Günter Vogler - der Thomas-Müntzer

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Thesen für die Podiumsdiskussionen KULTUR NEU DENKEN. Thomas Müntzers
wegen in Mühlhausen
Günter Vogler
„Der Müntzer ist tot, aber sein Geist ist noch nicht ausgerottet“.
Thesen zum Thema: Thomas Müntzer und die Rezeptionsgeschichte
Mit diesen Worten, die Martin Luther wenige Jahre nach der Hinrichtung Thomas Müntzers
niederschrieb1, bedauert er, dass dessen Geist noch lebendig sei. Diese Aussage kann auch für
spätere Zeiten in Anspruch genommen werden, denn eine Sichtung der Literatur vom 16.
Jahrhundert bis in unsere Tage belegt, dass sich Chronisten, Theologen, Historiker, Literaten
und Publizisten mehr oder wenig intensiv Müntzer zuwandten – dies allerdings aus
unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Tendenz. Welches Bild von ihm
vermittelt wurde und welche Wandlungen es erfuhr, haben für die Zeit vom 16. bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts der Leipziger Historiker Max Steinmetz und für die folgende Zeit in
einer knappen, aber instruktiven Übersicht der Hamburger Theologe und Sozialhistoriker
Hans-Jürgen Goertz beschrieben.2 Die auffallenden Tendenzen können hier allerdings nur
thesenhaft (und mit nur wenigen Belegen dokumentiert) vorgestellt werden.
These 1: Die Rezeptionsgeschichte beginnt mit der Verteufelung Müntzers durch
Luther. Bis in das 18. Jahrhundert wird diese Sicht von vielen Autoren tradiert. Ein davon
unabhängiges Bild ist in dieser Zeit – und auch später noch - eine Ausnahme.
Am 30. Mai 1525 – drei Tage nach Müntzers Hinrichtung – schrieb Luther an den
mansfeldischen Rat Johann Rühel: „Wohlan, wer den Müntzer gesehen hat, der mag sagen, er
habe den Teufel leibhaftig gesehen in seinem höchsten Grimm. O Herr Gott, wo solcher Geist
in den Bauren auch ist, wie hoch Zeit ist’s, dass sie erwürget werden wie die tollen Hunde!
Denn der Teufel fühlet vielleicht den jungsten Tag, darum denkt er die Grundsuppe zu rühren
und alle höllische Macht auf einmal zu beweisen.“3 Müntzer als Verkörperung des
Teuflischen – das ist ein einprägsames Bild, das lange Zeit tradiert wird.
Die Kontroverse zwischen Luther und Müntzer begann im Sommer 1524, als das
„Feindbild“ vom jeweils anderen Konturen annahm. Der Verteufelung Andersdenkender
bedienten sich im 16. Jahrhundert viele Autoren. Aber Luther – bald sekundiert von Philipp
Melanchthon – war der erste, der Müntzer als Werkzeug des Teufels diffamierte. Müntzer
reagierte auf seine Weise, indem er Luther als „Vater Leisetritt“ und „Bruder Sanftleben“
kritisierte. Nach Luthers Verständnis ist das bewegende Prinzip im Weltgeschehen das
Ringen zwischen Gott und dem Teufel. Dieser ist ein Geschöpf Gottes, aber er hält ihn an der
Leine und lässt ihn nur bei bestimmten Gelegenheiten los – so auch den vom Teufel
„besessenen“ Müntzer. Luther sah sich herausgefordert, weil er erkannte, dass dessen
Haltung, „noch dazu verkörpert in einer ihm intelligenzmäßig und in bezug auf die
1
2
3
WA Br Bd. 4, S. 355 (Luther an Georg Spalatin, 24. Januar 1528). Vgl.auch WA Bd. 23, S. 43 (März 1527).
Max Steinmetz: Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin 1971; Hans-Jürgen Goertz:
Das Bild Thomas Müntzers in Ost und West, Hannover 1988; Günter Vogler: Müntzerbilder im 20.
Jahrhundert. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, Mühlhausen 2001.
WA Br Bd. 3, S. 516
2
Ausdruckskraft und Wortgewalt der Sprache ebenbürtigen Persönlichkeit, eine Infragestellung
seines reformatorischen Werkes und eine Verurteilung von dessen Halbheiten bedeutete.“4
So wurde schon zu Lebzeiten Müntzers das negative Bild dominant: Er war der „Satan von
Allstedt“, ein „falscher Prophet“, ein „Wolf im Schafspelz“, ein „aufrührerischer Geist“.
These 2: Die nach Müntzers Hinrichtung tradierten Bilder verweisen tendenziell auf ein
protestantisch und ein katholisch geprägtes Müntzerbild. Beide zeigten bis in das 18.
Jahrhundert hinein ihre Wirkung.
Aus protestantischer Sicht war Müntzer ein Aufrührer, der den Bauernkrieg in Thüringen und
in anderen Regionen verursachte, für katholische Autoren die Frucht von Luthers
Reformation, die das Entstehen von Sekten begünstigt habe. Beschworen wurde von beiden
Seiten der Aufrührer und Häretiker, der an „himmlische Offenbarungen“ glaubte und
moralisch verkommen gewesen sei.
Die meisten Autoren, die Müntzer verurteilten, kannten indes seine Schriften nicht. Wenn
von seiner Lehre die Rede war, wurde diese auf die Aussagen der 1525 erschienenen „Histori
Thome Muntzers“ (die Melanchthon zugeschrieben wird) reduziert: Er sei zwar in der
Heiligen Schrift sehr belesen gewesen, heißt es dort, aber der Teufel „treyb yhn von der
schrifft / das er sie anfieng nicht mher vom Evangelio zu predigen / und wie die leut sollten
frum werden / sonder erdicht yhm auß falschem verstandt der heiligen schrifft / falsche unnd
uffrurige lere“.5 Dieser Argumentation folgte zum Beispiel Johannes Sleidan mit seiner 1555
zuerst lateinisch publizierten, bald ins Deutsche und auch in mehrere Sprachen übersetzten
Darstellung „De Statu et Reipublicae, Carolo Quinto, Caesare, Commentarii“ (Warhaftige
Beschreibug geistlicher und weltlicher Sachen under dem großmechtigen Keyser Carolo dem
fünften verloffen) vermittelte. Mit Recht ist von einem „Erfolgsbuch“ die Rede6, denn es
wurde immer wieder nachgedruckt und prägte die Meinungen.
Wer wissen wollte, was Müntzer wirklich lehrte, wurde indes im Stich gelassen, da im
Prinzip nur wörtlich oder fast wörtlich tradiert wurde, was in der „Histori“ und bei Sleidan zu
lesen war. So verbreiteten zahlreiche Publikationen ein Gemisch von Halb- und
Unwahrheiten, drapiert mit heftiger Polemik. Der verteufelte Prediger Müntzer war nicht
vergessen, wurde aber benutzt, um vor falscher Lehre zu warnen.
These 3: Angesichts der Übermächtigkeit der Tradition wagte kaum jemand, ein
anderes Bild zu skizzieren. Respekt verdienen deshalb die wenigen Autoren, die – wenn
auch nur verdeckt – eine andere Sicht in die Öffentlichkeit trugen, womit sie sich
allerdings heftigen Anfeindungen aussetzten.
Die Warnung Luthers, Müntzers Geist sei noch nicht ausgerottet, trugen diejenigen weiter, die
sich veranlasst sahen, gegen Andersdenkende zu polemisieren und sie zu diffamieren. So
urteilte zum Beispiel 1677 der orthodoxe lutherische Theologe Samuel Pomarius,
4
5
6
Hubertus Mynarek: Religion – Möglichkeit oder Grenze der Freiheit, Köln 1977, S. 42.
Die Histori Thome Muntzers / des anfengers der Do(e)ringischen vffrur / seer nutzlich zu lesen. – In: Die
lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer. Hg. von Ludwig Fischer, Tübingen 1976, S. 28.
Siegfried Bräuer: Protestierende – Protestanden. – In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS für Günter Mühlpfordt. Hg. von Erich Donnert, Bd. 6, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 102.
3
Superintendent in Lübeck, dass man heute die „Müntzerische Comoedi nur mit veränderten
Personen auf ein neues zu spielen wiederum anfange.“7
Die wenigen Autoren, die Müntzer gerecht zu werden versuchten, stützten sich auf einige
ihnen bekannte Texte Müntzers. Sebastian Franck, ein lutherischer Prädikant und späterer
Spiritualist, der vom Gang der Reformation enttäuscht war und 1529 sein Amt aufgab, stellte
in seiner „Geschichtbibel“ von 1531 erstmals ausführlich Müntzers Lehre dar und schloss:
„Das sind sein wunderbarlich vrteyl vnnd ketzereyen, dero vil ich weder loben noch urteylen
kann, gibs dir zutreffen vnd vrteylen.“8 Er überließ es also dem Leser sich ein Bild zu
machen, wenngleich er – allerdings nur verdeckt – seine Sympathie für Müntzers Geistlehre
bekundete.
Der Zschopauer Pfarrer Valentin Weigel schrieb in seinem „Dialogus de Christianismo“
von 1584 (der erst nach seinem Tod 1614 veröffentlicht wurde), die Lehre Müntzers sei von
den hohen Schulen und allen Gelehrten verworfen worden. „Da ich nun sollte führen die
Leute auf das innere Wort…, so hätte ich das gewiß, dass sie mich für einen müntzerischen
Geist hielten, für einen himmlischen Propheten.“9
Erst die pietistische Bewegung mit ihrer Kritik am veräußerlichten Glauben, der Besinnung
auf das innere Wort und der Einsicht, die Reformation müsse erst noch vollendet werden,
öffnete Wege zur Korrektur. Gottfried Arnold, Hauslehrer in Quedlinburg, urteilte 1699 in
seiner „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie“, auch in Müntzer habe der Geist Gottes
gewirkt. Damit setzte auch er sich heftiger Kritik aus, musste Quedlinburg verlassen und
wurde Prediger in Allstedt, dem einstigen Wirkungsort Müntzers.
These 4: Neue Impulse erhielt die Müntzerrezeption unter dem Eindruck der Französischen
Revolution. Wenngleich die Tendenz fortwirkte, vor revolutionären Erhebungen, wie
Müntzer und die Bauern sie anzettelten und sich nun in Frankreich wiederholten, zu
warnen, sahen manche Autoren nunmehr in Müntzer und den Aufständischen der
Bauernkriegszeit politische und soziale Revolutionäre, die mit denen der Französischen
Revolution in einer Reihe stehen. Angeregt wurde zugleich das biographische Interesse,
das im Zeichen des Liberalismus zu einem neuen Müntzerbild führte.
Als der Jenaer Professor Karl Traugott Hammerdörfer 1793 eine „Geschichte der lutherischen
Reformation und des deutschen Krieges“ publizierte, kritisierte er, selbst bei angesehenen
Geschichtsschreibern sei „immer noch das ängstliche Bestreben sichtbar, ihrer Kirche allein
Recht zu geben, und der Gegner Betragen so viel als möglich herabzuwürdigen“10, und er
fand in Müntzers Lehre „sehr viel gesunde Vernunft verborgen“. Wenn er auch mit Kritik
nicht geizte, verblüffte er mit dem Urteil: „Hätte Münzer Glück gehabt, so würde sein Nahme
neben dem Stauffacher und Tell prangen.“11 Müntzer als Freiheitsheld – das war ein neuer
Ton, der aber vorerst folgenlos blieb und von anderen Autoren zurückgewiesen wurde.
Im Jahr 1795 veröffentlichte der Göttinger Historiker Georg Sartorius eine „Geschichte der
lutherischen Reformation und des deutschen Krieges“, in dem das Müntzerbild endgültig vom
unglaubhaft gewordenen Teufel befreit wurde: „Und so wird Müntzer gesehen wie ein
[Samuel Pomarius:] Abgenöthigte Lehr- und Schutz-Schrift…, Hamburg 1677, S. 31.
Sebastian Franck: Chronica, Zeytbuch vnd geschichtbybel, Straßburg 1531, fol. 441.
9
Valentin Weigel: Ausgewählte Werke. Hg. u. eingel. von Siegfried Wollgast, Berlin 1977, S. 502.
10
Karl Traugott Hammerdörfer: Geschichte der lutherischen Reformation und des deutschen Krieges. Nach den
ersten Quellen freymüthig bearbeitet, Leipzig 1793, Vorerinnerung.
11
Ebenda, S. 53 u. 57.
7
8
4
Mensch der Revolutionszeit: kühn, berechnend, kalt, voller Ehrgeiz, Machtwillen und
Herrschsucht, der die Menschen mit betrügerischen Mitteln an sich zu ketten sucht.“12
In dieser Phase wuchs das biographische Interesse an Müntzer. Das belegt zuerst die Schrift
des Pfarrers Georg Theodor Strobel aus Wöhrd bei Nürnberg: „Leben, Schriften und Lehren
Thomae Müntzers“ (1795). Da er zahlreiche Texte Müntzers abdruckte, die er ansatzweise
quellenkritisch beurteilte, kann man mit diesem Werk den Beginn der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit Müntzer datieren. In einer weiteren Biographie kommentierte 1799 Johann
Friedrich Köhler, Diakon in Taucha bei Leipzig, das Wort Hammerdörfers auf seine Weise:
„Hätte Münzer Glück gehabt und seinen schwärmerischen Plan durchsetzen können, so würde
es um die Aufklärung und Ruhe Deutschlands geschehen sein…Die Reformatoren hatten also
Ursache, alles zu fürchten, wenn Müntzers Unternehmungen glücklich von statten gingen.“13
Schließlich publizierte 1842 Johann Karl Seidemann, Pfarrer in Eschdorf bei Radeberg, eine
Biographie, zu deren Erarbeitung er veranlasst wurde, „theils, weil Münzers Leben es
wirklich verdient; theils weil ich im Vergleich zu dem früher über ihn Erschienenen fast
durchweg Neues zu geben im Stande war; theils, weil ich für mich selbst einer Ermuthigung
bedurfte“.14
Inzwischen wurde Müntzers Lehre als eine Alternative im Strom der reformatorischen
Bewegungen erkannt. Das demonstrierte Heinrich Heine 1832 in seinen Beiträgen über
„Französische Zustände“: Müntzer war für ihn „ein Prediger des Evangeliums, das nach
seiner Meinung nicht bloß die Seligkeit im Himmel verhieß, sondern auch die Gleichheit und
Brüderschaft der Menschen auf Erden befehle.“ Luther sei anderer Meinung gewesen. „Doch
Christus, der für die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen gestorben ist, hat sein Wort
nicht als Werkzeug des Absolutismus offenbart, und Luther hatte unrecht und Thomas
Münzer hatte recht.“15 Die Konfrontation von Müntzers und Luthers Lehre wurde eine
Konstante der Forschung.
Als der schwäbische Pfarrer, Historiker und Literat Wilhelm Zimmermann eine
„Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges“ (1841-1843, umgearbeitet1856)
publizierte, sah er in Müntzer einen der herausragenden „Männer der Bewegung“, den er
allerdings als „Streiter der Vernunft“ charakterisierte und dessen Lehre er mit dem Vokabular
der Aufklärung und des Liberalismus interpretierte. Das Werk erlebte zahlreiche Auflagen
und ist bis heute die am weitesten verbreitete Bauernkriegsdarstellung geblieben.
These 5: Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Rezeption Müntzers durch die
sozialistische Bewegung. Prägend wurde das Bild, das Friedrich Engels konzipierte.
Müntzer wurde eine Säule im Traditionsverständnis der Arbeiterbewegung, aber seine
Theologie war nicht mehr präsent oder spielte nur eine periphere Rolle.
An Müntzer und seine „Gleichheitsvorstellungen“ erinnerten seit den vierziger Jahren des 19.
Jahrhunderts die „frühen Sozialisten“, besonders in Frankreich. Als dann Friedrich Engels
1850 seine Schrift „Der deutsche Bauernkrieg“ publizierte, um nach der Niederlage der
Revolution von 1848 an die revolutionären Traditionen der Vergangenheit zu erinnern, folgte
12
13
14
15
Steinmetz: Das Müntzerbild, 357.
[Johann Friedrich Köhler:] Thomas Münzer mit dem Schwerdt Gideons. Bauerngeneral in Thüringen. – In:
Gallerie der neuen Propheten, apokalyptischen Träumer, Geisterseher und Revolutionsprediger. Ein Beytrag
zur Geschichte der menschlichen Narrheit, Leipzig 1799 S. 262f.
J. K. Seidemann: Thomas Münzer. Eine Biographie, nach den im Königlich Sächsischen Hauptstaatsarchive
zu Dresden vorhandenen Quellen bearbeitet, Dresden/Leipzig 1842, Vorrede.
Heinrich Heine: Französische Zustände. – In: Ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 12/I,
Hamburg 1980, S. 142f.
5
er im Faktischen der Darstellung Zimmermanns, trug aber eine eigene Interpretation vor, die
zur Grundlage des Geschichtsbilds der sozialistischen Bewegung wurde und die marxistische
Geschichtswissenschaft stark beeinflusste.
Im Verständnis von Engels war Luther „Repräsentant der bürgerlichen Reform“, Müntzer
der „plebejische Revolutionär“. Er betonte zwar, Müntzer sei primär Theologe gewesen , aber
im Bauernkrieg zugleich als politischer Agitator aufgetreten und „ganz Revolutionsprophet“
geworden.16 Dessen Insistieren auf der „lebendigen Offenbarung Gottes“ interpretierte er –
wie schon Zimmermann – rationalistisch: „Die eigentliche, die lebendige Offenbarung sei die
Vernunft“.17 Folgenreich war die formulierte Alternative von Reform und Revolution, aber
sachlich nicht gerechtfertigt die Interpretation von Müntzers Lehre mit der Kategorie der
Vernunft und als Ausdruck plebejischen Denkens.
Was Engels skizzierte, übernahmen weithin unkritisch August Bebel (1876), Karl Kautsky
(1895), Ernest Belfort Bax (1899) und Franz Mehring (1910). In einer einleitenden Vorlesung
zu dem „Kursus Geschichte des Sozialismus“ sprach Rosa Luxemburg 1909 – in Anlehnung
an Kautsky – „über die Vorläufer des modernen Sozialismus“, zu denen sie das
Urchristentum, die Wiedertäufer, Thomas Müntzer, Thomas Morus, Tommaso Campanella
und Jean Meslier zählte.18
Der „plebejische Revolutionär“ Müntzer wurde zum Gemeingut der sozialistischen
Bewegung. Rezeptionsgeschichtlich war das bemerkenswert: „Solange die Arbeiterklasse
noch keine Symbolfiguren aus den eigenen Reihen hervorgebracht und als solche anerkannt
hatte, entging sie nicht der Gefahr, ihre eigenen Eigenschaften in die Symbolfiguren ihrer
Traditionslinien hineinzuprojizieren.“19 Dabei gerieten seine theologischen Wurzeln aus dem
Blick. Eine eigenständige marxistische Forschung lag diesem Müntzerbild nicht zugrunde.
Doch in dieser Zeit wurden weitere Quellen erschlossen, die zunächst nur in wenigen
Untersuchungen – vor allem von Regionalhistorikern – verarbeitet wurden.
These 6: Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die Müntzerforschung Auftrieb angesichts
der Verunsicherung durch den verlorenen Krieg einerseits, die Revolutionen in Russland
1917 und Deutschland 1918 andererseits. Obwohl es dringend erforderlich war, ein Bild
Müntzers nach wissenschaftlichen Kriterien zu erarbeiten, wurde dieses Interesse von
weltanschaulichen Auseinandersetzungen überlagert.
Eine neue Sicht trug zuerst 1921 der Philosoph Ernst Bloch (nicht ein Theologe oder
Historiker) mit seiner Schrift „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“ vor. „Bei dem
Verkannten, Vergessenen fühlt er sich zu Hause, hier ist der Boden, noch nicht ausgelaugt
von zahllosen Ernten, jungfräulich sozusagen, aus dem man Säfte und Kräfte ziehen kann.“20
Eine Kategorie von Blochs Philosophie war das „Noch-Nicht-Sein“, und Müntzer war für ihn
ein Exempel dafür, was gedacht wurde, aber noch nicht Realität war. Doch das „Noch-NichtSein“ konnte zum Nahziel, zur „konkreten Utopie“ werden, so dass Müntzer bemüht war,
schrittweise umzusetzen, was er vorgedacht hatte. „So ausführlich und so tiefschürfend hat
16
17
18
19
20
MEW Bd. 7, S. 349, 351, 352.
Ebenda, S. 353.
Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe. Bd. 3, Berlin 1982, S. 95.
Claudia Hohberg u. Gertraude Remer: Das Müntzerbild von Engels bis Mehring. – In: WZ Univ. Jena, GSR
38 (1989), S. 599f.
Hans Heinz Holz: Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt. Darmstadt/Neuwied
1975, S. 177.
6
sich vor ihm kein Marxist auf die Gedanken dieses Theologen eingelassen.“21 Müntzer wurde
im Zeichen der mystischen und apokalyptischen Tradition nun als Revolutionär, als
„Theologe der Revolution“ gedeutet.
Erste Reaktionen auf Blochs Schrift kamen von Vertretern der „Lutherrenaissance“, die das
ganze wissenschaftliche Instrumentarium aufboten, „wenn es galt, einer Abwertung Martin
Luthers in Publizistik und gelehrter Darstellung entgegenzutreten. Müntzer ist das jedoch
nicht schlecht bekommen. Sein Wirken und Denken sind ernster genommen worden als
vorher, deutlicher sind die Struktur seiner Theologie und die Fähigkeit zutagegetreten, seine
Zeit mitzugestalten.“22
Der Leipziger Kirchenhistoriker Heinrich Boehmer – herausgefordert durch Blochs
ungenaue Darbietung der Biographie Müntzers – legte 1522 biographische Studien zu dessen
Frühzeit vor, mit denen die quellennahe Forschung vorangebracht wurde. Auch hat er sich
durch die Vorbereitung einer ersten Ausgabe von Müntzers Briefwechsel verdient gemacht.23
Ein Jahr später veröffentlichte er dann einen Beitrag, in dem er urteilte, Müntzer sei „nächst
Luther der selbständigste und originellste Denker seiner Zeit“ gewesen. 24 Doch heftig
reagierte er auf die Publikationen von Bloch, des Publizisten Hugo Ball und des Publizisten
und Theologen Ludwig von Gerdtell: „So bemühen sich jetzt Bolschewisten, ReligiösSoziale, Religiöse Anarchisten und andere Urchristen, die sich sonst wenig mögen,
einträchtiglich, das deutsche Volk zu belehren, dass es ganze vierhundert Jahre hindurch irre
gegangen sei und noch in Versailles dafür habe büßen müssen, und zwar mit Recht, da es
seinen größten Propheten, Thomas Münzer, einst von sich gestoßen habe.“25
Nachhaltigen Einfluss erlangte der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl, der 1922 in einem
Vortrag zum Thema „Luther und die Schwärmer“ erstmals eine solide Würdigung von
Müntzers Theologie vorlegte. Er förderte zwar die Tendenz, Müntzer aus der Sicht Luthers zu
beurteilen, sah aber in ihm den Mann, „in dem der Gegensatz zu Luther zuerst zum
deutlichsten Bewußtsein über sich selbst gelangt, und ich nehme ihn zugleich ernster, als es
sonst in der Kirchengeschichte üblich ist.“26 Holl arbeitete heraus, Müntzer habe „einen Plan
für die Neugestaltung der ganzen Gesellschaftsordnung entworfen“27, ohne diesen schlüssig
aus dessen mystisch geprägter Theologie abzuleiten.
Bloch, Boehmer und Holl gaben dem Müntzerbild ein neues Profil, und zwar hinsichtlich
der philosophischen Interpretation, biographischen Erschließung und theologischen
Fundierung. In die Debatte kam zudem die Frage nach der Bedeutung der Apokalyptik, des
Chiliasmus und der Mystik für Müntzers Theologie. Obwohl er zum Objekt im
weltanschaulichen Disput wurde, auch antirevolutionäre und konfessionalistische Bilder den
Hauptstrom bildeten, war die Zeit der simplen Polemik vorbei.
These 7: Nach 1945 begann eine neue Phase der Müntzerforschung, beeinflusst politisch
von der Gründung und Existenz von zwei deutschen Staaten mit ihrem differenten
Geschichts- und Traditionsverständnis, ideologisch von der Systemauseinandersetzung
zwischen Ost und West in der Zeit des „kalten Krieges“. Die Folge war, dass einige
21
22
23
24
25
26
27
Goertz: Das Bild Thomas Müntzers (Anm. 2), S. 21.
Ebenda, S. 26.
Die Publikation erfolgte aber erst nach seinem Tod 1931.
Heinrich Boehmer: Thomas Münzer und das jüngste Deutschland. – In: Ders., Gesammelte Aufsätze, Gotha
1927, S. 216.
Ebenda, S. 194.
Karl Holl: Luther und die Schwärmer. – In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1, 6.
Aufl., Tübingen 1932, S. 425.
Ebenda, S. 451.
7
Jahrzehnte konträre Müntzerbilder konkurrierten.
Während bisher eine marxistische Müntzerforschung nicht existierte, konnten Theologen an
die reformationsgeschichtliche Forschung anknüpfen. Insofern bedurfte es eines längeren
Anlaufs, ehe eine produktive Beschäftigung mit Müntzer in Gang kam. In der DDR wurde an
das Traditionsverständnis der sozialistischen Bewegung angeknüpft, während Müntzer in der
BRD wenig Interesse fand. Doch bald geriet er „zwischen die Mahlsteine der politischen
Systeme in Ost und West“.28
Einen Neuanfang markierte der Historiker Carl Hinrichs, der in Halle auf Anregung der
Sowjetischen Militäradministration eine Edition von Müntzerschriften vorbereitete. Diese
Auswahl erschien 1950, allerdings ohne den einleitenden Text, der 1952 separat in Westberlin
veröffentlicht wurde: „Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und
Widerstandsrecht“. Hinrichs ging es darum, die Bedeutung der Theologie für Müntzers
gesellschaftliches Handeln aufzuzeigen. „Hier ist Müntzer zum ersten Mal in die Hände eines
hochkarätigen Profanhistorikers nichtmarxistischer Provenienz geraten, und niemals zuvor ist
der Zusammenhang von historischer Situation, geistiger Entwicklung und theologischer
Auseinandersetzung so professionell dargestellt worden wie in diesem Buch.“29
Den ersten marxistischen Forschungsbeitrag leistete der sowjetische Historiker Moisej M.
Smirin mit dem Buch „Die Volksreformation des Thomas Münzer und der große Bauerkrieg“,
das er – im Zweiten Weltkrieg nach Taschkent evakuiert – 1947 veröffentlichte und das 1952
in deutscher Übersetzung erschien. Smirin fragte nach den Wurzeln von Müntzers Lehre in
der mystischen und taboritischen Tradition und nach ihrer Abgrenzung von der lutherischen
Reformation. Doch auch er leistete einer säkularisierten Sicht Vorschub, obwohl er viel Mühe
darauf verwandte, Müntzers geistigen Standort aus dessen theologischer Position zu
ermitteln. Bemerkenswert war zudem Smirins Feststellung, es handle sich bei Müntzers Lehre
nicht um eine bäuerliche oder plebejische Ideologie, er habe vielmehr auf eine
„Volksreformation“ hingearbeitet. Die Leipziger Historiker Gerhard Zschäbitz und Manfred
Bensing waren die ersten, die diese Ansätze vertieften.
Bald legten Historiker, Musik- und Literaturwissenschaftler neue Forschungsergebnisse
vor. Auch erschien 1968 in der BRD die von dem Historiker Günther Franz bearbeitete erste
Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Müntzers. Kirchenhistoriker sahen sich einerseits mit
der nordamerikanischen Täuferforschung, andererseits mit der marxistischen Sicht
konfrontiert. Große Aufmerksamkeit fand seitdem die Darstellung von Hans-Jürgen Goertz
über „Innere und äußere Ordnung in der Theologie Thomas Müntzers“ (1967), indem er
herausarbeitete, dass der Prozess der Veränderung im Menschen selbst beginnt und der
revolutionäre Umbruch der Gesellschaft sein Pendent bildet.
Es zeichnet sich ab, „dass die Anfänge der theologischen Müntzerforschung nach 1945
nicht aus eigenem Antrieb entstanden sind. Die Auseinandersetzung mit diesem Gegner
Luthers ist den Kirchenhistorikern zunächst durch das starke Interesse marxistischer
Publizisten und Historiker für Müntzer aufgenötigt worden.“30 Folgenreich war zudem, dass
der Historiker Max Steinmetz und der Theologe Siegfried Bräuer, die beide Aspekte der
Biographie und des Werks Müntzers erforschten, Kontakt aufnahmen und den Dialog
zwischen Historikern und Theologen auf den Weg brachten.
Doch die konfrontative Sicht hielt an. So publizierte der lutherische Theologe Walter
Elliger 1975 die bislang umfangreichste Müntzerbiographie, in der er akribisch alle Zeugnisse
zusammentrug und interpretierte, doch viele seiner Aussagen beruhen auf Vermutungen und
28
29
30
Goertz: Das Bild Thomas Müntzers (vgl. Anm. 2), S. 10.
Ebenda, S. 30.
Siegfried Bräuer: Müntzer war unter uns. Zum Müntzerverständnis in der evangelischen Theologie. – In:
Die Zeichen der Zeit 43 (1989), S. 202f.
8
sind hypothetisch. Diese Darstellung zeugte zudem nicht von der Bereitschaft zum Dialog
mit der marxistischen Müntzerforschung. Sie ist stark polemisch gehalten, so „daß das Buch
bei allem Bemühen um ein theologisches Müntzerverständnis aus einer Hassliebe geschrieben
ist.“31
In der DDR war Münzer im Zeichen der Traditionspflege in wachsendem Maß öffentlich
präsent, indem Straßen, Schulen, Betriebe und Siedlungen nach ihm benannt wurden. Auch
zeichnete sich eine intensive Rezeption in Kunst und Literatur ab.
These 8: Wesentliche Wandlungen vollzogen sich seit Mitte der siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts, als – auch international beachtete – historische Jahrestage anstanden
(450. Jahrestag des deutschen Bauernkriegs 1975, 500. Geburtstag Luthers 1983, 500.
Geburtstag Müntzers 1989). In deren Gefolge vollzog sich eine Versachlichung der
Forschung, verstärkte sich der Dialog zwischen Historikern und Theologen, wandten sich
Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen stärker Müntzer zu und leistete die
internationale Forschung einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Erschließung von
Leben und Werk Müntzers. Doch deutlicher zeichnete sich auch eine Diskrepanz zwischen
wissenschaftlichen Ergebnissen und Inhalten der Geschichtspropaganda in der DDR ab.
Die Jahre 1975 bis 1989 markieren die Phase der intensivsten Beschäftigung mit Müntzer.
Welche Themen von den Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen bearbeitet
wurden und welche Konsequenzen sich für das Müntzerbild ergaben, kann hier nicht im
Detail nachgezeichnet werden. Das Interesse galt der weiteren Erschließung der Biographie
Müntzers und seines sozialen Umfelds sowie seinen Beziehungen zu verschiedenen
Persönlichkeiten; der Entstehungs- und Druckgeschichte seiner Schriften und deren
Überlieferung sowie seiner Sprache; dem Profil seiner Lehre und deren zentralen Themen
sowie der Rezeptionsgeschichte. Auch wurden in größerem Maß Schriften Müntzers ins
Französische, Italienische, Englische, Spanische, Japanische, Ungarische und Bulgarische
übersetzt. In diesem Arbeitsprozess zeichnete sich – cum grano salis – eine Versachlichung
der Debatte und ein Abbau der konfrontativen Sichten auf Münzer ab, was einschloss, dass
Antworten auf relevante Fragen der Theologie Müntzers weiterhin kontrovers blieben.
Der anhaltende Dialog zwischen marxistischen Historikern und evangelischen Theologen
in der DDR von 1981 bis 1990 wie überhaupt die gegenseitige Gesprächsbereitschaft, auch
das gestiegene Interesses verschiedener Disziplinen an Müntzer (Philosophiegeschichte,
Sprach- und Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft), schließlich auch der verstärkte
Austausch mit Historikern und Theologen in der BRD, in Europa und den USA erwies sich
als fruchtbar und als Bereicherung. Neu war zudem, dass der Bund der Evangelischen
Kirchen in der DDR, der in Müntzer ein „sperriges Erbe“ sah, eine Reihe von Aktivitäten
vorbereitete. Eine Arbeitsgruppe fixierte in einer „Orientierungshilfe zum Gedenken des 500.
Geburtstages von Thomas Münzer“ deren Standpunkt und wies auf Fragen hin, die sich für
die Kirchen stellen.
Im Gedenkjahr 1989 erlebte die Beschäftigung mit Müntzer ihren Höhepunkt, was eine
Vielzahl von Publikationen sowie Konferenzen und Ausstellungen dokumentiert. In den
Jahren 1988/89 erschienen zum Beispiel Biographien Müntzers in der DDR (Gerhard
Brendler, Max Steinmetz, Günter Vogler), der BRD (Hans-Jürgen Goertz), Großbritannien
31
Bräuer: Münzer war unter uns (vgl. Anm. 29), S. 202.
9
(Tom Scott) und den USA (Eric W. Gritsch) bzw Publikationen, die Einblicke in seine
Entwicklung und Lehre ermöglichen (Siegfried Bräuer/Helmar Junghans, Ulrich
Bubenheimer, Abraham Friesen), sowie die erste vollständige englische Übersetzung von
Müntzers Schriften und Briefen (Peter Matheson).
Die speziellen Forschungsergebnisse und die Gesamtsicht auf Müntzers Denken und
Handeln ermöglichten, seine Entwicklung, das eigenständige Profil seiner Theologie, die
Wechselbeziehungen zwischen theologischem Denken und gesellschaftlichem Handeln sowie
die Reaktionen seiner Gegner deutlicher zu konturieren. Das Müntzerbild wurde von
dokrinären Verengungen und ideologischen Prämissen befreit, so dass die Forschung und die
Debatten mehr Offenheit gewannen.
Nicht zu übersehen ist jedoch die nach wie vor existente Diskrepanz zwischen dem Ertrag
wissenschaftlicher Forschungen und dem mit den Mitteln der Geschichtspropaganda
verbreiteten Bild, das in dem Anspruch gipfelte, in der DDR sei Müntzers Erbe verwirklicht
worden. Letztlich wurde das sozialistische Traditionsverständnis unkritisch tradiert, wurden
Ergebnisse der Forschung nur selektiv oder überhaupt nicht rezipiert.
These 9: Mit der „Wende“ von 1989/90 und dem Ende der DDR veränderte sich die
Situation grundlegend. Müntzer wird nicht mehr als Traditionsfigur eines Staates in
Anspruch genommen, was auch einen Rückgang des öffentlichen Interesses zur Folge
hatte. Heute stellt sich die Frage: Hat Müntzer seine Schuldigkeit getan? Oder
vermögen Forschung und Öffentlichkeit sich noch für ihn zu interessieren?
Müntzer war eine bemerkenswerte Gestalt der deutschen Geschichte. Daran ändern die
veränderten politischen Konstellationen nichts. Doch ist heute der institutionelle Rückhalt
nicht mehr gegeben, der notwendig ist, um Forschungen effektiv und finanziell abgesichert zu
betreiben. Das Interesse an Müntzer ist rückläufig, aber die Zahl neuer Publikationen zeigt an,
dass es nicht erloschen ist. Manche Autoren knüpfen an früher bearbeitete Themen an oder
akzentuieren die Fragestellungen anders, andere – und das sind nicht wenige – orientieren
sich an regionalen Bedürfnissen, zum Beispiel in Thüringen und Sachsen-Anhalt.
Die veränderte Situation war 2001 ein Anlass, die Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V. zu
gründen. Ihre Mitglieder kommen aus Ost und West sowie einigen europäischen und
außereuropäischen Ländern. Durch Jahrestagungen und eine Schriftenreihe hält sie das
Interesse an Müntzer wach.32 Ein großer Erfolg ist es, dass die Sächsische Akademie der
Wissenschaften sich des bereits vor 1989 verfolgten Projekts einer neuen kritischen
Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Müntzers und der Zeugnisse über ihn angenommen
hat, so dass von den geplanten drei Bänden bisher zwei erscheinen konnten (2004 und 2010).
These 10: Ist es sinnvoll, über Müntzer unter dem Aspekt „Kultur neu denken“ zu
diskutieren?. Ein Akteur des 16. Jahrhunderts kann nicht zu Problemen des 21.
Jahrhunderts befragt werden. Doch der Blick auf die Rezeptionsgeschichte legt es nahe,
über einige Erfahrungen nachzudenken.
32
Vgl. www.thomas-muentzer.de
10
(1) Die Rezeptionsgeschichte belegt, dass nicht nur Luther, sondern auch zahlreiche
Autoren in den nachfolgenden Jahrhunderten – oftmals ohne Kenntnis der Quellen – den toten
Müntzer heftig befehdeten. Der Eindruck täuscht nicht, dass die Praxis, Andersdenkende mit
Hilfe von Vorurteilen zu diffamieren, auch heute anzutreffen und folglich kritische Toleranz
als Kenneichen der politischen Kultur einzufordern ist.
(2) Die Beschäftigung mit Müntzer führt zu der Erkenntnis, dass seine Lehre im breiten
Strom der frühen reformatorischen Bewegungen eine Alternative darstellt. Einer solchen Sicht
vermochten zwar seine Zeitgenossen nicht zu folgen, das ändert aber nichts an der Tatsache,
dass Müntzer der von Wittenberg geprägten Reformation ein anderes
Reformationsverständnis entgegensetzte. Gegenwärtig werden politische Entscheidungen
oftmals als alternativlos gerechtfertigt. Eine solche Haltung negiert indes historische
Erfahrungen.
(3) Müntzer ließ sich von der Vision leiten, dass die Welt verändert werden muss, um die
von Gott geschaffene Ordnung wieder herzustellen. Mit der Verurteilung seiner Lehre wurde
das Verdikt über Visionen verhängt. Wenn jedoch soziale und politische Visionen als nicht
opportun abgetan werden, versinkt die Gesellschaft in einen perspektivlosen Pragmatismus.
(4) Die Polemik gegen Müntzer diente lange Zeit der ideologischen Instrumentalisierung
seiner Persönlichkeit. Er wurde als Werkzeug des Teufels, als Zerstörer der christlichen
Kirche und als Verführer des Volks abgestempelt. In der DDR wurde dagegen erklärt, sein
Vermächtnis sei „erfüllt“ worden. Doch Instrumentalisierungen verzeichnen das
Persönlichkeitsbild – unabhängig von den Motiven und der Gesinnung.
(5) Das Bild Müntzers diktierten lange Zeit die Sieger, die sein Leben gewaltsam
beendeten. Ein Gespräch des Theologen Friedrich Schorlemmer mit einem Journalisten
erschien 1996 unter dem Titel „Selig sind die Verlierer“. Auf die Frage, warum das so sei,
antwortete er: „Sieger meinen stets, sie brauchten nichts zu lernen. Wer verliert, muss
zwangsläufig lernen, über sich selbst nachzudenken, auch über das, was er verloren hat und
warum er es verloren hat. Er muss prüfen, was daran wert war unterzugehen, und prüfen, was
wert ist aufgehoben zu werden, selbst wenn es unterlegen war, ja fortgeworfen wurde.“33
Thomas Müntzer hatte eine solche Chance nicht. Ihm verblieben nach der Niederlage von
Frankenhausen nur noch wenige Tage Lebenszeit. Doch Sieger und Verlierer sollten sich zu
allen Zeiten herausgefordert sehen, auch aus Niederlagen zu lernen.
33
Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit Meinhard Schmidt-Degenhardt: Selig sind die Verlierer. Zürich
1996, S. 10.
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