Theorien beruflicher Sozialisation

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C 2.6.4 Material 7, Text:
Theorien beruflicher Sozialisation
Kernstück dieses Kapitels ist die Darstellung und kritische Diskussion von
theoretischen Ansätzen aus Psychologie, Soziologie und Sozialpsychologie, die zu
einer Erklärung verschiedener Aspekte des Verhältnisses von Berufsarbeit,
Lebenslauf und Persönlichkeit beitragen können. Die Diskussion folgt einer inneren
Logik in dem Sinne, daß zuerst zwei Ansätze behandelt werden, die eine
psychologische und eine soziologische Position einnehmen, darauf folgen
Konzeptionen, die zunächst stärker die subjektiven Anteile beruflicher Sozialisation
betonen und Schritt für Schritt den Prozeßcharakter der Sozialisation für und durch
Berufsarbeit aus einer biographischen Perspektive aufnehmen.
3.1 Psychologische Handlungstheorie
Eine für die berufliche Sozialisationsforschung relevante Basistheorie ist die an
kognitiven Entwicklungsprozessen und der Selbstkontrolle von Arbeitstätigen
ansetzende psychologische Handlungstheorie. Sie untersucht nach Walter Volpert
(1987) die psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. Dieser auf Forschungen des
Arbeitspsychologen Wilfried Hacker (1986) aufbauende Ansatz befaßt sich vorrangig
mit dem Verhältnis von Denken und Planen auf der einen und Handeln und
Ausführen auf der anderen Seite. Dabei stehen - mit Blick auf die allgemeine
psychologische Theorie - die begriffliche Konstruktion von Handlungsstrukturen,
deren Entwicklungstendenzen und Steuerungsmöglichkeiten sowie die
Gestaltungsprobleme von selbstbestimmten Handlungsweisen in der Arbeit im
Mittelpunkt. Dieses Modell des Arbeitshandelns unterscheidet verschiedene
Verhaltensmodi:
Die Handlung wird gekennzeichnet als „zielgerichtetes Verhalten, wobei das Ziel und
die Bemühung, es zu erreichen, bewußt sind“ (Volpert 1987, S.7). Tätigkeiten sind
umfangreichere, zusammenhängende Handlungsgefüge mit komplexen Zielen, die
nicht immer bewußt sein müssen. Operationen sind Bausteine von Handlungen, z.B.
einzelne Bewegungen oder Routinen. Diese Definitionen implizieren einen rationalen
Arbeitsbegriff, auch wenn sie sich auf das allgemeinere Konzept des Handelns
beziehen. Deutlich wird schon bei diesen Grundbegriffen, daß die in der Soziologie
und für die Sozialisationstheorie zentrale Unterscheidung, nämlich zwischen
instrumentellem und kommunikativem Handeln (vgl. Habermas 1981), in der die
Arbeitstätigkeit aufgeht und Fragen nach subjektiven Handlungsgründen und
Situationsinterpretationen ausgeblendet werden. Der Hauptvertreter dieser
psychologischen Handlungstheorie in der BRD, Walter Volpert (1987), ist sich jedoch
der Bedeutung der Anschlußfähigkeit der Handlungsregulationstheorie an die
sozialisationstheoretische Diskussion bewußt - allerdings eher im Sinne einer
Ergänzung als einer Revision des psychologischen Modells der Handlungsregulation.
In einem schrittweisen Distanzierungsprozeß von der Computeranalogie und den
Modellen der künstlichen Intelligenz, die in den 70er Jahren die Entwick1ung der
Psychologie des Problemlösens und die psychologische Handlungstheorie stark
beeinflußt haben, entstand das Modell einer hierarchisch-sequenziellen
Handlungsorganisation auf den verschiedenen Regulationsebenen. Das theoretische
Fundament ist zunächst durch eine Absetzung vom Behaviorismus, d.h. der auf Reiz,
Reaktion, Konditionierung und Verstärkung aufbauenden Lerntheorie und von
schematischen Kognitionsmodellen gekennzeichnet. Die
Handlungsregulationstheorie betont demgegenüber den historisch-gesellschaftlichen
Charakter der Anforderung, die an das individuelle Handeln gestellt werden. Dazu
kommt, daß die aktive Rolle der Person betont wird, die den Anforderungen
entsprechende innere Handlungsstrukturen entwickelt und prinzipiell auf die
Bedingungen und Inhalte des Arbeitsprozesses zurückwirken, sie also auch
verändern kann.
Somit sind es die Arbeitsaufgaben am Schnittpunkt zwischen Organisation und
Person, die für die psychologische Handlungsanalyse besonders relevant sind. Für
die Arbeitsgestaltung im Sinne der Erweiterung von Handlungsspielräumen sind die
Qualifizierungsprozesse und die Komplexität der Tätigkeit von größter Bedeutung.
Hacker (1980, S.54) macht den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Perspektive
deutlich: „Die sozialökonomisch bedingte Struktur der bewußt projektierten oder
zugelassenen Arbeitsaufgaben beeinflußt wesentlich die psychischen Eigenschaften
der Werktätigen“. Dieser zehn Jahre vor dem politischen und ökonomischen
Niedergang des real existierenden Sozialismus in der DDR formulierte Satz verweist
darauf, daß die gesellschaftlich organisierten Arbeitsverhältnisse die persönlichen
Bildungsprozesse aufs Tiefste beeinflussen. Diese für die berufliche
Sozialisationsforschung zentrale These läßt bei nüchterner Betrachtung der Defizite
in der betrieblichen und technisch-organisatorischen Gestaltung der Arbeitsprozesse
in der ehemaligen DDR nur den Schluß zu, daß die Werktätigen erhebliche
psychische Einschränkungen vor allem im Bereich der Handlungsspielräume zu
bewältigen hatten. Die psychosozialen Folgen der real-sozialistischen
Arbeitsbedingungen können aus sozialisationstheoretischer Sicht nicht von einem
zum anderen Tag aufgeklärt werden. Sie erfordern vielmehr den Aufbau neuer
Handlungsziele und Regulationsansprüche bei den Erwerbstätigen. Dieses wird
jedoch durch die hohe Arbeitslosigkeit nach der Vereinigung mit dem politischen und
ökonomischen System der westdeutschen Marktwirtschaft erschwert (vgl.
Buttler/Klauder 1993).
Doch zurück zum Modell der Handlungsregulationstheorie. Handlungen bestehen in
diesem Konzept aus Obereinheiten und Basiseinheiten, die durch
Rückkopplungsschleifen auf verschiedenen Regulationsebenen verbunden sind,
Qualität und Abfolge von Handlungen festlegen. Der Planungsprozeß wird durch
gedankliches Probehandeln ergänzt und dadurch kann der Verlauf der eigentlichen
Handlung von der Person durchgespielt und Abläufe sowie Resultate von
Handlungen können mehr oder weniger genau antizipiert werden. Wenn
beispielsweise das Risiko hoch ist, daß sich Handlungsfehler bis zum Scheitern des
vorgenommenen Ziels addieren, dann kann dieses Risiko durch eine exakt geplante
Strategie vorweggenommen werden.
Im Modell des umfassenden Arbeitshandelns wird hervorgehoben, daß
Arbeitstätigkeiten nicht nur aus einzelnen Verrichtungen zusammengesetzt sind,
sondern auch Denken und Planen dazu gehören. Dabei werden verschiedene
Ebenen, von der Ausführung einzelner Handlungen, über die Bestimmung von
Teilzielen, bis zur Einrichtung eines neuen Produktionsablaufs unterschieden.
Die Ableitungen der Handlungsregulationstheorie gehen vom Idealkonzept einer
„vollständigen Handlung“ aus. Dazu gehört nach Hacker (1980, S.389), daß
- komplexe Ziele in einen umfassenden Sinnzusammenhang höherer Zielsetzungen
eingeordnet und selbständig gesetzt werden können;
- die Entscheidung für adäquate Mittel der Zielerreichung eigenständig getroffen
werden kann;
- die Handlungsvorbereitung auf umfassenden Kenntnissen beruht und auch zu
neuartigen Lösungen führen kann;
- die Reichweite der Antizipation der Handlungssituation angemessen ist.
Dieses Konzept kann auch als Basiskatalog für die Einrichtung
persönlichkeitsförderlicher Arbeitsprozesse gelesen werden. Entsprechend
argumentiert Volpert (1987, S.19): „Die jeweils vorgegebene Arbeitsaufgabe
bestimmt das Ausmaß, in welchem sich der individuelle Handlungsvollzug dem
Idealbild einer vollständigen Handlung annähern kann oder nicht. Die Arbeitsaufgabe
…eröffnet oder verschließt damit auch Regulationschancen“. Arbeitsgestaltung
bedeutet dann in diesem Modell, daß die kognitiven Regulationsanfordernisse der
Aufgabe erhöht und der Handlungsspielraum der Person erweitert werden muß.
Hiervon läßt sich auch eine Kritik an Arbeitsaufgaben ableiten, die restriktiv und
partialisiert sind, also einen geringen Handlungsspiel und wenig Komplexität
aufweisen, denn solche Arbeitsbedingungen können die Persönlichkeit schädigen.
Die tragenden Begriffe der psychologischen Handlungstheorie für eine kritische
Arbeitsanalyse, wie sie z.B. im Verfahren zur Ermittlung von
Regulationserfordernissen in der Arbeitstätigkeit (,‚VERA“, Volpert u.a. 1983)
eingesetzt werden, sind der Handlungsspielraum, der aus Tätigkeitsspielraum und
Entscheidungs- bzw. Dispositionsspielraum besteht und die intellektuelle Komplexität
der Aufgabenstellung. Diese zwei Dimensionen ergeben im Hinblick auf die
Arbeitsanalyse und Gestaltung von Arbeitsaufgaben quasi Richtwerte, die zwischen
dem Ziel der Autonomie und dem Faktum der Fremdbestimmung liegen.
In diesem Zusammenhang sind auch Ergebnisse der US-amerikanischen Forschung
über Sozialisation durch Arbeit relevant, die über positive Auswirkungen des
Handlungsspielraums auf das Wohlbefinden, die intellektuelle Flexibilität und das
politische Engagement von Beschäftigten berichten (vgl. Kohn und Schooler 1981,
1983). Allerdings ist im Rahmen der beruflichen Sozialisation neben
Handlungsspielraum und Komplexität der Aufgabe noch eine dritte Dimension von
Bedeutung, nämlich die der Kommunikations- und Interaktionschancen. Auf diesem
dreidimensionalen Feld lassen sich dann Berufe mit unterschiedlichen
Mischungsverhältnissen persönlichkeitsförderlicher Aspekte einordnen oder die in
einem Betrieb vorhandenen Arbeitsplätze entsprechend einstufen (vgl. Volmerg
1978).
Im Unterschied zu den subjektorientierten und sozialpsychologischen Ansätzen sind
bei der handlungstheoretischen Arbeitsanalyse die Arbeitspsychologen die Experten,
die eine empirische Einstufung und Bewertung der Arbeitsverhältnisse vornehmen.
Dunkelfelder in der kognitiv ausgerichteten Handlungsregulationstheorie sind daher
das Motivationsproblem und das soziale Handeln. Die Ziele im Arbeitsprozeß
müssen sich weder analytisch noch empirisch mit den Motiven der Arbeitstätigen
decken, die sich aus übergeordneten, außerbetrieblichen bzw. auf den Lebenslauf
bezogenen Wertvorstellungen ergeben können. Volpert stellt als übergreifendes
Motiv der Dynamik individueller Handlungssysteme das „Kontrollstreben“ heraus, das
als gemeinsamer Nenner dem menschlichen Handeln in den verschiedenen
gesellschaftlichen Bereichen zugrundeliegen soll.
Dies ist eine im Vergleich zur Konzeption der Sozialpsychologie der Arbeit, wie sie
z.B. von Marie Jahoda (1983) vertreten und auch in der psychoanalytischen Variante
(Leithäuser und Volmerg 1988) weiterentwickelt wurde, eingeengte Bestimmung, die
den gesellschaftlichen und individuellen Dimensionen von Arbeitsmotiven nicht voll
gerecht werden kann. Dies gilt insbesondere angesichts zunehmender Ansprüche an
sinnvolle Arbeitsgestaltung und einem Spektrum verschiedener Arbeitsmotive, die
beispielsweise junge Arbeitnehmer (vgl. Baethge u.a. 1988) und Frauen mit der
Erwerbstätigkeit verbinden. Was die Einbeziehung des sozialen Handelns angeht, so
ist die Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen, der Kommunikationsprozesse
und normierten Interaktionen bislang in der Handlungsregulationstheorie nicht
angemessen berücksichtigt.
Aufgrund ihrer klar strukturierten Konzepte und Operationalisierungsschritte für die
planvolle Organisation von Arbeitshandeln greifen aktuelle Trainingsprogramme im
Rahmen der beruflichen Qualifizierung auf die psychologische Handlungstheorie
zurück (vgl. Kapitel 5.4).
3.2 Der berufliche Habitus
In Anlehnung an den französischen Bildungs- und Kultursoziologen Pierre Bourdieu
(vgl. z.B. 1974) hat Windolf (1981) das Konzept des „beruflichen Habitus“ in die
berufliche Sozialisationsanalyse eingebracht. Bourdieu versteht unter „Habitus“ ein
System internalisierter Handlungsmuster einer Kultur oder sozialen Klasse. Ein
Habitus resultiert aus der Verknüpfung der Sozialisationsprozesse in Familie, Schule,
Hochschule und Erwerbstätigkeit, die allesamt zur gesellschaftlichen Reproduktion
sozialer Unterschiede beitragen. Der berufliche Habitus ist ein stabiles System
verinnerlichter Handlungsregeln, die nicht nur der Anpassung an die
Arbeitsanforderungen, sondern auch der Selbstinterpretation und der Deutung
gesellschaftlicher Verhältnisse dienen. Es sind insbesondere die sozialen
Anforderungen beim Erlernen und Ausüben eines Berufs, wie z.B. Umgangsformen
und Sprachstil, die Personen mit einem gleichen Habitus, also mit gemeinsamen
Denk- und Beurteilungsmustern sowie Handlungsschemata hervorbringen.
Der berufliche Habitus ist ein idealtypisches Konstrukt, ein Bezugsrahmen für die
Analyse des Vergesellschaftungsaspekts von Sozialisationsprozessen. Er
konkretisiert sich durch die Beteiligung am Arbeitsprozeß, durch den die
Erwerbstätigen in den jeweiligen kulturellen Code der Arbeitsorganisation eingefügt
werden: Nachdem die betrieblichen Selektionshürden überwunden sind, geschieht
dies durch Initiationsprozesse und Statuspassagen. Dabei geht es darum, die
impliziten Spielregeln oder den „geheimen Lehrplan“ der Arbeitsorganisation zu
entschlüsseln. Der Betrieb oder die Behörde rekrutieren Mitglieder, die soziale und
kulturelle Grundqualifikationen mitbringen, und unterziehen sie einer
Einweisungsphase (z.B. als Trainee, Referendar/in, Volontär/in, Assistent/ in), um
das für den jeweiligen beruflichen Habitus konstitutive „Betriebswissen“ zu vermitteln.
Auch wenn der Betrieb keine expliziten Lernprozesse neben Berufsausbildung und
Weiterbildung organisiert, so bildet sich der berufliche Habitus nach mehr oder
weniger langen beruflichen Orientierungsphasen heraus, die vor allem für die
akademischen Berufe und Professionen von Bedeutung sind (vgl. Kap. 6.3.4).
Die Habituskonzeption steht in der Tradition der Erforschung des Zusammenhangs
zwischen Klassenlage und Sozialcharakter, von Arbeiterbewußtsein und
Bildungsbürgertum. Die unterschiedlichen sozialen Denk-, Wahrnehmungs- und
Handlungsmuster geben dem Arbeitshandeln der Individuen einen
berufsspezifischen und damit vergesellschafteten Charakter.
An diese Fragestellung anschließend hat Klaus Ottomeyer (1991) einen
Begriffsrahmen zum Zusammenhang von Identitätsbildung und (kapitalistischen)
gesellschaftlichen Verhältnissen skizziert. Er unterscheidet die
Verhaltensanforderungen in der Zirkulationssphäre (Warentausch), in der
Produktionssphäre (Arbeitstätigkeit) und in der Konsumptionssphäre (private
Reproduktion). Jede dieser gesellschaftlichen Sphären verlangt von den Personen,
in eine andere „Charaktermaske oder Rolle“ zu schlüpfen, d.h. einen anderen
Habitus anzunehmen.
In der Zirkulationssphäre sei die Identität durch den Konkurrenzkampf und damit
durch zwischenmenschliche Gleichgültigkeit bestimmt. Für die Optimierung der
Leistung - Lohn -Relation sei es notwendig, als rationaler Marktteilnehmer zu denken
und zu handeln. Jedoch sei es für eine erfolgreiche Markttransaktion ratsam, sich in
konkreten Interaktionen auf die Interessen des anderen einzustellen, um die
Realisierungschancen der eigenen Erwartungen zu optimieren. Dieser Widerspruch
müsse in der Identität durch Syntheseleistungen aufgefangen werden: „Soll
Sozialisation in Richtung auf ein Individuum gelingen, das sich ökonomisch
selbständig … zu reproduzieren vermag, so müssen im ontogenetischen (d.h.
persönlichen) Sozialisationsprozeß … die Fähigkeiten zur sozialen
Instrumentalisierung, zu mißtrauischer Antizipation, Härte, Konkurrenzverhalten usw.
vermittelt und angeeignet werden (Ottomeyer 1991, S.l74).
Dieses nach der Entfremdungstheorie von Karl Marx modellierte Menschenbild
erinnert eher an den „Menschenfeind“ von Moliére als an die in einer
Marktgesellschaft flexibel agierenden, den gesellschaftlichen Verhältnissen mit einer
Mischung aus Distanz und Vertrauen begegnenden Erwerbstätigen. In der
Produktionssphäre, also im Betrieb, wird Arbeitsleistung gegen Lohn getauscht und
dies unter fremdbestimmten Arbeitsbedingungen. Dies hat gemäß der
Entfremdungstheorie von Marx zur Folge, daß die Erwerbstätigen im Interesse ihrer
Identitätserhaltung gegenüber ihrer Arbeit, ihren Kollegen und ihrem Arbeitsprodukt
sich gleichgültig verhalten müssen. Sie entwickeln ein instrumentelles Verhältnis zu
sich und zu ihrer Arbeitsrolle: „Die Fähigkeit zu einer isolierten und zähen
Selbstinstrumentalisierung unter der Dominanz von reproduktiven und
Lohninteressen ist ein zentrales Erfordernis der Identitätsentwicklung von
Lohnarbeitern.“ (Ottomeyer 1991. S. 175).
Wie aber z.B. Gudrun Knapp (1981) gezeigt hat, wird die instrumentelle Haltung
gegenüber Lohnarbeit im Arbeiterbewußtsein durch die Bedeutung der
Arbeitstätigkeit für die gesellschaftliche Identität und die soziale Anerkennung von
Arbeitsleistung und Berufsrolle relativiert. Belastende und monotone Arbeit mit
geringem Handlungsspielraum produziert wohl Gleichgültigkeit, überdeckt aber nicht
notwendig das Interesse an sinnvoller Arbeit und Kollegialität.
Für die Konsumptionssphäre schließlich sieht Ottomeyer den Aufbau stabiler
Privatbeziehungen vor, die zur psychosozialen Reproduktion des Arbeitnehmers in
der Freizeit beitragen. In diesem Bereich stehe die Suche nach dem privaten Ich im
Zentrum und die möglichst effektive Verdrängung von zwischenmenschlichen
Konflikten. Hier reproduziere sich auch die geschlechtsspezifische Sozialisation:
Hausarbeit und die vom Familienernährer abgeleitete soziale Position werden als
spezifische Identitätsformen im weiblichen Lebenszusammenhang benannt. Auch
hier überzeichnet dieses Habitusmodell die strukturelle Trennung der
gesellschaftlichen Sphären auf der Bewußtseins- und Handlungsebene. Wie z.B. die
Studie von Baethge u.a. (1988) belegt, vertreten junge Erwachsene Lebenskonzepte,
die sich an sinnvollen Arbeitstätigkeiten, der Verbindung von Arbeit und Familie, bzw.
von Arbeit und Freizeit orientieren. Junge Frauen verfolgen einen Kompromiß
zwischen Berufsarbeit und Familie, wie dies in einer Doppelstrategie bei ihrer
Lebenslaufplanung zum Ausdruck kommt (Geissler/Oechsle 1994).
Die Schwächen der Habitustheorie liegen in der Betonung der sozialstrukturellen
Determinanten beruflicher Sozialisationsprozesse. Diese Überbetonung der
Vergesellschaftung geht zu Lasten der individuellen Interessen und der aktiven
Auseinandersetzung mit den Arbeitsverhältnissen.
3.3 Berufsrolle und soziale Identität
Die soziologische Rollentheorie betrachtet Berufstätigkeit aus der Sicht der
gesellschaftlichen Normen und konkreten betrieblichen Handlungserwartungen.
Berufsrollen verweisen über ihren innerbetrieblichen Anwendungsbereich hinaus auf
gesellschaftliche Leistungsstandards und Wertvorstellungen, die sich auch im
unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansehen der verschiedenen Berufe
niederschlagen.
Gegenwärtig besteht trotz konkurrierender Forschungsrichtungen ein
Minimalkonsens darin, die soziale Rolle als „Bündel normativer
Verhaltenserwartungen, die sich an das Verhalten von Positionsinhabern richten“
(Joas 1991, 5.146) zu bezeichnen. Begrifflich ausgearbeitet wurde die Rollentheorie
in der funktionalistischen Soziologie von Talcott Parsons. Nach seinem Konzept
verläuft Sozialisation über die Verinnerlichung von Handlungsnormen und
Rollenerwartungen, die das vergesellschaftete Individuum zum „Rollenakteur“ macht.
Parsons (vgl. 1979) greift bei seinen Überlegungen auf die Kulturanthropologie und
die Psychoanalyse zurück, um die Sozialisation des Kindes und des Jugendlichen im
Einflußbereich von Familie und Schule als schrittweise Verklammerung von
Bedürfnissen und Motiven mit den dominanten Wertvorstellungen und institutionellen
Normen verständlich zu machen. Dabei hat er die psychoanalytische Vorstellung der
Über-Ich-Bildung als internalisierte (verinnerlichte) Gewissensinstanz mit dem Ansatz
der sozialen Positions- und Rollenstrukturen verbunden. In Parsons Konzeption sind
das soziale System und das Persönlichkeitssystem nicht über das Individuum
verknüpft, sondern durch die soziale Rolle oder einen Komplex von Rollen. Diese
Sichtweise von Sozialisation betont eine für die Person und die Institution - die
Erwerbstätigen und den Betrieb - gleichermaßen nützliche Handlungskonvergenz
bei der Aneignung oder Ausführung der Arbeitnehmerrolle. Damit wird vor allem der
Aspekt der Handlungskoordination thematisiert; die ungleichen Rechte und Pflichten,
die individuelle Interpretation von Rollenerwartungen und die Austragung von
Rollenkonflikten treten dabei im Interesse der Systemintegration in den Hintergrund.
An der Theorie Parsons ist erheblich Kritik geübt worden: In der Grundtendenz ist sie
auf Konsens mit den herrschenden Verhältnissen, also auf konformes Handeln
ausgerichtet. Auch die durch Klassen- und Schichtungsstrukturen fixierten Privilegien
und Wohlstandsdifferenzen sind in dem als allgemeine Sozialisationstheorie
konzipierten Ansatz des Rollenakteurs irrelevant. Dennoch spiegelt Parsons
Rollentheorie die gesellschaftliche Tatsache, daß Arbeitsnormen in der
Betriebsorganisation institutionalisiert sind und die Erwerbstätigen sich am
gemeinsamen Bezugspunkt der arbeitsorganisatorischen und beruflichen Normen
orientieren, um zu koordiniertem Arbeitshandeln beizutragen. Damit werden aber
zugleich die hierarchischen Sozialbeziehungen im Unternehmen stabilisiert: „Rollen
haben Orientierungs- und Motivationsfunktion für den einzelnen Handelnden sowie
Integrationsfunktion für das soziale System“ (Joas 1991, S.141).
Überträgt man das Rollenkonzept von Parsons auf die Analyse beruflicher
Sozialisation, so zeigen sich vor allem Unschärfen bei der Analyse von Macht und
Herrschaft, die im Betriebsgeschehen als Rollenkonflikte auftreten können. Welche
Voraussetzungen bringen Erwerbstätige dafür mit, mit widersprüchlichen Rollen fertig
zu werden, z.B. als Industrie- meister und Arbeitsgruppenmitglied, als
Sachbearbeiterin und Mutter? Und wie gehen sie mit Diskrepanzen in einer Rolle um,
die in Arbeitssituationen auftreten können: unter Zeitdruck noch genau zu arbeiten,
als Ingenieur eine Arbeitsgruppe zu koordinieren und gleichzeitig die Interessen der
Betriebsleitung zu vertreten? Die individuelle Verarbeitung von Rollenkonflikten, die
in der Struktur der Lohnarbeit angelegt sind, ist für die berufliche
Sozialisationsforschung ein wichtiges Thema. Hier geht es nämlich auch um die
Förderung und Blockierung der Entwicklung und Anwendung von
Handlungskompetenzen, die für Berufsidentität und Berufsbiographie entscheidende
Voraussetzungen sind.
Die vom soziologischen Funktionalismus für lange Zeit verdrängte
sozialpsychologische Tradition des symbolischen Interaktionismus besitzt für eine
verstehende Analyse beruflicher Sozialisationsprozesse - gerade unter sich
wandelnden Arbeitsverhältnissen - erheblich mehr Relevanz als die konventionellen
Rollenmodelle sozialen Handelns. Diese ursprünglich von George H. Mead (1934;
1968) formulierte Konzeption hebt die kommunikative Basis von menschlichen Lern-,
Entwicklungs- und Interaktionsprozessen in den Vordergrund der
Sozialisationsforschung. Menschen organisieren ihr eigenes und antizipieren das
Handeln anderer Personen durch das ihnen kulturell gemeinsame Medium
signifikanter Symbole, d.h. der sprachlichen und nonverbalen Informationen, als
Grundstock für zwischenmenschliche Verständigung im Alltag und in
Arbeitsprozessen.
Aus diesem Ansatz speist sich die interaktionstheoretische Sozialisationsforschung,
die vom Zentralbegriff der „Rollenübernahme“ oder „Perspektivenübernahme“
ausgeht. Dieses Konzept bezieht sich auf die Antizipation oder Vorwegnahme der
Handlungen der anderen Akteure in spezifischen sozialen Situationen.
Die psychosoziale Entwicklung entfaltet sich als ein Bildungsprozeß von
Selbstvorstellungen, die aus der subjektiven Reflexion der Bewertungen und der
Kontakte mit Bezugspersonen in Familie, Schule, Freundesgruppe oder Betrieb
entstehen. Diese Bezugspersonen repräsentieren gesellschaftliche
Funktionszusammenhänge, wie sie in Familien, sozialen Milieus, Schulen,
Universitäten. Ausbildungswerkstätten, Betrieben oder Verwaltungen sozial
organisiert sind. So wird das Individuum im Sozialisationsprozeß allmählich mit den
verschiedenen Institutionen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verwoben und
eignet sich Schritt für Schritt die jeweils gültigen Spielregeln und
Mitgliedschaftsentwürfe für die Selbstpräsentation und die Kooperation an. Aus den
in seiner Biographie relevanten Interaktionen mit sozialen Referenzpersonen und
Bezugsgruppen leitet das Individuum die Facetten seines Selbstbildes her, die es
jedoch von Handlungssituation zu Handlungssituation und von Lebensabschnitt zu
Lebensabschnitt mit seinen Bedürfnissen, Erfahrungen und sozialen Verpflichtungen
in Einklang bringen muß.
Wie ist nun eine Brücke zwischen dem normativen Positions- Rollenmodell von
Parsons und dem interpretativen Situations-Rollenmodell von Mead zu schlagen?
Einen nützlichen Vorschlag macht Hans Joas (1991, S.141), der nach einer
Darstellung und kritischen Analyse der Entwicklung der Rollentheorie die soziale
Rolle definiert als „die normative Erwartung eines situationsspezifisch sinnvollen
Verhaltens“. Dieser Brückenschlag bedeutet für die Theorie beruflicher Sozialisation,
daß der subjektive Sinn von Arbeitshandlungen sowohl aus den unmittelbaren
Aufgaben und Interaktionsbeziehungen und deren Bewertung durch die
Erwerbstätigen, als auch aus den Handlungsanforderungen im Herrschaftssystem
des Betriebs rekonstruiert werden muß.
Dieses Vorhaben in die Empirie umzusetzen, ist ebenso kompliziert wie der
vorstehende Satz klingt. Es erfordert, Sozial- bzw. Organisationsstruktur, betriebliche
Handlungsmuster und individuelle Lebensgeschichte, akzentuiert auf die
Ausbildungs- und Berufsbildungsbiographie, aufeinander zu beziehen. In den
folgenden Kapiteln werden wir den Stand der Forschung hierzu kennenlernen und
dabei den Stellenwert der theoretischen Kontroversen besser beurteilen können.
Die Rollen- und soziale Identitätstheorie wurde vor allem für die Analyse der
Sozialisation von Erwachsenen z.B. bei der Eingliederung in Arbeitsorganisationen
und der Übernahme berufsspezifischer Handlungsstile herangezogen.
So hat Brim (in Brim/Wheeler 1974) in Rückgriff auf die gerade skizzierten
rollentheoretischen und identitätstheoretischen Annahmen die
Persönlichkeitsentwicklung als eine erfolgreiche Abfolge von Prozessen des
Rollenlernens thematisiert, die durch Veränderungen im Sozialgefüge und im
Lebenszyklus notwendig werden. Der Zweck von Sozialisation liegt nach diesem
Ansatz in der Förderung von Motivation, Fähigkeiten und Kenntnissen, die für die
Ausübung von Berufsrollen nützlich sein können. Dies bedeutet, daß die
Erwachsenensozialisation sich von Kindheit und Jugend weniger in Form als durch
Inhalte unterscheidet. Für sie ist die Erweiterung von Verhaltensstrategien
charakteristisch, die auf basalen Wertorientierungen aufbauen; die Synthese von
Kenntnissen wird auf spezifische betriebliche und private Rollenerwartungen
ausgerichtet. In diesem Erklärungsansatz ist das Resultat der beruflichen
Sozialisation ein „psychischer Kontrakt“, ein modus vivendi zwischen Individuum und
Arbeitsorganisation.
Eine Differenzierung der eher sozialtechnischen Anpassungskonzepte der
konventionellen Rollentheorie wird in den Analysen zur „Organisationssozialisation“
(van Maanen 1976; Schein 1988) vorgenommen, die aus Interaktionen zwischen
persönlichen Erwartungen und institutionellen Vorgaben und Anforderungen besteht.
Bewerber versuchen, die Kriterien und Kultur des Unternehmens zu antizipieren und
präsentieren sich mit einem entsprechend zugeschnittenen Lebenslauf. Dies
entspricht den Strategien der Personalauswahl, bei der kommunikative Kompetenz
und Innovationsbereitschaft sowie die bisherige Ausbildungs- und Berufsbiographie
gegenüber rein fachlichen Kenntnissen eine immer wichtigere Rolle spielen (vgl.
Windolf/Holin 1984).
Berufliche Sozialisation bedeutet im symbolischen Interaktionismus eine Balance
zwischen den eigenen Interessen und den beruflichen bzw. betrieblichen
Erwartungen herzustellen, nämlich in Gestalt einer unverwechselbaren „Ich-Identität“.
Diese ermöglicht trotz Korrekturen und Wendepunkten im Berufsverlauf
biographische Kontinuität und eine realistische Selbstbewertung. Neben der
Betonung des aktiven Parts, den das Individuum bei der Interpretation und
Aktualisierung von Rollen spielen muß, haben sich aus der Sozialpsychologie von
Erving Goffman (z.B. 1973, vgl. auch Hettlage/Lenz 1991) grundlegende
Differenzierungen ergeben. Goffman betont die Fähigkeit der Person zur
„Rollendistanz“, zur Darstellung einer Diskrepanz zwischen dem Selbstkonzept und
der zu spielenden Rolle (sozusagen „Dienst unter Vorbehalt“). Rollendistanz ist
notwendig, um nicht der Mechanik der internalisierten Handlungsnormen bewußtlos
zu folgen, sondern die Ich-Identität ins Spiel zu bringen. Für vielfältige alltägliche
Interaktionssituationen gilt daher, daß die Beteiligten ihre sozialen Beziehungen nicht
nach den Rollenschablonen aufbauen, sondern durch „Rollengestaltung“ den
vorhandenen Interpretations- und Handlungsspielraum zur Realisierung von
Interessen und wechselseitigen Ansprüchen ausnutzen. Diese Gestaltung von Rollen
ist für kooperative Arbeitstätigkeiten von Bedeutung, die Koordination und
Absprachen über die nächsten Handlungsschritte erforderlich machen. Dies tritt in
restriktiven Arbeitssituationen und hochritualisierten Bürokratien selten auf, ist aber
bei Innovationen im Betrieb, etwa bei der Einrichtung von Arbeitsgruppen,
Qualitätszirkeln und computergestützten Fertigungsprozessen, vor allem aber bei
Übergängen und Brüchen in der Berufsbiogrphie von großer Bedeutung.
Während das normative Positions-Rollenmodell die Internalisierung von Werten und
Normen als Kern der Sozialisation betrachtet, wird in der Tradition des symbolischen
Interaktionismus die Identitätsbildung als Resultat der Auseinandersetzung mit
Handlungsanforderungen und als flexible Synthese von Rollenerwartungen in den
Mittelpunkt gerückt. Diese Konzeption trägt zu einer Analyse der beruflichen
Sozialisation als Teil einer lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung deswegen
zentrale Einsichten bei, weil die berufliche Identität in ihren psychosozialen
Prozessdimensionen beleuchtet wird, ohne dabei die Sozialstruktur und die
Akteursperspektive auszublenden.
3.4 Subjektorientierte Berufstheorien
Hier sind eine entwicklungspsychologische und eine berufssoziologische Richtung zu
unterscheiden. Berufsbezogene Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung im Kontext
gesellschaftlicher Arbeitsteilung und kognitiver sowie sozialer
Tätigkeitsanforderungen thematisiert die interaktionstheoretische Konzeption von
Hoff und Lempert (vgl. Hoff 1985). Diese Position entstand aus der Kritik affirmativer
rollentheoretischer Untersuchungen zur beruflichen Sozialisation, die individuelle
Handlungskompetenzen und gesellschaftlich -herrschaftliche Bedingungen von
Berufsarbeit aus ihrem Hypothesensystem fernhalten.
Arbeitsrelevante Persönlichkeitsmerkmale werden bei Hoff als Bindeglieder zwischen
Berufstätigkeit und Lernen betrachtet, nämlich Qualifikationen (technische
Fertigkeiten und Fähigkeiten) und Orientierungen (soziale Normen und
Wertvorstellungen). Diese Grunddimensionen beruflicher Sozialisation können
sowohl auf Merkmale der Arbeitssituation als auch auf die Strukturierung der
Persönlichkeit bezogen werden. Berufliches Lernen wird als Interaktionsprozess
zwischen Arbeits- und Persönlichkeitsstrukturen konzeptualisiert, der zur Entwicklung
und Veränderung von Handlungskompetenzen der Individuen beiträgt. Dieser
kategoriale Bezugsrahmen zur Analyse beruflicher Sozialisation in emanzipatorischer
Absicht trägt deutlich entwicklungspsychologisch - kognitivistische Züge, die eine
enge Beziehung zwischen der Ausübung selbständiger und anspruchsvoller Tätigkeit
und dem Niveau autonomer Handlungsfähigkeit postulieren (vgl. auch Kapitel 6.4.2).
Dem Zusammenhang zwischen den Chancen zur Fähigkeitsentwicklung und den
hierarchisch strukturierten Berufsanforderungen wird in der subjektorientierten
Theorie der gesellschaftlichen Konstitution von Berufen (vgl. Bolte / Treutner 1983)
ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Dieser berufssoziologische Ansatz kann
wichtige Impulse für die Theorie beruflicher Sozialisation geben. Er beruht auf der
Annahme, daß ein Beruf nicht nur aus einzelnen Arbeitsaufgaben, sondern aus einer
gesellschaftlich standardisierten Zusammensetzung und Abgrenzung von
Fähigkeitselementen zu festen, überindividuellen Kombinationen besteht. In
berufsbezogenen Sozialisationsprozessen werden diese Fähigkeitskombinationen
als Berufsbilder mit dem Arbeitsvermögen der Individuen verbunden. Der springende
Punkt dieser Überlegungen ist, daß mit dem Erlernen bestimmter Fähigkeitsbündel
der Zugang zu anderen Fähigkeitskombinationen abgeschnitten oder zumindest
erschwert wird. Der Erwerb von Qualifikationen unterliegt somit einem
Selektionsprozeß, der soziale Ungleichheit reproduziert, da z.B. handwerklich manuelle Fähigkeitskombinationen von geistig - planenden abgegrenzt werden.
Diese „Schneidung von Fähigkeiten“ ist nicht allein durch die technisch ökonomische Organisation von Arbeitsvorgängen begründet, sie wurzelt vielmehr in
den historisch entstandenen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die zu
schicht- und geschlechtsspezifischen Beteiligungschancen an allgemeinen und
beruflichen Bildungsprozessen geführt haben. Dauer und Inhalte beruflicher
Lernprozesse sind somit durch Strukturen sozialer Ungleichheit determiniert; diese
fixieren die Fähigkeitsentwicklung durch eine sachlich nicht begründbare Begrenzung
des Zugangs zu höheren Qualifikationsstufen.
Von den bislang diskutierten Theorien unterscheiden sich die subjekt-orientierten
Ansätze dadurch, daß die soziale und personale Bedeutung der Arbeit, die kollektive
Artikulation von Interessen und das unterschiedliche gesellschaftliche Ansehen der
Berufe für die individuellen Entwicklungschancen ebenso thematisiert werden wie die
technisch-organisatorischen Aspekte der Arbeitstätigkeit.
Die Bedeutung des Berufs für die Arbeitstätigen beruht dementsprechend auf der
gesellschaftlichen Bewertung der ihnen zugänglichen Kombination von Fähigkeiten
und den mit ihrer Berufsarbeit gegebenen Chancen und Grenzen für die
Persönlichkeitsentwicklung.
Im Arbeitsprozeß stehen die meisten Beschäftigten vor einseitigen inhaltlichen
Arbeitsaufgaben, restriktiven Arbeitsbedingungen und begrenzten Möglichkeiten zur
Fähigkeitserweiterung. Sie sehen sich einer Problemstruktur gegenüber, die aus
einem sachlichen Aspekt (dem Arbeitsprozeß) und einem ökonomischen Aspekt
(dem Verwertungsprozeß) besteht. Diese Konstellation fordert von den Individuen,
gegensätzliche Zielsetzungen auszubalancieren. Die „doppelte Zweckstruktur“ der
Berufsarbeit bedeutet, daß Arbeitende im Prinzip lernen müssen, nicht ihre
arbeitsinhaltlichen Interessen und die Aufgabenerfüllung als Richtschnur für ihr
berufliches Handeln anzusehen, sondern auch auf ihre individuellen
Reproduktionsinteressen zu achten, deren Wahrung von einem pfleglichen Umgang
mit dem eigenen Arbeitsvermögen bei der Gestaltung der Berufsbiographie abhängt
(vgl. Brock u.a. 1989).
Berufe sind als soziale Konstrukte quasi objektivierte Bündel von persönlichen
Kompetenzen, die von Arbeitskräften erwartet werden; in diesem Sinne stellen sie
auch Entwicklungs- und Äußerungsschablonen für Subjektivität dar. Das Kernstück
der subjektorientierten Berufssoziologie ist, im Unterschied zum
entwicklungspsychologischen Ansatz, aufzuzeigen, welche Entwicklungsprogramme
im Sinne von Subjektivierungschancen in den Berufen enthalten sind. Dies soll
explizit ohne Rückgriff auf persönlichkeitspsychologische Annahmen geschehen.
Da diese Theorie nur Eckdaten für konkretes Arbeitshandeln formuliert, reicht sie
aber für ein Verständnis beruflicher Sozialisation nicht aus. Sie muß daher um die
Dimensionen der subjektiven Ansprüche an die Arbeit und der Identitätsveränderung
im Verlauf der Berufsbiographie ergänzt werden. Dies kann durch die Annahme
geschehen, daß die beruflichen Entwicklungsprogramme und die
Handlungskompetenzen des Individuums im beruflichen Sozialisationsprozess eine
identitätsgestaltende Verbindung eingehen. Diese Beziehung wird durch den
Spielraum für Entwicklung, Anwendung und Erweiterung subjektiver Fähigkeiten und
Interessen definiert und durch inner- und außerbetriebliche Interaktionsbeziehungen
stabilisiert. Die Berufsarbeit determiniert also die Sozialisationsprozesse nicht, sie ist
vielmehr durch die Erwerbstätigen subjektiv in bestimmten Grenzen gestaltbar.
In den Berufsbiographien werden die Erfahrungen der vorberuflichen Sozialisation,
der Berufsfindung, Berufsausbildung und betrieblichen Arbeitserfahrungen als
subjektive Bausteine eingelagert. Die durch die soziale Herkunft, beruflichen
Ausbildungsstrukturen, Arbeitsmarktverhältnisse und die betriebliche Personalpolitik
bestimmte Kontinuität oder Brüchigkeit von Berufsbiographien erweist sich aus dieser
Sicht als Prozeß der Persönlichkeitsstrukturierung, der mit darüber entscheidet, wie
Arbeitsumstände interpretiert und in betriebliche sowie private Handlungsweisen
umgesetzt werden. Diese Betrachtungsweise beruflicher Sozialisationsprozesse
werde ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher vorstellen.
Quelle: Walter R. Heinz, Arbeit, Beruf und Lebenslauf, Eine Einführung in die
berufliche Sozialisation, Weinheim und München 1995,daraus: Kapitel 3, 47 bis 60
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