuchten und nicht die strengen, begrifflichen, wissenschaftlichen Feststellungen.“
(Lukács 1973, zit. in: Jung 1990, S.166)
In einer solchen Haltung habe ich das Thema «Städte lesen» wie folgt strukturiert:
I.5 Methodik und Umsetzung
K a p i t e l I I D e r R a u m d e s L e s e n s . Methodisch werden in der vorliegenden Arbeit einige
für das Thema «Städte lesen» relevante Argumente behandelt, um die Bedingungen, Chancen und
Grenzen einer entsprechenden Möglichkeit des Lesens zu erfassen. Im Kapitel II werden zunächst die
Kategorien des Raumes und des Ortes in einem Grundverständnis vorgestellt. Anliegen di eses Kapitels
ist es, den Raum in kultureller und anthropologischer Hinsicht als einen grundbedingten Wert zu
würdigen, denn nur als eingerichteter Raum erfüllt er die Grundbedingung, gelesen zu we rden.
K a p i t e l I I I A r g u m e n t e d e s L e s e n s . Die Argumente des Lesens «Gestalt und Ganzheit»,
die ein Verstehen möglich machen, werden im Kapitel III beleuchtet, um dann auf die Frage nach dem
Verhältnis von «Sinn und Verstehen» zu sprechen zu kommen.
K a p i t e l I V D a s L e s e n . Im Abschnitt IV.1 steht das Lesen in seiner Bedeutung für den
Menschen und die Entwicklung der Wissenschaft vom Verstehen - die Hermeneutik - im Mittelpunkt.
Die Wissenschaften hatten im 19.Jahrhundert einen Kenntnis- und Entwicklungsstand erreicht, dem die
klassische Monostrukturiertheit der Disziplinen Grenzen setzte. Es wird dargeste llt, wie die
Hermeneutik, und mit ihr viele andere Wissenschaften, wie auch die Semiotik, ihr angestammtes
Wissenschaftsgebiet in der Absicht verlassen, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, und wie in fremde
Bereiche transferiertes Gedankengut zum Teil erfolgreich adaptiert wird. Wenn die erneuerten und
erweiterten Wissenschaften die realen Widersprüche auch keineswegs zu lösen vermochten, trug die
Fremdverwendung und die Übertragung der Erkenntnisse doch zur Entwicklung der eigenen
Disziplinen bei und gestattete, einige innerdisziplinäre Widersprüche neu zu betrachten.
Ist die Stadt ein Zeichensystem, welches entschlüsselnd durchlesen werden kann? Der Einzug der
Semiotik in die Architektur in der 2.Hälfte des 20.Jahrhunderts hat einige Erfolge gefeiert – zunächst in
der Fachliteratur, aber dann auch in der Praxis. Schließlich ist die Postmoderne in den 1980er Jahren
dezidiert semiotisch vorgegangen. Dagegen hat niemand daran gedacht, die Hermeneutik in die
Architektur zu übertragen. Warum eigentlich nicht? Abschnitt IV.2 führt den Vergleich von Semiotik
und Hermeneutik. Dazu werden die Charakteristika beider Ansätze einander gegenübergestellt sowie
Chancen und Grenzen der Anwendbarkeit aufgezeigt, so dass klar wird, inwieweit die scheinbaren
Ähnlichkeiten der Interpretation von Zeichen und der Interpretation von Texturen doch auf einem
grundsätzlich verschiedenen Ansatz beruhen.
Stadt zu lesen ist theoretisch und nicht pragmatisch. Lesen ist in erster Linie Selbstzweck; die Frage
des klaren Nutzens tritt dabei in den Hintergrund. Der Gewinn ist in erster Linie ein Erkenntnisgewinn.
Darin liegt auch das Geheimnis begründet, warum das Vorhaben, Städte zu lesen, lediglich ein
Verstehen will und deshalb so wenig direkt für Planungstätigkeit operationalisierbar ist. Denn es ist
9
primär ein Anschauen, für das der mittelalterliche Satz gilt: „Für die Anschauung sind die Dinge
Selbstzweck, für den Gebrauch sind sie Mittel.“ (Assunto 1997, S.44) Dass die Methode, Stadt zu lesen
nicht auf eine direkte Verwertbarkeit abzielt – zum Beispiel für die Planung - ist kein Nachteil, denn
Nichtoperationalisierbarkeit lässt unauffällig Kreativität ablaufen, unterwandert die Technik und
entzieht sich der Verwaltbarkeit, die immer kollektive Kontrolle ist. Die Methode stellt sich de r
pragmatischen Funktionalisierung von Stadt(er)kenntnis entgegen und entzieht sich dadurch der
Tendenz, aus der Denkform einer Sache zur Denkform über eine Sache zu werden (Frings, in: Sch eler
1977, S.XV). Im Abschnitt IV.3 wird das mit dem Lesen und interpretierenden Verstehen verbundene
Maß betrachtet, in welchem die «Lektüre» zwischen Objektivität und notwendiger, subjektiv bedingter
Inobjektivierbarkeit schwankt, um auf die ethische Dimension des lesenden Verstehens von Stadt zu
reflektieren.
K a p i t e l V S t ä d t e s c h r e i b e n u n d l e s e n . An das theoretische Gerüst werde ich im Kapitel
V auf die Stadt zu sprechen kommen. Nachdem die Sprachforschung um 1900 zur allgemeinen
Zeichenlehre erweitert wurde, der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Sprache aus dem Gebiet
der Linguistik in das Gebiet der Philosophie überführte, der Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908-1982)
Völkerkunde strukturell mit Sprachkunde verknüpfte, Michele Foucault jüngst Unters uchungen über
den sprachlichen Diskurs der Gesellschaft anstellte und Jaques Derrida ähnliches für die Schrift tat,
treten die Komplexe von Sprache und mehr noch Schrift(!) in ihrer Eigenständigkeit nach Art eines
Marx’schen Überbaus deutlich zum Vorschein. Abschnitt V.1 spekuliert über die enge textliche
Verwobenheit der Idee der Stadt mit der Schrift und Sprache in Form eines widerstreitenden Prozesses
zwischen Bejahung (Ver-Wirklichung) und Verneinung (Ent-Wirklichung) der Stadt als determinierte
und determinierende, kulturelle und ethnische Lebensbedingung des Menschen. Dazu werden im
Rahmen dieser Arbeit zwei historische Etappen näher betrachtet:
1. die praktische Geburt der Stadt der Neuzeit (Renaissance) aus dem Text der Antike
2. die theoretische Selbstreflexion der Stadt durch die Figur des Flaneurs (19.Jahrhundert)
In den Abschnitten V.2 und V.3 wird das Lesen von Zeit und Raum geschichtlich reflektiert. Für die
Renaissance nimmt der Text antiker Schriftdokumente eine Schlüsselstellung ein. Es wird die These
erörtert, nach der die Neuzeit nicht auf einem natürlichen, evolutionären Wege aus dem Hochmittelalter
hervorging, sondern in willentlicher Negation der renitenten, mittelalterlichen Realität - und zwar unter
medialer Zuhilfenahme wieder aufgefundener und wieder studierter Schriftstücke.
Die Stadt ist ein kultureller Text, den die Menschen über Jahrtausende kontinuierlich fortgeschrieben
und permanent revidiert haben. Im Abschnitt V.4 wird ein Licht fallen auf die klassische Figur des
sanften Stadtlesers, der dem hier intendierten Leseverständnis am nächsten steht: der Flaneur. Da es in
der vorliegenden Arbeit um ein Plädoyer für die Kultur eines sanften, einfühlsamen und intuitiven
Lesens geht, kann man vom Flaneur am meisten lernen, da die Aufmerksamkeit, die der Flaneur der
Stadt entgegenbringt, dem unbequemen, klassischen Lesen von dicken Büchern ähnelt. Das Flanieren
wird dem Wandern und dem heute üblichen Zu-Fuß-Gehen gegenübergestellt, um Parallelen und
Differenzen aufzuzeigen. Ist der Wanderer der proletarische, ein wenig zum Kitsch neigende kleine
Bruder des Flaneurs, ist die heutige Stadt dem Fußgänger symptomatische und kursorische Lektüre. Die
würdige Schwere eines Buches wurde viel leichteren, informationsökonomischen Textbausteinen
geopfert.
R e s ü m e e . Ein Resümee, bei dem es noch einmal um die Ethik des Stadtlesens geht, beendet diese
Arbeit.
Ich Wende mich nun den Kategorien des Raumes und des Ortes in ihrem Grundverständnis zu.
Kapitel II
Der Raum des Lesens
10
II.1 Die metaphysische Dimension des Raums
„Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der
Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lekt üre ein
Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas
Geschriebenes – bildet.“
(de Certeau 1988, S.218)
Das theoretische Fundament europäischen Denkens liegt in der Metaphysik. Die Metaphysik ist eine
Philosophie, die im antiken Griechenland aufkam und sich von da aus über ganz Europa verbreitete. Sie
geht von relativ geschlossenen, auf das Sein gerichteten Denkfiguren und Denkräumen aus. Zu den vier
existenziellen Denkfiguren gehören Wahrheit (ständig begleitet von Skepsis), Vision, Drama und
Ereignis (Rizzi 1999, S.13). Im metaphysischen Denken gehen Gegenstände und Phänomene über ihre
körperlich-sinnliche Erfahrbarkeit hinaus und hinüber in Ideale wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit
(Kant, vgl. dazu: Russell 1999, S.717).
Die Neuzeit beschwor einen Paradigmenwechsel mit räumlichen Konsequenzen herauf. Die
Erkenntnisse von Geometrie und Perspektive, die am Beginn der Neuzeit stehen, ließen das
ptolemäische, in seiner metaphysischen Typik geschlossene Raumsystem durch das offene,
kopernikanische ersetzen. Der Raum wurde weithin über seine metaphysische Determiniertheit hinaus
geöffnet (Bollnow 2000, S.83). Das Dispositiv der Perspektive gestattete dem Menschen, neuen
Planungsraum nach optischen Regeln geometrisch zu entwerfen und zu projektieren. Architektur wurde
den Menschen in der Renaissance zur „mathematischen Disziplin, die mit Raumeinheiten arbeitete; d.i.
mit Ausschnitten jenes unendlichen Raumes, für dessen wissenschaftliche Erforschung sie einen
Schlüssel in den Gesetzen der Perspektive entdeckt hatten“ (Wittkower 1969, S.29). Aber auch der
vorhandene, aus dem Mittelalter überkommene öffentliche Raum konnte neu durchmessen,
koordinatiert und somit in der Retrospektive neu erkannt, bewertet und verstanden werden. Nur
richtete sich der Blick des neuzeitlichen Menschen nicht auf das Mittelalter, sondern in die zeitlich viel
weiter zurückliegende Ferne der Antike. (Siehe die Abschnitte V.2 und V.3.)
Die neue Raumerkenntnis und das neue Raumverständnis zeigte am deutlichsten die Widersprüche
des vordem endlich gedachten, metaphysischen Raums, denn potentiell führten die sich perspektivisch
in der Ferne nie schneidenden Fluchtlinien in die Unendlichkeit. Jedoch wurde deshalb die Metaphysik
als Grundannahme deswegen nicht in Frage gestellt. Vielleicht stellt die Metaphysik in Europa so etwas
wie einen mentalen, denkhistorisch nicht revidierbaren, eher ethisch-moralisch motivierten Grundwert
dar. Die nahezu metaphysische Ewigkeitskennzeichnung des Daseins als Entität unterstrich selbst im
20.Jahrhundert durch das ontologische Denken Martin Heideggers die Geschlossenheit dessen, was ist wenngleich das, was ist prinzipiell als Möglichkeit da sei, so HeideggerIII (Heidegger 1935, S.143ff.).
Gerade durch Heidegger wurden Sein und Möglichsein als grundsätzliche Konstituenten auch des
modernen, europäischen Weltverständnisses erneuert. Wenn wir Heidegger genau studieren, wird uns
klar, dass seine Ontologie ein in seiner Existenzialität ethisches Anliegen verfolgt. Diese Erkenntnis legt
uns nahe anzunehmen, dass Ethik, Moral, Humanität und Verantwortungsbewusstsein metaphysisch
konnotiert sind – Grund genug, an den Werten metaphysischen Denkens festzuhalten und sie nicht im
Zuge einer physikalischen Korrektur zu opfern.
Bauen und Wohnen arbeitete Heidegger als die grundlegenden Daseinskategorien des Menschseins
heraus. Das Wohnen gilt Heidegger (und mit ihm anderen Existenzialisten, wie zum Beispiel Sartre) als
Schlüsselbegriff, dem Menschen sein eigenes Weltverständnis begreiflich zu machen. Sofern der Mensch
in der Welt sei, sei er in ihr wohnend, sagt Heidegger. Alles bewohne er: die Zeit, den Raum, die Dinge
– kurz: das Sein. Als physischen Ausdruck des bewohnten Raums sieht Heidegger den «Ort». Dieser
spielt eine existenzielle Rolle für das so In-der-Welt-Dasein. An den Ort und also in seine Nähe nämlich
hole der Mensch die Dinge der unbekannten Welt und verwandle sie damit in potenziell bekannt sein
könnende Dinge. „Die Sterblichen sind, das sagt: wohnend durchstehen sie Räume auf Grund ihres
Aufenthaltes bei den Dingen und Orten.“ (Heidegger 1954, S.158) Der Ort in seiner Archetypik steht
im Mittelpunkt des Heideggerschen Gevierts aus Erde, Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen. In
«Bauen Wohnen Denken» heißt es dazu feierlich und als verantwortungsvolle Aufgabe:
Leicht kann Ontologie in Dogmatismus enden, wie die biographische Episode Heideggers zeitweiliger Symp athie mit
dem Faschismus belegt.
III
11
„Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen
ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts. Schonen heißt, das Geviert in seinem
Wesen hüten.“
(Heidegger 1954, S.151)
Mit der ontologischen Positionierung des Menschen in der Welt steht der humanitäre Aspekt des
menschlichen Daseins über allen anderen Eigenschaften, die das Menschsein sonst noch ausmachen.
Der Mensch trägt im Hinblick auf die Gestaltung seiner Umwelt zu seinem Lebensraum
Eigenverantwortung. Die Freiheit des Menschen besteht darin, seine eigenen Existenzparameter zu
konstruieren. Ausgangspunkte und Zielvisionen kommen ihm allein zu definieren zu - im Rahmen
entsprechender Möglichkeiten.
Es ist sinnvoll, zu betrachten, was mit dem Lebensraum ganz am Anfang des Raums bei der
Sesshaftwerdung passierte.
II.2 Die ontologische Dimension des Raums
Im Unterschied zur Künstlichkeit der vom Menschen sich zu eigen gemachten Welt ist in die Natur
alles gleichwertig eingebettet. In der Natur kommt die Heraushebung einem Gegenstand gegenüber
einem anderen nicht zu. Aber bereits im aufrechten Gang, mit dem sich der Urmensch von den anderen
Tieren unterschied, stand er gegenüber all seinen Mitwesen privilegiert und aus dem selbstgenügsamen
Eingebettetsein in die Natur herausgehoben da. Eine horizontale Körperlage, wie sie den Tieren
gemeinsam ist, neigt einer flächigen, streunenden Bewegung zu. Im aufrechten Gang hingegen steckt
eine Veranlagung zur Ortbildung und die Abkehr von diffusen Streunen zu relativem Aufenthalt. Noch
bevor der erste Mensch ein Werkzeug greift - einen Stab – und dieses senkrecht in den Boden steckt
und also zu bauen begann, war der aufrecht gehende Mensch selber „das einfachste Modell für den
existenziellen Raum [...:] eine horizontale Ebene, die von einer vertikalen Achse durchschnitten wird“
(Norberg-Schulz 1982, S.40). Um seine eigene, senkrechte Achse herum, spannt der Mensch gleichsam
«Ort» auf (Bollnow 2000, S.44). Kurz verweise ich an dieser Stelle auf die strukturelle Ähnlichkeit dieses
physischen mit dem narrativen Raum: eine Erzählebene spannt sich zwischen Autor und Leser auf, die
von einer transversalen Achse durchschnitten wird, welche den Erzählraum zu einem dreidimensionalen
Raum macht (Wenz 1997, S.146). (Dazu ausführlicher im Abschnitt IV.3.)
Vorerst gilt festzuhalten: Die bis vor 10.000 Jahren herumziehenden Sammler und Jäger wohnten
noch nicht - sie hausten. Erst mit der Sesshaftwerdung fing der Mensch an zu wohnen. Wohnen heißt
(mit Heidegger gesprochen), all den in die Nähe geholten Dinge im Nahraum einen Platz zuzuweisen.
So der Mensch in der Welt wohnt, ordnet er. Dazu macht es sich ganz wie von selbst erforderlich,
einige Dinge gegenüber anderen zu bevorzugen und sie aus ihrer natürlichen Gleichwertigkeit
herauszuheben. Gewissermaßen überträgt der Mensch den Status seiner eigenen Ungleichwertigkeit auf
die sein Interesse erregenden Dinge – vielleicht auch, damit ihm die Dinge gleichberechtigte
Gesellschaft leisten. Noch ursprünglicher als die Abschätzung auf eine mögliche Verwen dbarkeit hin
lässt den Menschen eine emotionale Anziehung oder Abscheu, die von den Dingen ausgeht, sich den
Dingen zu- oder eben abwenden. In einer zweiten Phase sind Dinge, die interessant sind, solche Dinge,
die sich im Hinblick auf eine bestimmte Benutzung bearbeiten lassen. Aber die emotionale Zu- oder
Abwendung geht der pragmatischen voraus. Die Wissenschaft der Semiotik widmete sich explizit der
Untersuchung der „Bedingungen für die Interaktion zwischen uns und etwas, das uns gegeben und
dessen Konstruktion gewissen Zwängen unterworfen ist“ (Eco 1990, S.21).
Durch das Ordnen, das die Dinge einrichtet, werden Bereiche zu aus der Natur herausgeschnitt enen
Orten. Sie werden umfriedet (Heidegger 1954, S.147; Norberg-Schulz 1982, S.22f.). Orte sind somit
immer künstliche Produkte. In ihnen fließt ein Strang von Handlungen zusammen. Gleichzeitig
entstehen Handlungen aus den Orten heraus oder finden an ihnen statt. Handlungen verwandeln den
diffusen Raum in konkreten Ort (Norberg-Schulz 1982, S.6). Indem die Stadt aus dem weiten Land
herausgeschnitten, Natur und Kultur voneinander getrennt und also geordnet wurde, entstanden Welt
und Zeit - und Sinn! (Bollnow 2000, S.144) Wenn durch die Stadt Welt entsteht, entsteht sie immer
schon dualistisch angelegt: ein Gegenüber von Natur und Kultur (Lefébvre 1997, S.87f.). Ein
homogenes Weltganzes hat es demnach im Prinzip nie geben - lediglich ein vorstädtisches und
vorweltliches Naturganzes. Aber es herrschte noch über lange Zeit danach eine Harmonie zwischen den
12
beiden Seiten Natur und Stadt, welche die antike Welt bis zum Mittelalter zusammengehalten hat. Als
mit der Stadt die Welt entstand und gleichzeitig Sinn in ihr Einzug hielt, kristallisierte Welt sofort in die
Unmittelbarkeit von Wirklichkeit aus – in ein Hier und Jetzt! Im Bauen kristallisiert menschliches
Handeln dauerhaft derart aus, einen zeitlich-räumlichen Ort zu schaffen, der den Genius loci enthüllt
(Norberg-Schulz 1982, S.18).
„Der existenzielle Zweck des Bauens ist es [...], aus einer Stelle einen Ort zu machen, das heißt den
potentiell in einer gegebenen Umwelt vorhandenen Sinn aufzudecken.“
(Norberg-Schulz 1982, S.18)
In einem geordneten Raum bewegt sich der Mensch sinnvoll. Ein um sich herum sinnvoll eingerichteter
Raum kommt aber nicht nur dem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft zu Gute. Wenn eine Ordnung
einsehbar ist, kann ihr verallgemeinertes Verständnis im Prinzip von jedem Mitmenschen geteilt werden.
Ein nach bestimmten kulturellen Regeln einsehbar geordneter Ort erfüllt die Funktion eines die
Gemeinschaft umhüllenden Schutzraums – und zwar nicht so sehr vor Feinden, sondern im Sinne eines
die Gemeinschaft behütenden Raums. In ihm findet der Mensch existenziellen Halt (Norberg-Schulz
1982, S.19 – mit Heidegger). Dieser Schutzraum, den sich die Stammesgemeinschaft willentlich in Form
einer Zusammensiedlung schafft, ist Kulturraum. Die Ansiedlung - die potentiell Stadt (Stätte) ist - ist
ein Hort. Die räumlich figurierte Ordnung ist jedem „ein gemeinsames Medium, in dem wir uns mit
Sicherheit bewegen und in dem uns alles «von Kindesbeinen an verständlich» ist“ (Bollnow 2000,
S.210).
Vom zum Hort gewordenen Raum kann der Wohnende die ganze Welt beobachten. Er kann
verstehen, „worumwillen“ (Heidegger 1935, S.147) etwas in der Welt da ist. „Von hier aus versteht er,
als was er die Dinge zu nehmen und wie er sie in der rechten Weise zu gebrauchen hat.“ (Bollnow 2000,
S.210) Im gerahmten Raum scheidet eine dünne ontologische Linie die Bedingung, überhaupt verstehen
zu können, von der ganz dicht daneben liegenden Weite der Möglichkeit, potenziell alles verstehen zu
können. Er erlangt Lese- Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit. Denn das Lesen setzt den Blick auf eine
erkennbare Ordnung voraus. Die Entdeckung der Landschaft in der Renaissance ist nur ein Be ispiel für
die unbewusst wachsende menschliche Befähigung zum Lesen aus dem immer komfortabler und
komplexer geordneten städtischen Schutzraum heraus. (Siehe dazu besonders Abschnitt V.1.) B ereits zu
Beginn der Entstehung der Städte im Zweistromland war nur geordneter Raum potentiell lesbarer und
damit sinnvoller Raum. Aus der (Kenntnis der) Stadt heraus vermochte der Mensch im Buch der Welt
zu lesen – einen «Naturkosmos» (Panofsky 1996, S.11), der ihm bis dahin mysteriös und chaotisch ohne
Struktur gewesen ist. In der Stadtschöpfung (wie vorher schon im Hausbau) vollzog der Mensch den
göttlichen Schöpfungsakt nach: Er gründete - mit Buchstaben, Zahl und Maß - einen Kosmos aus dem
Chaos (Bollnow 2000, S.144). „Galilei hatte noch angenommen, die mathematische Verschlüsselung des
Textes der Natur sei die Sprache, in der Gott seine Wahrheit über die Natur den Fachleuten
vorbehalten wissen wollte.“ (Blumenberg 1999, S.402).
„Das Universum der jüdisch-christlichen Tradition stellt sich als eine Schrift aus Buchstaben und Zahl en
dar; der Schlüssel zum Verständnis des Universums liegt in unserer Fähigkeit, die Buchstaben und Zahlen
richtig zu lesen, ihre Kombinationen zu beherrschen und somit einen kleinen Teil des gewaltigen Textes zum
Leben zu erwecken – in Nachahmung des Schöpfers.“
(Manguel 1999, S.18)
Das von der Plattform des Städtischen aus unbewusste In-die-Welt-Hineinleben offenbarte dem
Menschen nicht nur die Zusammenhänge der äußeren Umwelt; es offenbarte ihm auch sein eig enes Inder-Welt-Sein. In der städtischen Gemeinschaft kam er zu Selbstbewusstsein, Identität, Autonomie
gegenüber seinen Mitmenschen und wurde sich seines Ursprungs bewusst, denn in der Stadt berührte er
überall die Sinnfrage.
II.3 Die anthropologische Dimension des Raums
Wie die anthropologische Schule der Philosophie des 20.Jahrhunderts feststellte, hat der Mensch von
vornherein gute Chancen auf den Zugang zum äußeren Raum, denn ihm ist das Vermögen eigen, sich
vom subjektiven Raum loszulösen und eine Leerform von Raum und Zeit zu imaginieren (Scheler 1995,
S.45). Im Gegensatz zum Tier, das seinen Handlungsraum ständig mit sich herumschleppt, ist der
Handlungsraum des Menschen ein feststehender Raum! Während beim Tier Sinnes- und
13
Handlungsraum zusammenfallen, scheidet sich beim Menschen der Sinnes- vom Handlungsraum. Im
Handlungsraum kann er seinen Sinnesraum frei umherbewegen. Da der Mensch ein intentionales Wesen
ist, ist der Sinnesraum ein intentionaler Raum (Bollnow 2000, S.272). Im Zentrum dieses Sinnesraums
steht das erwachsene Subjekt wie im Mittelpunkt eines individuellen Kosmos. Die amerikanischen
Architekten Bloomer und Moore haben das sehr schön am Beispiel des Körperschemas deutlich
gemacht (Bloomer, Moore 1980, S.53ff.). Aus dem Sinnesraum heraus agiert der Mensch hinein in den
objektiven, feststehenden Handlungsraum. Die freie Bewegung in diesem Raum macht es möglich, den
Handlungsraum zu durchmessen und Dimension und Gestalt sowohl des Raumes zu erfahren, wie auch
sich selbst – noch vor der Wissenschaft!
„Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und
von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum
Gegenstand seiner Erkenntnis zu machen.“
(Scheler 1995, S.47)
Zu Max Schelers (1874-1928) Verständnis der Person muss hier eine Ergänzung vorgenommen werden:
Eine solche Person hätte nicht in der Natur heranreifen können! Zwar gibt es „einen Raum nur,
insofern der Mensch ein räumliches, d.h. Raum bildendes und Raum gleichsam um sic h aufspannendes
Wesen ist“ (Bollnow 2000, S.23). Aber in der Natur wäre es letztendlich unmöglich gewesen,
Handlungs- und Sinnesraum voneinander zu scheiden. Um diese Trennung vorzunehmen und Raum zu
fixieren, benötigte er den künstlich zum festen Stand gebrachten Raum der Stadt! Die Stadt ist die
physische Fixierung des Handlungsraums. Ihm steht das Land wie ein großer, ursprünglicher
Sinnesraum gegenüber, welcher in letzter Instanz und etwas romantisch betrachtet alles aus sich heraus
hervorbringt.
In der Stadt bewegt sich das Individuum frei. Potentiell ist der ganze Weltenraum sein
Handlungsraum. Städtischer Raum bleibt dem Menschen sinnlich nahe, denn trotz seiner relativen
Objektivität als Handlungsraum weist dieser Raum Eigenschaften von Innenraum auf. So definierte der
italienische Kunst- und Architekturgeschichtler Bruno Zevi (1918-2000) Raum als «Gesamtheit der
Leere» (in: Boudon 1991, S.27). Was für den Innenraum sofort einleuchtet, fand Zevi gleichermaßen für
den Außenraum zutreffend. Nach seiner Definition verpacken Fassaden nicht einen dahinterliegenden
Innenraum, sondern umgekehrt: sie geben dem hohlen Außenraum, der ja ein Leerraum ist, Gestalt –
das eigentlich sei Architektur (Boudon 1991, S.28). Durch das unterbewusste Als-ein-Innen-Denken des
Außen besitzt der Mensch einen anthropologischen Zugang zum Raum. Denn in sofern der Außenraum
auch Sinnesraum ist, hat das Innen eine Substanz: das Innere des menschlichen Kö rpers selbst.
Auch wenn der Mensch in der Stadt lebt, gibt er seinen subjektiven Sinnesraum nicht auf. Er bleibt in
soweit Tier, als dass er sich stets in die unmittelbare Präsenz einer individuellen, um sich herum
aufgespannten, raumzeitlichen Einheit der Wirklichkeit eingehüllt findet. Der Sinnesraum ist beim
Menschen selbstverständlich ungleich ausgereifter als beim Tier. In der Kategorie des Sinnesraums
übernimmt der Körper des Menschen eine aktive Rolle.
„Es ist kein Zweifel, daß das, was der natürliche Sprachraum «Empfindung» nennt, gewisse wechselnde
erlebte Zuständlichkeiten sind, die wir als Modifikation unseres Leibes und unmittelbar auf ihn bezogen
erleben“ [... in dem Sinne, daß, d.A.] „das natürliche Bewußtsein aufgrund vager Erfahrungen annimmt, daß
der [...] Gegenstand in strengem Raum- und Zeitkontakt zu einem Teil unseres körperlichen Organismus
stehe.“
(Scheler 1977, S.128f.)
Da sich dem Kind der Handlungsraum als Sinnesraum einprägt, erinnert sich der Erwachsene emotional
oft an seinen als Kind durchlebten Raum. Das Kind liest den objektiven Raum als subjektiven Raum, da
es vornehmlich sinnlich vorgeht und ihm aus allem Äußeren eine subjektive Bedeutung hervorgeht oder
es dem objektiven Raum eine solche verleiht. „Die erste, egozentrische Lokalisation dominiert in den
frühen Lebensjahren, die zweite, exozentrische gewinnt dann mit zunehmendem Alter an Bedeutung.“
(Salzmann 1985, S.21) Wird das Kind erwachsen, nimmt die subjektive Bedeutung des eg ozentrischen
Sinnesraums in dem Maße ab, wie die objektive Bedeutung des exozentrischen Außenraums zunimmt.
Am Außenraum hängt zunehmend weniger persönliche Bedeutung und der Raum offenbart sich immer
weniger durch sich selbst, wie das der kindliche Wahrnehmungsraum noch tat. Ganz anders als bei einer
Person, die sich infolge des Bewusstseins durch Gebärde, Handlung und Sprache sinnesräumlich selbst
zu offenbaren vermag, wächst die Einsicht, dass Steine und Phänomene kein Bewusstsein besi tzen, das
sie zu einer Selbstoffenbarung befähigen könnte. Damit sich jemandem die Außenwelt erschließt, bedarf
sie der Interpretation. Abschnitt V.4 führt diesen Gedanken weiter und untersucht das
Wechselverhältnis von Sinnes- und Handlungsraum bei den Raum explizit lesendes Figuren.
14
Es werden nun Argumente betrachtet, die das Lesen berühren.
Kapitel III
Argumente des Lesens
III.1 Gestalt und Ganzheit
G e s t a l t . Wenn man Raum oder Zeit liest, nimmt man deren Gestalt wahr. Gestalt (griechisch
«morphe», lateinisch «forma») bedeutet die anschauliche, umgrenzte, in sich geschlossene Erscheinung
eines Phänomens der Betrachtung. Die Gestalt ist dem Phänomen nichts Äußerliches oder Vorgesetztes
- sie ist deren innere Struktur, unteilbarer Aufbau, Geist, Charakter, Herkunft, Umgebung und
Schicksal. All das führt zum sichtbaren Gestaltausdruck. Der Gestaltausdruck ist das, was es ausdrückt
selber.
Historisch betrachtet, dreht sich der Begriff «Gestaltausdruck» am Übergang vom Mittelalter zur
Neuzeit in den Begriff «Ausdrucksgestalt» um. Während der reine «Gestaltausdruck» der Phänomene
naturgegeben schien, platonische Züge aufweist und später von der Morphologie adaptiert wurde,
knüpfte sich der Terminus «Ausdrucksgestalt» vornehmlich an die künstlerische Absicht eines
Gestalters. Die raffinierte, geometrisch exakte Gestaltung in der Renaissanc ekunst beeindruckt in dem
Maße, wie der Aspekt einer irrationalen Innerlichkeit im Kunstschaffen nachließ. Die Soziologin Heide
Berndt beschrieb den Übergang vom innengeleiteten zum außengeleiteten Menschen, die sich aber erst
mit der Konzentration des zerstreuten Privateigentum zu großem Kapital durchsetzte (Berndt 1978,
S.150). Denn im wesentlichen laufen reine und beabsichtigte Gestaltung bis in das 20.Jahrhundert
nebeneinander her. Noch nicht einmal die industrielle Revolution führte zu einem abrupten Bruch. Im
Gegenteil: Das 19.Jahrhundert beförderte sogar eine ausdrucksgestalterische Kraft im Kunstschaffen.
Um etwas von der Gestalt in ihrer Komplexität wahrzunehmen, muss irgendeine Vorahnung
bestehen, ein Bild vom Ganzen des Phänomens, vom Weltganzen. Bereits die Gestaltlehre Goethes
(1749-1832) – die MorphologieIV - geht hinsichtlich der Gestalterfassung von einer Vorahnung der
gestaltinhärenten Struktur durch den Betrachter aus. Die Gestalt ...
„... kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muß ihr Inneres entblößen,
ihre Teile sondern, die Verbindung derselben bemerken, die Verschiedenheiten ke nnen, sich von Wirkung und
Gegenwirkung unterrichten, das Verborgene, Ruhende, das Fundament der Erscheinung sich einprägen, wenn
man dasjenige wirklich schauen und nachahmen will, was sich als ein schönes ungetrenntes Ganzes [...] vor
unserm Auge bewegt.“
(Goethe 1986, S.148)
Eine mit den Wahrnehmungs- und Sinnesorganen individualisierte Gestalt ist eine Sinneinheit - eine
sinnvolle Einheit. Ist die Gestalt eines Zusammenhangs erkennbar, schließt sie eine Form von Wissen
ein. Sinn und Wissen werden hier wie Synonyme behandelt. Nicht verbirgt es sich dahinter (wie Kant
argwöhnte), sondern die Gestalt ist der lebendige Ausdruck dieses «Wissens». Können wir eine Gestalt
oder verschiedene Gestalten ausmachen, ist dasjenige, was in unserer Wahrnehmung die Gestalt
evoziert, per se tendenziell sinnvoll, da sie ja unserer Wahrnehmung überhaupt zugänglich ist. Ungestalt
oder Gestaltlosigkeit hingegen ist Chaos. Chaos ist unerkennbar und mithin unv erstehbar. In dem
Moment aber, in dem wir im Chaos der Unverständlichkeit eine Gestalt erkennen, nehmen wir Ordnung
und mit der Ordnung eine Hohlform von Sinn wahr. Denn mit dem Sinn ist es nicht so einfach wie mit
dem Wesen. Anders als das Wesen liegt der Sinn nicht vollends in der Sache selbst, sondern lediglich
eine Veranlagung zu Sinn. Diese Veranlagung anzufüllen, beginnt praktisch im Moment der
Gestaltwahrnehmung. In der Natur entwickelt sich Form als absichtsvoller Widerstand gegen das
Chaos. Höherentwicklung vollzieht sich als Reaktion der Form auf Einbrüche von außen – als Störung
der Vollkommenheit, wie Goethe in seinen morphologischen Studien darlegte (vgl. Goethe 1986).
IV
1795 taucht der Begriff «Morphologie» erstmals bei Goethe in der Schriftenreihe: «Zur Morphologie» auf.
15
Kunstprodukten ist Sinn immanenter als Naturprodukten. Die ganze Stadtgestalt ist eine Einheit von
Sinn und Wissen. In einfachster Ausbildung kann Gestalt physisch konkret sein - zum Beispiel ein
Krug, eine Hügel- oder Stadtlandschaft. Der klassische Begriff der Landschaft hebt sich von dem der
Natur als typischer Gestaltbegriff ab. (Siehe hierzu die Erläuterungen im Abschnitt V.1.) Aber auch ein
Staatsgebilde oder das Rechtssystem besitzt Gestalt. Auf der höchsten Stufe kann Gestalt völlig
immateriell sein, deshalb aber nicht weniger als geschlossene Sinneinheit aufgefasst werden - wie zum
Beispiel bestimmte persönliche Prinzipien des Handelns oder der Lauf der Geschichte. (Siehe hierzu
Abschnitt IV.1.)
G a n z h e i t . Der Gestalt- und der Ganzheitsbegriff stehen miteinander in einer engen Beziehung.
Beide Begriffe sind ineinander verflochten. Unter Ganzheit versteht man ein strukturiertes,
geschlossenes System, dessen Teile sich wechselseitig aufeinander beziehen. Die Teile und deren
Beziehung bestimmen «das Ganze als solches». Sie beziehen sich nicht nur aufeinander und
untereinander, sondern darüber hinaus noch auf eben «das Ganze als solches» (die Gesamtheit), so die
Ganzheitslehre des deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) (vgl.: Russell
1999, S.750). Diese «Gesamtheit» besitzt ein hohes Maß an Eigenständigkeit, unabhängig von ihren
Teilen (Fragmenten), aus denen sie sich dennoch zusammensetzt.
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis steht Hegels dialektische Methode. Sie deutet an, dass Sinn nicht
den Fragmenten im einzelnen angehört, sondern nur ihrer Synthese. In der Synthese des «Ganzen»
werden These (Materie) und Antithese (Geist) dialektisch aufgehoben. Die einzelnen, empirisch
feststellbaren Elemente des Wirklichen – die Fakten – sind dabei mit den Kategorien der Logik
erforschbar (Lyotard 1999, S.124). Aber in den Teilen steckt noch nicht die Wahrheit, die in der
Gesamtheit steckt. Über einzelne Aspekte kann somit nie ganz Wahres ausgesagt werden, hatte Hegel
geschlussfolgert, denn nur das Ganze sei wegen ebendieser Ganzheit auch das einzig Wahre und leuchte
ein, da es sich auf nichts anderes mehr beziehe als sich selbst (Russell 1999, S.740f.). Auch wenn man
bei allem Ganzheitsschauen dennoch nur Teile erfasst, subsummiert man diese ideell und oft unbewusst
unter eine Gesamtbedeutung und „dann leuchtet die Sache in ihrem Sosein nach «selbst» in den Geist
immer adäquater ein“ (Scheler 1977, S.17). Der englische Philosoph Bertrand Russell würdigt das
Verdienst Hegels darin, das von Descartes (1596-1650) bis Kant (1724-1804) in metaphysische
Entitäten auseinander getriebene Sein wieder zusammengebracht zu haben (Russell 1999, S.739ff.).
Die Gestalttheorie, auf die wir nun einen Blick werfen wollen, da ihr die Theorie des Lesens verpflic htet
ist, findet in Bezug auf die Wahrnehmung von Phänomenen aber auch einen Hegel völlig
entgegengesetzten Ansatz: nicht über die Synthese, sondern über die Deduktion (Ableitung).
Letztendlich gehen Synthese und Ableitung in der Praxis Hand in Hand, denn das Ganze aus dem
Einzelnen zu verstehen und das Einzelne aus dem Ganzen ist eine antike Regel der Rhetorik und somit
auch eine hermeneutische Regel (Gadamer 1960, S.199).
G e s t a l t t h e o r i e u n d W a h r n e h m u n g . Der österreichische Philosoph Christian Freiherr von
Ehrenfels (1859-1932) bahnte der Gestalttheorie einen Weg. In seiner Gestaltlehre ist er dem Idealismus
verpflichtet, der in einer Art «absoluter Idee» (Hegels) den Urgrund der Weltordnung sieht. Aber im
Unterschied zur idealistischen Induktion arbeitete von Ehrenfels heraus, dass dasjenige, was wir als die
Gestalt eines komplexen Gebildes ansehen, nicht allein über die Addition sämtlicher Teile hin zu einem
Ganzen erklärt werden kann, sondern vielmehr umgekehrt: Gestalthaftes Sehen gehe von der
«Übersummativität» aus und ergieße sich von dort über die einzelnen Teile. Die Qualität der
Übersummativität entspringt ausschließliche der Ganzheit. In ihr ist „die Summe selbst zu einem
eigenständigen Ganzen gelangt“ (von Ehrenfels 1922, S.55f.).
Platon (427 v.Chr. -347 v.Chr.) vergleichbar, der behauptete, die Dinge und ideellen Gebilde V
entwickeln sich, um innerhalb des irdischen Daseins ihrer Idee möglichst nahe zu kommen, b esitzt nach
von Ehrenfels’ Meinung die Ganzheit ein Primat gegenüber ihren Teilen. Die Einzelteile, welche die
Gestalt konstituieren, entwickeln sich nach dieser Theorie von der Idee der Gesamtgestalt ausgehend
rückwirkend. Nach morphologischem Muster muss die Gestalt der Ganzheit irgendwie schon in ihren
Elementen genetisch angelegt sein. Wilhelm Dilthey stimmte dem zu und stellte fest, dass Verständnis
von etwas erst aus dem Ganzen heraus möglich sei. Auch im geisteswissenschaftlichen Bereich weise
das Ganze als Ganzheit über seine eigene Existenz hinaus in die Kategorie des Seelischen, des
Lebendigen, von Idee und Sinn (Dilthey 1900, S.43) – auf ein Feld also, dass uns emotional-sinnlich
zugänglich ist und von dem her ein Phänomen deduktiv wahrgenommen werden kann. Auf die Stadt
V
... wie zum Beispiel Rechtssystem und Staatlichkeit.
16
übertragen bedeutet dieser Ansatz: in sofern sie eine unbewusst oder gewollt ganzheitliche Betrachtung
erfahren soll, offeriert die sinnliche Ebene der Wahrnehmung einen Zugang dazu. Von der sinnlichen
Wahrnehmung herrührend werden die komplementären Einzeltatsachen in die Sinnhaftigkeit des
ganzen transzendiert.
Nach der Gestalttheorie von Ehrenfels’ tastet sich die Wahrnehmung auf dem selben Weg e wie die
Gestaltbildung voran - nämlich von der Gesamtgestalt zur Einzelheit. Das phänomenale Lesen urb aner
Zusammenhänge muss also von einer intuierten Ganzheit ausgehen, bevor es sich auf sie richtet. Aber
in der Realität laufen die Bewegungen des Verstehens - Heideggers Sinnbild des «hermeneutischen
Zirkels» vergleichbar (siehe Abschnitt IV.1.) - in konzentrischen Kreisen immer vom Ganzen zum Teil
und zurück zum Ganzen, um die Einheit des verstandenen Sinns zu erweitern und gleichzeitig die
Richtigkeit des Verstandenen zu überprüfen (Gadamer 1960, S.199).
Offensichtlich schließt die von Ehrenfels’sche Lehre an Immanuel Kant an, nach welchem dem
Subjekt das apriorische Vermögen gegeben ist, Formen wahrzunehmen. Das Organ des Vermögens der
Formwahrnehmung sei der Geist, sagte Kant. Dieser filtere das Mannigfaltige formal und nehme es
geordnet auf. Gleichzeitig formulierte Kant die Konzeption eines synthetisch formenden, die
Gegenstände der Erfahrung erst hervorbringenden Denkens (Scheler 1977, S.79). Praktisch vollzieht
von Ehrenfels das am Beispiel der Musik nach: hätte der Zuhörer nicht - zum Beispiel aufgrund der
Harmonie - eine unbewusste Vorahnung (Intuition) von einer Melodie, würde er immer nur Töne hören
und könnte sich höchstens an die bis zum Augenblick verklungenen Töne erinnern, sich aber nie dem
Genuss des Klangs der ganzen Melodie hingeben (von Ehrenfels 1890, S.12). Leider bleibt von
Ehrenfels in seinem Aufsatz «Über Gestaltqualitäten» bei der bloßen Bemerkung stehen, für
Raumgestalten müsse dasselbe gelten, ohne hier weiter auszuführen...
Eins leuchtet dennoch ein: beim Hören einer Melodie ebenso, wie bei der räumlichen Wahrnehmung,
geht der erste Eindruck von der Wucht der Ganzheit aus(!), bevor er auf Details au fmerksam wird. Wir
kennen das, wenn wir zum Beispiel aus dem U-Bahn-Schacht auftauchen und plötzlich mitten auf einem
hellen Platz stehen. Ganzheitlichkeit wird a priori als Wert und Möglichkeit gesetzt. Kant hatte das
schon angedeutet als er sagte, Erkenntnis könne zwar nie über Erfahrung hinausgehen, sei dem
Menschen aber trotzdem zum Teil a priori gegeben (Russell 1999, S.714). Aufgrund des menschlichen
Vermögens, a priori um Formen zu wissen, können Gegenstände, Erscheinungen und Phänomene
sowie Raum erkannt werden. Kant suchte für diese Tatsache nach einer Erklärung. Er vermutete, dass
die phänomenale Wahrnehmung der Raumgestalt auf dem geistigen, dem Menschen apriorisch
eingegebenen Geometriebegriff basiere (Russell 1999, S.715).
Mit der Hermeneutik entwickelte sich im 18.Jahrhundert die Theorie der Wahrnehmung weiter. Die
Hermeneutik integrierte die Erkenntnisse der Wahrnehmungstheorie in ihr Denken und behauptete, die
reale Welt unserer Wahrnehmung sei keine Dingwelt, sondern bestehe aus einer Vielzahl von mehr oder
minder bildhaft beschriebenen Sachverhalten (Eco 1990, S.259). Auf einer dünnen Gradlinie zwischen
Semiotik und Hermeneutik wurde behauptet, die Welt repräsentiere sich nicht selber, sondern allein
durch die Beschreibungsgesamtheit von ihr. Damit erschien die Welt plötzlich als eine mögliche Welt,
als ein kulturelles Konstrukt.
K o m p l e x i t ä t u n d D i s p e r s i o n . Der Entwicklungsgrad einer Stadtkultur drückt sich im Grad
der Arbeitsteilung der in ihr ablaufenden Geschehnisse und Prozesse aus. Dazu zählen nicht nur
Arbeitsprozesse, sondern die ganz umfassende Organisation des täglichen Lebens. In seinem Buch
«Fleisch und Stein» hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett die Entwicklung der Stadt auf dem
Weg zu einem Organismus eingehend dargestellt (vgl. Sennett 1995, S.315ff.). Der Vergleich der Stadt
mit einem Körper unterstreicht die anthropologische Dimension der Stadt, die im Abschnitt II.3
betrachtet wurde. Aus der Anthropologie wissen wir um die natürliche Regel, dass der Grad der
Ganzheit bei Organismen mit zunehmendem Entwicklungsgrad rückläufig ist. Das heißt, Prozesse
artikulieren sich um so ganzheitlicher und zielhafter, je primitiver sie sind (Scheler 1995, S.74),
wohingegen solche, die sehr stark differenziert ablaufen, im Maß der Ausprägung von Ganzheitlichkeit
und Geschlossenheit rückläufig sind. Jedes hoch entwickelte, weit ausdifferenzierte Gebilde büßt also
ganz natürlich an Gestaltungsvermögen ein. Die Stadt der arbeitsteiligen Gesellschaft ist ein solcher
stark ausdifferenzierter Organismus. Die mit der Arbeitsteilung zunehmende Routine ausdifferenzierter
Handlungsmuster führt dazu, dass komplexe Assoziationen in Einzelassoziationen zerfallen (Scheler
1995, S.28). Mit Beginn der Neuzeit ist die städtische Akkumulation aufgrund fortschreitender
Arbeitsteilung und Spezialisierung ein der Dispersion zustrebender Organismus. Der öffentliche Raum
ist tendenziell durch die qualitative Auflösung seiner Geschlossenheit gekennzeichnet. Nur mit einer
bewussten Willensentscheidung kann dagegen opponiert werden.
17
III.2 Sinn und Ver stehen
Die Sinnforschung wird meist als Wesensforschung betrieben – in Form von philosophischer
Anthropologie, Phänomenologie, Ausdruckskunde, Existenzphilosophie etc.. Sinn fühlen und Sinn
verleihen sind zwei Seiten derselben Medaille. Den Sinn in der Lebensumwelt Stadt zu fühlen, hängt eng
mit der Textmetapher zusammen, denn in der Idee des Vorhandenseins von interpretierbarem Text ist
der Wunsch des Menschen auf Sinnzugang zu den Phänomen gewissermaßen vorgeprägt.
Wie im Abschnitt III.1 begonnen auszuführen, ist die Möglichkeit, in etwas Sinn zu sehen gegeben,
wenn Gestalt oder Gestaltung erkennbar ist. Heidegger brachte das Verstehen einer Sache mit dem
Darin-Sinn-Sehen zur Deckung und sagte: „Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von et was hält.“
(Heidegger 1935, S.151) Sinn und Verstehen sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wenn wir
verstehen, verstehen wir immer Sinn. Der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941)VI ging
dieser These Heideggers vorgreifend nämlich davon aus, dass wir Sinn nicht erst über den Umweg der
Wahrnehmung von Lauten oder Bildern erschließen, sondern wir uns bereits bei der B enennung der
Dinge «auf Anhieb» im vorverstandenen Sinn niederlassen. „Der Sinn ist gleichsam die Sphäre, in die
ich bereits eingeführt bin, um die mögliche Bezeichnung vorzunehmen und selbst noch die
entsprechenden Bedingungen zu denken.“ (Deleuze 1993, S.48) Denn erst, wenn der Sinn von etwas
allgemein bekannt und legitimiert ist (also konventioniert), sei die Bezeichnung ei ner Sache überhaupt
möglich. Sinn ist mit Bergson nicht Resultat des Verstandenhabens, sondern vorausgesetzte Vorahnung,
„sobald ich zu reden beginne; ohne diese Voraussetzung könnte ich gar nicht beginnen“ (Deleuze 1993,
S.48).
Sinn ergibt sich in erster Linie aus der persönlichen Beziehung, die ein Mensch zu der Sache unterhält.
Das Sinnverlangen ist ein existenzielles Verlangen des Menschen. Die Sinnvergabe fordert den
Menschen in seiner Fähigkeit heraus, das Ding zur Hälfte zu verstehen und zur anderen Hälfte zu
schätzen. Im Industriezeitalter nun hat sich vornehmlich die Frage nach dem Zweck an die Stelle nach
dem Wesen oder Sinn – zum Beispiel der baulich-räumlichen Umwelt - gesetzt. Heidegger hatte einen
Schritt in dieser Richtung unternommen, denn er ersetzte die antike philosophische Wesensfrage nach
dem «Warum» (etwas da sei) durch die aktuellere und lockere Fragestellung nach dem «Worumwillen».
Worumwillen zu fragen zielt darauf ab herauszubekommen, woraufhin etwas gestaltet werden kann, um
„Sinn zu machen“ (making sense) – eine Wortverbindung, die sich aus dem angloamerikanischen in den
lateinischen Sprachschatz eingebürgert hat, in dem sie bislang fremd war. Überall in der Stadt wird
heute versucht, Sinn zu produzieren anstatt gegebener Sinn verstanden. Nicht mehr auf die gewaltsame,
sondern auf die vollkommene Verfügbarkeit der Realität ist heute das Sinnverlangen gerichtet
(Blumenberg 1999, S.10). Diese kritische Position würde ein lesendes Verstehen zumi ndest temperieren.
Ich möchte an dieser Stelle noch die Kategorien Erkennen und Verstehen auseinander zu halten, um
deutlich zu machen, dass sich ein Lesen mit der Sinnfrage abmüht, ohne sie zu besetzen.
Für die Kategorien Erkennen und Verstehen trifft folgende Differenzierung zu: das Erke nnen ist auf
das Wesen einer Sache gerichtet, wohingegen das Verstehen auf den Sinn gerichtet ist. Heideggers Frage
nach dem «Worumwillen-etwas-da-ist» hat den Charakter einer Verständnisfrage, währenddessen die alte
«Warum-Frage» eine Erkenntnisfrage ist. Die vier Begriffe Wesen, Sinn, Erkennen und Verstehen aus
den Bereichen der Ontologie (Wesen und Sinn) und Erkenntnistheorie (Erkennen und Verstehen)
treten bei genauerem Hinsehen einander verschränkt gegenüber. Darum werden sie nach meiner
Ansicht gerne in eine falsche Beziehungen zueinander gesetzt - nämlich ein Wesen «verstehen» zu
wollen (wo man es doch nur «erkennen» kann) und einen Sinn «erkennen» (den man doch nur
«verstehen» kann). Die korrekt sich gegenüberstehenden Paare lauten Wesen-Erkennen und SinnVerstehen.
Wie der deutsche Mathematiker, Logiker und Philosoph Friedrich Ludwig Gottlob Fr ege (1848-1925)
feststellte, besitzt «Sinn» eine gleichmäßige Extension und Ruhe, dagegen «Bedeutung» eine sprunghafte
Intention (Gerichtetheit) und Bewegung (Mersch 1998, S.19). Der Verwechslungsgrund der Zuordnung
der Begriffspaare mag in einer Verschränkung der Dynamiken zu suchen sein, die Gottlob Frege
differenzierte. Denn das tiefe, in letzter Instanz auf das Weltganze gerichtete Sinnverstehen ist aufgrund
VI
18
... seinem Kollegen Gilles Deleuze zufolge, auf den ich mich hier beziehe
seiner ontologischen Dimension (Dasein = Verstehen) von einer merkwürdigen metaphysischen
Trägheit bestimmt – darin der Kategorie des «Wesens von etwas» ähnlich. Erstaunlich ist nun, dass dem
metaphysischen «Wesen» mit dem weitaus dynamischeren Prozess der «Erkenntnis» zu Leibe gerückt
wird, während dem «Sinn», der wankelmütig und weitaus dynamischer als das «Wesen» ist (da er ja von
der subjektiven Auslegung abhängen wird), mit dem metaphysischen Instrument des «Verstehens»
nachgegangen werden soll – eine Tatsache, die auch zur Revision der Werte beitrug.
Eine Fußnote: Apropos Sinn darf hier folgendes nicht verschwiegen werden.
Auf den allgemein positiv belegten Sinnbegriff ist durch den Faschismus ein Schatten gefallen. Denn „in
einer Zeit, in der Auschwitz möglich gewesen ist, fällt es schwer, dem Weltlauf noch einen Sinn zu
verleihen“ (Sauerland 1979, S.105). Bevor die programmatisch betriebene Ausrottung des Menschen
durch den Menschen möglich war, hatte die Natur scheinbar alle Kontingente vorgehalten, als s innvoll
entdeckt und ausgefüllt zu werden. Danach trat das Absurde (zum Beispiel die Möglichkeit der totalen
Vernichtung durch Atomwaffen bis heute) an die Stelle des Sinns - aber nicht in Form eines Nihilismus
(die Feststellung der Abwesenheit von Sinn) -, sondern in der Form, Sinn zu einer Verhandlungsgröße
erklärt zu haben. Erst die Sinnskepsis aber befähigte uns, sich mit Phänomenen wie Sinnverlust,
Sinnlosigkeit oder scheinbarem Sinn auseinander zu setzen (Sauerland 1979, S.109f.).
Kapitel I V
Das Lesen
IV.1 Hermeneutik
Die Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen. Verstehen ist Auslegen und die Hermeneutik die
Kunst der Auslegung. In diesem Abschnitt betrachte ich, wie sich die Hermeneutik von der Fixiertheit
auf Schrift entfernt hat und auf die Auslegung potenziell aller Zusammenhänge übertrug , die einen
Textcharakter besitzen. Was Text ist, hat Vilém Flusser folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Etymologisch bedeutet das Wort «Text» ein Gewebe und das Wort «Linie» einen Leinenf aden. Aber Texte
sind unfertige Gewebe: Sie bestehen aus Linien (der «Kette») und werden nicht, wie fertige Gewebe, von
vertikalen Fäden (dem «Schuß») zusammengehalten. Die Literatur (das Universum der Texte) ist ein
Halbfabrikat. Es verlangt nach Vollendung.“
(Flusser 1992 b, S.36)
Ursprünglich ist die Hermeneutik das „kunstmäßige Verstehen von schriftlich fixierten
Lebensäußerungen“ (Dilthey 1900, S.39). Keine persönliche, menschliche Lebensäuß erung zeichnet sich
durch eine größere Dauerhaftigkeit aus als die schriftlich festgehaltene. Immer geht das wirkliche,
verstehen-wollende Lesen hermeneutisch vor. Gegenüber anderen Verfahren bietet die Hermeneutik die
Chance, sich einen Zugang zum Lesegegenstand zunutze zu machen, der den Gegenstand relativ integer
und vom Leseergebnis relativ unberührt lässt. Der hermeneutische ist ein sanfter Zugang.
Das griechische Wort «hermeneuein» bedeutet verkünden/ dolmetschen. Der Mythologie nach
überbrachte der Götterbote Hermes (daher der Name) den Menschen die Botschaften der Götter und
erklärte sie ihnen. Erstaunlich ist, dass er die Botschaften nicht einfach verkündete, wie sie der
Christengott später verkündete. Die Vermittlertätigkeit Hermes’ verweist vielmehr auf die Bipolarität
von Verstehen und Erkennen und auf die Verantwortung des Interpreten. Klar ist, dass Hermes die
Verantwortung zukam, die Botschaften korrekt auszulegen, denn hinter der Auslegung verschwindet die
ursprüngliche Botschaft fast völlig. Vielleicht gibt es sie auch gar nicht mehr, sofern nicht direkt
verkündet, sondern durch einen Mittler ausgelegt wird. Wenn die Botschaft die Menschen auf die eine
oder andere Weise erreichen sollte, musste man im Prinzip nicht Gott huldigen, sondern Hermes
gewinnen und notfalls bestechen.
In der angewandten Praxis konzentrierte sich die antike griechische Kunst der Auslegung im
Wesentlichen auf die Schriften Homers. Das Christentum adoptierte das Verfahren und legte den «einen
Text» aus - die Bibel. Vor dem Erscheinen der Heiligen Schrift hatte Gott nicht ausgelegt werden
müssen, sondern er offenbarte sich direkt in den Dingen, Erscheinungen und Phänomenen oder wurde
19
durch seine Jünger offenbart. Der Wortlaut der Bibel nun stellte sich zwischen die Menschen und die
reale Welt. Der biblische Text vermittelte. Durch die Buchstaben hindurch musste auf die Realität
geblickt werden und umgekehrt, die Realität mit Hilfe dessen, was in der Bibel geschrieben stand,
gedeutet werden. Die Geschichte des Abendlandes ist somit seit Jahrhunderten schriftbestimmt. Auf der
Interpretation des biblischen Textes fußt der größte Teil der zivilisatorischen Entwicklung Europas. Er
ist der «Grundtext des Westens», als den ihn Flusser bezeichnete. Die beständige Reinterpretation dieses
Urtextes – wenngleich dieser als solcher im Laufe der vielen Übersetzungen weitgehend verloren
gegangen und stattdessen von Schicksalen ausgefaltet worden ist (Flusser 1992 b, S.38) - lässt die
Hermeneutik als kulturelle Erneuerungspraxis erscheinen, in der alles Neue erneuertes Altes ist. Und in
der Tat, die sich nacheinander durch die Geschichte ziehenden Neugründungen religiöser Orden
kommen immer dann zustande, wenn einige Bibelexegeten einen eklatanten Widerspruch zwischen dem
vermeintlichen Wortlaut der Heiligen Schrift und der herrschenden klösterlichen Lebenspraxis sahen.
Ordensneugründungen setzten stets an dem ursprünglichen Wortlaut der Bibel an. Dass es trotz dieses
Zirkulierens Fortschritte in der Entwicklung der Kirchenorden gab, lag offensichtlich an der durch den
gesellschaftlichen Entwicklungsstand jeweils gewandelten Sicht auf das, was sich im Grunde nie änderte.
Man könnte auch sagen, der Ursprung des Neuen aus dem Immer-schon-Gelesenen liegt sozusagen im
Fehllesen (Honold 2000, S.14). Michele Foucault erklärt die Entwicklung und Erneuerung des Alten
durch die Praxis der Interpretation folgendermaßen:
„Wenn [...] Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung
besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, um ihm eine Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen
gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann
ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen.“
(Foucault 1974, zit. in: Kammler 1990, S.52)
D i e A u s l e g u n g d e r B i b e l . Zu einer Methodik des Verstehens formte sich die Hermeneutik mit
dem Protestantismus. Im Gegensatz zum Katholizismus legte der Protestantismus das M oment der Tat
aus den Händen Gottes in die aktiven Hände des Menschen. Tendenzieller ist der Protestant ein
Atheist, der Gott um seine Schöpfungskraft beerbt. Um handlungsfähig zu sein, wurde es im Zeitalter
der Aufklärung notwendig, den Blick von Gott abzuwenden und unter Abschaffung der Vermitteltheit
durch den «einen Text» direkt auf die Tatsachenwelt zu richten. Aber es war unmöglich und sinnlos, den
Text als Vermittler generell abzuschaffen, um eine direkte Schau auf die Welt zu haben, wie das zu
Beginn des 20.Jahrhunderts Anthroposophie und Theosophie erreichen wollten. Der «eine» wurde
durch viele Texte ersetzt, welche die direkte Schau der Realität gleichzeitig verstellten und überhaupt
erst ermöglichten.
Odo Marquardt stellte fest, dass sich in der Zeit der Konfessionskriege (16.Jahrhundert) der eine,
«absolute» Text der Gesellschaft (die Bibel) aufgabelte – zuerst in zwei, den katholischen und den
protestantischen Text, und von da ab immer weiter. In dieser Entwicklung überwandt die Hermeneutik
ihre theologische Gebundenheit und ihren Dogmatismus. Sie wandelte sich zu einer Kategorie des
Lebens, an der sich die Gesellschaft schulte und tolerant wurde. Denn die Spaltung in Katholizismus
und Protestantismus mit gleichwertigem Wahrheitsanspruch(!) des Bibelverständnisses machte eins
deutlich: Es hatte gar keinen Sinn mehr über den vermeintlich einzigen Sinn zu streiten, d enn, wie man
sah, konnte für jeden Leser derselbe Text etwas anderes bedeuten. Für Marquardt beginnt damit die
Neubestimmung des Menschseins als Sein zum Text (Marquardt 1995, S.131).
Denn vorher war das Lesen dogmatisch gewesen: es war ein Vorlesen der Prediger gegen die Zuhörer.
Eine subjektive, metaphorische Interpretation und Mündigkeit waren nicht möglich. Über das gesamte
Mittelalter und die Renaissance hatten die Bibelexegeten den Zuhörern lohnendes Wissen vorgegeben
und nicht lohnendes Wissen ausgeschlossen. Die Bibel erfüllte eine ideologische Funktion als
freundlich-unwillige, drohende, düstere Mitteilung Gottes an den Menschen (Blumenberg 1983, S.11).
Im Zuge der Aufklärung ab dem frühen 17.Jahrhundert veränderte sich die Stellung des «ersten
Buches» in der Gesellschaft. Schon im 16.Jahrhundert hatte mit dem Protestantismus pri nzipiell jeder
das Recht erhalten, die Bibel eigenverantwortlich zu lesen. Das lutherische Fundament des guten Jetztund-Hier-Gewissens im protestantischen Glauben hatte den Schritt ermöglicht und gefordert, die
Lektüre der Bibel zu öffnen. Mit der Subjektivierung dieses «ersten Buches» und dem unmittelbaren,
potentiell allen Menschen möglichen Zugang zur Heiligen Schrift und zur Schrift im allgemeinen
öffnete sich die Welt der Interpretation. Allerdings war die Methode der Textauslegung schon vorher in
säkularen Bereichen verbreitet - besonders in der Philosophie und Jura, denn um Fachtexte zu
verstehen, hatte man zu keiner Zeit auf Hermeneutik verzichten können. Nun musste di e Hermeneutik
20
aber mit den Ansprüchen der Aufklärung im 17./ 18.Jahrhundert auch wissenschaftlich adäquat
erneuert werden.
W i s s e n s c h a f t l i c h e H e r m e n e u t i k . Der evangelische Theologe und Philosoph Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) war es, der andere Literatur in der Wissenschaft und
Gesellschaft gleichberechtigt neben die Bibel stellte. Die Welt geriet damit in eine individuelle
Verfügbarkeit. „Dieser neue Individualismus hat seinen Philosophen in Schleiermacher gefunden.“
(Simmel 1984, S.94) Als Theologe orientierte Schleiermacher selbstverständlich in erster Linie darauf,
mit der Emanzipation aller Texte durch Liberalisierung die Macht des christlichen Glauben zu retten.
Aber das gelang ihm nicht. Die die Gesellschaft kontrollierende Bibel- und Schriftinterpretation durch
die Kirche verschwand völlig. Das Lesen wurde zu einem kreativen, subjektiven Akt und mithin
Gesellschaft und Denken unkontrollierbar. Aber noch mehr veränderte sich: Aus der apriorischen
Konstatierung des vorher in der Welt schlummernden «Sinns» wurde dynamisch-schöpferischer
«Zweck». Da sich die eine Welt von Gottes Schöpfung in viele Welten menschlicher und somit in
fehlbare Interpretationen aufspaltete, wich das apriorische Weltvertrauen und Weltbehagen einem
Weltunbehagen und bisweilen einem Weltentsetzen (Wetz 1993, S.112). Hieß es vorher, Gott spreche in
der Welt, kehrte sich die Lage nun um: Wenn Gott weiterhin sagen wollte, musste er zu aller erst auf ein
Auch-Hören-Wollen des Lesers treffen. Aber allgemein hatte sich der Leser emanzipiert und fortan
mehr zu sagen. Schnell griff eine gewisse «Wut» des säkularen Verstehens um sich. In der ersten Phase
des Schaffens Schleiermachers beobachtete und kritisierte er diese Verstehenswut aus der Befürchtung
um Sinnbetrug und Unsinnigkeiten, die allein und unkritisierbar durch Vernunft und Verstand
gerechtfertigt würden (Hörisch 1998, S.61).
Im Jahre 1810 gründete Wilhelm von Humboldt (1767-1835) die Berliner Universität. Bei der
geistigen Grundlegung und dem Aufbau der Akademie unterstützte Schleiermacher von Humboldt
maßgeblich. Zusammen mit Georg Friedrich Hegel und von Humboldt lehrte Schleierm acher dann in
Berlin. Von Humboldt selbst war Sprachforscher und so fügte sich Schleiermachers Verdienst, die
philologische Interpretationstheorie der Hermeneutik zur allgemeinen Grundlage der Sprach- und
Literaturwissenschaft zu erheben, in das adäquate Spektrum einer geistigen Ausrichtung der
Wissensvermittlung, in der Narrativität und Kontemplation sowie die Selbsterlangung von Wissen
seitens der Studenten eine Einheit bildeten. Schleiermacher sah in der Universität ein Hort narrativen
Wissens, ...
„... der Darstellung der Gesamtheit der Erkenntnis [...], indem man die Prinzipien und gleichsam den
Grundriß alles Wissens auf solche Art zur Anschauung bringt.“
(Schleiermacher 1808, zit. in: Lyotard 1999, S.102)
Die Bedeutung der Hermeneutik als Methode beschränkte sich indes nicht allein auf die
Wissenschaftstheorie. Unter den aufgeklärten Schichten des Bürgertums erlangte das lesende Verstehen
eine diffus verbreitete, ganz grundsätzliche Alltagsrelevanz. Die Evolutionslehre Charles Darwins (18091882) zwang geradezu, die traditionell metaphysische Weltsicht in der Mitte des 19.Jahrhunderts zu
revidieren und durch die Auffassung eines prozesshaften, beständigen Werdens, Wachsens und
Vergehens zu ersetzen. Ganz neue Wissenschaften mit dezidiert hermeneutischem Ansatz entstanden –
zu den ersten dieser Art zählte um 1800 die Morphologie.
D i e G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n . Der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) führte die
Bedeutung der Hermeneutik für die konkrete Textauslegung über die Literaturwissenschaften hi naus. In
der Literaturwissenschaft ging es der Hermeneutik um die sinnlich erfassende, ganzheitliche
Wahrnehmung von literarischen Werken. Dilthey übertrug dieses Konzept auf die
Geisteswissenschaften (Soziologie, Geschichte, etc.) und führte damit diesen Wissenschaftsbereich in
die Legitimation. Die Hermeneutik stellte für ihn das Organon der Geisteswissenschaften dar, innerhalb
welcher sich die Soziologie (das interaktive, soziale Handeln) mit der Welt des objektiven Geistes
beschäftige (Dilthey 1900, S.34ff.). Die Idee des „objektiven Geistes“ hatte Dilthey von Hegel
übernommen.
Während die Naturwissenschaften die Welt anhand von Gesetzmäßigkeiten erklären – Gesetze, deren
«absolute Wahrheit» sich in den Dingen selber beweisen lässt -, wird der Welt des Menschen und seiner
Taten dagegen - zum Beispiel der in der Stadt fixierten Geschichte, da sie Kunst ist - eine
interpretierende Ausprägung zuteil. „Die Kunst hat mit «relativer Wahrheit» zu tun, das heißt mit der
vom Willen des Menschen gesetzten Wahrheit, die sich in menschlichen Schöpfungen offenbart. Doch
gibt es Berührungspunkte zwischen der absoluten und der relativen Wahrheit.“ (Wittkower 1969, S.58)
Während der Naturwissenschaftler seine Erkenntnisse auf den Forschungen seiner Vorgä nger aufbaut,
21
die für ihn nur insofern interessant sind, als dass sie ihm beim eigenen Forschen helfen, interessiert sich
der Geisteswissenschaftler für die Hinterlassenschaften seiner Vorgänger, die er interpretiert. „Er ist an
Zeugnissen nicht insofern interessiert, als sie aus dem Strom der Zeit auftauchen, sondern als sie in ihm
untergegangen sind.“ (Panofsky 1996, S.11)
Auf der Basis der Grundannahme eines sozialgeschichtlich objektivierbaren Geistes befreite Dilthey
die Interpretation von ihrer bis dato ausschließlich subjektiven Konnotation. Er legte ihre
Allgemeingültigkeit und Verallgemeinerbarkeit dar. Das Aufzeigen der Möglichkeit einer
Verallgemeinerbarkeit und somit Objektivierbarkeit von Empfindungen und Gefühlen und allgemein
von immateriellen, sich mit dem Leben beschäftigenden Fragestellungen, berechtigte Dilthey zu
Abgrenzung und Definition der wissenschaftlichen Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften.
Gadamer würdigte die romantische Profilierung einer geisteswissenschaftlichen Eigenständigkeit und
Gleichwertigkeit gegenüber den Naturwissenschaften durch Dilthey als größte Leistung des
19.Jahrhunderts (Gadamer 1960, S.187).
D i e E n t w i c k l u n g d e r r e l a t i v e n R e g e l s t r e n g e d e s V e r s t e h e n s . Neben dem
Idealismus Hegels brachte die Theorie der Verallgemeinerung subjektiver Lebesausdrücke Dilthey dem
Positivismus nahe. Aber genau da negierte er den Positivismus in doppelter, dialektischer Hins icht.
„Das innere Bedürfnis des menschlichen Gemüts nach einem Sinnzusammenhang des Ganzen, der auch
den Sinn des eigenen Lebens und Strebens im Einklang mit der Natur begründen möchte, war durch die
Wissenschaft und ihre theoretische Rechtfertigung nicht zu befriedigen.“ (Gadamer 1989, S.20f.) Das
erkannte Dilthey und plädierte für ein im Grunde irrationales Verstehen des Lebens und der Geschichte
(Störig 1999, S.639)! Dilthey bewahrte damit die Geisteswissenschaften davor, den ihnen notwendigen
Status, eine Kunst zu sein, aufzugeben. Obwohl er den Geisteswissenschaften einen den
Naturwissenschaften ähnlich strengen Aufbau und eine strenge Methodik vorschrieb, kam es ihm auf
einen vertretbaren «Grad» der Aufrechterhaltung einer generellen Nicht-Methodisierbarkeit des
Verstehens und der Interpretationsleistung an. Hatte Schleiermacher noch die Hermeneutik als
grammatikalisch-philologisches Verstehen angesehen, wandelte Dilthey diese Art in ein psychologischinterpretierendes Verstehen durch Nach- und Neubildung jeder menschlichen Schöpfung mit
Werkcharakter um. Die Benjaminsche Einfühlungstheorie ging zu Beginn des 20.Jahrhunderts noch
weiter und ließ die generelle Unmöglichkeit des Verstehens nach Regeln deutlich werden (Jung 1990,
S.156). Hierin ist eine Rechtfertigung zu sehen, dem Stadtlesen und –interpretieren kein Rezept an die
Hand geben zu können.
Im Bereich der Geschichte gelang es Dilthey, sich gegen den „beständigen Einbruch romantischer
Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte“ zu wenden (Dilthey 1990, S.38).
Für seinen «Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften» (vgl. ebenda, S.49ff.)
benutzte er folgenden Gedankenschluss: In erster Linie sei die Welt um uns herum lebendige
Wirklichkeit. Unser Verstand und die Gesamtheit all unserer Gemütskräfte, mit denen wir in eben
dieser Wirklichkeit leben, sind dadurch, dass sie lebendige Bestandteile sind, am besten geeignet, die
ebenso lebendig geartete Wirklichkeit um uns herum zu erfassen (Jung 1990, S.158). Dilth ey nutzte
diesen Moment der Lebendigkeit (im Gegensatz zu einem metaphysischen Ansatz!) - also einer
grundsätzlich menschlichen Fähigkeit des Hineinversetzens, Nachfühlens anderer Personen und
Nachbildens von Denken und Empfinden -, um die Bedingung und die Möglichkeit geschichtlichen
Verstehens begreifbar zu machen. Wie sonst hätte er behaupten können, dass der gegenwärtige Mensch
die Charakteristika seiner Vorgänger gleichsam aufgehoben, wie transzendiert in sich trage? Dass
überhaupt gedacht werden konnte, jede Stufe vorhergehender Entwicklung in der darauffolgenden
aufgehoben wiederzufinden, dafür hatte die Dialektik Hegels den Weg geebnet.
Wie es kommt, dass Personen einander verstehen können hatte Dilthey folgendermaßen geschi ldert:
eine Person nimmt beim Verstehen fremdseelische Zustände zunächst äußerlich wahr. Aber es bleibt
nicht bei einer bloßen Reflexion, sondern komme zu einer „reproduktiven Wiederholung der
ursprünglichen gedanklichen Produktion“ (Gadamer 1974, zit. in: Jung 1999, S.155). Jeglic he
Wahrnehmung ist also Aneignung, ist – abhängig vom Wahrnehmungsphänomen - bis zu gewissem
Grade Einverleibung. Auf der Grundlage eigener Erfahrungen ist der Verstehende in der Lage, eben
jene fremdseelischen Zustände auch über historische und kulturelle Distanzen hinweg innerlich
nachzubilden und so lebendig wie ein von innen erlebter Zusammenhang zu erfahren.
„Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres
erkennen: Verstehen.“
(Dilthey 1900, S.35)
22
V e r s t e h e n u n d M ö g l i c h k e i t . Im 20.Jahrhundert wurde Hermeneutik weiter gefasst, und zwar
als lesendes Verstehen allgemeiner textlicher oder geisteswissenschaftlicher Zusamme nhänge jeglichen
In-der-Welt-Seins. Die existenzialistische Philosophie Martin Heideggers (1889-1976) versuchte die
philosophischen Fragen nicht auf den idealistischen Höhen des Geistes (wie Kant) zu beantworten,
sondern auf der untersten, existenziellen Ebene des Seins. So ergründete er das Weltverstehen des
Menschen nicht als Leistung, die an geistige Kapazität gebunden ist, sondern als Daseinsweise
schlechthin. Mit Heidegger wurde das Verstehen zum Existenzial menschlichen Seins überhaupt. Wenn
wir sind, seien wir immer verstehend, sagte Heidegger. „Das Verstehen betrifft als Erschließen immer
die ganze Grundverfassung des In-der-Welt-Seins.“ (Heidegger 1935, S.144) Die Hermeneutik bekam
durch das Werk Heideggers eine grundsätzliche Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen. Die
Ontologie wurde zu einer Phänomenologie des Daseins, denn zu verstehen ist eine kontinuierliche
Selbstaufklärung des Lebens in seinen Tiefen (Jung 1990, S.159).
Heideggers Ontologie übertrug den Begriff des Verstehens auf jegliche Form des Daseins. Nicht nur
den anderen Menschen könne man verstehen, oder das andere Wesen, sondern auch Erscheinungen,
Phänomene, natürliche wie vom Menschen erschaffenen Dinge gleichermaßen wie auch die organische
und anorganische Natur. Heidegger erweiterte den Daseinsbegriff vom Sein als feste Form auf alles
„Sein als Möglichkeit“ – also als Sein-Können: „... das Dasein ist ihm selbst überantwortetes
Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit.“ (Heidegger 1935, S.144) Verstehen ist nichts
Statisches, sondern besitze infolge seiner ontologischen Verknüpfung mit dem «Sei n als Möglichkeit»
einen Entwurfscharakter. Dadurch bekommt die Existenz eine Richtung. In ihrer Gerichtetheit gleichen
sich Dasein und Verstehen. „Als solches Verstehen «weiß» es [das Sein, d.A.], woran es mit ihm selbst
d.h. seinem Seinkönnen ist“ (ebenda, S.144), denn alle drei Kategorien - das Sein, das Verstehen und das
Möglichsein - sind nicht freischwebend, sondern an Bedingungen und Grenzen gebunden, zum Beispiel
an die Grenze, in wiefern dem Sein sein eigenes Möglichsein verständlich ist. D arin hat die
Selbstverwirklichung ihre Chance. Die Auslegung im engeren Sinne stellt sich als Ausarbeitung der im
Verstehen entworfenen Möglichkeit dar. Auslegung ist Ausdruck des Verstehens und Selbstverstehens.
„Das Dasein ist in der Weise, daß es je verstanden bzw. nicht verstanden hat, so oder so zu sein.“
(Heidegger 1935, S.144)
D e r h e r m e n e u t i s c h e Z i r k e l . Dasein resultiert aus Vorhabe und Vorsicht als Vorgriff
(Heidegger 1935, S.151). Die erste, ständige und letzte Aufgabe der Auslegung, die eine Entfaltung i st,
bleibt die Ausarbeitung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff „aus den Sachen selbst her“ (ebenda,
S.153). In diesem Postulat steckt die Dinggebundenheit des sanften Lesens. Da Sein und Verstehen
einen allgemeinen Möglichkeitscharakter besitzen und im Laufe ihrer Entwicklung scheinbar
verschiedene Möglichkeiten einer Spielidee folgend durchspielen, räumte Heidegger der Möglichkeit ein,
dass es dazu kommen kann, sich zu verkennen und zu verlaufen.VII
Das Entwerfen (einer Interpretation) hin auf eine im Rahmen liegende Möglichkeit ist aber nicht
anders erklärbar als durch ein vorweg genommenes Seinsverständnis – ein Vorverständnis. Das
Verstehen besitze demzufolge eine Zirkelstruktur - den «hermeneutischen Zirkel», so Heidegger. Anders
als in den mathematischen Wissenschaften beruht die Erkennbarkeit in den Geisteswissenschaften (oder
immer dann, wenn sich das lebendige Sein mit sich selbst beschäftigt) auf dieser ontologischen
Zirkelstruktur, die der Nacherlebensfähigkeit ähnlich ist, die schon Dilthey theoretisierte. „Alle
Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“ ( ebenda,
S.152) Das bedeutet einen «circulus vitiosus», denn man versteht nur das, wovon man schon irgendein
inneres Bild vom Ganzen besitzt, das nicht aus der empirischen Erfahrung erklärbar ist. Auf der einen
Seite kann das Verstehen aus ihr nicht ausbrechen, auf der anderen Seite gäbe es gar kein Verstehen,
wenn diese Zirkelstruktur nicht vorhanden wäre. Der Zirkel ist positive Möglichkeit für ursprüng liche
Erkenntnis. Er ist eine Vorstruktur unseres Daseins. Erkennen ist also streng genommen ein
platonisches Wiedererkennen. „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn
nach der rechten Weise hineinzukommen.“ (ebenda, S.152)
Die «Vor-Urteile» müssen am Ende der Lektüre durch Vernunfterkenntnis kritisch gerechtfertigt
werden, wie Gadamer als Maßstab ergänzt – ein Maßstab, der seit der modernen Aufklärung gilt
(Gadamer 1960, S.184; 199). Die Aufklärung hatte durch ihr Objektivitäts- und Vernunftideal ganz in
der Tradition Auguste Comtes (1798-1957) das empfindungsbegründete Vor-Urteil durch die absolute
Vernunfterkenntnis ersetzen wollen, ohne zu verstehen, dass ohne Vorverständnis gar kein Verständnis
möglich ist. Dadurch, dass sich die Romantik gegen die absolute Vernunftherrschaft auflehnte, spielte
Damit sanktioniert Heidegger meiner Meinung nach auch jede ungerechtfertigte Spielart des Daseins, sofern sie in
den natürlichen Grenzen mögliche Seinsweise ist.
VII
23
sie eine wichtige Rolle, diesen Irrtum der Aufklärung korrigiert zu haben (Gadamer 1960, S.194) –
wenngleich nicht allzu dauerhaft. In der Industriegesellschaft konnte narratives Wissen nur unter dem
strengen Legitimierungsmaßstab überleben, wie Lyotard konstatiert. In dieser Strukturierung hat sich
geisteswissenschaftliche Wissen formiert und ist dennoch mehr oder minder frei geblieben.
„Die Erzählungen sind Fabeln, Mythen, Legenden, gut für Frauen und Kinder. Im besten Fall wird man
versuchen, Licht in diesen Obskurantismus zu bringen [...] Es ist die ganze Geschichte des kulturellen
Imperialismus seit den Anfängen des Abendlandes. Es ist wichtig, seinen Gehalt zu kennen, der ihn von
allen anderen unterscheidet: Er ist vom Erfordernis der Legitimierung bestimmt.“
(Lyotard 1999, S.85f.)
H e r m e n e u t i s c h e r U n i v e r s a l i s m u s . Heideggers Nachfolger im Geiste, Hans-Georg Gadamer
(geb.1900), befreite die Hermeneutik endgültig von ihren traditionellen Fesseln als Methode des
Verstehens und sah in ihr die allgemeine «Philosophie der menschlichen Welterfahrung» (Lessing 1999,
S.10).
Schon die philosophische Linie des logischen Positivismus versuchte im 20.Jahrhundert, die Vielzahl
philosophischer Systeme zu einer positiven Ganzheit zusammenzuführen und Unvereinbarkeiten darin
aufzuheben. In dieser Tradition gliedert sich der Versuch Gadamers ein, der Hermeneutik einen
ähnlichen universalen Charakter zu verleihen. Die Hermeneutik ist theoretisch dazu geeignet, in alle
Wissenschaften Einzug zu halten, so Gadamers Auffassung. Sein Verdienst ist es, dass die Hermeneutik
im 20.Jahrhundert eine eigene Schule der Philosophie begründete, denn Gadamer unterstrich die
praktische Bedeutung des Verstehens als ein universales Problem – nicht nur für Rede, Text und die
philosophische Kategorie des Daseins, sondern für jegliches menschliches Wissen und alltägliches
Handeln. Dennoch bleibt die Hermeneutik eine Art methodisches Prinzip und kann gerade wegen ihrer
Anwendbarkeit auf die Gesamtheit der Probleme keine Wissenschaft mit eigenem Inhalt sein.
Nachdem der Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin (1892-1940) deutlich gemacht
hatte, dass es bei der Einfühlung in Sachverhalte des Verstehens keine allgemein verbindlichen Regeln
geben kann, klang der Methodenstreit darüber ab, wie denn Einfühlung in der Praxis auszusehen habe.
Dennoch übersieht Gadamer keineswegs das grundsätzliche Übersetzungsproblem der Hermeneutik:
nämlich ob und wie es gelingt, „einen Sinnzusammenhang aus einer anderen «Welt» in die eigene zu
übertragen“ (Gadamer 1974, zit. in: Jung 1990, S.154). Als Wissenschaftshaltung steht die He rmeneutik
dem Strukturalismus gegenüber, verschiedenen Kommunikations- und Interaktionstheorien, dem
Marxismus, der Psychoanalyse oder Kombinationen (Bogdal 1990, S.20). Heute bedeutet Hermeneutik
mehr denn je die „für den Menschen lebensnotwendige Kunst, sich in bestehenden Kontingenzen
zurechtzufinden“ (Marquardt 1995, S.20).
Um die hermeneutische Vorgehensweise des Lesens deutlich zu machen, ist es angebracht, sie der
Semiotik gegenüberzustellen, denn beide Ansätze bedienen sich der Interpretation, um zu
hermeneutischem Verständnis bzw. semiotisch-strukturaler Erkenntnis zu führen (Eco 1990, S.29).
IV.2 Semiotik im Vergleich zur Hermeneutik
Die Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen. Im Vergleich zur Hermeneutik ist die Sem iotik eine
sehr junge Wissenschaft. Sie ist im 19.Jahrhundert als Logik- und Sprachwissenschaft entstanden.
Sprache stellt das komplexeste Zeichensystem dar, das der Mensch hervorgebracht hat. Zu Beginn des
20.Jahrhunderts wurde die «Lehre von den Zeichen» dann besonders im angloamerikanischen Raum auf
allgemeinere Wissenschaftsgebiete überführt. Besonderer Verdienst kommt dem amerikanischen
Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914) zu, der das Denken konsequent unter der Funktion des
Zeichens sah. In dieser Erweiterung des Anwendungsbereiches ist die Semiotik der Hermeneutik ganz
ähnlich (wie im Abschnitt IV.1 dargelegt). Die Hermeneutik begreift die Zusammenhänge, die sie
untersucht, als Text; die Semiotik sieht in ihnen Zeichen. Da Zeichen eigene Systeme bilden, zählen
Gebärden, Gesten, Hinweise etc. zu Zeichen in erweitertem Sinne. Jedes System von Zeichen oder
Symbolen ist Sprachform (Mersch 1998, S.7). Sie will die dem Menschen etwas sagen.
„Tagelang geht der Mensch zwischen Bäumen und Steinen umher. Selten verweilt das Auge auf einem Ding,
nämlich wenn er es als Zeichen für etwas anderes erkannt hat: eine Spur im Sand d eutet auf das
Vorbeikommen eines Tigers, eine Pfütze verheißt eine Wasserader, eine Hibi skusblüte das Ende des Winters.
Alles übrige ist stumm und auswechselbar; Bäume und Steine sind nur, was sie sind.“
24
(Calvino 2000, S.17)
Im Vergleich zwischen Semiotik und Hermeneutik fällt der Unterschied der Bezugssysteme ins Auge.
Die Hermeneutik bezieht sich auf die Schrift, die Semiotik auf die Sprache. Im Gegensatz zu Sprache ist
Schrift kein Symbolsystem, denn Schrift kann man lesen. Ein System von Symbolen hingegen kann man
nicht lesen, sondern nur besprechen, also diskutieren. Sprechen ist «actio» - ist ein Formen und Bilden im Unterschied zum Schreiben und zum Lesen, welches «passio» ist – ein Aufnehmen, Einverleiben.
Die Andersheit der Schrift gegenüber der Sprache hat der französische Philosoph Jaques Derrida in
seiner «Grammatologie» eingehend dargelegt. Schreiben ist keinesfalls ein bloßes Niederlegen von
Gesprochenem. Die Dialektik von Sprechen und Schreiben entspricht etwa der von Erklären und
Verstehen – also Semiotik und Hermeneutik. Semiotik und Hermeneutik stehen sich gegenüber wie das
Entziffern von Buchstaben und das Lesen von Text.
Die Semiotik geht davon aus, dass die gesamte Wirklichkeit unserer Welt ein kommunikatives
Zeichensystem ist und nur als solches überhaupt in unserer Wahrnehmung funktioniert. Wenn wir
sehen, sähen wir „Zeichen über Zeichen“ (vgl. Mersch 1998). Die Semiotik findet Parallelen zum
Kantschen Ansatz der Sicht auf die Erscheinungen einer Welt, in der hinter der sichtbaren Wirk lichkeit
das eigentliche Wesen der Dinge liegt – ein Ansatz, den Walter Benjamin kritisierte. Anders als Kant
dagegen hegt die Semiotik nicht die Absicht, das Dahinter aufzudecken, weil es nach semiotischer
Ansicht kein Dahinter gibt – hierin ist sie wiederum der Hermeneutik ähnlich. Im Prinzip trachtet die
Semiotik, die Kantsche Resignation vor dem in letzter Instanz unerkennbaren Wesen hinter den
Erscheinungen der Dinge zu überwinden, indem sie die Zeichenwelt nicht vor die wirkliche Welt stellt,
sondern beide an der Oberfläche miteinander verschmilzt. Zeichen sind wie Filter, sind Medien, durch
deren Bedeutung hindurch die Welt als Zeichen erschlossen wird.
Eine Welt als Zeichen ist dem Menschen aber grundlegend fremd und vorab unverständlich. Im Laufe
des Lebens muss er lernen, die Zeichen zu verstehen und sie entsprechend den Anweisungen, die sie
bezeigen, zu benutzen – so stellt sich für die Semiotik das Erwachsenwerden dar. Das Subjekt kann mit
Hilfe seines Verstandes die Zeichen zum Sprechen bringen, das heißt, sie dekodieren und sich dadurch
in der Welt orientieren. Der Erklärungsansatz, den die Semiotik verfolgt, ist ein kausalanalytischer. Ein
Zeichen verstehen meint ein Code knacken.
„Die harte Wissenschaft des Rätselratens ist daran, alles weiche Interpretieren aus der zu lesenden Welt zu
eliminieren.“
(Flusser 1992 b, S.73)
Die Welt erkennen heißt, die Bedeutung der Zeichen, welche ja die Dinge und Erscheinungen sind, zu
erschließen. Eine Bedeutung erschließen heißt wiederum erkennen, worauf sie hindeutet. Das Zeichen
ist ein Zeigen. Zeichen sind somit Funktionen (Mersch 1998, S.9). Funktionen implizieren ein Handeln;
sie orientieren auf die Tat. Ein Zeichensystem kommt deshalb einem «denotativen Text» gleich.
Aufgrund der Eindeutigkeit der Botschaft ist dieser Text bewusst auf einen Empfänger ausgerichtet,
den er zum Handeln anleitet. An dieser Stelle verbinden sich Semiotik und Pragmatismus – nicht zuletzt
in persona von Charles Sanders Peirce. Für Peirce nämlich weist das Zeichen in zwei Richtun gen: auf
dasjenige, das es bezeichnet sowie auf denjenigen, der es empfängt. Das Zeichen ist Bedeutung von
etwas, jedoch hauptsächlich für jemanden(!). Der amerikanische Architekt Kevin Lynch sah in der
Orientierbarkeitsanforderung an die Stadt die Forderung nach einem solchen, eher wissenschaftlich
gearbeiteten Text des Zeigens, der eine relative Gleichinterpretation von allen Stadtbenutzern zulässt –
eine Stadt, die von allen gleichverstanden wird und in der man sich „gut zurechtfindet“ (Lynch 1989,
S.13). Die Aussagen der Hermeneutik sind dagegen «konnotative Aussagen», das heißt, sie vermitteln
expressionistische, lyrische, mehrdeutige Inhalte, aus denen keine logische Spur zu einer Handlung führt
(Lyotard 1999, S.117). Aus hermeneutischer Sicht ist die Stadt keine Gebrauchsanweisung.
Wie in Abschnitt IV.1 gezeigt, geht die Hermeneutik nicht von einer dem menschlichen Dasein fremd
gegenüberstehenden Zeichenwelt aus, sondern von einer grundsätzlich vertrauten, schon verstandenen
Welt (vgl. Platon, Kant, Heidegger). Die Hermeneutik kennt keine Verschlüsselungsmetapher, sondern
eher das Gegenteil: das im Gestaltausdruck entschlüsselte Sein. Sofern Texte nicht willentlich
zeichenhaft verschlüsselt sind (und ich denke, das sind die kulturellen Texte nicht), geht es auch nicht
darum, sie zu entschlüsseln. Statt der semiotischen Kategorie des «Codes» ist «Geschichte» die
Kategorie der Hermeneutik (Marquardt 1995, S.136) Im Gegenschluss kann «Geschichte» auch keine
wirkliche Kategorie der Semiotik sein – sie ist nur ihr Alibi.
Die Hermeneutik stützt sich nicht direkt auf die Dinge. Sie rückt im Gegenteil von den Dingen ab; die
Dinge interessieren sie nur in einem Überlieferungszusammenhang (Gadamer 1960, S.209). Das Subjekt
der Hermeneutik (der Leser) verhält sich eher zu den Randbedingungen, während bei der Semiotik die
25
Zeichen direkt im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stehen. Einen Zusammenhang
hermeneutisch auszulegen kommt nicht von außen über den Zusammenhang, sondern produziert sich
gewissermaßen aus dessen Innerem heraus, dieses Innere umkreisend. Der im Stadttext eing eschlossene
Sinngehalt zeichnet sich im Laufe des Lesens gewissermaßen mit jeder umgeschlagenen Seite immer
deutlicher ab; ganz klar kann er aber erst hervortreten, wenn die letzte Seite erreicht ist. Erst dann sperrt
der Text die Türen auf für das Begreifen des in der Gesamtaussage liegenden Weltbezugs. In der
Semiotik sind alle Zeichen gleichzeitig sichtbar und harren der Entschlüsselung auf einen persönlichen
Bezug zum Dekodierer hin. An die Stelle des zweckfreien Verstehens der Hermeneutik stellt die
Semiotik die nützliche Absicht.
Die Semiotik steht – anders als die Hermeneutik - in der positivistisch-pragmatischen
Wissenschaftstradition, die in ihrer Art eher den Naturwissenschaft als den Geisteswissenschaften
verwandt ist. Dennoch bleibt auch die Semiotik geisteswissenschaftlich konnotiert. Dem Stigma
vermeintlicher Unwissenschaftlichkeit versucht sie dadurch zu begegnen, dass sie die wesentliche
Grundabstraktion an den Anfang stellt: der gesamten Welt liegt die grundsätzliche Ordnungskategorie
der Zeichen zu Grunde. Dass der Mensch die Welt als ein Zeichensystem auffassen soll, ist nach
meinem Dafürhalten ein Akt der Willkür in der Form, Dinge und Erscheinungen in der Anschau ung
erst zu Zeichen zu machen. „Gegenstand der semiotischen Forschung ist eigentlich alles, weil alles zum
Zeichen gemacht und als Zeichen interpretiert werden kann. Das Feld der Semiotik entspricht dem
Bereich der menschlichen Kultur selbst.“ (Mersch 1998, S.9) Nach dieser Theorie ist es das Arbeitsfeld
der Semiotik, kulturelle Ursachen zu erklären, welche Zeichen hervorbringen, beziehungsweise auf die
Zeichen verweisen, wie sie untereinander verbunden sind und eigene Regeln hervorbringen. Die
Semiotik behauptet, erst dadurch, dass sich die Welt in Zeichen ausdrückt, eigne sie sich überhaupt für
die wissenschaftliche Erkenntnis, Analyse und Erklärbarkeit. Zu einem gewissen Grade scheint es so, als
schaffe die Semiotik erst das Problem, für das sie die Lösung darstellt.
A r c h i t e k t u r . Im Bereich der Architektur biete die Semiotik, anders als die Hermeneutik, einen
praktischen Zugang zu den Phänomenen. VIII Kevin Lynch war einer der ersten, die Mitte der 1960er
Jahre den städtischen Raum auf seine Zeichenwirkung untersucht hat. Ihm kommt der Verdienst zu, auf
der theoretischen Basis der Semiotik, den Vorrang der visuellen Gestaltung der baulich -räumlichen
Umwelt gegenüber der rein funktional-technischen gefordert zu haben. Überhaupt gebührt der Semiotik
der Verdienst, das Augenmerk auf die sinnlich-psychologische Wahrnehmung der physischen Realität
orientiert zu haben. In seinem Buch «Das Bild der Stadt», das 1965 auf deutsch erschien, ve rtritt Lynch
die Auffassung, die Zeichenanalyse stellt die Methode dar, auf deren Basis man die Stadtgestalt und die
architektonische Form beurteilen hann. In Bezug auf die zeichenorientierte Wahrnehmung des
Menschen, von der Lynch ausgeht, fordert er von städtischen Räumen, drei wesentliche Kriterien zu
erfüllen: sie müssen einprägsam, lesbar und vorstellbar sein (Lynch 1989, S.5). Unter Lesbarkeit versteht
Lynch eine in erster Linie visuelle Abbildbarkeit, aber kein Verstehen. Es geht ihm um ein
reproduziertes Vorstellungsbild. Um eine Stadt aus dem Gedächtnis heraus zu beschreiben, müsse sie
ein logisches Vorstellungsbild hinterlassen haben (Lynch 1989, S.175). Aber weder ist Ablesen, das zum
Beschreiben führt, gleichzusetzen mit dem Verstehen erwerbenden Lesen, um das es uns geht, noch ist
ein bildliches Reproduzieren gleich ein Erinnern.
P h i l o s o p h i e . Die Semiotik basiert auf der Philosophie des Pragmatismus. Um diesen
Zusammenhang besser zu verstehen, möchte ich ihn hier näher untersuchen. Wie schon weiter oben
festgestellt, steht die Semiotik in der Tradition des Positivismus und besonders der Lebensphilosophien
des Utilitarismus. Der Utilitarismus war Frucht eines humanistischen Gedankens, der zu Anfang des
19.Jahrhunderts im vorindustriell geprägten England aufkam und in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts in
den Pragmatismus überging. Übersiedler führten utilitaristisches und pragmatisches Denken nach
Nordamerika, wo solcherart philosophisches Alltagsdenken zur breiten Grundlage der Gesellschaft
wurde. Die amerikanische Verfassung von 1776 fußte auf den utilitaristisch-pragmatischen Prinzipien
der angelsächsischen Rechtstradition und prägt die amerikanische Lebenseinstellung bis heute.
Der Gedanke des Utilitarismus, als dessen Begründer der englische Jurist und Philosoph Jeremy
Bentham (1748-1823) gilt, ging davon aus, dass die Menschen ihr Streben nach dem «Prinzip des
größtmöglichen Glücks» motivieren. Aber bald darauf wurde die antike Kategorie des Glücks durch den
weitaus moderneren Begriff der Lust ersetzt, der Ähnlichkeit mit Arthur Schopenhauers «Wille» und
Friedrich Nietzsches «Dionysisches und Apollinisches» aufweist. Auf die Stadt bezogen leitet sich
VIII
26
Wir erinnern uns, dass die Hermeneutik eher theoretisch bleibt.
daraus die ethisch-moralische Verpflichtung des Stadtplaners ab, die Stadt so zu gestalten, dass sie zur
Quelle täglicher Freude für ihre Einwohner gereiche (Lynch 1989, S.142). IX
Dem Utilitarismus entstammt das humanistische Moment des amerikanischen Gesellschafts - und
Stadtmodells. Mit ihm paart sich ein missionarisches Moment. Dieses nun entstammt dem
Pragmatismus. Mithin ist es nicht verwunderlich, dass der Pragmatismus eine Umformung des
Utilitarismus unter den Bedingungen der Industrialisierung ist. Wie der Philosoph Manfred S. Frings
konstatierte, herrschte in der Geschichte der Philosophie jeweils «Pragmatismus» vor, wenn der
Wirklichkeitsbezug gesellschaftlichen Denkens Vorrang genoss, während «Idealismus» bei vorrangiger
Wesensforschung vorherrschte (Frings, in: Scheler 1977, S.IX). Das kommt daher, dass sich der
Pragmatismus, wie erwähnt, mit den Dingen und Handlungen beschäftigt statt mit den Ideen. Von den
Tatsachen, Früchten oder Folgen, die aus praktischem Handeln resultieren, bedeutet Pragmatismus, von
einem möglichen, in der Zukunft liegenden, gewünschten Ergebnis ausgehend, das notwendige Handeln
im Jetzt und Hier zu orientieren, um die fernen Ziele zu erreichen.
Im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Gegenwart – im Gegensatz zur Hermeneutik, die in der
Vergangenheit nach dem Verstehen des Heutigen und des Morgigen sucht - sind auch die
Wahrheitskategorien des Pragmatismus angesiedelt. Dadurch, dass das Heute im Pragma tismus zur
Funktion der Zukunft wird, kann nie etwas als fertig oder abgeschlossen angesehen werden. Die Welt
bekommt dadurch etwas sehr Dynamisches. Anstelle der Nichtexistenz eines Endresultats
kennzeichnete Kevin Lynch das Eigentliche des semiotisch geleiteten Stadtbauprozesses mit der
ständigen Aufeinanderfolge von Phasen (Lynch 1989, S.11).
Die Frage nach der Wahrheit im antiken, metaphysischen Verständnis (der Übereinstimmung von
Geist und Sache) stellte der Pragmatismus nicht. Für ihn ist wahr, was nützlich ist; und nützlich, was
einen Wert (einen Barwert: «cash value») erwirtschaftet oder was zum Erfolg führt. Wie James sagte, ist
das wahr, „was sich durch seine praktischen Konsequenzen bewährt“ (zit. nach: Störig 1999, S.640). Der
Pragmatismus stellt als Grundfrage nicht die metaphysische Warumfrage, sondern die Bedürfnisfrage.
Pragmatismus und Semiotik stützen sich gleichermaßen auf die Empirie. Im Widerspruch zur Ontologie
behauptet die Empirie, Erkenntnis komme durch Abstraktion von den Dingen der Wahrnehmung
zustande. Das Wesen einer Sache erkennen die Empiriker der Wahrnehmung nachgeschaltet. Wie im
Abschnitt IV.1 gesehen, gehen die Hermeneutiker hingegen von einem Vorverständnis einer Sache aus.
Die Idee der Sache existiert für sie also vor der Wahrnehmung.X Erkenntnis wird hermeneutisch durch
Denken, Reflexion oder Disput gewonnen – pragmatische Erkenntnis hingegen resultiert aus der Arbeit.
Das Wesenswissen des Pragmatikers resultiert vornehmlich als Arbeits-, Leistungs- und Lösungswissen.
Das auf pragmatischem Wege entstehende Neue verlässt die Spirale des hermeneutischen Zirkels,
erneuertes Altes zu sein und ist Überraschung (Scheler 1977, S.22).
Z u r ü c k z u r A r c h i t e k t u r . Pragmatismus ist einfacher als Hermeneutik. Denn es ist einfacher,
empirische Details im Raum (Häuser) auf eine Ganzheit (Stadt) hin zu synthetisieren, anstatt Einzelteile
von der Gestalt und Funktion des holistischen Ganzen her zu betrachten. Von der gestalt des Ganzen
auszugehen bedeutet, die gewohnte Verständnispyramide auf den Kopf zu stellen, wie es die
Hermeneutik zu tun bemüht ist. Der Vorteil des Pragmatismus allerdings besteht darin, das Handeln aus
jeglicher Befangenheit zu lösen. XI Im Gegensatz zur Hermeneutik ist es frei und operationell, seine
Die Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) und Herbert Spencer (1820-1903) meinten, wenn alle einzeln nach
Glück oder Lust strebten (eine Grundvoraussetzung für Demokratie), funktioniere die Gesel lschaft, Recht Moral etc.
ganz von alleine. Darin bestünde auch das Maximum an individueller Freiheit. Der französische Soziologe Emil e
Durkheim (1858-1917) widersprach der Auffassung von einer Gesellschaft als bloßes Aggregat von Individuen. Er
verband die Geschichtsschreibung mit strukturaler Soziologie und führte den Begriff der Gesel lschaft hinaus in die
figürliche Eigenständigkeit eines kollektiven, vom Einzelnen abgelösten Corpus. Zum Beispiel heißt es bei Durkheim:
„Recht und Moral sind die Gesamtheit der Bande, die uns miteinander und mit der Gesel lschaft verbinden, die aus
einer Masse von Individuen ein kohärentes Aggregat werden lassen.“ (Durkheim, 1988, S.468) Das Individuum befindet
sich in der Gesellschaft im Zustand maximaler Abhängigkeiten und nicht in absoluter Freiheit. Nie von der Gesellschaft
abgeschieden, sondern nur innerhalb dieser könne es ein moralisches Individuum sein (Durkheim, 1988, S.469). Und
nur dort, unter den Zwängen der Gesellschaft, kann das Individuum zur Person reifen - zur autonomen Quelle seines
Handelns in freier, gesellschaftsemanzipierter Entscheidung (Durkheim, 1988, S.474).
X Max Scheler lehnt beide Standpunkte ab und meint: Wissen komme weder vor noch nach den Dingen, sondern mit
ihnen (Frings, in: Scheler 1977, S.XIV).
XI In Verlängerung des Positivismus lehnten die Utilitarier alles nicht rational B egründbare ab, wie zum Beispiel die
Religion und andere „Absurditäten“. Die Pragmatiker taten das auch, allerdings besaß die Auseinandersetzung mit
mystischen Kategorien für sie gar keine thematische Relevanz.
IX
27
Inhalte und sein Sinn sind vorgezeigt. Bemerkenswert ist die in der Semiotik hervorgehobene Betonung
des beeinflussenden Subjekts.
„Um dem Zeichensystem eine Botschaft zu entnehmen, nähere ich mich ihm zunächst in sprun ghafter Weise,
mit wild umherzuckenden Augenbewegungen, dann rekonstruiere ich den Zeichencode [...] und färbe den so
entstehenden Text ein – mit Emotionen, Empfindungen, Eingebungen, Kenntnissen, Seele -, und alles hängt
davon ab, wer ich bin und wie ich zu dem wurde, der ich bin.“
(Manguel 1999, S.51 - unter Berufung auf Al Hakim)
Die Semiotik geht von der Wahrnehmung der Welt in Bildern aus, die ja in semiotischem Verständnis
komplexe Zeichensysteme darstellen. Die abwesende Orientierung auf eine innere Ganzheitlichkeit
maskiert sie mit der äußerlichen, semantischen Überzeugungskraft von Bildern. Das «Bild der Stadt» gilt
ihr als Potenzial - als „Feuerwerk“ gestalterischer und sozialer Möglichkeiten, das zu einer
funktionierenden, lebensfähigen und gesunden Organisation entzündet werden müsse. Und das gelänge
nur, so der englische Stadtplaner Gordon Cullen ganz pragmatisch, indem der Spielraum der
wissenschaftlichen Lösungen für die Stadt gestalterisch sinnvoll ausgedeutet wird (Cullen 1991, S.7).
Bildzeichen produzieren sich im Kopf aus der Überlagerung zweier zeitlich versetzter Erfahrungen:
der unmittelbaren Jetzterfahrung und der Erinnerung an eine vergangene Erfahrung. Darin besteht,
Lynch zufolge, die Grundlage sowohl für die Orientierung des Einzelnen, als auch für die
Kollektivierung, Gruppenkommunikation und das Sicherheitsgefühl (Lynch 1989, S.14). Zur Gestaltung
des Bildes der Stadt schlägt er vor, den Raum mit „Formen, die das Auge begeistern“ zu gestalten
(Lynch 1989, S.110). Diese formale Gestaltung unter ästhetischen (und in letzter Konsequenz
ideologischen) Gesichtspunkten stehen für «städtisches Leben» (Lynch 1989, S.110). Die Benutzung der
Stadt (die Orientierung) erfolgt dekodierend durch die sukzessive Deutung der Bilder hindurch, deren
Zeichen der Mensch, wenn er durch die Stadt geht, zu entschlüsseln beschäftigt ist. Urbane Bildzeichen
würden das Wohin des Handelns leiten. Da die semiotische Analyse ein Dechiffrieren und D ekodieren
ist, leidet aber das umgekehrte Verfahren – der syntaktische Entwurf - darunter, dass die einmal
geknackten Codes nicht mehr dieselben wie vorher sind. Sie sind nicht mehr vertextbar sondern nur
noch funktional hintereinander schaltbar.
In einem solchen Verständnis greift Lynch der Postmoderne vor, in der sich das Individuum zum
Rezeptor von in Architektur ausgedrückten Bedeutungsvorgaben wandelt. Das alternierende,
europäische Wechselverhältnis zwischen Gesellschaft und Raumproduktion wurde da in die einseitige
Richtung der Determinierung der Individuen ausgerichtet. Semiotisch betrachtet, dient die zeichenhaft
geplante Stadt dazu (bei positiver Unterstellung), die Einwohner mit Glück und Freude zu berauschen
(wie Disneyland) oder zu guten Amerikanern zu machen (auch wie Disneyland). Frank Lloyd Wright
(1867-1959) war der Auffassung, wenn jeder Einzelne erst einmal in seinem eigenen Heim in
Siedlungsagglomeraten wie «Usonia» lebten, „wäre so der Bürger von Broadacre nicht nur
unerschütterlich. Er wäre unverletzlich. Unsere Nation unzerstörbar“ (Wright 1997, S.209).
Auf der Grundlage der Semiotik unternahm der amerikanische Mathematiker Christopher Alexander
gegen Ende der 1970er Jahre den Versuch, eine bilderorientierte Entwurfssprache zu entwickeln: «A
pattern language» (eine Mustersprache). Dezidiert auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet, sollte sie von der
Regionalplanung bis zur Konstruktion anwendbar zu sein. XII Alexander ging dabei von einer These in
der Chaostheorie aus, nach der sich die große Einheit aus selbstähnlichen, immer kleiner gebrochenen
Fraktalen zusammensetzen, von der Region über die Stadt bis zum Wohnzimmer . Die «Mustersprache»
beginnt so: „Wir beginnen mit jenem Teil der Sprache, durch den eine Stadt oder Gemeinde definiert
wird, darauf angelegt, dass jede individuelle Maßnahme zur Entstehung dieser [...] Muster beiträgt, wird
langsam und sicher über Jahre ein Gemeinwesen herbeiführen.“ (Alexander 1995, S.3) Alexander ist
optimistisch. Am Beginn des ersten Teils der «pattern language», «Städte», wird in regionalem Maßstab
ein typisch amerikanisches Siedlungsideal evoziert: in Agglomerationen von «neighbourho ods» finden
sich unter dem amerikanischen Verfassungswortlaut chancengleiche Individuen zusammen, die sich mit
urbanistischen Vexierbildern ausstatten. «A pattern language» postuliert dieses Siedlungsmodell als das
einzig legitim-freiheitliche. Auf der Stadt-, regionalen, Landes- und schließlich Weltebene erhebt es den
Anspruch, ein demokratisches Universalrezept für die ganze «Weltgemeinschaft» darstellen zu können.
Selbst habe ich diese «Mustersprache» während meiner Architektur-Entwurfsausbildung begeistert studiert. «A
pattern language» ist der einzige Versuch, der mir bekannt ist, den städtebaulich-architektonischen Entwurf ganzheitlich
im Sinne einer Sprache (und eines Textes) kohärent zu strukturieren. Doch es gibt Grenzen. Die Kritik richtet sich hier
vornehmlich auf den Aspekt der weltanschaulichen Ideologie.
XII
28
So erfolgreich und qualitätvoll die «pattern language» im Architekturentwurf arbeitet XIII, versagt sie
letztendlich in städtischen Maßstab durch ihr missionarisches Diktum. Bei universaler Anwendung liefe
die «pattern language» darauf hinaus, alle Kulturen unter die Haube des amerikanischen Ideals zu
zwängen. Diesen missionarischen Impetus halte ich für illegitim – ja hier gerät der der Semiotik
geschuldete Ansatz sogar zur Falle.
F a z i t . Utilitarismus, Pragmatismus und Semiotik sind moderne Philosophien des Protesta ntismus
und der Industriegesellschaft. Metaphysik, Idealismus und Hermeneutik hingeg en gehören ihrer
Entstehung nach der vorindustriellen Gesellschaft an. Eine utilitaristische Orientierung und ein
pragmatisches Handeln haben aber nicht nur die Menschen in Nordamerika, sondern auch in Europa
seit der Antike immer begleitet. Allerdings hatten Utilitarismus und Pragmatismus vor der
Industrialisierung keine Chance, sich gegenüber den anderen Philosophien durchzusetzen. Erst mit der
Industrialisierung haben sie in globalem Maßstab die Oberhand und Dominanz im Denken gewonnen.
Es bleibt die Frage offen, ob die verdrängten philosophischen Aspekte der Metaphysik, des Idealismus
und der Hermeneutik in erneuerter Form in der nachindustriellen Gesellschaft nicht an ideellem Wert
bei der Gestaltung der Lebensumwelt an Bedeutung zurückgewinnen...
In den Fällen, in denen der funktionell-semiotische bislang als ausschließlicher Ansatz fungierte, um
urbane Phänomene zu begreifen und zu gestalten, lehrt die Erfahrung, dass Lösungen des Erkennens
und Erklärens gegenüber Lösungen des Verstehens auf Dauer unbefriedigend sind. Daraus folgt: nicht
ein visuelles Image (Leitbild) wie beispielsweise Lynch die Aufstellung eines visuellen Plans fordert, in
dem ein visuelles Vorstellungsbild vorgegeben wird (Lynch 1989, S.137), kann ein für die
Stadtgestaltung hinreichendes Ideal sein. Zumindest für die europäische Stadt gilt: es liegt in ihren
Wurzeln und in ihrer Natur, zum arabesk sich windenden Weg auf der Suche nach Wahrheit
zurückzufinden. Ihr Schicksal und Glück ist es, dem Wahrheitsanspruch in seiner Total ität nie gerecht
zu werden und die absolute Wahrheit nie zu erreichen, sondern bestenfalls zu umkreisen. Das
Sinnverstehen der Wahrheit in der Stadt, das der hermeneutische Ansatz will, fußt - verglichen dem
Erklären des semiotischen Ansatzes – auf einer ursprünglicheren, tieferen, elementareren Stufe der
Erkenntnistheorie. In ihr ist das Erklären aufgehoben – gewissermaßen umgreift die Hermeneutik die
Semiotik.
Nach diesen Betrachtungen komme ich nun zum Lesen. Schickt sich jemand an, Städte zu lesen,
tauchen viele Parallelen zur Lektüre im wörtlichen Sinne auf. Es lohnt sich daher, den Lesevorgang
eingehender zu betrachten.
IV.3 Lektüre
Einen Text lesen heißt, seinen Sinngehalt epistemologisch zu erschließen und hermeneutisch zu
verstehen. Lesen und Verstehen stehen sich dabei nicht wie Mittel und Zweck gegenüber (man liest
nicht, um zu verstehen). Es sind auch keine aufeinanderfolgenden Tätigkeiten, denn genau in dem
Moment, in dem man liest, versteht man. Lesen und Verstehen sind dasselbe! Da man sich an
unverstandenen Text nicht erinnern kann, wird niemand sagen können, er habe das Gelesene erst später
verstanden. Allenfalls kann man es später „richtig“ verstanden haben, wenn man es vorher wenigstens
irgendwie verstanden hat.
Die Interpretation beginnt mit der Initiative des Interpreten und oszilliert zwischen Werktreue und
Intention (Eco 1990, S.35). Das Verstehen städtischer Zusammenhänge sucht in zwei Richtungen: nach
der Intention der Gesellschaft, im besonderen der Planer, Architekten, Bauherren und Bürgermeisters
etc., die den kulturellen Raum hervorgebracht haben und nach der Intention des fertigen Werkes - also
nach dem, was der Text unabhängig von der Intention seiner Autoren sagt. In diesem Spannungsfeld
umkreist die Interpretation eine objektive Wahrheit, ohne sie je ganz zu erreichen. Ähnliches behauptete
Max Scheler, als er sagte: „Alle Tätigkeiten des Denkens, Beobachtens, Erkennens usw. sind nur
Operationen, die zu einem Wissen führen - nicht aber sind sie selbst das Wissen.“ (Scheler 1977, S.17)
In kleinerem Maßstab (auf der Ebene der Siedlungsgemeinschaft und der Architektur) denkt die Methode sehr
schön von Bildmotiven her (den «patterns»). Die Basisbilder orientieren sich an Archetypen (zum Beispiel: Mauer, Weg,
Schwelle, Sitzplatz im Schatten etc.), welche der Entwerfer die Aufgabe hat, in einer Grammatik geschickt organisch
miteinander zu verknüpfen.
XIII
29
Der kulturelle Text einer Stadt ist neutral und zunächst gedanklich frei für jegliche Interpretation eine in bestimmten Grenzen recht unverbindliche Variable. Die Offenheit des Textes macht seine
Interpretation potentiell unendlich. Jede Stadt ist - einem literarischen Text gleich - unvollendet und
offen. Der Sinn des Textes bleibt in der Schwebe. In dieser Freiheit besteht die Möglichkeit seiner
Fortsetzung - seiner Fortschreibung. Eine Bedeutung erhält eine Textaussage hauptsächlich zum
Zeitpunkt des Lesens und durch das Lesen. Die Aussage – in sofern sie Wahrheit repräsentiert - bezieht
ihren Wahrheitsgehalt nicht nur aus der Wahrheit des oder der Autoren zum Zeitpunkt des Schre ibens
(bei der Stadt: zum Zeitpunkt des Bauens), sondern aus der Wahrheit des Interpreten (des Benutzers)
zum Zeitpunkt des Lesens. Beim Lesen ergänzt und systematisiert der Leser das Werk. In sofern ist
Lesen Schöpfung.
„Um einen Text zu verstehen, [...] lesen wir ihn nicht im einfachen Wortsinn, vielmehr konstruieren wir für
ihn eine Bedeutung. In diesem komplizierten Prozeß bearbeiten die Leser den Text. Sie erschaffen Bilder und
verbale Umwandlungen, um seine Bedeutung zu erfassen. Das Beeindruckende daran ist, daß sie die
Bedeutung erst erschaffen, indem sie beim Lesen Beziehungen zwischen ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und
den geschriebenen Sätzen und Passagen des Textes herstellen./ Folglich ist das Lesen [...] ein verwirrender,
labyrinthischer Reproduktionsprozeß, der bei allen Menschen ähnlich verläuft, aber doch einen höchst
persönlichen Charakter behält.“
(Manguel 1999, S.52) XIV
Auch das Buch der Stadt entsteht erst als Ergebnis des Lesens (des fortdauernden U mgangs mit ihr)
und nicht im Akt des Bauens. Das rückwärtige, geistige Verständnis einer Schöpfung besitzt viele
mögliche Erklärungen, allein eingedenk der Tatsache, dass ein Werk im Laufe der Zeit eine
eigendynamische Entwicklung entfaltet. Die Interpretation einer historischen Überlieferung im Heute
auf der Basis des psychologischen Schlusses vom Eigenen auf das zurückliegend Fremde erscheint
gleichwohl möglich wie fragwürdig (Jung 1990, S.163). Denn auch der Leser bleibt nicht unb erührt:
„Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginativen
Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich.“
(Ricœur 1974, zit. in: Jung 1990, S.169)
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Schreiber und Leser an einem identischen Verstehen
interessiert sind. Diese Grundannahme macht es möglich, alte Kulturtexte zu verstehen, auch wenn
zwischenzeitlich viele Generationen vergangen sind. Auf dem Wege zur Entdeckung von Wahrheit und
Sinn einer textlichen Aussage tun sich viele Hindernisse auf. Zum Beispiel kann der Leser eine Aussage
so verstehen, wie der Autor sie gerne hätte verstanden wissen wollen – ganz so, als hätte der Autor die
Möglichkeit einer späteren Bedeutungskonstruktion (in ihrer Unendlichkeit) schon im Text angelegt.
Freilich kann der Leser den Autor auch gründlich missverstehen. Oder er versteht etwas, das der Autor
so zwar nicht gemeint hat (oder nicht einmal daran gedacht hat, irgendetwas zu meinen), der Text aber
durchaus eine entsprechende Interpretationen zulässt, von der der Leser dann möglicherweise meint,
der Autor hätte genau diese Botschaften im Text versteckt. Er kann die vermeintliche Aussage, die ein
Text seiner Meinung nach trifft, teilen oder anderer Meinung sein – dies sowohl aufgrund eines
korrekten Verständnisses wie auch eines Missverständnisses. Von der Stadt kommt jede Generation und
jede Epoche zu ihrer eigenen Deutung.
„Die Literatur richtet sich an einem Empfänger, von dem sie verlangt, daß er sie vollende. Der Schreibende
webt Fäden, die vom Empfänger aufgelesen sein wollen, um durchwoben zu werden. Erst dadurch gewinnt der
Text an Bedeutung. So viele Leser ein Text hat, so viele Bedeutungen besitzt er [...]/ Also «hat» er kein
Schicksal, er «ist» ein Schicksal [...] Das Schicksal, das der Text «ist» (die Botschaft, die er ist), vollendet
sich im Empfänger. Unempfangene, ungelesenen Texte sind bedeutungslose Buchstabenzeichen, die erst
Bedeutung erhalten, falls sie gelesen werden.“
(Flusser 1992 b, S.36)
Bei allem Respekt, den der Leser vor der Wahrheit der Aussage eines Bedeutungszusammenhanges
besitzen mag, ist es doch zum einen der weitgehend inobjektivierbare Lesakt selber, der einer
Objektivierung der Interpretation entgegengesetzt. Die andere Grenze setzt der subjektiv beschränkte
Erlebnishorizont des Lesers. Zum Beispiel sind Grenzen des Verstehens gegeben, wenn wir in unserem
Erlebnis- und Erfahrungsschatz nicht mehr das beherbergen, wovon ein Werk Ausdruck ist. Das
Erkenntnisresultat des Leseaktes (genau wie die Motivation zu Erkenntnis zu gelangen), ist ein zwar an
XIV
30
... hier unter Berufung auf Merlin C. Wittrocks Studien aus den 1970er Ja hren
Objektivität geläuterter, letztendlich jedoch subjektiver Ausdruck der „unhintergehbaren Individualität“
des Leseaktes (Jung 1990, S.172). Er ist nicht methodisierbar und ohne Patentrezept.
Das Lesen ist angesiedelt zwischen Materialismus und Theologie. Im ersten Fall regt das Außen das
Interesse des Lesers unbewusst an. Meist sind es zuerst die Orte, die wir schön oder an denen wir die
Menschen interessant finden. Im zweiten Fall unterwirft der Leser das Lesen einer gerichteten Absicht zum Beispiel kann man Stadt von ihrer Orographie her lesen oder von dem her, wie die Menschen die
Stadt benutzen. Oder aber ein Zusammenhang wird auf ein bestimmtes Verständnis hingelesen – zum
Beispiel die Stadt als Marginalisationsinstrument sozial schwacher Einwohnerschichten. Im dritten Fall
versucht der «geniale Interpret» (siehe weiter unten) in einer persönlichen Gestimmtheit abzutauchen
und Materialität und Idealität ineinander zu stülpen.
„Es schmeichelt mir der Gedanke, hier im Zentrum der Ausschweifung zu sitzen, und mit «hier» war nich t
etwa die Stadt, sondern der kleine, nicht sehr ereignisreiche Fleck g emeint, auf dem ich mich befand. Aber die
Ereignisse kamen eben so zustande, daß die Erscheinung mich mit einem Zauberstab berührte und ich in
einen Traum von ihr versank.“
(Benjamin 1974, S.115)
In jedem Fall führt das Lesen zu einer unheimlichen Vertrautheit mit der Stadt und setzt gleichermaßen
deren intuitives Verständnis voraus. In der Umschreibung dessen, worum es beim Lesen geht, und der
aufgezeigten Entwicklungslinie der Hermeneutik von der Literatur- auf andere, auch materielle
Ausdruckszusammenhänge, wird das Lesen dabei nicht materieller. Es bleibt eine ideelle Kategorie mit
hoher Eigenständigkeit. Für einen Augenblick flammt die Tradition des Idealismus auf – zu Recht, denn
in eine Ablehnung von Kant und Hegel zu verfallen wäre voreilig, denn nicht zuletzt beruft sich die
Grundthese der Lesbarkeit auf ein hohes Maß an Eigenständigkeit des ideellen Produkts.
Worte, Sätze und Kapitel (Aspekte des Städtischen) zu lesen und die Inhalte auszulegen, ist ein sehr
komplexes Verfahren. Es hängt von vielen Bedingungen ab, die stillschweigend berücksichtigt werden
müssen, will man das, was Stadt in ihrer Stadträumlichkeit und Phänomenologie ausdrückt, relativ
richtig verstehen. Innerhalb des Bedingungsgefüges nimmt der Leser in seiner Zurückhaltung eine
wichtige Stellung ein. Die Art und Weise, wie Zusammenhänge aufgenommen, aufgefasst und
verstanden werden, ist stark an die Kompetenz der Persönlichkeit des Lesers gebunden. Die
Kompetenz des Interpreten ist das Ergebnis einer langen Sozialisations- und Bildungsgeschichte seiner
Persönlichkeit, in der seine Auffassungsgabe an Souveränität gewinnt. Der französische Soziologe Pierre
Bourdieu würde nicht nur die Bildungs-, sondern auch die Klassenzugehörigkeit einrechnen, über
welche der Interpret einem strukturellen Wahrnehmungscode folgt (Dörner, Vogt 1990, S.142). Die
Person selbst stellt den individuellen Filter des objektiven LesegegenstandesXV dar.
„Indem der Leser einen Text liest, erschließt er dessen Bedeutung mit Hilfe eines vielfältig verknüpften
Netzwerks aus erlernten Bedeutungen, sozialen Konventionen, früheren Lese - und Lebenserfahrungen und
dem persönlichen Geschmack.“
(Manguel 1999, S.51)
Die beim jeweiligen Leser hervorgerufenen subjektiven Eindrücke begründen den Interpretationsakt als
eine sehr subjektive Angelegenheit. Zu den Praktiken des Lesens gehören Inspiration, Intuition und
Empfinden. Empfindung besteht in einer Einheit aus Erleben und dem gleichzeitigen Setzen
hypothetischer Denkgebilde (Scheler 1977, S.129). Dabei decken sich Empfindungsinhalt und
Gegenstandsqualität nicht phänomenal. Eine Gestaltempfindung hat nichts zu tun mit einer
Denkschöpfung. Das Erleben ist ontisch und entwicklungsgenetisch einfacher - es ist sowohl im
Gegenstand als auch im Menschsein vorgegeben (Scheler 1977, S.189). Aus dem heraus, wie der Leser
etwas erlebt, urteilt er mit «genialer Intuition» (dieser Mischung aus Subjektivität und Positivi smus),
versteht mit diesem, seinem Urteil das Werk und macht es so für andere verständlich.
Dass jedes Individuum etwas anderes aus ein und demselben Text herauszulesen in der Lage ist, ist
nicht nur der Beweis für die Individualität des Interpreten, sondern vor allem für die Nich texistenz der
Wahrheitsverbindlichkeit eines Textes. All die subjektiven Teil- oder Gesamtaussagen einer
Interpretation entspringen zwar aus dem Urtext; die Vielzahl der möglichen Interpretationen zeigen
aber, dass der Text eine allgemeinverbindliche Aussage eigentlich gar nicht en thält. Im Rahmen der
Grenzen der Auslegung ein und desselben Textes gibt es Hunderte individueller Sichtweisen. Umberto
Das Wort «Gegenstand» trägt hier die Bedeutung von Zusammenhang, denn – im Gegensatz zu den
Naturwissenschaften - kennt die Hermeneutik eigentlich gar keine Untersuchungsgegenstände, sondern nur
Zusammenhänge.
XV
31
Eco bediente bezüglich der Unendlichkeit der Interpretationsmöglichkeiten die Metapher des
Labyrinths (Mersch 1998, S.26).
D e r « g e n i a l e I n t e r p r e t » . Und doch gibt es so etwas, wie die tatsächliche, quasi-objektive
Wahrheit. Das Verstehensinteresse dieser relativen Wahrheit, welche das Lesen leitet, richtet sich auf
das, was das raumfigürliche Sein der Stadt vermittels ihrer Gestalt sagt. Durch das Lesen der
Raumgestalt gewinnt der Leser nicht nur Einblick oder Wissen, sondern er kommt zu einem
Sinnverstehen. Der Philosoph von Ehrenfels (siehe Abschnitt III.1) war die «Gestalt» betreffend der
Meinung, die Leistung des Menschen könne nicht in der Neuschöpfung bestehen, sondern liege in der
Entdeckung von Gestalt – eine gewonnene Gestalt, die einer platonischen Idee irdischen Ausdruck
verleihe. Die Gestalt eines Ausdruckszusammenhangs «divinatorisch» zu erkennen, ist an eine geistige
Kapazität gebunden, die nicht alle, sondern nur ein kleiner Teil der Menschen besitzt (von Ehrenfels
1922, S.52). Sie zu erkennen - der Intention des Werkes einer Stadt nahe -, führte Dilthey die Figur des
«genialen Interpreten» ein.
Der «geniale Interpret» genießt keine absolute, etwa künstlerische Freiheit, sondern eine Freiheit in
Kontingenzen. Was im Hinblick auf den geschriebenen Text der geniale Interpret Diltheys ist und im
Hinblick auf die Gestalt der Morphologe, ist für die Stadt der Flaneur – eine Mischung aus beidem. Wie
bereits dargelegt, bewegt sich das Lesen und Auslegen als schöpferischer Prozess im Spannungsfeld der
Verschmelzung von Objektivität und Subjektivität. Die skeptische Kritik der Sinneswahrnehmung hatte
die Erkenntnistheorie Hegels auf das erkennende Subjekt zugeführt. Das erkennende Subjekt (der
Mensch) war Hegel letztendlich die höchste Stufe im Erkenntnisprozess. In dem, was das Subjekt
erkennt, erkennt es sich selbst, sagte Hegel (Russell 1999, S.741). Textinterpret und Flaneur sind zwei
Figuren, in denen das Verstandene mit dem Subjekt des Verstehens zu einem Einzigen verschmilzt.
Lesend versteht der Flaneur die vergangenen und gegenwärtigen kulturellen Hinterlassenschaften und
sich selbst, denn für ihn trifft zu, was Bogdanović feststellte:
„Die Stadt spiegelt sich im Menschen wie im Wasser.“
(Bogdanović 1993, S.57)
Bei dem Soziologen Georg Simmel geht es hinsichtlich der Interpretation weniger um den
Wahrheitsgehalt. Der Interpretationsakt stellte sich ihm vielmehr als das Gelingen der gesellschaftlichen
Praxis des in einer Sache angelegten Kommunikationsaktes dar. Die Untersuchung des Gegenüber von
Ich und Du - respektive dem Eigenen und dem Fremden - durchzieht das Schaffen Simmels wie ein
roter Faden. Für Simmel ist die eigentliche Wahrheit eines Werkes das Schema, das es bereithält, um mit
aktuellen Inhalten angefüllt und da heraus interpretiert zu werden (Jung 1990, 162f.).
„Hat ein Schöpfungsvorgang erst einmal die Form des objektiven Geistes gefunden, so sind alle und sehr
mannigfaltige Verständnisse in dem Maße gleichberechtigt, in dem eine jede in sich bündig, exakt, sachlich
befriedigend ist.“
(Simmel 1984, zit. in: Jung 1990, S.163)
Derjenige, der Stadt zu verstehen sucht, ist gleichzeitig das Medium ihres Selbstve rständnisses, und zwar
in dreifacher Hinsicht: einerseits des Lesegegenstandes gegenüber sich selbst, andererseits des Lesers
gegenüber dem Lesegegenstand (und umgekehrt) und drittens des Lesers gegenüber seiner eigenen
Person. Der Leser steht zwischen den Fronten; seine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Text (bzw.
der Text sich an ihn) und seine Interpretation entweder an sich selbst (in Form einer
Selbstvergewisserung seiner persönlichen Haltung) oder nach außen an einen Zuhörer. Im letzten Fall
wird der Stadtleser zum Vorleser, der seine Kompetenz zur Performanz gebraucht, um die
kommunikativen Potenzen des Stadttextes zu entfalten. Diese Potenzen liegen in einem sprachlich
evozierten Bild von den Phänomenen. Über städtische Phänomene zu erzählen bedeutet, Raum in
Sprache zu überführen. Die Erzählung ist der Kampf mit der Schwierigkeit der Linearisierung von
Raum und seiner rückwirkenden Entfaltung aus der Linie.
„Eine räumliche Konfiguration erscheint uns immer als Ganzheit. Wie nehmen sie simultan wahr. Die
Umsetzung in Sprache setzt eine Auflösung der mehrdimensionalen Raumwahrnehmung in eine lineare
Struktur voraus.“
(Wenz 1997, S.57)
Bei entsprechender Meisterschaft transzendiert sich die Entfaltung eines räumlichen Vorste llungsbildes
beim Zuhörer in Erlebniswirkung. Dabei ist die Wirkung von der konkreten Wahrnehmungstatsache
völlig abgelöst. Sie hebt sie völlig in sich auf. Im Sprachraum findet die Selbstmächtigkeit des
ungegenständlichen, imaginierten, metatextlichen Bildes einer erzählten Stadt ein adäquates Mittel der
32
Evokation. Bei der Überführung von Raum in Schrift ist das Problem nicht vorhanden, da Text nicht
linear ist.
„Licht. Die Straßen von Svolvaer sind leer. Und hinter den Fenstern sind die Papierrouleaus
heruntergelassen. Schlafen die Menschen? Es ist nach Mitternacht; aus einer Wohnung kommen Stimmen,
aus einer anderen Geräusche von einer Mahlzeit. Und jeder Ton, der über die Straße hallt, macht diese
Nacht in einen Tag umschlagen, der nicht im Kalender steht. Du bist ins Magazin der Zeit gedrung en und
blickst auf Stapel unbenutzter Tage, die sich die Erde vor Jahrtausenden auf dies Eis legte. Der Mensch
verbraucht in vierundzwanzig Stunden seinen Tag – diese Erde den ihren nur alle Halbjahr. Darum blieben
die Dinge so unverletzt. Weder Zeit noch Hände haben die Sträucher in dem windstillen Garten und die
Boote im glatten Wasser berührt. Zwei Dämmerungen begegnen sich über i hnen, teilen sich in ihren Besitz wie
in den Wolken, und schicken dich mit leeren Händen nach Hause.“
(Benjamin 1992, S.71f.)
Im klassischen Fall beschränkt sich der zum Erzähler werdende Leser darauf, seine kontemplativ
zustande gekommene Interpretation wie auch immer in schriftlicher oder mündlicher Form zu
kommunizieren, nicht aber konvertiert er sie in Handlung oder Handlungsanweisung. Der Flaneur ist
kein Agitator. Oder doch? Denn er kann ein Lehrer sein. Durch seine Lehre nimmt er am Prozess der
Wirklichkeitsgestaltung teil. Das ambigue Geschäft des Interpreten, wie es Martina Düttmann’s
Meinung nach Juan Pablo Bonta in seinem Buch «Über Interpretation von Architektur» sieht, gestaltet
sich folgendermaßen:
„Bonta beschreibt das Geschäft des Interpreten, seine Arbeitsweise, seinen Handlungsspielraum, sein
Mißtrauen gegenüber dem Neuen und sein Vertrauen in das Bewährte [...], seine Macht und Ohnmacht
gegenüber der Architektur – er kann sie nicht bauen, er kann sie nicht zeichnen, aber er kann ihr Freunde
schaffen, oder Feinde – und seine Macht gegenüber dem Publikum, das die Dinge so sieht, wie er sie
beschreibt, wenn er sie so beschreibt, wie das Publikum sie sehen will. Das Geschäft des Interpreten ist nicht
einfach; denn seine Interpretationen werden nicht an der Wirklichkeit gemessen, die sie beschreiben, sondern
an der Allgemeingültigkeit, die sie erlangen.“
(Düttmann 1992, S.23)
In neuerer Zeit wurde verstärkt darüber nachgedacht, in wieweit das Lesen von Zusammenhängen nicht
nur in eine Richtung wirkt, nämlich vom Lesegegenstand zum Leser. Der französische Philosoph
Michel Foucault (1926-1984) forschte über die Wechselwirkung von Autor, Werk und Leser. Mit
Dilthey stimmte Foucault darin überein, dass primär Werk und Leser verschmelzen anstatt Werk und
Autor, da in dem Moment, da ein Text öffentlich ist, der subjektive Geist des Autors, der den Text
ursprünglich hervorgebracht hat, verschwindet (Foucault 1991, S.22). Für die Stadt ist der einzelne
Architekt nicht mehr zu belangen. Die Autorenschaft der Stadt ist vielmehr die Gemeinschaft, für
welche wiederum die Stadtgestalt beredt ist. Der subjektive Geist der Schöpfer wird ersetzt durch den
«objektiven» des Werks. Die eigentliche Geistigkeit eines Werkes – ob Buch oder Stadt - besteht genau
in dieser Qualität: der Absolutheit, die das Werk ausstrahlt. Da weder die Autoren noch ein lauter
Touristenführer in irgendeiner Form das Werk zu relativieren imstande sind, zählt am Ende nur das
Wort oder der Stein in seiner abstrakten Totalität.
Der «objektive» Geist einer räumlichen Aussage ruht völlig in sich selbst und kann dank seiner
Autonomie von jedwedem geschulten Leser erkannt werden. Die Interpretation des objektiven Geistes
ist aber nicht nur vom Subjekt des Lesens abhängig, sondern auch von der allgemeinen Form der
gesellschaftlichen Rede über den Gegenstand, der in der Epoche des Lesens vo rherrscht. Ohne dass
sich die Materie wandelt, ändert sich doch beständig die Sicht auf die neue wie die alte Stadt. „Ein Werk
spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es erschließt eine neue Welt, jene Welt, die es in sich trägt.“
(Ricœur 1971, S.276) Hermeneutisch vorgehen heißt, die der spezifischen Schöpfung innenwohnende
Idee herausstellen, welche den die Stadt unbewusst organisierenden Zusammenhang ausmacht.
Hermeneutisch kann die Idee freigelegt werden, indem sie aus der inneren Form des Ganzen
herausschält wird.
„Worte zu dem finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen,
stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte
getrieben haben. «Abends versammeln sich die Frauen am Brunnen vorm Stadttor, um in großen Krügen
Wasser zu holen» - erst als ich diese Worte gefunden hatte, trat aus dem allzu blendenden Erlebten mit
harten Beulen und mit tiefen Schatten das Bild.“
(Benjamin über San Gimignano, in: Opitz 1996, S.18)
33
Ist der Logos der Zugang zur Interpretation, setzt die Vernunft ihr die Grenzen. Nicht alle Lesarten
sind gleichermaßen gültig, ja zuweilen falsch. Einige Interpretationen wiederum erfassen die Struktur
tiefer als andere. Die Parameter der Interpretation liegen im Text selbst (Eco 1990, S.51). Das Ziel der
Interpretation besteht nicht im Darlegen «irgend eines Sinns», sondern im Erfassen des «rechten Sinns».
Um sich dem rechten Sinn anzunähern, binden sich Logos und Vernunft weniger an die Person des
Interpreten, sondern werden eher vom Gegenstand her determiniert. Die Freiheit der Interpretation ist
eine durch die formale Struktur des Werkes eingeschränkte Freiheit (Eco 1990, S.33). In Bezug auf
Literatur würde man sagen: man muss nach altem philologischen Ideal den Buchstaben die Treue halten
(an ihnen kleben), Sätze genau lesen und Zusammenhänge texttreu und vernunftgeläutert auslegen.XVI
Grundsätzlich kommt der in einem Werk getroffenen Aussage eine für alle verbindliche Wahrheit zu.
„Schließlich gilt die Aussage von altersher als der primäre und eigentliche «Ort» der Wahrheit.“
(Heidegger 1935, S.154) Im Logos besitzt der Mensch einen Leitfaden für den entsprechenden Zugang
zur Wahrheit. Wahrheit ist seit der Antike Sachübereinstimmung und das Wissen um die Wahrheit muss
teilhaben an dem ausgewählten Sosein (Scheler 1977, S.19). Um der Intention des Textes so nahe wie
möglich zu kommen und der Gefahr einer Überinterpretation zu entgehen, schlägt Eco das «Prinzip des
geringsten Aufwandes» vor, das für ihn zum entscheidenden Kriterium beim hermeneutischen Versuch
am Text wird (Eco 1990, S.19). Das Lesen innerhalb eines kulturellen Textes verfolgt die Spuren der
Empirie und hält dem Unbedeutenden Andacht, aus dem eine magische Kraft entspringt (Honold 2000,
S.21). Gadamer verbindet diesen Gedanken mit der Sicht auf die Ganzheit: Wir gehen beim Lesen von
der Vollkommenheit des Textes aus - auf diese Vollkommenheit gewissermaßen vorgreifend (Gadamer
1960, S.202).
Da, wie ich schon festgehalten habe, das Lesen im Grunde gar nicht darauf abzielt, die eine gültige
Aussage zu verstehen, besteht der eigentliche Sinn des Lesens im Aufzeigen aller möglichen
Interpretationen, die der gelesene Zusammenhang im Rahmen der Vernunft zulässt. Die Wah rheit liegt
nicht in den richtig erkannten Bedeutungen, sondern zwischen ihnen: in der Leere (Eco 1990, S.75).
Zwischen den Dingen liegen die Wurzeln der Ethik und die Verantwortung des Interpreten: nicht für
den Text, aber für den Sinn. Interpretiert wird, „was in den Dingen selbst hätte nicht gesagt werden
können, weil es in Hinblick auf Zeit und Ort entweder nicht darstellungsmöglich oder nicht
vorstellungsmöglich gewesen wäre“ (Panofsky 1974, S.93). Im Wesenssinn offenbart sich das
grundsätzliche Verhältnis des Interpreten zur Welt des Schöpfers, einer Epoche, eines Volkes oder einer
Kulturgemeinschaft. Die in einem Kunstwerk eingeschlossene Weltanschauungsenergie strahlt von dort
auf den Betrachter aus (ebenda, S.93). Sich intuitiv an dem Gegenstand in all seinen materiellen
Dimensionen und immateriellen Ausstrahlung zu messen, ist die schwierige Aufgabe eines genialen
Interpreten.
Wenn wir schauen, wie sich das Wissen der Gesellschaft verändert hat, wird uns der Hintergrund des
gesellschaftlichen Diskurses klar, aus dem heraus die Fähigkeit resultiert, die Welt und die Stadt zu lesen
und wie es heute darum bestellt ist und in Zukunft bestellt sein kann.
D a s W i s s e n d e r A u f k l ä r u n g . Bis zum 18.Jahrhundert waren die großen Inhalte des
geschichtlichen Lebens (Sprache, Religion, Staatenbildung, Kultur) wesentlich auf die «Erfindung»
einzelner Persönlichkeiten zurückzuführen und nur durch den Appell zu vergesellschaften (Simmel
1984, S.16). Mit der Französischen Bürgerlichen Revolution hingegen nehmen Bemühungen ihren
Ausgang, subjektive Interpretationen einzudämmen, zu systematisieren und zu objektivieren.
„Mitteleuropa arbeitete ab 1800 verstärkt in allen Bereichen an der Austreibung von Pluralitäten.“
(Hörisch 1998, S.71) Die Aufklärung (18./ 19.Jahrhundert) hatte den Prozess der Wissensoptimierung
mit der Heraushebung der Vernunftbegabung des Menschen eingeleitet. Es begann sich die Auffassung
durchzusetzen, die Vernunftbegabung versetze ihn nicht nur in die Lage, sondern verpflichte ihn
geradezu, keine andere als nur die objektive Wahrheit zuzulassen. Die Zulässigkeit der Welterkenntnis
verlegte sich weg von dem, was der eine oder andere persönlich von den Dingen oder Phänomenen
hielt, auf eine Wahrheit, die offensichtlich nirgends anders stecken konnte und verlässlicher war, als in
den Dingen selber. Diese Auffassung stimmte überein mit dem antiken Wahrheitsideal der
Entsprechung von Begriff und Sache.
Wie allerdings bereits dargelegt, hat das Wissen um eine Sache aber zwei Seiten: zum einen liegt es in
der Sache, zum andern in ihrer mentalen Reproduktion. Historisch betrachtet, besaß die Kirche das
Monopol der Reflexion über die Wahrheit in der Welt in Europa für ca. fünfzehn Jahrhunderte. Erst im
Einer der eingängigsten (Meta-)Texte, den ich je über eine Stadt gelesen habe, da er eine geschriebene Form
gefunden hat, sind die „Vier Lektionen über 24 Jahrhunderte Städtebau von Rom“ von Ludovico Qu aroni.
XVI
34
18.Jahrhundert, nachdem sich die Fesseln einer religiös motivierten Wahrheitsdoktrin durch den
konfessionellen Liberalismus lockerten, entideologisierte sich die Wahrheit. Die Meinung eines
Einzelnen über eine Wahrnehmung wurde mehr und mehr von der «öffentlichen Meinung» abgelöst.
Unter den Bedingungen der humanistischen, konfessionsliberalen, protestantischen Aufklärung war es
offiziell möglich und erlaubt, in der «Natur der Sache» zu lesen und die Dinge von ihrem Eige nsinn her
zu betrachten. Denn nicht mehr die Kirche sprach nun Recht über die Dinge, sondern die Dinge und
Phänomene über sich selbst im Lichte der Forschung. Um den Rückfall in die Epoche des Meinens zu
vermeiden, sollte fortan allein eine wissenschaftliche Beweisbarkeit der Wahrnehmung zu Akzeptanz
verhelfen. Unabhängig vom Gewicht der Meinung der Mächtigsten wurde gesellschaftsfähig, was «zu
beweisen war».
Für das wissenschaftliche Wissen der Naturwissenschaften mochte das gelten. Aber galt das auch
uneingeschränkt für die Mehrheit des narrativen, kulturellen Wissens? Offensichtlich stel lte man sich
diese Frage nicht, denn das Objektivitätskriterium wurde an allen Bereichen der Wissenschaft und des
Lebens angesetzt. Alles, was objektivierbar und vergleichbar war, verschlang das Individuelle,
Unvergleichliche. Der Objektivierungszwang übte eine so radikale Wirkung aus, da er (nach christlichreligiösem Muster) zu humanistisch-ethischer Verpflichtung und moralischem Impetus erklärt wurde.
Kulturwissen, wenn es wissenschaftlich auf gleicher Stufe anerkannt werden wollte, sah sich mit einem
grundsätzlichen Legitimationsproblem konfrontiert (Lyotard 1999, S.14). Michel Foucault bemerkte
dazu, dass sich in der Regel im Laufe der Zeit diejenigen Aussagen als wahr durchsetzen und sich als
gesellschaftliche Meinung etablieren würden, die nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit der
tatsächlichen Wahrheit am nächsten kommen und dabei am geschicktesten der «Ausschlussmaschinerie»
des geordneten Diskurses entgehen (Foucault 1991, S.11). Zum Ende des 19. und zu Beginn des
20.Jahrhunderts lief die erklärende Wissenschaft der Semiotik gegenüber der verstehenden Wisse nschaft
der Hermeneutik den Rang ab, da sich die Semiotik besser in das Diskursmodell der Gesellschaft
einfügte.
W i s s e n i m 1 9 . J a h r h u n d e r t . Die Hermeneutik ist der Philologie verwandt. Die helenistische
Philologie in der Zeit der sagenhaften Alexandrinischen Bibliothek (Gründung um 300 v.Chr.) begriff
die Philologie als schöne Wissenschaft - ein intimer, in Müßigkeit befangener Selbstdiskurs des Lesers
mit der Dingwelt, der Erscheinungen und Phänomenen. Deswegen mutet die Hermeneutik heute
veraltet an. Am besten wachsen und gedeihen konnte die «Kunst der Interpretation» im 19.Jahrhundert,
als in Europa noch die lateinische Kulturtradition dominierte, die Mythen noch nicht abgeschafft und
die Beweislastigkeit geisteswissenschaftlicher Diskurse durch die Romantik vorerst erfolgreich gegen das
Objektivitätsdogma verteidigt worden war. Die Romantiker hatten erkannt, dass die mathematisch
erfasste Welt ohne Sprache und kühl ist und dagegen rebelliert. Durch den „romantischen Rückschlag“
auf den Traditionsbruch der Französischen Revolution (Gadamer 1989, S.42) gewann das durch die
Kritik an der Metaphysik in die Hände von Outsidern gelangte Weltanschauungswissen (Gadamer 1989,
S.20) an Akzeptanz zurück.
Im 19.Jahrhundert besaß bildungsbürgerliches Wissen einen gewissen Selbstzweck. Unter Bildung
verstand man zunächst die freie Selbstentfaltung aller Geisteskräfte der Person. In der «Bildung des
Geistes» und der Persönlichkeit bestanden die vornehmlichen Aufgaben des höheren bürgerlichen
Bildungswesens. Die Bildungsbemühungen galten der Ergründung der Phänomene. „Ihre
Denkbewegung zielt[e] in letzter Linie stets auf die Frage, wie der Grund und die Ursache der
Welttotalität beschaffen sein müsse, damit ein «Solches» – eine solche Wesensstruktur der Welt –
möglich sei.“ (Scheler 1977, S.22) Wissen verlor seine bisherige Statik als Traditionswissen ging in
experimentelles Wissen über.
„Das wird besonders sichtbar, wenn man auf das Ende dieser Traditionsgeschichte der europäischen Kultur
blickt, die sich [...] in einer großen Folge von Kunststilen darstellt, bevor sie in die historische und
reduktionistische Experimentalphase des 19. und 20.Jahrhunderts ausgelaufen ist. Es ist wie ein
Traditionsbruch, der hier mit Händen zu greifen ist und der gewiß mit der Französischen Revolu tion und
ihrer bewußten Absage an die Vergangenheit eingesetzt hat.“
(Gadamer 1989, S.41)
In der (Humboldt-) Universität in Berlin erhielt das Bildungswissen eine Institution. Die Universität
erneuerte das griechische Ideal einer universalen Erziehung und wandte sich gegen eine bloße,
pragmatische Berufsformation. Sie unternahm den Versuch der Rehablierung eines Ortes
philosophischer Spekulation. Die Hermeneutik etablierte sich dabei zum Lehrprinzip auf allen
Fachgebieten. „Die Entfaltung des spekulativen Idealismus von Fichte bis Hegel [...] stellt den Versuch
dar, Tradition und Revolution, [...] älteste Metaphysik und neueste Wissenschaft in einer letzten
35
Synthese aufzuheben.“ (Gadamer 1989, S.42) Mit dem Ziel der Aus-Bildung eines personalen Seins
verband die Wissensvermittlung und -aneignung die Forderung nach Verwirklichung der
verschiedenartigen Individualität jeder einzelnen Person (Simmel 1984, S.94). Die Berliner Universität
wurde zum Vorbild für viele höhere Bildungsstätten des 19. und 20.Jahrhunderts.
W i s s e n i m 2 0 . J a h r h u n d e r t . Am Ende des 19.Jahrhunderts wurde in die rein wissenschaftliche
Betrachtung der Gegenstände und Phänomene zunehmend ihre gesellschaftliche Bedingtheit in sich
herausbildenden Arbeitsgesellschaft mit eingerechnet. Aus bloßer Betrachtung wurde kritische
Betrachtung. Die im 19.Jahrhunder hermeneutisch angelegten Wissenschaften wurden zwangsläufig zur
kritischen
Wissenschaften.
In
der
Ganzheitlichkeit
der
Betrachtung
verloren
die
Untersuchungsgegenstände ihre nicht-ökonomische und a-politische Unschuld.
Durch die kritische Betrachtung kamen die Klassen - besonders das Bürgertum - zu mehr
Selbstbewusstsein. Das Buch wurde zum vertraulichen Lebensgefährten der Bürger – zu einem
ewiglichen Bezugspunkt in einer immer dynamischer werdenden Wirklichkeit. Mit dem Buch konnte
man vertrauliche Zwiesprache halten (Wetz 1993, S.106). In den Salons trat man miteinander in
öffentlichen Austausch über das, was man sich still lesend angeeignet hatte, Meinungen wurden
verlautbart und Diskussionen geführt. Unter den gelehrten Diskurs der hohen Bildung (der
Hermeneutik) um die Wahrheit mischte sich der volkstümliche Diskurs des dichten Lebens um Recht
und Unrecht. Das schärfte die Urteilskraft – ein Urteilsvermögen, das Jahrhunderte lang ein feudales
Standesprivileg gewesen ist (Honold 2000, S.24).
In der Forschung wurde begonnen, neben den nüchternen Forschungsgegenständen auch über die
Lage der Forschung und der Forscher selbst zu reflektieren. Kaum noch ein Untersuchungsgegenstand
stand neutral und nur für sich da. Die Betrachtung der Welt wurde struktureller. Der Forscher als
Person erschien in die Forschungszusammenhänge integriert. Das führte dazu, dass sich die objektive
Wahrheit relativierte und von einer mehr intentionalen Steuerung abhing. Besonders durch die neuen
Medien der Fotografie, Tonübertragung und Bildprojektion erkannte man die Einflussnahme der
Forschungsumstände auf das Resultat. Mit der Industrialisierung wurde Wissen zu «produktivem
Wissen», ja selbst zur Produktivkraft und Ware (Lyotard 1999, S.24). Die Maschine – das verlängerte
Organ des menschlichen Hirns - vergegenständlichte eine Wissenskraft, die vordem dem menschlichen
Geist allein zugekommen war (Lyotard 1999, S.25). „Neue maschinelle Vermittlungen vielfältigster Art
haben die Erscheinungsweisen des modernen Forschers von dem alten Bild entfernt, das der homo
literatus ehemals bot, wenn er mit seinem Tintenfaß und seiner Schreibfeder vor dem leeren Papier saß
oder gedruckte oder geschriebene alte Folianten mühsam studierte.“ (Gadamer 1989, S.51)
Am Ende schien alles miteinander verwoben zu sein. Durch die Prozesse der Industrialisierung
adoptierte die zivile Gesellschaft den Charakter einer Prozessualität. Die Gesellschaft sah sich
veranlasst, die irrationale Verwobenheit der städtischen Alltagswelt selbst zu prozessieren, dadurch zu
ordnen und so an die neuen Bedingungen anzupassen, beziehungsweise Voraussetzungen für die neuen
Erfordernisse zu schaffen. „Es sieht so aus, als ob die moderne Massengesellschaft und die
gesellschaftswissenschaftlichen, organisatorischen und wirtschaftlichen Probleme, die sie aufgibt, einer
Wissenschaftsauffassung den Weg bahn[t]en, die sich ihrem methodischen Bewusstsein nach von den
Naturwissenschaften nur wenig unterscheidet.“ (Gadamer 1989, S.50) Im Erkenntnisprozess wurde
wichtiger, sich Dinge zu merken als Dinge abzuleiten (Marquardt 1991, S.7). Die Moderne schloss die
Hermeneutik als angewandte Praxis aus, denn in Bezug auf das erreichbare Resultat war ein
ganzheitlicher Verstehensansatz vom Sinn des Einzelnen und des Ganzen bei der Problemlösung zu
langsam und zu ineffektiv. Hermeneutik wurde nicht nur vernachlässigt, sondern zurückgedrängt.
Dagegen wurden zunehmend nur solche Dinge und Phänomene aus der gesamten Vielschichtigkeit
der Stadt herausgefiltert und erlangten die Berechtigung einer wissenschaftlichen Betrachtung, die
Relevanz hinsichtlich einer Verwertung im produktiven Umgang besaßen oder besitzen konnten. In
einer derartig positivierten Wahrnehmung der Welt zeigen sich Phänomene aber nur noch, wenn sie sich
in den Zusammenhängen der Arbeit und der Beschäftigung bewähren. Wissen wurde somit
pragmatisch. Alles, was sich gegen eine Vergegenwärtigung im Arbeitsprozess sträubte oder dafür
uninteressant war, verlor (zumindest auf gesellschaftlicher Ebene) seine Bedeutung und schließlich sein
Sein (Frings, in: Scheler 1977, S.XI). Ähnliches passierte mit dem Verständnis und der Akzeptanz der
ewigen Wesenheiten der europäischen Stadt in der Industriezeit. Als sie keinen effektiven Nutzen mehr
versprach, ließ das Stadtverständnis nach und wurde obsolet.
„Wer nicht mehr schreiben kann ohne Schreibmaschine, wer nicht mehr rechnen kann ohne R echenmaschine,
wer nicht mehr leben kann ohne den genauen Fahrplan eines ihn überströmenden Informationsflusses, für den
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hat sich die Findung seiner eigenen Identität, und das ist zugleich die Findung des Ausdrucks für sich selbst,
an wesentlich fernere Grenzen verschoben. Wo ist seine eigenen Handschrift oder Geiste sschrift?“
(Gadamer 1989, S.51f.)
In der Moderne lernte der Mensch, sich selbst als Arbeitsmensch zu begreifen. Immer schon war er,
aber besonders in der Phase des Kalten Krieges durch politische Systematisierung (christdemokratisch,
aber tendenziell sozialdemokratisch) in ein gesellschaftliches Bedeutungsgewebe verstrickt. Nach der
Auflösung der ideologischen Blöcke im Jahre 1989 dagegen ersetzen heute zunehmend selbst
gesponnene Bedeutungsgewebe die vormals gesellschaftlich vorgegebenen. Kaum noch jemand trachtet
heute danach, die Widersprüche seines Lebens im Laufe seiner Lebensjahre aufzulösen. Vielmehr
werden präexistente Widersprüche als zu den Seinsbedingungen unabdingbar hinzugehörend anerkannt.
Die Menschen haben allgemein die Einsicht gewonnen, ihre Widersprüche nicht auflösen zu können ,
sondern sich der Passivität hingegeben, diese aushalten zu müssen. Die Widersprüche aufzulösen, würde
ja auch erst einmal bedeuten, sich gründlich von dem zu lösen, was man ist, um von vorn anzufangen.
Dazu hat niemand die Zeit (Marquardt 1995, S.7). Jeder muss so, wie er nun einmal in die Welt
«geworfen» ist, an das Existierende anknüpfen und sich beeilen, den Tag zu nutzen, denn Leben ist das
Leben hin zum Tod, wie Heidegger sagte. (Heidegger 1935, S.235ff.) Heidegger leitete d en
Existenzgrund des «hermeneutischen Zirkels» aus der Endlichkeit des menschlichen Daseins ab. Aber:
„Nur indem das geschichtlich Vorhandene immer schon ohne zutun als Vorgabe da ist, hat das eigene
Zutun eine Chance.“ (Marquardt 1995, S.78) Dabei ist der versteckte Fortbestand der
Lesbarkeitsmetapher wichtig, denn ohne die Lesbarkeit gäbe es keine Experimente. Das Zutun als
Chance zu begreifen, bekommt besonders in der nachindustriellen Phase eine neue und erhöhte
Bedeutung.
D i e R ü c k k e h r d e r H e r m e n e u t i k . Wir können den Kreis schließen zum Prozess der
Wissensaneignung von heute. Max Scheler hat das «Wissen um etwas» von einer spannungsvollen
Dreiheit in eine anthropologische Einheit zusammengeführt. Demnach besteht dieses Ding- oder
Phänomenwissen aus:
1. Erkenntnis, die aus der Arbeit an der ihr mit Hilfe der Technik gewonnen wird: Leistungs- und
Herrschaftswissen auf der Grundlage der Pragmatik
2. Erkenntnis aus Verwunderung und geistiger Liebe zum Wesenhaften: Bildungswissen auf der
Grundlage der Metaphysik
3. Erkenntnis als Resultat der dionysischen Hingabe an das Dasein, einer Einsfühlung und
Einswerdung mit dem Dasein: Weltdaseins- oder Erlösungswissen auf der Grundlage der
Anthropologie (Scheler 1977, S.13; 236).
Diese Einheit in Überwindung der Spannung zwischen den drei Aspekten des Wissens muss im Prozess
der Persönlichkeitsbildung hergestellt werden. Scheler äußerte sich konkreter, wie das aussehen kön nte:
“«Gebildet» ist nicht derjenige, der «viel» zufälliges Sosein der Dinge weiß und kennt, oder derjenige, der
Vorgänge maximal nach Gesetzen voraussehen und beherrschen kann – der «große Gelehrte» resp. «Forscher»
-, sondern wer sich eine persönliche Struktur, einen Inbegriff aufeinander zur Einheit eines Stiles angelegter
idealer beweglicher Schemata für die Anschauung, das Denken, die Auffassung, die Bewertung und
Behandlung der Welt und irgendwelcher zufälliger Dinge in ihr aneignete und sie funktionalisierte –
Schemata, die allen zufälligen Erfahrungen vorgegeben sind, sie einheitlich verarbeiten und dem Ganzen der
personhaften «Welt» eingliedern. Erlösungswissen aber kann nur ein Wissen sein um Dasein, Wesen und
Wert des absolut Realen in allen Dingen, d.h. metaphysisches Wissen.
Keine dieser Arten des Wissens kann die andere je «ersetzen» oder «vertreten». Wo die eine Art die b eiden
anderen (oder nur die eine andere) zurückdrängt, daß sie schließlich die Alleingeltung und –herrschaft
beansprucht, da entsteht für die Einheit und Harmonie des gesamten kulturellen Daseins des Menschen und
für die Einheit der leiblichen und geistigen Natur des Menschen stets ein schwerer Schaden.“
(Scheler 1977, S.24)
In der nachindustriellen Phase erlangt die Art, einzelne Zusammenhänge querbeet-lesend auf eine
narrative Weise zu erfahren, wieder an Bedeutung. Denn eins ist inzwischen klar geworden: „Sich über
den «Sinnverlust» in der Postmoderne zu beklagen, bedeutet zu bedauern, daß das Wissen hier nicht
mehr hauptsächlich narrativ ist.“ (Lyotard 1999, S.84)
Der Marxismus hatte lange Zeit die Determination des Überbaus durch die materiell-ökonomische
Basis behauptet – eine zu einseitige Wirkweise, die spätere dialektische Theorien revidierten und einer
determinierenden Rückwirkung des Überbaus (zum Beispiel Traditionen und revolutionärer Geist) auf
37
die Basis stärker in Rechnung stellten. Infolge der Industrialisierung hat sich in vielen Fällen die Basis
sogar rascher als der Überbau gewandelt, besonders in Diktaturen oder in Ländern, in denen der
Überbau überwiegend religiös beherrscht ist. In anderen Fällen läuft der Überbau der Basis in der
Entwicklung voraus. Die neuen, medial orientierten Zweige der Wissenschaften entstehen gar nicht
mehr auf empirischem Wege des Sammelns von Fakten, sondern gleich als interdisziplinäre
Überblickswissenschaften, die sich der bereits gesammelten Fakten bedienen. D abei können zum
Beispiel die Kommunikations- und Medienwissenschaften gar nicht anders als hermeneutisch vorgehen.
Andere, historische Wissenschaften erleben einen Schub an Interdisziplinarität.
Da die meisten Fakten heute bereits empirisch zusammengetragen und in Datenbanken abgelegt sind,
besteht die eigentliche Aufgabe der Wissenschaften darin, das zur Verfügung stehende Material zu
benutzen und durch überraschende Neukombination zu neuen Erkenntnissen zu bringen. Statt von
mühsam empirisch gesammelten Fakten zu abstrahieren, schließt man immer öfter mit Hilfe
fremddisziplinärer Erkenntnisse hermeneutisch auf neue Detailaspekte in der eigenen Fachdisziplin. Die
Art, in den Fachdisziplinen hermeneutisch vorzugehen, trägt die klaren Züge einer postmodernen und
poststrukturalistischen Wissenschaft.
Kapitel V
Städte schreiben und lesen
V.1 Spekulation zum Verhältnis Welt -Stadt und Sprache -Text
Auf Schreiben und Lesen gründen sich Denken, Bauen und Wohnen. Stadt lesen heißt, Einheiten
kohärenter Ideen in Bezug zur Gesamtheit herzustellen. Um die Vielschichtigkeit eines Stadttextes zu
erfassen und den Kulturausdruck heraus- oder hineinzulesen, gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen.
Zum Beispiel kann man den Blickwinkel ändern (ohne den Überblick zu verlieren), man kann
schichtenweise lesen (ohne die überlagerte Verzahntheit der Schichten zu vergessen) oder man kann
Teilaspekte herauslesen (ohne die Affinität von allem mit allem und mit sich selbst zu mis sachten). Bei
aller Komplexität der Zusammenhänge kommt es beim Lesen von Stadt auf das Erkennen der jeweils
tragenden Ideen an. Die Ideen sind in Gestalt und Form gefroren und textuell miteinander verwoben.
Im materiellen Prozess des Stadtbauens entstanden, tritt die geheime Erzählung (das Epos) einer Stadt
auf der Rückseite ihrer materiellen Realität mit hervor. Walter Benjamin erklärte das Phänomen des
Hangs der Stadt zum Narrativen damit, dass der Geist ihrer Dramatik derjenigen von Büchern verwandt
sei. Für Paris träfe das wie für keine zweite Stadt zu: die fesselnden Motive ihres Aufbaus, der
Höhepunkt (der Eiffelturm), die unabsehbaren leeren Plätze - „feierliche Seiten, Vollbilder in den
Bänden der Weltgeschichte“ (Benjamin in: Opitz 1996, S.496).
„Unter allen Städten ist keine, die sich inniger mit dem Buche verband als Paris. Wenn Giroudoux recht hat
und es das höchste menschlicher Freiheitsgefühle ist, schlendernd dem Lauf eines Flusses zu folgen, führt hier
noch der vollendetste Müßiggang, die beglückteste Freiheit also, zum Buch und ins Buch hin ein. Denn über
die kahlen Seine-Quais hat sich seit Jahrhunderten der Efeu gelehrter Blätter gelegt: Paris ist ein großer
Bibliotheksaal, der von der Seine durchströmt wird.“
(Benjamin, in: Opitz 1996, S.496)
Da die Stadt nur eine Vielzahl namenloser Autoren kennt, ist ihr Gesamtwerk selbstvergessen. Der
Aspekt der Selbstvergessenheit des Produktes dennoch ursächlich menschlicher Handlungen, äußert
sich als wortmächtige Erzählung. Die narrative Macht steht über der gegenständlichen Macht wie eine
eigene Selbstheit. Hinter den Oberflächen des selbstlosen Stadtbildes generiert sie diese zweite (oder
wahre) Natur der Stadt. Auch Goethes Faust hatte vorübergehend die Urgewalt des Wortes vermutet er sagte: „im Anfang war das Wort“. Immerhin verwarf Faust die im Wort steckende Schöpfungsmacht
nicht völlig, als er dann doch verneinte und die Urgewalt des Wortes praktisch aufhob im Ausspruch:
„im Anfang war die Tat!“ (Goethe 1996, S.42)
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Realität, Wort- und Bildmacht gehen wechselseitig auseinander hervor und ineinander über. Unsere
vielleicht unbewusste Anziehung respektive Abstoßung gegenüber der einen oder and eren Stadt rührt
daher. Man kann dem Ursprungspunkt dieses narrativen Komplexes auf hermeneut ischen Pfaden nahe
kommen. Bogdan Bogdanović behauptete, das ursprüngliche Wort der Stadt verbinde sich zu einer
spezifischen, starken, supralingualen Schrift, die jeder ohne große Schwierigkeiten entziffern könne:
„Deshalb schlage ich in diesem Augenblick auch das einzige mir Mögliche vor: die Menschen, den einzelnen,
uns alle wieder die vergessene Fertigkeit des Städtelesens zu lehren.“
(Bogdanović 1993, S.27)
Die Stadt als Ver-Wirklichung.
„Irgendwo zwischen der Schicht des Sehens und der Schicht des Verstehens, irgendwo zwischen der realen
Welt und der Welt der Ideen, befand sich die Stadt Hûrqualyâ, das schiitische Pendant zur manichäischen
Terra lucida. [...] Die platonische Vorstellung verweist auf die einfache Wahrheit, daß die Stadt [...] s owohl
eine verehrte diesseitige Erscheinung sein konnte, als auch ein kognitives Modell, ein Lehrmittel, ein
verheißenes Instrumentarium, ein Instrumentarium zum Verständnis der Welt.“
(Bogdanović 1993, S.51)
Wie bereits im Kapitel II festgestellt, bedeutet der ontologische Ansatz Heideggers auf die Gestalt der
Stadt und des öffentlichen Raums bezogen, dass der Stadtraum eine hervorragende Kategorie darstellt,
in welcher sich das grundlegende Weltverhältnis des Menschen und seine Seinsweise in der Gesellschaft
entwickelt. Mit der Stadt gab sich der Mensch im Vergleich zu allen, der Entstehung der Stadt
vorhergegangenen Gebilden (dem Hof, dem Oikos, der dörflichen Ansiedlung), ein überlege nes
Instrumentarium des Denkens sowie die Chance für Entwicklung und Fortschritt auf der Grundlage
von sukzessiver Erkenntnis. Die Stadt ist ein analoges Erkenntnismodell, das es in dieser Form nie
vorher gegeben hatte (Bogdanović 1993, S.20). Alles, was der Mensch von der Stadt aus verstehen kann,
versteht er im Horizont eines bestimmten Verständnisses, also immer schon in einer bestimmten
Auslegung (Bollnow 1937, S.165). Ein Trugschluss ist es zu glauben, die Welt wäre den Menschen
kleiner geworden, als sie sich aus der Natur zurückzogen und in Städten ansiedelten. Das Gegenteil ist
der Fall: die Welt wurde ihnen größer; nicht büßten sie Freiheit und Unabhängigkeit ein, sondern
gewannen diese.
„Ich habe nicht übertrieben, als ich einmal sagte, die Stadt [...] sei eine hervorragende Beobac htungsplattform
der Welt bzw. ein unersetzliches Instrument ihres Allwissens.“
(Bogdanović 1993, S.50)
Alle Bewohner gleichermaßen, sobald sie in der Stadt geboren werden und aufwachsen, finden sich
ohne Alternative in diese Stadtwelt wie zufällig, achtlos und gegen ihren eigenen Willen hineingeworfen.
Sich gegen diesen groben Umgang zu wehren, ist dem Kind nicht vergönnt, denn schon vor der Geburt
ist das Kind „Referent der von seiner Umwelt erzählten Geschichte“ (Lyotard 1999, S.56). Das Kind
wird sofort und in jedem Augenblick in all seinem Sein städtisch geprägt und prägt es gleichzeitig. Nie
existiert der Mensch losgelöst von den Sinn-Räumen seines Umfeldes, das permanent Mentalität
kommuniziert, tradiert und verändert (Dörner, Vogt 1990, S.136). Erst mit der Ausprägung eines
eigenen Willens beginnt das Kind, sein Verhältnis zur städtischen Umwelt selbst zu bestimmen und sich
von dieser zu emanzipieren.
„Jedes Kind wird vor seinem weißen Blatt bereits in die Position des Industriellen, des Städtebauers oder des
cartesianischen Philosophen versetzt – in die Position, den eigenen und abgetrennten Raum organisieren zu
müssen, in dem ein eigenes Wollen ins Werk gesetzt werden soll.“
(de Certeau 1988, S.246)
Da jede Stadt nach den Prinzipien der allgemeinen Verständlichkeit eingerichtet wird, eröffnet sie - im
Gegensatz zur Natur - die Möglichkeit, zu einer Objektivität zu gelangen, die zur gesellschaftlichen
Entwicklung von Normen, Recht und Bildung führt (Bollnow 1937, S.168). Das Erlangen von
Erkenntnis verlegte sich von vordem akustischer Fixiertheit auf das lange, dauerhafte Gedächtnis der
Materie, das so etwas wie ein kollektives Gedächtnis ist:
„So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der
Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem
Gedächtnis haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie
nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt.“
„Aber gerade so kann man das Gedächtnis definieren; und allein der Raum ist beständig genug, um ohne uns
zu altern, einen seiner Teile zu verlieren oder fortdauern zu können.“
39
(Halbwachs 1967, S.142; 163)
Die Stadt als Hort der Erinnerung bedingt die Kommunikation. Im um ihn herum gebauten städtischen
Raum ist es dem Individuum vergönnt, sich „in der Retrospektive zu sehen und die Ströme seines
eigenen Schicksals fast mit den Händen zu greifen“ (Bogdanović 1993, S.20) und die Handlungen der
einen Generation auf der anderen aufbauen zu lassen. Nur in der Stadt kann es Entwicklung und
Fortschritt geben in der Art, dass ein heutiges Ergebnis auf einem gestern erreichten Stand aufbaut, sich
aber gleichzeitig als etwas Neues im Vergleich zum immer noch vorhandenen Alten deutlich abhebt.
Die dinggestützte Erinnerung entlastet das Gedächtnis.
„Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung
des Vergangenen ist, vielmehr das Medium.“
(Benjamin 1974, S.100)
Auch entdeckt er von der Stadt aus altbekannte Dinge ganz neu, die sich die Gesellschaft kulturell
einverleibt. Hier ein geschichtliches Beispiel: Natur und Landschaft sind nicht dasselbe. In der Malerei
ist man der Auffassung, der Mensch habe erst in der Epoche der Renaissance die Landschaft entdeckt;
vorher gab es nur Natur. Denn bevor Landschaft bildlich dargestellt oder zum Beispiel von Piero della
Francesca um die Mitte des 15.Jahrhunderts beim Bau des Palastes von Urbino architektonisch in Szene
gesetzt wurde, lebte der Mensch seit Jahrtausenden in der Natur ohne sie zu bemerken. Durch das
Dispositiv der Malerei, bei der es in der Porträtkunst üblich wurde, im Hintergrund den Blick in die
Landschaft frei zu geben, schauten Maler, Architekt und mit ihnen die Betrachter nun auf eine Natur,
die Landschaft geworden war. Denn in dem Moment, als Ausschnitte der Natur ausgewählt, auf
Gemälden festgehalten oder durch Fenstergewände wie Bildmotive gerahmt wurden, kam sie den
Menschen als Landschaft zu Bewusstsein. Dabei ist es wichtig, den Schwerpunkt auf den Aspekt der
Auswahl zu legen. Die intentional den Ausschnitt auswählende Beobachtung gab gewissermaßen den
Lesestoff vor. Es kann behauptet werden, die Beobachtung beeinflusse den Beobachtungsgegenstand in
dem Moment, in dem sie ihn als solchen zur Kenntnis nimmt.
Bei dem Vorgang der Zu-Bewusstsein-Bringung nähert sich nicht das Bewusstsein dem ausgewählten
Gegenstand an. Es erfährt keine Objektivierung, sondern umgekehrt: der Gegenstand wird der
Betrachtung einverleibt und subjektiviert, wie Vilém Flusser mehrfach beschrieben hat.XVII Um den
Lesegegenstand zu verstehen, wird er im Lesakt gewissermaßen anthropomorphisiert. In unserem
Beispiel helfen die Malerei und die Architektur – beides eine Hervorbringungen der Stadtkultur -, einen
Paradigmenwechsel herbeizuführen. Ob die Kunst Ausdruck oder Resultat des Paradigmenwechsels in
der Beziehung von Mensch und Natur war, führt hier in der Erörterung zu weit. Es wird j edoch klar,
was die Folgen sind: Vorher konnte man die Gaben der Natur nur empfangen (wie im Mittelalte r), nun
konnte man die Natur hingegen lesen (verstehen) und zu eigenen Gunsten gestalten.XVIII
Die Stadt als Ent-Wirklichung.
„Über die Stadt Dorotea kann man auf zweierlei Weise sprechen: Man kann sagen, daß sich vier
Aluminiumtürme von ihren Mauern erheben, die sieben Tore flankieren, deren Federzugbrücke sich über
einen Graben legt, dessen Wasser vier grüne Kanäle speist, die durch die Stadt fließen und sie in neun
Bezirke mit je dreihundert Häusern und siebenhundert Rauchfängen aufteilen [...] bis man al les weiß, was
man will von der Stadt in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; oder man kann sagen, wie der Kameltreiber,
der mich herumführte «Ich kam in meiner frühen Jugend eines Morgens her, viele Leute eilten durch die
Straßen zum Markt, die Frauen hatten schöne Zähne und sahen einem offen in die Augen [...]» An einem
Morgen in Dorotea fühlte ich, daß es kein Glück auf der Welt gab, das ich mir nicht hätte erwarten kö nnen.
[...] nun weiß ich, daß dies nur einer von vielen Wegen ist, die sich mir an jenem M orgen in Dorotea
auftaten.“
(Calvino 2000, S.12)
Was phänomenologisch vor sich geht, wenn wir etwas verstehen, hat Flusser beschrieben: Verstehen erfolgt in drei
Phasen: In einer ersten wird das Phänomen/ der Gegenstand aus seinem natürlichen Umfeld isoliert. Er wird zu
Bewusstsein gebracht. Dann wird er geistig durchdrungen. Durchdringen heißt, (i hn in) seinen Bestandteile zu
entfalten. Anschließend wieder zusammengesetzt, ist der Sachverhalt nicht mehr derselbe wie vorher, denn er ist nun
verstanden! Er ist subjektiviert, das heißt, zu einem dem Menschen bekannten, internen, nicht mehr fremden Etwas
geworden. Erkennen heißt, ein Objekt selbst zu verwirklichen. Ja, es ist überhaupt erst wirklich, wenn es begreifbar und
begrifflich fassbar ist (Flusser 1993 a, S.75).
XVIII Unter anderem öffnete sich so der mittelalterliche Klostergarten in der Renaissanc e nach außen und wandte sich
als offener Garten der Landschaft zu.
XVII
40
Calvino deutet auf eine Rettung vor dem ontologischen Zwangcharakter des Stadtdispositivs hin – eine
Rettung, die das Subjekt nicht völlig zwischen den Walzen der Determination zermahlen lässt. Dadurch
nämlich, dass der Raum den Menschen im Prinzip gar nicht nötig habe, und dadurch, dass der Mensch
das einzige mit Geist begabten Wesen sei, bleibt sein Wesen der sonst geistlosen Welt gegenüber
grundlegend fremd (Scheler 1995, S.38ff.). In der integrierten Fremdheit des Menschen resultierte sein
In-die-Welt-Geworfensein als ein Geworfensein in die freie Möglichkeit, also des Sein-Könnens einer
Möglichkeit im Rahmen, denn „das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch
geworfene Möglichkeit“ (Heidegger 1935, S.144). Die Grenzen des Stadtdaseins implizieren die
Offenheit der Möglichkeit als Mensch zu sein. Die Stadt ist das Bett einer Vielzahl von Möglichkeiten.
Sie ist ein Gefäß mit durchsichtigen Wänden, in dem der Mensch beständig damit beschäftigt ist, gegen
die ihm kulturell durch die Stadt aufoktruierten Wände anzukämpfen und diesen Kampf zu gewinnen.
Das urbane, zuweilen einengende Zusammenleben formiert einen Geist, der den Menschen in die Lage
versetzt, sein Handlungsfeld über alle materiellen Grenzen hinaus zu projizieren. Es eröffnet sich ihm
die Möglichkeit, sein eigenes Selbst frei zu entwerfen. Aus dem Druck gegen die ihn beengende
Situation heraus lernt er die Welt im Laufe seines Lebens kennen (Bollnow 2000, S.125). Der
Lebensentwurf bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen dem durch Stadt gesetzten Rahmen sowie
dessen steter und bewusster(!) Überwindung. Menschsein heißt nämlich, nicht nur duldsam die Dinge
der Welt anzunehmen, darin zu wohnen (Heidegger 1954, S.145ff.) und dumpf in der Wirklichkeit vor
sich hin zu leben, sondern dieser Wirklichkeit vor allem ein kräftiges «Nein» entgegenzuschleudern(!)
(Scheler 1995, S.52).
Philosophiegeschichtlich betrachtet, gelangte der menschliche Geist durch die Technik der
Entwirklichung von der omnipräsenten sozialräumlichen Determiniertheit zu der Autonomie, die
Descartes herausarbeitete. Aufgrund seiner Geistesbegabung hebt sich das menschliche Individuum
sowohl aus der Zugehörigkeit zum Tierreich ab als auch vom Gefangensein in den Dingen und je
entwickelter eine Gesellschaft ist, auch von der Befangenheit in den Mitmenschen. Das durch die Stadt
Vor-Augen-geführt-Bekommen der eigenen geschichtlichen Dimension und der gleichzeitig relativen
Unabhängigkeit von dieser machte das Individuum zunehmend zum selbständigen und
selbstverantwortlichen Individualisten. Nur der in den Dingen, Personen und Phänomenen integrierte
und sich von Allem gleichzeitig distanzierende Mensch kann den Dingen, der Gesellschaft und den
Phänomenen lesend gegenübertreten. Im Wachstumsprozess jedes Einzelnen wiederholen sich die zwei
Phasen dieser großen, zivilisatorischen Entwicklung: Der Übergang von der Zugehörigkeit und dem
passiven Gefangensein in den Dingen hin zum aktiven Vermögen des Lesens und Handelns kommt
dem Übergang vom Kindheit zum Erwachsensein gleich und - historisch gesprochen - dem Übergang
vom Mittelalter zur Renaissance.
S t a d t u n d S p r a c h e . Das Sprechen ist älter als das Schreiben, denn es ist nicht an die
Sesshaftwerdung gebunden, sondern an das Menschsein überhaupt. Sprechen konnte der Mensch schon
immer – sonst würden wir ihn nicht Mensch nennen. Dilthey zufolge ist Sprache die Form, in der „das
menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet “
(Dilthey 1900, S.36). Sprache erscheint ihrer Art nach in jeder Entwicklungsphase des Menschen ein
vollständiger und externalisierter Komplex wie ein eigener Kosmos. Von diesem Sprach- und
Schriftkosmos her wirken Sprache und Schrift in die Gesellschaft zurück, brechen zuweilen (wie
Foucault und Derrida dargelegt haben) unkontrolliert und unkontrollierbar in die Normalität ein. Der
französische Literaturkritiker Roland Barthes (1915-1980) charakterisierte die heutige Art und Weise
«städtisch» miteinander zu sprechen wie folgt:
„Die Imaginaria der Sprache aufspüren, das heißt: das Wort als singuläre Einheit, magische Monade; das
Reden als Instrument oder Ausdruck des Denkens; das Schreiben als Transliteration des Redens; den Satz
als logisches, geschlossenes Maß; selbst das Fehlen oder die Verweigerung von Sprache als ursprüngliche,
spontane, pragmatische Gewalt.“
(Barthes 1974, S.50)
Die frühesten Formen der Erkenntnis - in der Epoche der Sammler und Jäger - bildeten sich allein
mittels Kommunikation durch das Sprechen. Radius und Reichweite der Erkenntnis waren
entsprechend auf die flüchtige Dauer der Akustik begrenzt. Da der Sprachraum ein line arer, diskursiver
Raum ist (Wenz 1997, S.135), beschränkte sich der Zweck der schriftlosen Sprache auf die
Verständigung. Die Erinnerung konnte nur als lebendige Erinnerung in die Vergangenheit der eigenen
Erfahrung zurückreichen oder sich an Gegenstände knüpfen. Darüber hinaus war aller
Vergangenheitsbezug ritualisiert. Im Ritus wurde die Vergangenheit der Ahnen geb unden, aber kaum
41
durch mündliche Überlieferung. „Immer bleibt der Sprechende von der Gegenwart besessen. Also ist er
verflucht: nie das Vergangene zu sagen, das er doch meint.“ (Benjamin 1989, S.93) In der
Sprachgesellschaft überwog das «lebendige Wissen» der Worte - später, als es Schrift und Bücher gab,
das «tote Wissen». Aber erst da wurde Sprache erzählerisch.
Wenn ein Kind aufwächst, lernt es als Angehöriger einer bestimmten Sprachgemeinschaft sprechen.
Sein Weltverstehen ist von vorn herein an die in der Stadt vorhandene sprachliche
Gemeinschaftsformen gebunden (Bollnow 1937, S.166). In der Sprache liegt ein struktureller Horizont
von Erkenntnis und Verstehen begründet (Jung 1990, S.155), über den nur schwer von selbst
hinausgelangt werden kann, aber ohne den wiederum gar keine Erkenntnis und kein Verstehen möglich
wäre. Überlieferte und einsozialisierte Sprachstrukturen vermischen sich mit der innovativen Mitarbeit
des Sprechers an der Sprache. Das Hin- und Herpendeln zwischen dem kulturell vorgegebenen,
sprachlichen Komplex und ihrer subjektiven Verwendung lässt eine sprachliche Mittelung letztendlich
nie objektiv wahr erscheinen. Gleiches stellten wir schon in ähnlicher Form für die Schrift und die noch
so geniale Interpretation fest. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb über das
Bilden der Sprache durch die Stadt und das Bilden der Stadt durch das Sprechen:
„Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel aus Gäßchen und Plätzen, a lten und
neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge
neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“
(Wittgenstein 1933, zit. in: Lyotard 1999, S.119)
Ein Vorverstehen des Anderen ist der tragende Untergrund, auf dem das individuelle Leben des
Einzelnen ruht. Es enthält eine ganz bestimmte innere Gliederung und ist begrenzt durch eine ganz
bestimmte Reichweite. In der Natur eingeschlossen stand ein Mitglied der Sippe dem andern nicht
fremd gegenüber, sondern war ihm nahezu identisch. Anders hätte zum Beispiel die Jagd nicht
funktioniert. Auf der gemeinsamen Grundlage des Dispositivs Stadt, unter dem aus dem Andern der
Fremde im Eigenen wurde, entfernten sich zwar die Menschen voneinander, aber gleichzeitig lernten sie
sich untereinander verstehen bzw. ihr Nichtverstehen zu artikulieren. Dem Fremden als Eigener
gegenübertreten und ihn verstehen und nicht mehr den Andern im Selbst vorfinden, kommt dem
Paradigmenwechsel von der reinen Emotion zur Intuition gleich. In der Intuition mischt sich die
Emotionalität mit dem Intellekt. Die Unvoreingenommenheit gegenüber dem Mitmenschen wandelt
sich in Voreingenommenheit. Aus dem natürlichen Selbstsein des Anderen trotz der Stammeshi erarchie
wird in der Stadt gegebenenfalls Annäherung. Die Stadt löste nicht Stammeshierarchien auf, sondern
verschärfte sie. Die Verlegung der „bloß naturwüchsig vermittelten Gesellschaftszusammenhänge“ auf
die Stadtzivilisation bedeutete das Ende der Urgesellschaft (Berndt 1978, S.41).
Trotz des Voranschreitens der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung der sozialen Ordnung in der
Stadtgesellschaft, trotz der Zunahme der Entfremdung und Entfernung der Menschen bei größerer
physischer Nähe wirkte die Stadt wie ein Medium, die autonome Gewalt der individuellen
Artikulationsverschiedenheiten zu bezähmen. Da die subjektive Erkenntnisfähigkeit und –tätigkeit des
Einzelnen in der Stadt gemeinsam mit allen anderen geteilt wurde, wurde der Alltag sozial übergreifend
homogenisiert und eine ständeübergreifende Verständigung in der Regel ermöglicht. Unter den in der
Stadt Zusammenwohnenden veränderte sich die Form der sprachlichen Kommunikation. Aus der
knappen, zweckdienlichen Mitteilung wurde die «gemeinsame Sprache» der Erzählung - wurde der
Roman.
„Es heißt, der Roman sei eine eminent urbane Literaturform, zum Unterschied zum Heldenlied oder der
Sage, die sowohl ihrer Herkunft als auch ihrer sozialen Funktion nach prä-urbane Formen sind. Es heißt, es
gebe keinen großen Roman, der nicht zumindest eine große Stadt in sich birgt. Es heißt auch, es gebe keine
große Stadt, in der sich nicht wenigstens ein ungeschriebener Roman verbirgt. Simulationen urbanologischer
Techniken, sogar die sie begleitenden mathematischen Modelle, beruhen häufig auf Analogien mi t der
Struktur und Narration eines idealen Romans. “
(Bogdanović 1993, S.46f.)
Wir haben gesehen, dass der Sprachraum ein linearer Raum ist. Ein narrativer Raum dagegen
überwindet diese Charakteristik. Narrativer Raum ist potenziell ein Schriftraum und flächig. Als Sprache
zu einer städtischen Schriftsprache wurde, wurde sie gleich erzählerisch. Unfähig, die stadtbedingte,
voreingenommene Distanziertheit (Konstituente der Blasiertheit) aufzulösen und soziale Hierarchien
abzuschaffen, bot die erzählerische Kommunikation zwischen den Menschen und schließlich vor dem
Hintergrund der als Erzählung begriffenen Stadt die Chance, soziale Differenzen auf friedlichem Wege
zu überwinden. Das hatte der Marxismus an der Stadt immer mystifizierend gefundenen (Corboz 2001,
S.56).
42
S t a d t u n d S c h r i f t . Lesen kommt von Schreiben. Bevor der Mensch schreiben konnte und es
Städte gab, sah er zwar und mag gedeutet haben, aber er las noch nicht. Als er zur Sesshaftigkeit
überging, musste er bereits eine Veranlagung zum Lesen mitgebracht haben, denn so ganz als
Analphabet wäre er vielleicht nie sesshaft geworden. Mit der ausschließlichen Fähigkeit zum Schauen,
das in der Natur ein Spähen war, hätte er seinen Sprung in die Sesshaftigkeit nicht vorbereiten können.
Flusser zufolge begann das Lesen mit dem Lesen von Erbsen (Flusser 1992 b, S.71).
„Die Vorstellung, daß wir schon fähig zum Lesen sind, bevor wir es gelernt haben – ja, bevor wir je eine
aufgeschlagene Seite vor uns erblickt haben -, greift zurück auf einen platonischen Begriff des Wissens, das
schon in uns existiert, bevor es durch die äußere Wahrnehmung bestätigt wird [...] Wir «entdecken» ein
Wort, weil der Gegenstand oder die Vorstellung, für die es stehen soll, schon im Bewußtsein vorhanden ist
«und darauf wartet, mit einem Wort belegt zu werden».“
(Manguel 1999, S.48 – unter Bezugnahme auf D.N.Stern 1993)
Mit der Sesshaftwerdung fing der Mensch an zu lesen und zu schreiben. Oder man kann auch sagen, als
er zu lesen und zu schreiben begann, wurde er sesshaft. Archäologische Untersuchungen haben
ergeben, dass die Entstehung der Schrift überall auf der Welt einherging mit der Sesshaftwerdung und
dem Bau von Städten (Butor 1992, S.13) - vor dem Hintergrund der Despotie, wie Benjamin anfügte
(Benjamin, in: Opitz 1996, S.526). Wohnen und Schreiben stehen in einer bemerkenswert en gen
Beziehung. Man kann sagen, als der Mensch zu schreiben anfing, fing er überhaupt erst an zu wo hnen.
Schrift als textliches Vorverständnis des Seins kann in dem Sinne metaphorisch verstanden werden:
Schreiben ist die Produktion eines Systems von sozialem Handeln, welches zeitgleich im Text
niedergelegt unmittelbar die ersten Städte texturierte. Denn so, wie die Künstler ihre Linien führten,
drückten sie ihre innere Gesinnung in ihrer Zeit aus (Panofsky 1974, S.19). Dem Raum wird ein
Ausdruckswert einbeschrieben, der selbst im Kontext seines technischen Entstehungsprozesses das
Seelische ausdrückt. Da Schrift texträumlich befangen bleibt, verzeitlicht sich Raum beim Einschreiben
in den städtischen Text. Umgekehrt verräumlicht sich die Textzeitlichkeit beim Lesen (Wenz 1997,
S.58).
„Die Metaphern des Textes beziehen sich auf Orte, auf die man verweisen kann und konstruieren den Text
als statischen Raum. Es handelt sich um einen Raum, der aus Überschriften, K apiteln und Absätzen besteht,
zu denen ein Bezug hergestellt werden kann.“
(Wenz 1997, S.139)
Während, wie hier weiter oben festgestellt, die Sprechräumlichkeit effimär ist und tendenziell
Anweisungscharakter trägt, impliziert die Texträumlichkeit die Ewigkeit einer unterschwelligen
Ordnung. Mit dem Schreiben erhielt das Deuten seine Bedeutung. Das vorverstandene Selbstsein des
Menschen zum Text schreibt dieser, wenn er Stadt baut, in die soziale und physische Form dieser Stadt
ein – eine Form, die dann ihrerseits Autonomie gewinnt. Auf der einen Seite determiniert die Form die
nachfolgenden Menschen, da die Form die Vergangenheit stets in der jeweiligen Gegenwart
vergegenwärtigt. Auf der anderen Seite repräsentiert sie die Gesellschaft in einer zeitunabhängigen
Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Die vierdimensionale Räumlichkeit des Textens (den Zeitfaktor
eingerechnet) ist eine Imagination. Sie ist unbewusst geschichtlich konditioniert und verarbeitet die
unmittelbar soziale Wirklichkeit in Raumausdruck gebrochen.
„Der Reisende, der die Stadt noch nicht kennt, die ihn an seinem Weg erwartet, fragt sich, wie wohl das
Königsschloß sein wird, die Mühle, das Theater, der Basar [...] So – sagen viele – bewahrheitet sich die
Hypothese, daß jeder in seinem Sinn eine nur aus Unterschieden bestehende Stadt trägt, eine Stadt ohne
Figuren und ohne Form, und daß die einzelnen Städte diese anfü llen.
Nicht so in Zoe. An jeder Stelle dieser Stadt könnte man von mal zu Mal schlafen, Gerä tschaften herstellen,
kochen, Goldmünzen anhäufen, sich entkleiden, herrschen, verkaufen, Orakel befragen. Jedwedes Giebeldach
könnte ebenso gut das Spital der Leprakranken wie die Thermen der Odalisken zud ecken. Der Reisende geht
umher und wieder umher und hat nichts als Zweifel: Es gelingt ihm nicht, die einzelnen Punkte der Stadt zu
unterscheiden, und selbst die Punkte, die er in seinem Geiste unterscheidet, geraten ihm durcheinander. Er
folgert daraus: Wenn die Existenz in allen ihren Momenten ganz sie selbst ist, so ist die Stadt Zoe der Ort
der unteilbaren Existenz. Doch weshalb dann die Stadt?“
(Calvino 2000, S.41)
Die Ausdrucksanalyse der städtebaulich-räumlichen Gestalt, die Walter Benjamin so überzeugend
betrieb, gibt Auskunft über die zeitliche Entwicklung des menschlichen Daseins in Ep ochen.
43
V.2 Zeit lesen
Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Abschnitte V.2 «Zeit lesen» und V.3 «Raum lesen» eigentlich gar
nicht voneinander zu trennen sind. Dennoch fokussiere ich das «Lesen von Zeit» auf den Aspekt der
Geschichte, der sich nicht vorrangig baulich-räumlich artikuliert, während ich unter «Raum lesen» eben
den baulich-räumlichen Aspekt in den Mittelpunkt rücke.
Die christliche Geschichtsschreibung begann als Darstellungsaufzeichnung – gewissermaßen als
notarieller Text im wörtlichen Sinne. Gegenüber der antiken Geschichtsschreibung (Salust, Tacitus), die
ja eine Geschichtenschreibung war, beschränkte sich die christliche Geschichtsschreibung zunächst auf die
Eintragung der Ereignisse des Kirchenjahres in Jahrbücher (Chadwick 1996, S.9). In diesen Jahrbüchern
- den Annalen - wurden Geschehnisse versachlicht niedergelegt; sie reihten sich wie Perlen auf eine
Kette. Dabei hatte das Festhalten der Ereignisse gar nichts Retrospektives. Es häufte sich so der Stoff
einer materiellen Geschichtsdarstellung an für die dann intensiv im 19.Jahrh undert einsetzende
Geschichtsschreibung, wie wir sie heute gewohnt sind.
Erste Versuche, aus Einzeleintragungen in den Kirchenbüchern Zusammenhänge jahrhunder tweise
chronologisch zu erfassen, wurden in der Renaissance zur Mitte des 16.Jahrhunders unternomm en.
Dazu mussten erinnernswerte Eintragungen von nicht erinnernswerten getrennt werden. Die
Geschichtserzählung wanderte von Faktum zu Faktum einer Diplomatie- und Ereignisgeschichte.
In der Epoche der Aufklärung, die auf die Neubestimmung der Stellung des Menschen in seiner
Lebensumwelt drängte, schärfte sich ein Bewusstsein von Historizität. Es wurde erforderlich,
Geschichte in größeren Zusammenhängen zu erfassen und die dokumentierten Tatsachen
gewissermaßen wie Knoten miteinander zu verflechten (Engell 1995, S.11) und in ein erzählerisches
Kontinuum zu überführen. Dadurch wurde man sich des geschichtlichen Fließens bewusst. Geschichte
wurde als langfristiger Strukturwandel von Sozialität, Psyche und Verhaltensformen (Dörner, Vogt
1990, S.133) begriffen und erschien als Prozess der Zivilisation (vgl. Elias 1997). Die eigentliche
Erzählung begann aber auch, sich nicht mehr allein aus den Fakten, sondern zwischen den Fakten her
zu entspinnen. Am Geschriebenen las man das Ungeschriebene: die unterschwelligen Assoziationen, die
mitlaufenden Obertöne und magischen Zeichen (Honold 2000, S.17). Um 1900 wurde (z.B. mit Henri
Bergson) die Sicht auf die Geschichte zur Sicht auf den gewaltigen Lebensstrom eines Werdens, der bis
an die Gegenwart heranreichte (Russell 1999, S.799ff.).
Medial betrachtet formulierte sich in der 2.Hälfte des 20.Jahrhundert der Geschichtsstrom in ein Netz
um. Hielten bislang die Knoten (die Geschichtsereignisse) die strömende Geschichte zusammen,
scheinen sie sich heutzutage aus dem horizontal vor uns ausgebreiteten Gewebe eines kontextuellen
Bedingungsgefüges (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, etc.) heraus zu formi eren und so Ereigniss zu Fall
zu bringen (Flusser 1992 a, S.17 – mit Wittgenstein). Das historische Ereignis nimmt sich dadurch in
seiner Bedeutung als Ereignis stark zurück - ins Zeitlose. Lyotard sieht den Menschen eingewoben in
die Netzstruktur eines dynamischen Spielfeldes, auf dem heute Spielzüge den Einzelnen prägen - je nach
dem als Empfänger, Sender und/ oder Referent seiner Umwelt. Die Erzählung, die dem Spielfeld
unterliegt, sei „die Form des Wissens par excellence“ (Lyotard 1999, S.67). Das Interesse der Medienund Geschichtswissenschaften richtet sich deshalb gegenwärtig stärker auf den diffusen Text als
Generator des historischen Falls.
„Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier
aufgefaßt hat, hinter dem sich mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wah rheit) aufhält, betonen wir jetzt
bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flec hten entsteht und sich selbst
bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst
in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“
(Barthes 1974, S.94)
D i e B e w e g u n g s g e s t a l t d e r G e s c h i c h t e . Das Erkennen der Gestalt zeitlicher Abläufe
unterscheidet sich wesentlich vom Erkennen der Raumgestalt, die im Abschnitt V.3 b ehandelt wird.
Zum Verhältnis von Raum und Zeit äußerte Kant: während Raum eine äußere, vorgegebene
Omnipräsenz ist (denn es gibt keine Vorstellung von Nichtraum), ist Zeit eine subjektive, innere
Kategorie des Menschen - damit gewissermaßen den Ideen des Philosophen Henri Bergson vorgreifend.
Kant zufolge steht also die harte, äußere, räumliche Tatsachenwelt mit ihren kausalen, logisch zu
erforschenden Verknüpfungen einer weichen, inneren, zeitlichen Welt gegenüber (Russell 1999, S.720),
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die auf sinnlicher Wahrnehmung beruht. Sprache nun übersetzt den Raum in Zeit. Wie Wenz feststellte,
ist der Raum das Tätigkeitsfeld des Malers und Zeit das des Dichters (Wenz 1997, S.58).
Die aktive, lebendige Seite des Menschen tritt bei der Erfassung zeitlicher Zusamme nhänge deutlicher
heraus als bei der Erfassung räumlicher Zusammenhänge. Der Raum in seiner materiell-physischen
Beschaffenheit ist das vordergründige Forschungsfeld der Naturwissenschaften. In vergangenen Zeiten
entstanden, ist er dauerhaft physisch präsent. Allein die Omnipräsenz des physischen Raums ist es, die
unsere Fähigkeit benebelt, Raum gestalthaft zu abstrahieren. Von vergangener Zeiten hingegen muss
nicht erst abstrahiert werden, denn sie ist immer schon abstrakt, da ja unwiederbringlich verga ngen.
Gegenstände der Betrachtung in der Stadt verlieren an materiell-räumlicher Konsistenz, wenn sie in
ihren zeitlichen Ablauf hineingestellt werden – so, als besäße die Zeit eine Eigenmacht, der harten
Materialität und Faktizität entgegenzuarbeiten. Die physisch wahrzunehmende Stadt (Plätze, Straßen,
Häuser), die in ihrem Geschichtsverlauf gelesen wird, immaterialisiert und nähert sich durch das Lesen
der Immaterialität des Wortes oder des Gedankens an. Walter Benjamin stellte in diesem
Zusammenhang heraus, dass der Zweck des historischen Verstehens in der Gewinnung des eigenen ,
gegenwärtigen Standortes liegt.
„Der Schein der geschlossenen Faktizität schwindet in dem Grade, in dem der Gegenstand in der histor ischen
Perspektive konstruiert wird. Die Fluchtlinien dieser Konstruktion laufen in unserer eigenen historischen
Erfahrung zusammen.“
(Benjamin 1990, S.1104)
Auch die Methode der Erfassung von Raum und Zeit ist jeweils anders. Während die Perzeption von
geographisch-statischen Räumen die Bewegung des Rezipienten erfordern, wird die Dynamik eines
Zeitzusammenhangs eher deutlich, wenn der Rezipient stillsteht und somit frei wird, auf die Dynamik
zu achten, mit der die geschichtlichen Ereignisse ihren Lauf genommen haben oder gerade unmittelbar
vorüberziehen. Die Sesshaftwerdung und der Bau von Städten bekommt über die Bedeutung der
räumlichen Fixierung (von Handlungsraum) hinaus in erster Linie eine zeitfixierende Bedeutung. Die
Textur der Stadt materialisiert die ansonsten flüchtige Zeitstrukturen. Sie entfernt das Individuum von
der Endlosigkeit des Durchlebens von Naturgegebenheiten und ersetzt die Endlosigkeit durch das
Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens. Aus der Außenfokussierung des Lebens wird in der
Stadt eine Innenfokussierung. Aus diffusem Raum wird konkrete Zeit.
Wie
der
frühchristliche
Kirchenlehrer
Augustinus
(354-430)
feststellte,
bedeutet
Geschichtsbewusstsein die Gegenwärtigkeit dreier Zeiten im Heute: der Gegenwart der Vergangenheit,
der Gegenwart und der Zukunft (Fahle 1997, S.473). Geschichte ist immer geschichtlicher Wandel.
Geschichtsschreibung ist der Versuch, den geschichtlich ereigneten Wandel – also Bewegung – im
Geiste emotionsgestützt wiederzubeleben, zu erfassen und durch Beschreibung festzuhalten. Dabei ist
dieser Prozess völlig abstrakt, denn was gestern war, ist ja vorbei und nur noch eine Spur führt von den
überlieferten Gegenständen zu dem rein ideellen Konstrukt der zurückliegenden Entstehungs - und
Entwicklungszeit. Geschichtsschreibung ist ein formbildender Prozess. Geschichte manifestiert sich
deutlich in Form der Aufzeichnung sozialen Handelns in der Stadt.
„Mit dieser aus den Erinnerungen zurückkehrenden Woge saugt sich die Stadt voll wie ein Schwamm und
breitet sich aus. Eine Beschreibung Zairas, wie es heute ist, müßte Zairas g esamte Vergangenheit enthalten.
Aber die Stadt sagt nicht ihre Vergangenheit, sie hält sie wie die Linien einer Hand, geschrieben in die
Straßenränder, die Fenstergitter, die Brüstungen der Treppengeländer, die Blitzableiter, die Fahnenmasten,
jedes Segment seinerseits schraffiert von Kratzern, Sägspuren, Einkerbungen, Einschlägen.“
(Calvino 2000, S.14)
Den toten Geschichtsdaten verhilft erzählte Geschichte zu einer Physiognomie (Bollerey 2001, S.363).
Sie ist darin befangen und kann nicht anders, als die tatsächliche Geschichte aus der Retrospektive nur
verfremdet wiederzugeben. Die Verfremdung geschieht, da die Ursachen aus der Kenntnis ihrer
Wirkungen betrachtet werden. Aber ohne diesen komplexen Überblick über die Entstehung von Dingen
und Phänomenen, ihrem Werden und Wandel, wäre es gar unmöglich, dynamische Zusammenhänge als
Geschichte zu erkennen und darzustellen. Lebensphilosophie und Geisteswissenschaften (Geschichte,
Soziologie, Ökonomie, Kunst- und Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft, Psychologie,
Sprachwissenschaft etc.) – Wissenschaften also, die sich auf die Erforschung des Menschen richten –
umkreisen derartig immaterielle Gestaltkategorien.
Unser Geschichtsbild ergebe sich allein aus der Wirkung von Texten, sagte Wilhelm Dilthey. „Daher
hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift
enthaltenen Reste menschlichen Daseins.“ (Dilthey 1900, S.36) Die relative Abgeschlossenheit eines
Textdokuments, das ja grundsätzlich immer für wahr gehalten wird, qualifiziert es dafür, leicht der
45
Interpretation eines jeden und jeder nachfolgenden Generation zugänglich zu sein - selbst über große
zeitliche Intervalle hinweg. Die hermeneutische Wissenschaft nun „ist die Kunstlehre der Ausl egung
von Schriftdenkmalen“ (ebenda, S.37). Erst von den Texten aus strahlt Licht auf andere Denkmale einer
Zeit (ebenda, S.36). Das Denken der gesamten Nachwelt wird durch nichts so sehr wie durch die
Interpretation überlieferter Texte beeinflusst.
Das historische Bewusstsein des Menschen, das sich mit seinem Wirklichkeitsbewusstsein verbindet,
ermöglicht es, über die Schranken der eigenen Zeit hinaus tief in die Vergangenheit der Kulturen zu
blicken. Das historische Bewusstsein bildet ein System, welches aufgrund seiner Ansiedlung in der
raumzeitlichen Struktur der Geisteswissenschaften außerhalb der Gegenwart steht. Es kann durch diese
Ent-Gegenwärtigung im Prinzip jedwedes, auch lange vergangenes Phänomen als Wirklic hkeit erfahren.
Der heutige Mensch nehme so die Kraft der Kulturen in sich auf und kann ihren Zauber nachge nießen,
meinte Dilthey (Dilthey 1900, S.34). Anhand von Überlieferungen lassen sich heute und zu jeder Zeit
ganze Charakteristika längst vergangener Zivilisationsepochen rekonstruieren und lange
Entwicklungsprozesse darstellen - ja überhaupt die gesamte Vergangenheit des Menschen, die
wesentlich die Geschichte des menschlichen Zusammenlebens ist (ebenda, S.34). Schriftliche
Überlieferungen und sprachkommunikative Modi dienen dabei als Transportoren. Hans -Georg
Gadamer stimmte Wilhelm Dilthey zu, indem er die Lebendigkeit der Evokation hervorhob: „Jeder
weiß ja, wie sehr uns etwa die Sprache der Kunst, und selbst der religiöse Klang der Sprache der Kunst
ferner Kulturen, fast wie eine unmittelbare Selbstbegegnung erscheinen können.“ (Gadamer 1989, S.14)
Die Vergangenheit mit den absoluten Maßstäben der Gegenwart zu messen, war in der Nachfolge
Diltheys nicht mehr möglich. Historisch vergangenen Zeiten kann in dieser Basis des Denkens ein
jeweils eigenständiger Wert zugesprochen werden. Diltheys Überlegungen legitimierten die epochale
Differenzierung historischer Zeiten (vgl. Dilthey 1910, S.49ff.).
Ich möchte nun ein historisches Beispiel des Lesens betachten. Dem Beispiel liegt die Hypoth ese zu
Grunde, die Textinterpretation sei für die Entwicklung des europäischen Kulturzusammenhangs der
Moderne von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen, denn letztendlich war es das Lesen, das zur
Entstehung der Neuzeit führte!
Die Renaissance - ein historisches Beispiel des Lesens.
„Bücher sind voll von Worten oder Weisen, voll von Beispielen aus alten Zeiten, voll von Bräuchen, Gesetzen
und Religion. Sie leben, verkehren und sprechen mit uns, lehren, bilden und trösten uns, ze igen uns die Dinge,
die unserem Gedächtnis besonders fern stehen, so als ob sie gegenwärtig sind, und stellen sie uns vor Augen.
So groß ist ihre Macht, Würde und Hoheit und sogar göttliche Kraft, daß wir alle, gäbe es nicht die Bücher,
ungebildet und unwissend wären, kein geschichtliches Wissen um die Vergangenheit, kein Beispiel, ja keine
Kenntnis von menschlichen und göttlichen Dingen hätten. Dasselbe Grab, das den Leib des Menschen deckt,
würde auch ihren Namen verschütten.“
(der aus Griechenland stammende, venezianische Kardinal Bessarion in einem Brief aus dem Jahre 1468 an
den Dogen Cristoforo Moro, zit. in: Garin 1961, S.451)
Die desolate wirtschaftliche Lage der meisten Städte und des verkümmerten Gewerbes am Ende des
MittelaltersXIX hätte die natürliche gesellschaftliche Entwicklung den Rückfall in eine Landwirtschaft mit
quasi-feudalem Charakter bedeutet (Garin 1961, S.432). Aber erstaunlicherweise kam es nicht dazu,
sondern zum Gegenteil: künstlerische Handlungsfelder wie Malerei, Architektur und Bildhauerei
blühten auf und die Poesie und andere literarische Zweige verfeinerten sich beständig. Offensichtlich
gründete sich der schöpferische Aufschwung auf einen kollektiven Willensakt, denn anders als durch
eine willentliche Überspringung der renitenten Materialität ist der gewaltige Sprung in der Entwicklung
des Denkens und Schaffens, das sich von den mittelalterlichen Fesseln befreite, nicht zu erklären.
Die Epoche der Renaissance in Italien (Mitte 14.- Anfang 16.Jahrhundert) ist bekanntlich von der
Rückbesinnung auf die griechisch-römische Antike gekennzeichnet. Ab Mitte des 14.Jahrhunderts griff
das römisch-griechische Altertum mächtig in das italienische Leben „als Anhalt und Quelle der Ku ltur,
als Ziel und Ideal des Daseins, teilweise auch als bewusster neuer Gegensatz“ ein (Burckhardt 1947,
S.162).XX Das Studium von aus dem Griechischen oder Lateinischen überlieferten Schriftdokumenten,
„Der drastische ökonomische Einbruch vom ersten Drittel des 14. bis zur Mitte des 15.Jahrhunderts verhi nderte,
daß sich die europäischen Städte weiterentwickelten.“ (Benevolo 1993, S.96)
XX Der Schweizer Kunsthistoriker Jakob Burckhardt (1818-1897) selbst gibt uns das Beispiel eines hohen Interpreten.
In der Wertung Erwin Panofskys legt Burckhardt seinem Buch «Die Kunst der Renaissance in Italien» (das er
bescheiden „ein Versuch“ untertitelt) die Gesamtheit der Dokumente der Epoche der Renaissance und deren
XIX
46
Dramen und epischen Werken von Mythologie (Homer) und Geschichtsschreibung (Tacitus), ging
Hand in Hand mit dem interpretierend reproduzierendem Kunstschaffen, das die nachempfundenen
geistigen Werte Griechenlands und Roms durch Kunstwerke und Architektur stilistisch-ästhetisch
medialisierte. Zwar vermittelte die antike Literatur keinen unmittelbaren Umwelt-Bezug – sie vermittelte
mehr sogar: einen Welt-Bezug(!) – ein Bezug, der indirekt und nicht ostentativ im Text steckt (Ricœur
1971, S.267). Durch die Vermischung dieses antiken Weltbezuges der Griechen mit dem direkten
Umwelt-Bezug der Menschen mehr als Tausend Jahre später gelang es, die unmittelbare Umwelt von
ihrer Begrenztheit zu befreien und sie zur «neuen Welt» zu machen.XXI In der Prosa begannen die
Dichter, Cicero nachzuahmen, der in der Antike der «humanitas» das Wort geführt hatte; in der Kunst
und Architektur galt das Hauptinteresse dem Erbe Vitruvs (Burckhardt 1947, S.131).
„Unendlich wichtiger aber als die baulichen und überhaupt künstlerischen Reste des Altertums waren
natürlich die schriftlichen, griechische sowohl als lateinische. Man hielt sie ja für Quellen der Erkenntnis im
absoluten Sinne.“
(Burckhardt 1947, S.176)
Sprache und Schrift stellten aufgrund ihrer Flexibilität geeignete Mittel dar, die widerständige Realität zu
überspringen. Die Poesie genoss daher eine besondere Stellung. „Das Beste, was so entsteht, ist nicht
mehr Nachahmung, sondern eigene freie Schöpfung.“ (Burckhardt 1947, S.234) Die eigene freie
Schöpfung war in der Renaissance bestrebt, den idealen poetischen Text zu schreiben, der alle
möglichen, auch die widersprüchlichste Auslegung erlaubte (Eco 1990, S.36). Von dem italienischen
Dichter Giovan Giorgio Trissino (1478-1550) berichtet der Kunsthistoriker Rudolf Wittkower:
„Er versuchte, das griechische Epos wiederzuerwecken, und verpflanzte, mit seiner Sofonisba (1514-15), die
Tragödie im griechischen Stil nach Italien. In seiner Komödie I Simillimi (1548) folgte er Plautus, in seinen
Canzoni ahmte er Pindar nach. Er schrieb lateinische Gedichte und Eklogen und übersetzte Horaz.
Sprachliche Probleme fesselten ihn besonders, wie alle Humanisten seiner Zeit. Er veröffentlichte eine Ars
Poetica und grammatikalische Schriften; an seinen Namen knüpft sich die Erinnerung an einen Versuch,
Orthographie und Aussprache des Italienischen zu hellenisieren und so eine künstliche italienische
Schriftsprache zu schaffen. Hierin bekämpfte er die allgemeine humanistische Tendenz, [...] das Volgar e (den
toskanischen Dialekt) zur Wissenschaftssprache zu erheben.“
(Wittkower 1969, S.51f.)
Ohne Zweifel erfolgte ein Nachfühlen und Nachleben der antiken Texte nicht ohne Idealisi erung, denn
es ist einfach, zu idealisieren, was man verehrt. (Burckhardt 1947, S.232f.). Die Nachahmung der «Welt
der Griechen» ist den Nachfahren ja möglich vermittels der symbolischen Dimension des Lebens, das
man in den Texten vorfand oder da heraus- oder hineinlas. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky
schilderte das Kunstschöpfen der Renaissance wie folgt:
„... ein italienischer Dichter überträgt den Ovid in die Sprache seiner Zeit und seines Volkes, ein
italienischer Maler gestaltet danach die Szene im Sinne der antikisierenden Quattrocentokunst unter
Aufbietung des ganzen Apparates von Satyrn, Nereiden, Eroten, fliehenden Nyphen, wehenden Gewändern,
flatternden Haaren.“
(Panofsky 1998, S.253f.)
Pathos und Distanz, die in die Kunst Einzug hielten, waren notwendig, um sich vom Mittelalter
abzulösen (Panofsky 1998, S.247). In der Kunst lernte man den Körperausdruck und die
Körperschönheit der griechisch-römischen Plastiken schätzen (den Ausdruck) und künstlerisch
nachzuahmen (ebenda, S.249). Nachahmung und Überidealisierung sind es zu verdanken, dass der neu
auflebende Humanismus die gotische Barbarei und selbst die grobe «griechische Manier» überwand
(Garin 1961, S.449). Weltliche Bürger begannen, ein kultivierteres Latein als die mittelalterlichen
Kirchengelehrten zu sprechen. War das Latein vordem die Sprache des Klerus und der Gelehrten,
wurde mit dem «Volgare» die Volkssprache nun auch als Schriftsprache kultiviert. Die in Volgare
verfassten Werke der Dichter Dante Alighieri (1265-1321) und Francesco Petrarca (1304-1374) trugen
daran einen entscheidenden Anteil, der in der ersten Hälfte 15.Jahrhunderts erfundene Buchdruck an
der Verbreitung.
Wirkungsgeschichte als wahren Ausdruck eines einheitlichen Weltanschauungssinns ebendieser Ep oche zu Grunde
(Panofsky 1974, S.93).
XXI Sicherlich unterstützte die Theorie des Nachlebens auch der Athropomorphismus der Griechen: „Die Griechen sind
ein anthropomorpistisches Volk war, das Alles menschlich zu veredeln, Alles in die Kreise schöner Gestalten zu
erheben strebt.“ (von Humboldt 1959, zit. in: Blumenberg 1999, S.282)
47
Ich möchte hier den geschichtlichen Exkurs kurz zu Ende führen. Nicht nur in zeitl icher Hinsicht kam
es in der Renaissance zur Erneuerung der Antike, sondern auch in räumlicher Hinsicht. Dazu gehe ich
zeitlich noch einmal einen Schritt zurück, um die Differenz und den Übergang vom Mittelalter zur
Renaissance deutlich zu machen.
V.3 Raum lesen
M i t t e l a l t e r . Über die Unwirren der Völkerwanderung (4.- 6./10.Jahrhundert) war der lebendige
Faden der Überlieferung durch Tradition von der antiken Vergangenheit zum Mittelalter XXII abgerissen.
Die Tradition, die Wissen von Generation zu Generation weitergibt, war unterbrochen oder nur
unbewusst weitergeführt worden. Im Bauen von Stadt musste das Mittelalter andere als die antiken
Bezugspunkte finden, die ja mit dem Untergang des Weströmischen Reiches (476) gar keine Basis mehr
hatten. Als zwischen dem 9. und 14.Jahrhundert die Mehrheit der Städte Europas entstanden, hatte sich
inzwischen der christliche Glaube der römisch-katholischen Kirche verbreitet und war erstarkt, so dass
Architektur und Stadtbaukunst nun eine vordergründig christlich-religiöse Motivation erfuhr.
Bis zum 14.Jahrhundert versuchten die Mönche in der Klosterbaukunst, aus dem scholas tischen
Denken adäquate bauliche Formen abzuleiten. Denn nach scholastischem Ideal fallen Handeln und
Denken in Gott zusammen (Panofsky, 1998, S.26). Gelang es in ausgewählten Bereichen der
Architektur noch, solche Theoriegebäude auf die architektonische Praxis zu übertragen, konnte man das
im Städtebau nicht leisten. In der Stadtbaukunst musste gewissermaßen auf ein allgemein wirksameres
Mittel ausgewichen werden: auf das Bild(!) - das fiktive Bild der Gottesstadt. Gleichsam der höheren
Idee einer paradiesischen, hermetischen Schönheitsvorstellung verpflichtet, wurde städtischer Raum
quasi außerhalb seiner selbst (Fumagalli 1999, S.20) auf dem Weg zu Gott gesta ltet.
„Von der Welt Erfahrung zu machen, wie man sie einem Buch oder einem Brief verdanken kann, s etzt nicht
nur Alphabetismus, nicht nur die Vorprägung der Wünsche durch Sinnzugang durch Schrift und Buch
voraus, sondern auch die kulturelle Idee des Buches selbst.“
(Blumenberg 1983, S.10)
Die mittelalterlichen Menschen empfingen die Welt im Buch Gottes lesend. Die Stadt war in dieser
Welt das vom Menschen aufgeschlagene Buch Gottes. Die Fiktion von einer Natur der Gottesstadt
besaß ein ganz konkretes, irdisches Abbild: Jerusalem (Corboz 2001, S.61)! Von Jerusalem existierten
Stiche, die immer neue Vor-Bilder generierten, nach denen die europäischen Städte bildorientiert
gestaltet wurden.
„Entgegen der verbreiteten Meinung ist der mittelalterliche Dom nicht unbedingt mitten in der Stadt gelegen,
sondern oft unmittelbar an die Mauer, an den Rand der Siedlung gebaut worden. Der Ursprung der Stellung
ist wahrscheinlich auf die Lage des Tempels von Jerusalem zurückzuführen; im Fall von Pisa handelt es sich
sogar um ein Resümee der Heiligen Stätte: Die Taufkirche stimmt mit dem Heil igen Grab überein, der Dom
selbst mit dem Tempel (darum die seltsame Kuppel), die Grünfläche mit der Tempelterrasse. Der schiefe Turm
entspricht wohl einer der beiden Tempelsäulen, was vermuten lässt, dass das Projekt einen zweiten
symmetrischen Turm vorsah.
Die Nachahmung Roms oder Jerusalems und die implizite Einschreibung von Zeichen ins Territorium sind
während des ganzen Mittelalters normale städtebauliche Maßnahmen.“
(Corboz 2001, S.61)
Gott verpflichtet, kam den Menschen die Aufgabe zu, sich in der Stadt ein Umfeld zu schaffe n, das
gestattete, der Versuchung durch den Teufel zu widerstehen. In der schönen Gestaltung der Stadt stellte
sich der siegreiche Widerstand gegen das Böse am sichtbarsten dar und begleitete jeden Bürger in
seinem Alltag. Schönheit bedeutete unmittelbare Anschaubarkeit des Wahren und Guten. Nahezu
platonisch konnte der mittelalterliche Stadtmensch formulieren: „Die Dinge sind schön, weil sie uns in
der Anschauung das Sein offenbaren, an dem sie teilhaben.“ (Assunto 1997, S.45) Im Schönen schauten
die Menschen Gott selbst an (Assunto 1997, S.43; 45). Das Schönheitsideal war ein hermetisches, durch
die Religion präzise kodifiziertes Ideal, das von allen gleichermaßen geteilt wurde. Selbst private
Bauherren teilten es und hießen die Baumeister die Stadt für ihre Einwohner in der Schau Gottes zu
schreiben. Dinge wurden nicht beliebig erfunden, sondern schienen durch göttlichen Entscheid
Das Mittelalter begann 476 mit dem Untergang des Weströmischen Reiches und endete im 15.Jahrhundert mit dem
Beginn der Renaissance.
XXII
48
festgelegt und platziert zu werden. Das mittelalterliche Sein und die mittelalterliche Natur der Stadt
besaßen die Qualität eines Ganzen aus einem Wurf.
Zwar existierten im Mittelalter die baulichen Hinterlassenschaften in Städten wie Athen, Rom und
anderen, wenngleich sie vielfach zu Ruinen zerfallen und stark verschüttet waren. Aber Athen war in die
Bedeutungslosigkeit und Rom in die Provinzialität abgerutscht. Über die Herkunft und den Sinn der
antiken Monumente, denen die Menschen in der Stadt begegneten, hatte sich der Schleier der
Unerklärbarkeit gesenkt. Niemand hatte das Bedürfnis oder Interesse an einer realistischen Erklä rung.
Stattdessen wurde ihnen vielfach ein phantastischer Ursprung zugeschrieben (Benevolo 1993, S.43).
Aber die Antike war in Italien - anders als in Deutschland – über das gesamte Mittelalter „ein Garten,
der noch immer Blüten und Früchte trug, noch ein Trümmerfeld, dessen Quadern und Säulen bei neuen
Bauten benutzt werden konnten“ (Panofsky 1998, S.247). In der Renaissance änderte sich das.
R e n a i s s a n c e . Während seinerzeit in einem sehr natürlichen Entstehungsprozess die mittelalterliche
Stadt aus dem Land hervorgegangen war (Berndt 1978, S.109), quoll die Idee der Stadt der Renaissance
gleichermaßen wie die des ganzen Lebens auf eine weitaus künstliche Art aus dem Text. Im Bauen von
Stadt wurde der mittelalterliche Bezugspunkt des Bildes durch den renaissancenen des Textes abgelöst.
Die im Mittelalter vorherrschende Form/ der Raum verlagerte sich auf einen zeitlichen Schwerpunkt!
Die Frührenaissance versuchte noch eine Harmonisierung zwischen dem Buchcharakter der
mittelalterlichen Welt und den neuen Texten. Aber durch die wiedergelesene Antike veränderte der
Mensch seine Stellung in der Welt. Im Mittelalter hatte er Gott gegenübergestanden. In der Renaissance
gewann er die die antike Distanzierung und Gegenüberstellung zum Tier (dem Barbar) zurück. Der
Religiosität tat das keinen Abbruch – im Gegenteil: Der Mensch sah sich von Gott in die Mitte des
Universums gestellt (Panofsky 1996, S.8) und in dieser Zentralen Position in der Welt stand er seinen
eigenen Entfaltungsmöglichkeiten gegenüber. Auch der Schönheitsbegriff stellte sich anders dar. Er
verließ das Göttliche und wurde das Göttliche im Menschen.
„Christus als der Inbegriff der Vollkommenheit und Harmonie trat an die Stelle dessen, der am Kreuz für
die Menschheit gelitten hatte, der Pankrator an die Stelle des Schmerzensmannes.“
(Wittkower 1969, S.30)
Wie Leon Battista Alberti formulierte, ist Harmonie, „die dem Bauwerk innewohnt; eine Harmonie,
welche [...] nicht ein Ergebnis künstlerischer Phantasie, sondern vernunftgemäßer Überlegung ist“
(Wittkower 1969, S.33). Alberti weiter: Die Widerbelebung des klassischen Schönheitsideals in
bewusster Ablehnung der Fortsetzung des mittelalterlichen Ideals im Bauen, drücke sich „in der
planvollen Anordnung und Verschmelzung der Proportionen aller Teile eines Gebäudes, derart [aus],
dass jeder Teil seine absolut feststehende Form und Größe hat und nichts hinzugefügt und
weggenommen werden kann, ohne die Harmonie des ganzen zu zerstören“ (Wittkower 1969, S.15).
Von besonderer Wichtigkeit stellte sich die Veränderung des gesellschaftlichen Umgangs mit
baulichen Hinterlassenschaften der Antike dar. In der Renaissance gelang die Rückgewinnung ihrer
realistischen Erklärbarkeit. Die Erklärung der Ruinen kam nicht aus den Monumenten se lber oder von
Gott, sondern aus der Literatur – dem Text. Der erste Stadtinterpret war das geschriebene Wort. (Es
war nicht die erklärende Zeichnung, denn die Zeichnung in der Architektur erlangte erst zu Anfang des
16.Jahrhunderts einen Wert.) Im Gegensatz zum Mittelalter konnte und musst e die Renaissance
theoretisch werden (Panofsky 1974, S.65).
1415 wurde ein altbekannter Text zum wirklichen Erklärungstext: die Bücher der Baukunst «De
achitectura» von Vitruv. XXIII Im Mittelalter wurden die Bücher Vitruvs zwar von Mönchen und
Gelehrten in den Klosterbibliotheken studiert, aber nur als technische Anleitung (und nichts anderes
waren sie eigentlich). Die Bücher wurden abgeschrieben, kommentiert und zum Teil seitenweise in den
Werken mittelalterlicher Gelehrter zitiert. Mittelalterliche Produktion war im wesentlichen
Reproduktion. Ein Ding «verstehen» hieß, seine Existenz konstatieren und gegebenenfalls
kommentieren. Aber keinen Menschen überkam die romantische Anwandlung, Dinge oder Texte zu
interpretieren ohne zu zitieren. Die zitatlose Interpretation machte den entscheidenden Unterschied
zwischen mittelalterlichem Verstehen und dem Verstehen in der Renaissance aus. War der
mittelalterliche Umgang mit Text ein Anschauen der durch den Text vermittelten, ewigen Gottesidee,
setzte mit der Renaissance die Ausübung von Gewalt auf die Dinge ein: sie wurden ausgelegt. Dabei
mischte der Mensch seine eigene Person in den archäologischen Text. Wichtiger als das Werk selbst
wurde, wer es und wie es jemand las, auslegte und gegebenenfalls kommunizierte – also auf welche Art
Der römische Militärbaumeister und Ingenieur Vitruvius Pollio hatte sie wahrscheinlich in der Herrschaftsperiode
Kaiser Augustus’ (Pont.Max. 27 v.Chr.-14) geschrieben.
XXIII
49
und Weise der dialektische Prozess des Nachschaffens in Gang gesetzt wurde. Die vom Menschen
vorgenommene Auslegung der Dinge, Phänomene und Erscheinungen machte die Ewigkeit und
Unfehlbarkeit des unumstößlichen Wortes Gottes in jedwedem Text zunichte. Sie ersetzte die
Unfehlbarkeit durch die menschliche Fehlbarkeit und Bestechlichkeit unter dem Vorzeichen der
Konzentration der Macht in den Händen weniger Adelsfamilien (zum Beispiel der Medici in Florenz,
die sich in das Erbe des Republikanischen Roms stellten). Dem Adel war es möglich, den Textes der
Stadt machtsymbolisch und programmatisch einzusetzen.
A l b e r t i . Zu den ersten und genialsten Künstlern der Frührenaissance, die Vitruvs Bücher
interpretierten, zählt der Humanist und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1406-1472). Alberti, der
allseitig begabte Gewaltmensch, als den ihn Jacob Burckhardt beschreibt, war vielleicht einer der er sten
Leser in der Renaissance.
„Endlich aber wird auch die tiefste Quelle seines Wesens namhaft gemacht : ein fast nervös zu nennendes,
höchst sympathisches Mitleben an und in allen Dingen. Beim Anblick prächtiger Bäume und Erntefelder
mußte er weinen; schöne, würdevolle Greise verehrte er als eine „Wonne der Natur“ und konnte sie nicht
genug betrachten; auch Tiere von vollkommener Bildung [...], weil sie von der Natur besonders begnadigt
seien; mehr als einmal , wenn er krank war, hat ihn der Anblick einer schönen Gegend g esund gemacht.“
(Burckhardt 1947, S.131f.)
Vitruvs Bücher muss Alberti noch im lateinischen Original gelesen haben, denn erst etwa Einhundert
Jahre nachdem sie anlässlich des Konzils von 1418 in ein neues Licht gerückt wurden, wurden die
Bücher im Jahre 1511 erstmals (und dann häufig) wieder verlegt – nun aber in italienischer Übersetzung
und mit Illustrationen, die es im Original nicht gab. Allein die den Text erläuternde Illustration stellen
eine Interpretation dar. Die bekannteste Illustration einer entsprechenden Textstelle XXIV Vitruvs ist wohl
Leonardos «homo ad quadratum» und «ad circulum» (Wittkower 1969, S.20). Zu jener Zeit kamen
Übersetzungen auch in anderen Sprachen in ganz Europa in Umlauf und es setzte um 1510 ein breites
Studium der antiken Reste, Inschriften, Autoren und Baumeister unter Zurückdrängung der Phantasie
ein (Burckhardt 1947, S.168).
Vitruv interpretierend wurden die antiken Hinterlassenschaften in der Stadt plötzlich gelesen. Durch
ein Nachvollziehen (oder geistiges oder praktisches Nachschaffen) konnten die archäologischen Reste,
die man mit Augen bis dato nur hatte sehen können, nun auch verstanden werden.
„Die wirkliche Antwort liegt in dem Umstand, daß intuitives, ästhetisches Forschen so mitei nander verknüpft
sind, daß sie abermals das schaffen, was wir eine «organische Situation» g enannt haben. Es stimmt nicht, daß
ein Kunsthistoriker zuerst seinen Gegenstand vermittels einer nachschaffenden Synthese konstituiert und dann
mit der archäologischen Forschung beginnt – wie man zuerst eine Fahrkarte kauft und dann einen Zug
besteigt. In Wirklichkeit folgen diese beiden Prozesse nicht aufeinander, sie durchdringen sich gegenseitig;
nicht nur, daß die nachschaffende Synthese als Grundlage für die archäologische Forschung dient, auch die
archäologische Forschung dient ihrerseits als Grundlage für den Prozeß des Nachschaffen s, beide modifizieren
und rektifizieren sich wechselweise.“
(Panowsky 1998,S.20)
«De achitectura» war kaum mehr als technisch-nüchterne Anleitung und weit entfernt vom Charakter
eines Architekturführers. Aber offensichtlich reichte diese Anleitung dennoch aus, die geistige Tätigkeit
derjenigen, welche die noch unillustrierten Schriften Vitruvs studierten, zu einem eigenen Weiterdenken
zu inspirieren. „Mit Hilfe Vitruvs erkannte man bald, daß die Grundlage der verschiedenen antiken
Stilformen in der Säulenordnung zu finden sei.“ (Pevsner 1989, S.190) Das wäre im Mittelalter
undenkbar gewesen(!): das Erkennen von Stilprinzipien als geistiger Ausdruck einer Zeit (Panofsky
1974, S.65). „Die Bemühungen um das Verständnis und die Auslegung des Vitruv gipfelten in der
Gründung der Vitruvianischen Akademie in Rom im Jahre 1542, deren gewaltiges gelehrtes Programm
indessen niemals durchgeführt wurde.“ (Wittkower 1969, S.19)
Bei Vitruv heißt es da: „Desgleichen ist des Körpers natürlicher Mittelpunkt der Nabel, denn wenn ein Mensch
sich rückwärts mit auseinander gestreckten Händen und Füßen hinlegt, und man ihm den spitzen Sche nkel des Zirkels
in den Naben stellt, so werden bey Beschreibung des Kreises die Spitzen sowohl der Finger beyder Hände, als der
Zähen beyder Füße von der Zirkellinie berührt werden./ Gleichwie aber die Figur eines Zirkels im Körper zu bilden ist,
so ist darin nicht minder die eines Vierecks anzutreffen; denn wenn man dessen Maaß von der Fußsohle bis zum Wi rbel
nimmt, und dieß mit dem, von Einer ausgestreckten Hand zur Andern vergleicht, so wird sich ergeben, daß dessen
Breite der Länge völlig, so wie in einem nach dem Winkelmaaße abgemessenen Quadrate gleich sey.“ (Vitruv 1995,
S.15)
XXIV
50
Um die Alten zu verstehen, musste man gelehrt sein – man musste lesen können. Aus den
Baumeistern (die im Mittelalter hauptsächlich Ingenieure waren) entwickelte sich in der Renaissance die
Gelehrtenprofession des Architekten. Als Architekt musste man lesen und schreiben können – eine
Befähigung, die damals nur sehr wenige Menschen erlangten. Aber ganz allgemein wurde damit das
Ende der oralen Epoche eingeleitet. Mit der Alphabetisierung aller wichtigen Berufsgruppen wurde die
Position des Einzelnen von der Kontrolle durch Lehrinstitutionen wie Kirche und Zunftwesen
unabhängig. Die neu gewonnene Unabhängigkeit von den Institutionen kehrte sich aber sofort in die
vielleicht noch viel tiefgreifendere Abhängigkeit von Texten um. (Siehe Abschnitt IV.1.)
Gebäude begannen, die Handschrift von Architekten zu tragen. Anders als die mittelalterliche
Ingenieurbaukunst erwarb die Architektur in der Renaissance den Status einer freien Kunst. Architekten
errichteten private Gebäude und selbst Kirchen auf den Gegendruck von Auftraggebern hin. Dazu
müssen sich die Akteure in einer Art Schwurgemeinschaft zusammengefunden haben, deren geistige
Verbindung nicht mehr ein gemeinsames Gottesansinnen war, sondern das gemeinsame Bildungsgut der
Antike. So unterschiedliche private Interessen aufeinander trafen, verband sie dennoch das Ziel, die
Gegenwart ausdrucksgestalterisch zu missionieren und jeden Stadtbewohner durch den schönen
griechisch-römischen Ausdruck der Werke zu erziehen. Aus dem religiösen wurde ein politisches
Engagement (Flusser 1992 b, S.43).
Alberti sah sich von Vitruv inspiriert, zur Mitte des 15.Jahrhunderts eine Reihe von eigenen Traktaten
über Malerei, Bildhauerei und Architektur zu schreiben (in italienischer Sprache), darunter die «Zehn
Bücher über Baukunst» («De re aedificatoria») - ganz im Geiste seines Vorbildes Vitruv. Um 1452 waren
die Bücher Albertis weitgehend vollendet; der Verfasser war damals 48 Jahre alt (Wittkower 1969, S.35).
Auch der Maler und Bildhauer der Frührenaissance Francesco di Giorgio Martini (1439 -1501) und der
Bildhauer und Mailänder Architekt Filarete (1400-1501) verfassten Traktate in italienischer Sprache.
Zum Zeitpunkt der Verbreitung der Vitruvianischen Bücher und derjenigen Albertis „begannen viele
Künstler, Bücher über die Intentionen ihrer Arbeiten zu schreiben“ (Benevolo 2000, S.572). Wohl im
neuen Bewusstsein der Endlichkeit des irdischen Daseins und dem Zweifel an des Fortlebens im
Jenseits, von dem man im erneuerten Glauben nicht mehr sicher ausgehen konnte, bekamen Texte als
Hinterlassenschaft an die Nachwelt einen wichtigen Stellenwert.
P a l l a d i o . Auch der Architekt Andrea Palladio (1508-1580) studierte Vitruv. „Giuseppe Gualdo,
Palladios Altersgenosse, schreibt in seiner zuverlässigen Biographie des Architekten: «Als Trissino
[Palladios Meister, d.A.] bemerkte, daß Palladio ein sehr begabter junger Mann war, und große Neigung
zur Mathematik hatte, beschloß er, um seinen Geist zu bilden, ihn in den Vitruv einzuführen, und nahm
ihn dreimal nach Rom mit...»“ (Wittkower 1969, S.54). „Wahrscheinlich war er ein besserer VitruvKenner als irgendein anderer Architekt seiner Zeit; [... er glaubte, d.A.] daß Vitruv die tiefsten
Geheimnisse antiker Architektur enthüllte. Wie feinsinnig und verständnisvoll er sich in den VitruvText eingefühlt[!] hatte, lassen seine Illustrationen zur Ausgabe des Barbaro von 1556 erkennen. Lesen
wir, was Barbaro selbst über Palladios Mitarbeit an diesem Werk sagt:
«Als Vorlagen für die wichtigen Illustrationen benutze ich die Arbeiten von Messer Andrea Palladio,
Architekt in Vicenza, welcher von allen, die ich persönlich oder vom Hörensagen kannte, nach dem Urteil
hervorragender Männer das wahre Wesen der Baukunst am besten verstand. Nicht allein erfaßte er die
Hoheit und Schönheit ihrer Prinzipien, sondern er wandte sie auch praktisch an, sei es in seinen
außerordentlich feinen und vollendeten Zeichnungen für Grundrisse, Aufrisse und Schnitte, sei es durch die
Ausführung und Errichtung vieler prachtvoller Bauten sowohl in seiner Heimatstadt als auch auswärts;
Werke, welche mit denen den alten wetteifern, seine Zeitgenossen erleuchten, und die Bewund erung der
Nachwelt erwecken werden. Was aber den Vitruvius anbelangt, so hat er (Palladio) den Bau von Theatern,
Tempeln, Basiliken und allen solchen Gebäuden, deren Proportionen (compartimenti) die tiefsten und
lockendsten Geheimnisse bergen, mit offenem Sinn und kunstreicher Hand erklärt und ausgedeutet[!]; er war
es, der die schönsten Denkmäler der Alten in ganz Italien auswählte und alle ihre erhaltenen Werke
aufmaß.»“
(Wittkower 1969, S.56f.) XXV
Später, als Palladio seine Lehrbücher schrieb, die auf Vitruv und der Ve rmessung römischer Bauten beruhten, ging
er im Vierten Buch (über Maß- und Proportionsstudien antiker Tempel) sogar soweit, als einziges, damals
zeitgenössisches Bauwerk Bramantes Tempietto (1503, Tempietto di San Pietro in Montorio) mit der Begründung zu
integrieren: „Da Bramante der erste war, der gute und schöne Baukunst ans Licht brac hte, welche seit dem Altertum bis
auf seinen Zeit vergessen war, so schien es mir gerecht, daß sein Werk einen Platz unter den Alten habe.“ (Wittk ower
1969, S.26)
XXV
51
Palladios Lehrbücher «Quattro libri dell’architettura» erschienen 1570. Auf der Basis seines gründlichen
und tiefen, in Rom erworbenen Antikenverständnisses schrieb er auch einen schm alen Touristenführer,
der gut zweihundert Jahre lang den Reisenden ein Bild des alten Rom vermittelte und „Keimzelle der
meisten römischen Führer für Pilger bis ins 18.Jahrhundert hinein“ war (Wittkower 1969, S.55). Die
«Accademia Olimpica», die im Jahre 1555 in Vicenza ins Leben gerufen wurde und zu deren geistigen
Vätern Palladio gehörte, diente der Förderung des «uomo universale» nach dem Vorbild der antiken
Akademie (Wittkower 1969, S.59).
Ich gehe in der Entwicklung des Umgangs mit der Stadt schnell in die Moderne voran.
A u f k l ä r u n g u n d I n d u s t r i e m o d e r n e . Da man ab der Renaissance den unbedingten
Gottesglauben an die Stadt verloren hatte, begann man, sie mehr und mehr zu analysieren. Hinsichtlich
der Kenntnisse der Stadt machte man besonders im 18.Jahrhundert Fortschritte. Der wissenschaftliche
Umgang mit der Stadt (statt wie vordem der religiös-künstlerische), die feiner werdenden Analysen ihrer
Bestandteile und Wirkungen brachten dadurch ihrer Probleme zum Vorschein. Im Angesicht des
gesellschaftlichen Wandels vermehrten sie sich beständig auf eine entmutigende Weise (Wetz 1993,
S.110). Anstatt wie vordem ein Wesen zu sein, mit dem der Stadtbewohner eine Art persönliche
Beziehung unterhielt, erschien die Stadt in der analytischen Betrachtung eher als ein Durcheinander sich
überlagernder Funktionen – ein fremdes Durcheinander, das besonders im 20.Jahrhundert nach dem
Maßstäben der neuen, wissenschaftlichen Erkenntnis dringlich nach Ordnung verlangte. Die Arbeit mit
der Stadt im 20.Jahrhundert verhalf den Planern zu einer Form der Erkenntnis als ein äußerst komplex
funktionierendes, kybernetisches System. Das Stadtempfinden löste sich in der 2.Hälfte des
19.Jahrhunderts gleichermaßen auf wie ebenso die traditionellen Möglichkeiten des Ausdrucks.
„Nachdem die antike Mythologie nicht mehr Teil der allgemeinen Bildung ist und auch die christliche zu
verschwinden scheint, ist es schwer geworden, das Netz der Absichten, Anspielungen und Mitteilungen zu
verstehen, die die Selbstdarstellung der führenden Gruppen in Fassaden und Grundrissen mittels
kombinierter, mit Sinn beladener Formen möglich machte.“
(Corboz 2001, S.56)
Die Stadt wurde zum Werkzeug einer Vielzahl sich zunehmend emanzipierender, gesellschaftlicher
Akteure. Aus der Stadt als alte, papierne Bibliothek wurde ein Experimentierfeld. Parallel zur
verbreiteten Großstadtfeindlichkeit stammen aus der Zeit um 1900 Versuche von Archit ekten und
Künstlern, die Großstadt metaphorisch textuell zu lesen. Der Berliner Jugendstilarchitekt August Endell
(1871-1925) gibt dafür in seinem euphorischen Buch: «Die Schönheit der großen Stadt» (Endell 1984)
ein Beispiel. An den Textdokumenten der damaligen Großstadtenthusiasten verwundert das hohe Maß
an sprachlicher Aggressivität bei der literarischen Widergabe von Stadt – eine Auffassung, die scheinbar
mutwillig ihre tatsächlichen, historischen Wesenheiten in der Tradition Georges Eugéne Baron
Haussmanns ignorierte. Veröffentlichungen wie die des italienischen Futuristen Filippo Tommaso
Marinetti (1876-1944) oder von August Endell haben den Anschein, als wären es gerade die Architekten
und Planer gewesen, die am wenigsten um ein Verstehen rangen, was europäische Stadt ihrem Wesen
nach bedeutete. Es verwundert zum Beispiel, dass Endell all diejenigen modernen Tendenzen der
Stadtentwicklung seiner Zeit emphatisierte, die tendenziell die Wesen- und Sinnheiten der alten Stadt
vernichteten, anstatt sie verträglich und kompromisshaft zu modernisieren, wie es ja gleichfalls
Vorschläge gab: zum Beispiel der des Wiener Baumeisters und Städteplaners Camillo Si tte (1843-1903).
Sitte schlug vor, die im antiken Schönheitsverständnis defekte Industriestadt zu repari eren - ein
ehrenwerter Versuch, der aber scheitern musste.
Der Industrieschock hingegen, als den ich ihn bezeichnen möchte, führte zur Dominanz von
Tendenzen, die sich der Wesenheit der alten europäischen Stadt absichtlich entgegenrichteten. Endell
ging sie in seinem Buch begeistert durch: die omnipotente Vergegenwärtigung (Endell 1984, S.11), mit
erforderlicher restloser Hingabe an das Sichtbare (ebd. S.30), die Stadt als Erlebniswelt (ebd. S.15), die
rhythmische Taktung des städtischen Lebens (ebd. S.15), die Stadt als Forschungsfeld empirischer und
positivistischer Wissenschaften (ebd. S.18) und als kybernetisches Funktionssystem (ebd. S.20), als
apolitischer Ort (ebd. S.18) sowie die Auflösung des Schönheitskodexes. Auch Schmutz und Lärm
wurden nun als schön aufgefasst, wenn sie als Ausdruck des dahinterstehenden Arbeitsprozesses
gesehen wurden (ebd. S.20f.) ecc. – die Stadt als Maschine der Arbeit. Kein mittelalterliches, kein
renaissancenes, kein barockes Schönheitsideal mehr, auch keine Bemühungen um die Rückgewinnung
des griechischen, sondern das Gegenteil: die Lust am Widerspruch, die Ästhetisierung das
Unästhetischen durch Poesie.
52
“Wie fein sind oft die kranken Farben der Großstadtkinder, wie bekommen ihre Züge manchmal gerade
durch Not und Entbehrung wundervolle, strenge Schönheit.“
(Endell 1984, S.46)
Das nimmt fast postmoderne Züge an: die Ästhetisierung des Hässlichen als Chance, sich dem
Hässlichen nicht ab-, sondern zuzuwenden. Die modernen Architekten entdeckten zu Beginn des
20.Jahrhunderts ästhetisch die neue, spröde Poesie einer de-facto-Stadt und lauschten den Geräuschen
ihres lebendigen Jetzt-Textes: den „Stimmen der Maschinen, deren Geräusche Sprache werden“ (Endell
1984, S.21), den „Stimmen der Automobile“ und dem „Schrei der Hupen“ (ebd. S.24).
Klassische Versuche des Lesens nach der Art des Flaneurs können darin nicht erkannt werden. Da die
Architekten und Stadtplaner der Moderne keine Flaneure waren, gab es ihrerseits keine lesenden
Verstehensversuche von Stadt. Eher finden wir die moderne Praxis der künstlerischen TextKonsumtion wieder. Warum diffundierte die Manier des Flanierens nicht in die Berufsgruppe der Planer
und Architekten und etablierte sich als deren Praxis der Erkenntnis? Die Antworten haben ich teilweise
schon zu geben versucht oder versuche das noch im Abschnitt V.4. Hier zur kurzen Erinnerung und als
Vorgriff: ich denke, der Grund liegt darin, dass hermeneutische Erkenntnisse aus dem Flanieren in eine
retroaktive, im wesentlichen inopertionierbare Kulturpraxis eingebunden sind und im Prinzip nicht oder
aber erst über lange Umwege indirekt zu einer aktiven Handlungsbasis werden können.
Eine Ursache für die Härte der künstlerischen Reflexion über die Stadt in der Umbruchphase der
vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft liegt auch in der unmittelbaren Berührung der Architektur
(im Gegensatz zu anderen Kunstrichtungen) mit der Industrie. Spätestens die Arts -and-CraftsBewegung zur Reform des Kunsthandwerks um die Jahrhundertwende in England ließ vermuten, dass
ein handwerkliches Baugewerbe der Vergangenheit angehörte und in Zukunft das massenhafte
Baugeschehen industriell betrieben werden musste. Und das städtebauliche und Architekturschaffen
wurde postitivistisch in den rigiden, technischen Raumproduktions- und Reproduktionsprozess
eingegliedert.
Im folgenden Abschnitt wende ich mich den Städtelesern zu.
V.4 Stadt lesen
W e r l i e s t S t a d t ? Es wurde bereits festgestellt, dass sich die Phänomene der Stadt nicht selbst
auslegen. Sie bedürfen eines gebildeten Deuters, der sich auf das Schrifttum ihres Textes versteht.
Walter Benjamin fand einen kongenialen Deuter in der Figur des Flaneurs, die im 19.Jahrhundert in
Paris auftaucht. Der Flaneur ist der Prototyp des Städtelesers. Merkwürdigerweise war es nicht der
Literat und – wie dargelegt - schon gar nicht jemand, der eine direkte Verantwortung für Architektur
oder Städtebau trug. Denn zum Verhältnis von Literat und Stadt heißt es, „Schriftsteller nennen es
meist studieren, wie sie sich einer Stadt nähern“ (Benjamin, in: Opitz 1996, S.475). Anders nennt es der
Flaneur: Er studiert Stadt nicht, sondern kauft dem Literaten den Schneid ab und er liest sie.
Mehr als mit einer Wissenschaft stimmt das Flanieren mit der Hermeneutik darin überein, eine Kunst
zu sein. Benjamin hat es so verstanden: mit dem Flaneur verleiht sich die Stadt ein Rezeptionsorgan,
durch das sie sich gewissermaßen selber liest und versteht. Denn „wo keine Selbsterkenntnis, da ist
keine Erkenntnis“ (Honold 2000, S.29). Die Figur des Flaneurs ist ein Medium. Durch das Medium
hindurch wird sich die Stadt ihrer selbst bewusst. Die Stadtlektüre des Flaneurs ist die Selbsterkenntnis
des Lektüregegenstandes und sein Gewissen - entgegen der Richtung des Zeitlaufs. Benjamin sah in
diesem Aspekt sein Geschichtsverständnis bestätigt, bei dem das Vergangene einen Erlösungsanspruch
an die Gegenwart stellt. Der Flaneur löst es für die Stadt ein, denn es sieht ganz so aus, als hä tte die
Existenz des Raums und seiner Phänomene bis ins 19.Jahrhundert auf die Interpretation durch den
Flaneur gewartet.
Der Flaneurs ist ein weltvergessener Urbanist. Wahrnehmungstechnisch geht er von den Phänomenen
aus und arbeitet knapp unter deren Oberfläche. „In ähnlicher Weise geht der Geometer vor, wenn er
ein Volumen mittels einer Ebene durchschneidet, um bestimmte versteckte Eigentümlichkeiten
offenzulegen.“ (Corboz 2001, S.58) Und da die Stadt übervoll an phänomenalen Geschichten ist, die im
und durch den Raum zum Vorschein kommen, braucht der Flaneur nichts anderes zu tun, als sich am
phänomenologischen Handlauf leiten zu lassen. Dabei ist er ganz still. Mit den Augen überfliegt er
Straßen, Plätze, Fassaden und Menschen wie Seiten von Büchern, von denen er schon irgendwie vorher
53
weiß, was auf ihnen geschrieben steht. Mit Gleichmaß blättert er eine Seite nach der anderen um. Er
kann das auch zu Hause tun, mit halbgeschlossenen Augen im Sessel sitzend und rauchend, was ihm
zuweilen lieber ist. Der Flaneur ist ein Geisteswissenschaftler, denn gemeinsam mit den
Geisteswissenschaften obliegt ihm, die in den zeitlichen Phänomenen stehen gebliebene Zeit wieder in
Gang zu bringen.
„Indem sie auf jene erstarrten, ruhenden Zeugnisse blicken, von denen ich gesagt habe, sie tauchen «aus dem
Strom der Zeit» auf, [...] in deren Verlauf diese Zeugnisse entstanden und zu dem wurden, was sie sind.
Indem sie dergestalt statische Zeugnisse mit dynamischem Leben versehen, statt vergängliche Ereignisse auf
statische Gesetze zurückzuführen, stehen die Geisteswissenschaften nicht in Konflikt mit den
Naturwissenschaften, sondern ergänzen sie.“
(Panofsky, 1996, S.27)
Der Flaneur ist ein Transzendetalmetaphysiker. Die Öffnung des Raums in unbekan nte Fernen, die die
Renaissance und Baron Haussmann den Städten bescherten, holt er zurück in die Endlichkeit einer
metaphysisch geläuterten Stadt. Hier, in der Stadt, sieht er den ganzen Kosmos versammelt, von dem er
sonst nur ahnen kann. Hier unmittelbar vor ihm eröffnen sich ihm ganz neue Welten - hier durchstößt
er Horizonte und gibt sich tranceartigen Anwandlungen hin, die ihn schwindeld machen.
Er tut der Stadt nichts. Er legt an sie keine Hand an. Er will nur schauen, riechen, empfinden, staunen
und sich berauschen. Eine Metapher Flussers lässt sich hier umkehren: Flusser meinte, der Leser ziehe
aus dem Bibliotheksregal ein Buch heraus und muss es umdrehen, um es zu lesen und die Geste des
Umdrehens stehe für Revolution (Flusser 1992 b, S.87f.). Da nun der Flaneur beim Flanieren von außen
durch die Wand des Bibliotheksgebäudes direkt in die offene Seite des Buches schaut, braucht er das
Buch nicht umzudrehen. Er ist kein Revolutionär. Ja, der Flaneur steht der Revolution feindlich
gegenüber. Im Gegensatz zum Avantgardisten, der ein Moderner ist - ist er das konservative XXVI
Gewissen der Stadt.
Der Flaneur ist ein gebildeter, elitärer, bürgerlicher Müßiggänger, ein Schwärmer und Bohemien. Dem
Müßiggang des Flaneurs erteilte Benjamin die Absolution, denn Muße (grch. «schole», lat. «otium») ist
ein antikes Medium des Verstehens: die Einnahme eines nicht praktischen, kontemplativen
Standpunktes im bewussten Gegensatz zur Praxis und Aktion. „Der Müßiggang des Flaneurs ist eine
Demonstration gegen die Arbeitsteilung.“ (Benjamin 1983, S.538) Von der großstädtischen
Betriebsamkeit ist er durchaus fasziniert, ohne sich davon jedoch vereinnahmen zu lassen. Am Strom
der Massen findet er nur Vergnügen, wenn er in die Gegenrichtung geht. Er ist eher einer, der G efallen
am Bizarren und Zufälligen hat, statt an der Masse und dem Massenhaften. Von der Hast distanziert er
sich mit dem Habitus der Gelassenheit. Der Industriegesellschaft später ist die Muße verhasst und sie
kämpft beständig darum, sie abzuschaffen (Horkheimer 1987, S.339).
W a s l i e s t m a n a n d e r S t a d t ? Benjamin stellt fest, dem Einheimischen gelänge es schwieriger
als dem Fremden, einen Blick von außen auf die Phänomene der eigenen Stadt zu werfen, um das
Exotische und Pittoreske an ihr – also das Eigene – wahrzunehmen und nicht der Geschichte
aufzuopfern, denn „immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren
haben“ (Benjamin, in: Opitz 1996, S.471). Das Eigene einer Stadt manifestiert sich in einer Vitalität des
Rätselhaften, Plötzlichen, Vieldeutigen, Karnevalistischen, Subversiven, Destruktiven und der
Unordnung. Aber selbst bei Einheimischen ruft das einsame Schlendern (das ja ein Traumwandeln ist)
„mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte“ (Benjamin, in: Opitz
1996, S.471). Das leicht gelangweilte, einsame Schlendern eröffnet einen Pfad zur Landschaft aus dem
Vielen und wird zum unbekannten Labyrinth in unserer Mitte.
Damit beschäftigt, Stadt zu lesen, nimmt der Flaneur Abstand von allen kausalanalytischen
Erklärungsschemata, wie zum Beispiel der Geschichte der Stadtbaukunst.
Dafür unternimmt er einen anderen, folgenschweren Schritt: er trennt das Dasein der Dinge von ihrem
Wesen! An den Dingen interessiert ihn nur das Dasein (Heidegger würde sagen, ihr Sosein). A ndernfalls
wäre er Philosoph oder Historiker geworden. So aber wurde er Romancier. Sein Wissen ist ein bloßes,
narratives Wissen. Es ist unvollständig, aber doch umfassend, es ist semantisch inhomogen, aber
vielfältig - es ist ein «gefühltes Wissen» toter Daten (Benjamin, in: Opitz 1996, S.489).
„Die großen Reminiszenzen, die historischen Schauer – sie sind dem wahren Flaneur ja ein Bettel, den er
gerne dem Reisenden überläßt. Und all sein Wissen [...] gibt er für die Witt erung einer einzigen Schwelle oder
das Tastgefühl einer einzigen Fliese dahin.“
XXVI
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in seiner weiten Bedeutung des Wortes auch als «konservierend»...
(Benjamin, in: Opitz 1996, S.472)
Den städtischen Raum benutzt er, um sich dieses seines Wissens zu erinnern. Um an das Wissen zu
kommen, geht er weder analytisch nach den Gesetzen der Logik vor, noch historisch. Dem narrativen
Wissen des Flaneurs ist eine andere Mentalität zugeordnet als die der Unterwerfung unter die strenge
Wissenschaftlichkeit von Argumentation und Beweis, die Hegel in der Dreiheit von Thesis, Antithesis
und Synthesis vorweg genommen hatte (Russell 1999, S.740).
W i e l i e s t m a n S t a d t ? Sich einen Überblick über räumliche Zusammenhänge zu verschaffen,
kann man auf zwei Arten tun. Zum einen auf eine sehr naheliegende, praktische Art: durch sie
hindurchgehend, sie erwandernd. Das ist die Technik der unmittelbaren Anschauung in ihrer Einheit
aus Erleben und Ausdrucksverstehen. Zum anderen ist es möglich, Raum auf eine abstrakte, vermittelte
Art und Weise zu erobern: durch ein Foto, einen Plan, Grundriss oder eine Karte. Diese Methode
besitzt den Vorteil, direkt neben der Form des Buches zu stehen, da sie das genaueste Einzelne zum
Ganzen in Beziehung setzt (Benjamin, in: Opitz 1996, S.497). Beide Methoden sind dem Flaneur
bekannt, aber beim Flanieren vertraut er eher der zweiten, selbst in der Praktizierung der er sten.
Benjamin schrieb, wenn der Flaneur im Buch der Stadt lese, höre er vornehmlich. Wie von Ehrenfe ls
bemerkt, ist das Hören einer Melodie der räumlichen Wahrnehmung verwandt. Vielleicht können wir
uns dieses Hören heute etwa so vorstellen, wie es der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom
beschreibt (wenngleich ein wenig zu wörtlich genommen, wie ich finde):
„Denn woraus besteht eine Stadt? Aus allem, was in ihr gesagt, geträumt, zerstört, geschehen ist. Aus dem
Gebauten, dem Verschwundenen, dem Geträumten, das nie verwirklicht wurde. Aus dem Lebenden und dem
Toten. [...] Eine Stadt, das sind alle Worte, die dort je gesprochen wurden, ein unaufhörliches, nie endendes
Murmeln, Flüstern, Singen und Schreien, das durch die Jahrhunderte hier ertönte und wieder verwehte. [...]
Wer will, kann es hören. Es lebt fort in Archiven, Gedichten, in Straßennamen u nd Sprichwörtern, in
Wortschatz und Tonfall der Sprache [...] Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser. Er kann auf
jeder beliebigen Seite beginnen, vor- und zurückgehen in Raum und Zeit. Das Buch hat vielleicht einen
Beginn, aber noch lange kein Ende.“
(Nooteboom 2000, S.11f.)
Das Lesen ist gebunden an das In-die-Nähe-Holen der Dinge und Zusammenhänge aus einer zeitlichen
und räumlichen Ferne (Benjamin, in: Opitz 1996, S.297) – oft in anthropomorphisierten Formen. Die
ästhetische Methode der Einfühlungstheorie in der Ausdrucksanalyse (Benjamin mit Dilthey) schaut das
Selbst der Dinge. Sie korreliert mit der Intuition Bergsonscher Prägung, um welche Georg Simmel
schließlich Diltheys Ansatz erweiterte. Stadt zu lesen wird von einer entsprechenden Intention begleitet.
Damit der Ansatz des flaneurhaften Lesens gelinge, muss man sich in einen bestimmten, für das Lesen
geeigneten Zustand versetzen. Man muss eine entsprechende Absicht vorhaben, aber gleichzeitig dieses
Vorhaben mit Hilfe des Zufalls ignorieren. Das gelingt, wenn man sich in eine Stimmung fallen lässt.
Gestimmt ist das Umherwandern des Flaneurs, das in der Stadt ein Schlendern ist.
Das einsame Schlendern, Wandern, Flanieren und Träumen zeigt Wirkung, denn um das ganze,
schrille Panorama des Urbanen zu sehen und zu fühlen, darf man nicht hellwach sein. Man muss
schlummern. Schlummernd entgeht dem Flaneur nichts. Sein Lesen ist ein Sondern mit Maß, je nach
Herzschlag, den eine Wahrnehmung bei ihm auslöst. Alles Wesentliche fügt sich von
Nebensächlichkeiten umkränzt schlafwandlerisch in ein großes Gemälde, in dem der Flaneur selbst eine
nur untergeordnete Rolle spielt, aber das er auf eine mit seiner Weltsicht grundierte Leinwand malt. Er
produziert einen Garten, in dem die Welt zusammengetragen und verkleinert wird (de Certeau 1988,
S.306).
Beim Müßiggang dehnt der Flaneur den Sinnesraum auf die Dimensionen des Handlungsraums aus.
Unbewusst versucht er, den Handlungsraum dem Sinnesraum einzuverleiben, denn potentiell will er den
ganzen Raum lesen, alle Phänomene, die ganze Stadt – deren Rückseite. Er ist ein Ganzheitsfanatiker.
Dem Flaneur verwandelte sich die ganze Stadt in einen Sinnesraum, denn er denkt: nur gelesen
durchdrungener Raum erhält möglicherweise als Sinnesraum Dauerhaftigkeit. Und an Dauerhaftigkeit
ist ihm ja gelegen. Wenn er unmittelbar den physischen Raum durchschlendert, liest der Flaneur die
Erscheinungen und Phänomene aus seinem subjektiven Sinnesraum heraus. Er verlässt sich also
überwiegend auf seine Sinne - von denen er sicher sein kann, dass sie ihn nicht täuschen, um den
Fängen der gewohnten kausalanalytischen Erklärungsmuster zu entgehen. Dabei verknüpft er die
Sensation des Neuen mit der Wiederkehr des Immergleichen.
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D e r W a n d e r e r . Der Flaneur ist mit dem Wanderer verwandt. Was dem Flaneur die Stadt ist, ist
dem Wanderer die Natur. Man könnte sagen, der Wanderer ist des Flaneurs ländlicher Bruder. Be sser:
der Wanderer ist eine ländlich angenommene Maske des Stadtmenschen. Flaneur und Wanderer
verbindet viel miteinander. Beide bleiben stehen, wo es ihnen gefällt. Dazu bedarf es manchmal nicht
einmal eines äußeren Anlasses, sondern es genügt, in Gedanken versunken zu sein, denn auch „der
Wanderer ist immer zur Träumerei geneigt“ (Bollnow 2000, S.112). „Zeit und Welt versi nken [ihm,
d.A.] in einem Glück der reinen Gegenwart.“ (Bollnow 2000, S.116) Beide Tätigkeiten - das Flanieren
wie das Wandern – sind im eigentlichen Sinne keine Taten, denn sie sind zweckfrei und deshalb
unvernünftig. Ihr einziger Zweck – jeder auf seine Weise - liegt im Erreichen einer befriedeten
Seelenverfassung. Obwohl ihre Bewegungstempi verschieden sind - der Flaneur führt Schildkröten aus
(Benjamin 1983, S.1054), der Wanderer schreitet zuweilen kräftig aus - ignoriert das jeweilige fußläufige
Tempo die eigentliche Absicht der Straße, die Bewegung tendenziell in Beschleunigung zu verwandeln.
Die Fußläufigkeit fördert eine taktile Aneignung der Umgebung. Die bewusste Opposition der beiden
Protagonisten gegen die Beschleunigung ist ihre Praxis der Entwirklichung.
„Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach dem
Eigenen zu suchen.“
(de Certeau 1988, S.197)
D a s f u ß l ä u f i g e T e m p o . Würden sie sich eines Transportmittels bedienen, hätte das den Effekt,
die Straße als intentionales Medium beiseite zu räumen. Aber sie können gerade auf die Straße nicht
verzichten. Straße oder Pfad sind ihnen Heimat. Ihr Missbrauch („Wozu ist die Straße da? Zum
Marschieren...“, oder zumindest um die Distanz zwischen A nach B zu überwinden) eint Wanderer und
Flaneur in ihrer Weltfremdheit. Wenn er schaut, schaut der Wanderer kaum auf den Wegesrand,
sondern so weit das Auge reicht. Alles, was ihm außerhalb seines schmalen Pfades liegt, liegt wirklich
außerhalb seiner Betrachtung und wird ihm zum Panorama in der Seele. Er genießt den Ausblick, in ihm
versinkend. Er ist ein Romantiker, denn das Panorama genießt er sinnlich. Bei einer höheren, technisch
erzeugten Geschwindigkeit hingegen würde die Umweltbeziehung (das Sehen und das Lesen) weit mehr
über den Intellekt als über die Sinne gesteuert ablaufen. Demzufolge würde sich das landschaftliche
Panorama auf vorbeiziehende Bilder reduzieren. Aus dem urbanen Schwelgen des Flaneurs würde das
Überfliegen eines monotonen Textes.
Trotzdem sie Gemeinsames verbindet, ist der Flaneur durch und durch ein Kunstprodukt – ein (ein)gebildeter Snob und Dandy. Er ist dekadent und elitär. Sein Geschmack ist der feinsinnige Geschmack
höherer Bürgerschichten. Von Notwendigkeiten des Lebens distanziert und ökonomisch unabhängig ist
er frei. Hatte man auch die bürgerliche Abstammung familiär in die Wiege gelegt bekommen, ein
Flaneur musste man absichtsvoll werden. Wanderer dagegen konnte man einfach sein. Der Wanderer ist
ein Volksvertreter. Er greift auf einfache, alltägliche Techniken der Wahrnehmung zurück. Der Flaneur
dagegen verfügt über einen „breiten Fächer auf hohen Schulen erworbener Rezeptionscodes“ (Dörner,
Vogt 1990, S.142). Das mag auch erklären, warum die Figur des Flaneurs im 19.Jahrhundert ein e
episodenhafte Erscheinung Weniger geblieben ist. Seine Dekadenz hat ihn vor der Vermassung durch
die Arbeitsgesellschaft des 20.Jahrhunderts bewahrt. Außerdem vertritt er nicht das disziplinierte
Industriebürgertum, sondern die großbürgerliche Elite, die in der Massengesellschaft (zum Glück) keine
Chance hat, ihre aristokratischen Schrullen zur Kulturdominanz auszubauen.
Das Wandern hingegen hat sich um 1900 zu einer wahren Volksbewegung ausgebreitet. Um 1900
entstand zum Beispiel in Berlin der «Wandervogel» – eine Jugendorganisation zur Selbsterziehung und
Selbstgestaltung, die von Berlin auf das ganze Reich ausstrahlte, in dem sich überall, bis nach Ö sterreich
hin, Wandervereine gründeten. Mit der Zeit ist das Wandern dann vom Ausziehen eines Taugenichts in
die Welt (vgl. Eichendorff 1915) zu einer aktiven Freizeitgestaltung des Städters und schließlich zu
einem Sport geworden. Der Wanderer flieht der Stadt. Er will sich aus ihrer Enge befreien. Auch der
Flaneur tut das, aber umgekehrt: indem er völlig in sie eingeht und sich in ihr auflöst. Das „Glück des
Aufbruchs“ und die „Befriedigung der Rückkehr“ (Bollnow 2000, S.117) in einem zwischenzeitlich
durch das Wandern erneuerten Zustand sind dem Flaneur fremd. Aus der Ferne (dem Abstand) dagegen
kommt dem Wanderer die Hoffnung auf Selbsterneuerung (Bollnow 2000, S.94f.). Weder der Wanderer
noch der Flaneur hat Eile. Beide ziehen ziellose Pfade, obwohl der Wanderer – anders als der Flaneur –
irgendwo ankommen will, und zwar letztendlich bei sich selbst. Das Wandern dreht sich um einen Kern,
der im Menschen selber liegt. (Bollnow 2000, S.118) Der Wanderer befindet sich immer auf der Suche.
Dem Flaneur dagegen ist nichts so gewiss wie er sich seiner selbst. Er bleibt sich immer selbst gleich
und treu. Wenn er sich durchs Urbane bewegt, führt er innere Monologe (Wenz 1997, S.104). Nach
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seinen Exkursionen kommt er als ganz der Alte zurück – ja, vielleicht älter, zumindest aber irgendwie
reicher und gewisser. So kann er sich zufrieden in seine gepolsterte Schlafstatt legen.
D e r F u ß g ä n g e r . Von den gegenwärtigen, künstlerischen Metaphern der Stadt-als-Text können wir
lernen. In seiner Untersuchung über den modernen Leseakt arbeitet Roland Barthes das Ep isodenhafte
am Konsum eines Textzusammenhangs heraus. Barthes zufolge basiere das Lesen sprunghaft auf dem
Lustprinzip, das den Leser uninteressante Textstellen überfliegen und immer auf Höhepunkte zueilen
lasse. Er gibt sich einer Lust am Spiel hin - contra die melancholische Schwere tiefer Bedeutungen. Der
Rhythmus, der entsteht zwischen dem, was man liest und dem, was man überspringt, begründet Barthes
zufolge die «Lust am Text» (vgl. Bartes 1974). Text-Lesen habe etwas Erotisches - es sei eine Wollust,
die aus dem Text selbst hervorquillt und weder etwas mit dem Inhalt, noch mit dessen Struktur zu tun
hat, sondern in erster Linie mit dem Verlangen nach Genuss und Vergnügen (Barthes 1978, S.18).
Dieses Lesen ist die Art des Fußgängers.
Das Zu-Fuß-Gehen ist verbunden mit einer sequenziellen Raumwahrnehmung. Ist das Flanieren eine
Art Schreiben sieht de Certeau das Gehen in der Stadt der sprachlichen Form eng verwandt (de Certeau
1988, S.197). Und in der Tat: während das Flanieren mit dem Lesen harmoniert, ist das Zu-Fuß-Gehen
eher ein Sprechen. Es ist dem Visuellen und dem Textkonsum verwandt, wie ihn Roland Barthes
darstellt.
„Ich genieße an einer Erzählung also nicht direkt ihren Inhalt, nicht einmal ihre Struktur, sondern vielmehr
die Kratzer, die ich auf dem schönen Umschlag hinterlasse: ich überfliege, ich überspring e, ich sehe von der
Lektüre auf, ich versenke mich wieder in sie. Das hat nichts zu tun mit dem tiefen Riß, den der Text der
Wollust in der Sprache selbst hervorruft und nicht in der bloßen Zeitlichkeit der Le ktüre.“
(Barthes 1974, S.19)
Trotz gleichbleibender Bewegungsgeschwindigkeit eröffnet sich dem Fußgänger das Bild der Stadt „in
Serien von Sprüngen und plötzlichen Ausblicken“ (Cullen 1991, S.9), während der Flaneur harmonisiert.
Die Wahrnehmung des Fußgängers resultiert als Abfolge von Ausblicken. Er belässt die Rezeption in
ihrer nicht nivellierten Inhomogenität, die nicht in der Struktur der Sprache begründet ist, sondern
zweifach entsteht: im Moment und durch den Konsum (Barthes 1978, S.18). In den zwei Komponenten
des seriellen Sehens - dem beständigen Bilde (dem Hintergrund) und dem auftauchenden Ausblick (das
Ereignis) - verbirgt sich das, was wir in der Beziehung von Szene und Schauspieler im Theater
wiederfinden. Das Verhältnis von Figur und Grund ist ein dramatisches. Dieses archetypische
Wahrnehmungsverhältnis verwandelt Bilder in Emotionen (Cullen 1991, S.9). Worin es sie nicht
verwandelt, ist das ruhige, gefühlte Wissen des Flaneurs. Die Emotionen verbinden sich mit dem
räumlichen Empfinden des Menschen. Der Körper setzt sich ständig in Beziehung zur Umwelt.
Grundsätzlich empfindet man sich beispielsweise entweder «innen» (hier, dies), «außen» (dort, das) oder
als «ein Teil von etwas». Empfindungen wie Enge und Weite, Helligkeit und Dunkel sind objektive
miteinander verwobene Konstanten, welche die Stimmungsdramatik unterstützen, von der aus Raum zu
manipulieren beginnt (Cullen 1991, S.9).
Die serielle, sprunghafte, von Brüchen gekennzeichnete und auf Ereignisse erpichte Wahrnehmung
des Fußgängers ist im Vergleich mit dem Gemäldeverfertigen des Flaneurs und der Panoramaschau des
Wanderers ganz verschiedenen. Der persönliche Charakter des Fußgängers ist unsicherer und
empfänglicher für das Spektakuläre. Auf seinem Weg ist er gereizter und wacher als ein Flaneur. Er
scheint das Spektakuläre geradezu einzufordern. Konstituiert sich der Flaneur als Konsument von
Ereignissen, ist der Fußgänger gewissermaßen deren Produkt (oder Opfer). Kriecht der eine unter die
mehr oder minder graue Oberfläche der Phänomene (denn nur auf der Rückseite sind sie bunt), lenkt
der andere seinen Weg nach den interessanten Oberfläche des Geschehnissen.
In adäquaten Bahnen bewegt sich das Verstehen. Was man die Ewigkeit des Buches oder der Literatur
des Flaneurs nennen könnte, ist beim Fußgänger inhomogener, sprunghafter, fragmentarischer Text.
Die Fragmente wollen und können sich nicht mehr so einfach zum Bild eines Ganzen (zu einer Gestalt,
wie ehedem der Geist eines literarischen Werkes) fügen. Dem Fußgänger scheint die Stadt Sprechblasen
vorzusetzen wie semiotische Handlungsanweisungen. Sachverhalte wahrzunehmen heißt für ihn, das
Spiel oder den Dialog der Dinge zu verstehen, denn dann „fängt der ganze Bau an, dir die Hand zu
schütteln“ (Cullen 1991, S.14). Die Sicht auf den Raum bleibt stark ästhetisch auf seine emotiona le
Wirkung ausgerichtet. Das Comic- oder Computerbild ist eine treffendere Metapher für die
Wahrnehmung des Fußgängers als die antiquiert scheinende, weise Form des Lesens.
Während seinerzeit der Flaneur ein wandelnder Müßiggänger war, befindet sich der Fußgänger in
steter Eile. Ihm ist die Zeitersparnis wichtiger als der Raum, den er zu überwinden sucht. Beim
schnellen Gehen hat der Fußgänger einen erhöhten Wirklichkeitseindruck (ohnehin Techniken der
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Entwirklichung ledig), denn er erlebt die Welt als Widerstand – einen räumlich-zeitlichen Widerstand,
der ihm zu überwinden aufgetragen ist, um endlich anzukommen. Deshalb nimmt er normalerweise
ohnehin das Auto. Der Strukturalismus der 1960er Jahre schon hatte klargemacht: in sofern die
Menschen nicht mehr der Welt gegenüberstehen, sondern als Teil in derselben aufgehen (Bollnow 2000,
S.304), wird ihr Verhältnis zum Raum durch die Intention der Überwindung bestimmt. Die räumliche
Indeterminiertheit der meisten heutigen Stadträume verbindet sich paradigmatisch mit dem eigentlich
ohnehin Überflüssigsein des Menschen im Raum. Sie befördert maßgeblich das Gefühl von
Entwurzeltsein und Heimatlosigkeit (Bollnow 2000, S.275).
Der Fußgänger schwebt in einem Nicht-Ort. In der haptischen Distanzierung vom Ort entdeckt er ein
künstlerisches Mittel möglicher Entwirklichung. Seinerzeit kostete der Flaneur ein anderes Mittel der
Entwirklichung aus: das der Entzeitlichung. Beide halten sich auf ihre Weise aus den
undurchschaubaren Verflechtungen des täglichen Tuns heraus – der Flaneur mehr, der Fußgänger
weniger - und werden diesem in einem gewissen Maß fremd. Im Sonntagsspaziergang hat das zu-FußGehen einen schwachen Abglanz des Flanierens aufgehoben und dem Lesen von Stadt im
21.Jahrhundert eine Chance eingeräumt.
Resümee
H a l t e n w i r z u m A b s c h l u s s f e s t : Die Lebensphilosophie am Ausgang des 19.Jahrhunderts hat
wichtige Schritte unternommen, die idealistische Trennung von Materie und Geist unter die allgemeine
Bewegung des Lebens zu subsummieren – eine Tendenz, die über die Praxis der Moderne in der
zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts allgemein (und nicht zuletzt im Umgang mit der Stadt)
vernachlässigt worden ist. Ich denke, dieser Mangel hat in der nachindustriellen Gesellschaft Aussicht,
sich in eine Herausforderung umzuformulieren. Die Hermeneutik besitzt in einem positiven
Verständnis die Merkmale einer geeigneten, nachmodernen Wissensphilosophie.
Das Lesen verspricht die Aussicht auf die Möglichkeit der Wiederbelebung einer schonenden
Kulturtheorie, die uns unseren ontologischen Lebens- und Erlebensraum Stadt ganzheitlich und trotz
seiner faktisch zunehmenden Fragmentierung geschlossener begreifen lässt. Durchaus können theoretisch
alle Einzelteile, die Stadt ausmachen, vereinigt und durchdrungen miteinander in Beziehung gedacht
werden. Berechtigte Skepsis darf uns hinsichtlich der Frage begleiten, ob es genügt, die gegenwärtige
Realität als Ausgangspunkt lediglich ganzheitlich zu lesen und zu denken, um sie daraufhin möglicherweise
auch ganzheitlich gestalten zu können. Aber wenn hier die Metapher der «Lesbarkeit der Stadt»
überhaupt behauptet wurde, bedeutet den Versuch einer Kohärenz, das Disparate und
Auseinanderliegende als Einheit zu begreifen.
Um zu begreifen, spielen Sinnverstehen und Wesenserkenntnis auch des nur mühsam Verständlichen
eine wichtige Rolle. Sinnverstehen und Wesenserkenntnis sind an der Wirklichkeitserfahrung geschulte
Werdeprozesse (Frings, in: Scheler 1977, S.XVI). Die Authentizität der Deutung von städtischen
Erscheinungen muss sich dabei in der Wirklichkeitserfahrung selbst halten. Dafür trägt der Interpret die
Verantwortung. Sicherlich bannt ein Lesen, obwohl es ein Schonen nach Heideggers Art ist, etwas „in
seinem Wesen [zu, d.A.] hüten“ (Heidegger 1954, S.151), nicht die Gefahr der Idolisierung und
Remystifizierung - das heißt, einer Anpassung der kommunizierten Interpretation an ein Funktionieren
innerhalb des bestehenden Kulturapparates. Die willentliche Orientierung am antiken, metaphysischen
Ganzheitsideal, auf welches das nachindustrielle Lesen abzielt, stößt zudem an gesellschaftliche
Grenzen. Aber innerhalb der Grenzen und Gefahren der Theorie liegt gleichzeitig der Schlüssel, die
Verzerrung einer Anschmiegung der Stadtinterpretation an allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen zu
vermeiden. Aus einer aus dem kulturellen Hintergrund gewonnenen, an der Stadt selbstüberprüften
Haltung heraus besteht die Chance, gestalterisch und planerisch ganzheitlich und verantwortlich zu
operieren.
In diesem Rahmen besitzt die Anwendung pragmatischer Methoden der Erkenntnis ihre
Berechtigung. Da sie dazu tendieren, die Erkenntnis von etwas von diesem Etwas abzulösen, kommt
der Pragmatik Operationalität zu. Sie muss aber in die Hermeneutik eingebettet sein – so, als wäre die
Hermeneutik das Gewissen der Pragmatik. Beide Philosophien verbinden sich so zu einem angewandten
Praxismodell: das Lesen - die Hermeneutik - als kultureller Hintergrund eines sozialverantwortlichen
Verstehens der Stadt und das Schreiben – als ein pragmatisches, dank der Hermeneutik
ganzheitsbewusstes, planerisches Handeln.
Zusammen mit der gegenwärtig diskutierten, dynamischen Metapher der «Stadt als Text» oder der
«Stadt als Erzählung» bieten sich dem Planer als gewollte Leser Ansätze zur Überwindung
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funktionalistischer Methodologisierungen und auch zur konzeptionellen Lösung der Legitimationskrise
der Hermeneutik (Bogdal 1990, S.23). Wenn existierende städtische Texturen nach der Manier des
Flaneurs lesend verstanden und neue (wie alte) schreibend konzipiert würden, eröffnete sich die Chance für
eine freie Erzählung.
„Dabei spielt die Erzählung eine entscheidende Rolle. Gewiß, sie beschreibt nur, aber jede Beschreibung ist
mehr als eine Festschreibung, sie ist ein kulturell schöpferischer Akt. [... Sie hat, d.A.] eine performative
Kraft [...]. Somit schafft sie Räume. Umgekehrt gilt, dort, wo die Erzählungen verschwinden, (oder zu
musealen Gegenständen verkommen), gibt es einen Raumverlust: wird eine Gruppe oder ein Individuum seiner
Erzählung beraubt, [...] kommt es zu einem Rückfall in die beunruhigende und schicksalhafte Erfahrung
einer unförmigen, ungeschiedenen und finsteren Totalität.“
(de Certeau 1988, S.228)
Konsultierte Literatur
Alexander, Christopher; Sara Ishikawa, Murray Silverstein: «Eine Mustersprache. Städte Gebäude Konstruktion»,
(Orig.: 1977), Löcker Verlag, Wien, 1995
Assunto, Rosario: «Die Theorie des Schönen im Mittelalter», Reihe: Klassiker der Kunstgeschichte, DuMont,
Köln, 1997
Augé, Marc: «Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit», (Orig.: 1992),
S.Fischer Verlag, Frankfurt/ M., 1994
Bartes, Roland: «Die Lust am Text», (Orig. 1973), Bibliothek Suhrkamp 378, Suhrkamp Verlag Frankfurt/ M.,
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«Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften», Bd.I/1: «Abhandlungen» sowie Bd.I/3, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/
M., 1990
Benjamin, Walter: «Das Passagen-Werk»«, edition suhrkamp 1200, Neue Folge Band 200, Suhrkamp Verlag,
Frankfurt/ M., 1983
Benjamin, Walter: «Denkbilder», suhrkamp taschenbuch 2315, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ M., 1974
Benjamin, Walter: «Städtebilder. Fotografiert von Anna Blau», Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ M., 1992
Berndt, Heide: «Die Natur der Stadt», Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1978
Benevolo, Leonardo: «Die Geschichte der Stadt», (Orig.: 1975), Campus Verlag, Frankfurt/ Ne w York, 2000
Benevolo, Leonardo: «Die Stadt in der europäischen Geschichte», (Orig.1993), Reihe: Europa Bauen, Verlag
C.H.Beck, München, 1993
Bloomer, Kent C.; Charles W. Moore: «Architektur für den „Einprägsamen Ort“. Überlegungen zu Körper,
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Blumenberg, Hans: «Die Lesbarkeit der Welt», suhrkamp taschenbuch wissenschaft 592, (1.Aufl: 1986), 4.Aufl.,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1999
Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): «Neue Literaturtheorien. Eine Einführung», Westdeutscher Verlag, Opladen, 1990
Bogdanović, Bogdan: «Die Stadt und der Tod. Essays», Wieser Verlag, Klagenfurt- Salzburg, 1993
Bollerey, Franziska: «The gentle Way of Reading and the Montage of the Masses», in: Arie Graafland (editor):
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Bollnow, Otto Friedrich: «Mensch und Raum», (1.Aufl.: 1963), 9.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln, 2000
Bollnow, Otto Friedrich: «Zur Frage nach der Objektivität der Geisteswissenschaften» (1937), Aufsatz abgedruckt
in: Lessing, Hans-Ulrich (Hrsg.): «Philosophische Hermeneutik. Texte», Alber-Texte Philosophie, Bd.7, 1.Aufl.,
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