WS 2009/10 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Grundkurs 19./20. Jahrhundert C. Die Revolution von 1848/49 I. Die Ursachen 1. Bedeutung der Revolution von 1848/49: europäischer Charakter, wichtige Etappe auf dem Weg zu neuen Nationalstaaten (Deutschland, Italien), wichtige Etappe in der Verfassungsgeschichte (Parlamentarismus, Entwicklung moderner Parteien, Parteipresse, soziale Erweiterung der Politisierungsprozesse, neue politische Kultur); neue Ansätze zur Lösung der sozialen Probleme, die mit dem Industrialisierungsprozess entstanden waren. In der Geschichtskultur der Deutschen spielte 1848/49 als gescheiterte Revolution lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Heute sehen wir, dass die Revolution in ihren großen Zielen zwar gescheitert ist, aber den weiteren Weg der deutschen Geschichte doch auf vielfältige Weise mitgeprägt hat. 2. Ursachen der Revolution: mehrere Faktoren, langfristig und kurzfristig wirkende Bedingungen. Zu den wichtigsten Ursachen gehören der wirtschaftliche und soziale Wandel, der sich in den dreißiger und vierziger Jahren beschleunigte: starkes Bevölkerungswachstum 1815-1848 in Deutschland von 23,7 auf 34,5 Millionen, Krise der vorindustriellen Wirtschaftszweige wie Handwerk, Heimgewerbe, traditionelle Landwirtschaft, Pauperismuskrise, die vor allem auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen ist, durch die beginnende Industrialisierung aber noch verschärft wurde. Weder der Fortschritt der modernen Industrie (Eisenbahnbau als wichtigster Motor) noch die zunehmende Auswanderung schafften die nötige Entlastung. 3. Aufstieg des Bürgertums: Bürgertum war keine homogene Klasse, unterschiedliche Formationen wie Bildungsbürgertum, modernes Wirtschaftsbürgertum, Stadtbürgertum. Die Formierung des neuen Bürgertums erfolgte durch gemeinsame Werte und Verhaltensnormen (neue bürgerliche Kultur). Die Stadt war der Ausgangspunkt neuer sozialer, kultureller und politischer Entwicklungen (Bedeutung des Vereinswesens). Die neue bürgerliche Gesellschaft wurde als Gesellschaft der Hausväter gedacht, die Gleichstellung der Frau war nicht vorgesehen, allerdings ergaben sich auch für die Frauen in der neuen Gesellschaft neue Entfaltungschancen. Ein großer Teil der jüdischen Minderheit fand nach der rechtlichen Gleichstellung durch wirtschaftlichen Erfolg und Bildung Zugang zur bürgerlichen Gesellschaft. In den vierziger Jahren verstärkte das Bürgertum überall in Europa seine Forderungen nach grundlegenden Veränderungen des politischen Systems und mehr politischer Mitsprache. Die Revolution stand dabei aber zumindest in Deutschland oder England nicht auf der Tagesordnung. 4. Kurzfristig wirkende Ursachen der Revolution: Konjunkturkrisen, Hungerkrisen 1846/47, wachsende Unterschichtenproteste verstärkten die Legitimationskrise des politischen Systems 5. Europäisches Umfeld: wachsende Kritik an der Ordnung des Wiener Kongresses, 1846 Aufstände in den von Preußen und Österreich beherrschten Gebieten Polens, 1847 Schweizer Sonderbundskrieg, Januar 1848 Revolution im Königreich Neapel-Sizilien; Februar 1848 Revolution in Frankreich, Sturz der Julimonarchie, Einführung der 1 Republik, allgemeines Wahlrecht, neue soziale Bewegungen und Forderungen nach grundlegenden sozialen Reformen (Arbeitsbeschaffung durch Nationalwerkstätten), März 1848 Beginn der Revolution in Deutschland. II. - - - - - III. - Europäisches Umfeld und deutsche Reaktionen: Jan./Febr. 1848: Aufstände in Italien: neue Verfassungen im Königreich Neapel und dem Großherzogtum Toskana 22.-24. Februar Revolution in Frankreich, Sturz des Julikönigtums, Einführung der Republik, allg. Wahlrecht, soziale Reformen (Blanc, Blanqui) Winter 1847/48 wachsende soziale Spannungen und Politisierung in Deutschland Februar 1848 Forderung nach einer deutschen Nationalrepräsentation in der badischen Kammer (Bassermann) seit Anfang März Massendemonstrationen in Residenzstädten des deutschen Südens, Forderungen nach Freiheit und Einheit, vermischt mit sozialen Protestbewegungen von Bauern (Kampf um Abschluss der Bauernbefreiung) und Unterschichten (z. T. auch antijüdische Exzesse). Die Regierenden der deutschen Klein- und Mittelstaaten kamen den Forderungen nach politischen Veränderungen und Reformen rasch nach: Erfüllung der Märzforderungen (deutsches Parlament, Pressefreiheit, Volksbewaffnung, Schwurgerichte) und Einsetzen von "Märzministerien" (gemäßigte Liberale übernahmen die Regierungsverantwortung). Unruhen in Wien und in der gesamten Habsburger Monarchie. Unterschichtenproteste in Wien und die lauter werdenden Reformforderungen des liberalen Bürgertums führten am 15. März zu Unruhen in Wien und zum Sturz Metternichs. Die neue Staatsführung (kein Märzministerium) machte erste Konzessionen, zu einer weitgehenden Erfüllung der liberalen Forderungen kam es aber erst im Mai1848 nach neuen Unruhen, da die Führung der Habsburger Monarchie jetzt auch durch die aufgebrochenen Nationalitätenkonflikte geschwächt war. auch in Preußen setzte Anfang 1848 zunächst vor allem im Westen die Revolutionsbewegung ein. Am 18. März 1848 kam es in Berlin zu schweren Straßenkämpfen, die zum Nachgeben von König Friedrich Wilhelm IV. führten. Es folgten der Abzug des Militärs aus der Stadt, Einsetzung einer neuen Regierung und das Bekenntnis zu gesamtdeutschen Reformen. Trotz des Nachgebens waren die konservativen Kräfte in Preußen und Österreich von Anfang an bestrebt, die Voraussetzungen für eine Gegenrevolution herbeizuführen. Sieger der Märzrevolution war zunächst das liberale Bürgertum, das an politischem Einfluss gewann und nun an die Verwirklichung seines nationalen Reformprogramms ging. Die liberalen Kräfte standen freilich von Anfang an unter doppeltem Druck der sozialen Protestbewegungen und den alten, nach wie vor über die Militärmacht verfügenden monarchischen Gewalten. Die Verrechtlichung der deutschen Revolution: 10. März 1848 Einsetzen des Siebzehnerausschußes (Männer des öffentlichen Vertrauens) durch den Bundestag 5.3.1848 Heidelberger Versammlung der Liberalen und Demokraten 31.3.-3.4. 1848 Frankfurter Vorparlament (Vorbereitung der Wahlen für ein deutsches Parlament) Niederschlagung der badischen Aprilrevolution (Hecker) durch gemäßigt liberale Regierung und Bundestruppen 2 - IV. - - V. Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung: allgemeines Wahlrecht (Kriterium der Selbständigkeit), Wahlkämpfe, Entstehen von neuen Presseorganen und politischen Vereinen Die Paulskirche: 18.5. 1848 Eröffnung des deutschen Parlaments in Frankfurt (Heinrich von Gagern Parlamentspräsident) soziale Zusammensetzung: Männer von Besitz und Bildung dominierten; regionale Herkunft, nicht Klassenzugehörigkeit prägte das politische Verhalten; einzelne politische Richtungen wiesen starke regionale Schwerpunkte auf Fraktionsbildung: konservative Rechte mit 6% schwach vertreten; konstitutionell-liberale Mitte stärkste Kraft mit 34% (v. a. Casino-Fraktion); parlamentarisch-liberal 13%; entschieden demokratisch 15%, 32% fraktionslos. gleichzeitig tagten die neugewählte preußische Nationalversammlung in Berlin und der gesamtösterreichische Reichstag in Wien 28.6. 1848 Gesetz über die deutsche provisorische Zentralgewalt (Reichsverweser Erzherzog Johann, Ministerpräsident Leiningen) innerhalb der Beratungen über eine deutsche Verfassung stand zunächst die Grundrechtsfrage im Zentrum; erst am 20. Dezember 1848 Verabschiedung des Grundrechtskatalogs, wichtiger Meilenstein deutscher Verfassungsgeschichte. Revolution und Öffentlichkeit - Fünf Handlungsebenen der Revolution: Parlamente auf nationaler und auf einzelstaatlicher Ebene, die neue Obrigkeit in Form der Reichszentralgewalt, der Märzministerien und der Magistrate, monarchisch-aristokratische Gewalten, Straßenpolitik, außerparlamentarische Öffentlichkeit - die Straße war auch nach den Märztagen des Jahres 1848 ein wichtiger Ort im außerparlamentarischen Revolutionsgeschehen. Zum Teil fanden auf der Straße organisierte Veranstaltungen statt (Straßenparlamente, Feste, Versammlungen, Demonstrationen), zum Teil blieb die Straße Schauplatz des spontanen Protests (Katzenmusiken, Hungerunruhen). Die Straßenpolitik des Volkes fügte sich nur schwer oder auch gar nicht in die Revolution der Bürger ein (selbst bei den Demokraten). das politische Vereinswesen: freie Entfaltung von Vereinen und Presse, Differenzierung der politischen Lager wird verstärkt; endgültiges Auseinandertreten von gemäßigten Liberalen (konstitutionelle Monarchie) und entschiedenen Demokraten (Republik, entschiedene soziale Reformen) und heftige Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern schwächten die bürgerliche Revolutionsbewegung; beide Seiten bemühten sich um nationale Organisation ihrer Richtung: deutsche Vereine der Liberalen; deutsche Demokratenkongresse im Juni (Frankfurt am Main) und Oktober (Berlin) 1848. Ende November 1848 wurde von den linken Fraktionen in der Paulskirche der Zentralmärzverein gegründet (erste moderne deutsche Partei, Verbindung von Fraktion und außerparlamentarischer Organisation). Anfänge der Arbeiterbewegung: die Revolution von 1848/49 ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer eigenständigen deutschen Arbeiterbewegung zwei konkurrierende Organisationen der Arbeiterbewegung: der von Marx und Engels geführte Bund der Kommunisten ("Kommunistisches Manifest") und die zahlenmäßig stärkere "Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung" (Stephan Born), starker Anteil von Handwerkern. - - 3 - - - - - Konservative Vereine: Schwerpunkt Preußen, „Neue Preußische Zeitung“ („Kreuzzeitung“); „Verein zum Schutze des Eigentums und zur Förderung des Wohlstandes alles Klassen“ (später zur „Wahrung der Interessen des Grundbesitzes“), Preußenvereine, Vereine für König und Vaterland und Militärvereine (Veteranen). Im Laufe der Revolution gelangen dem Konservativismus in Ostelbien beträchtliche Mobilisierungserfolge unter Bauern, Stadtbürgern und teilweise auch Unterschichten. Politischer Katholizismus: in der Paulskirche noch keine eigene Fraktion, aber Ausbau des katholischen Vereinswesens und der nationalen Organisation der katholischen Interessen (Pius-Vereine, erster deutscher Katholikentag in Mainz, erste deutsche Bischofskonferenz). Revolutionserfahrungen (Frontstellung gegen die Kirchenpolitik des Liberalismus) verstärkten im deutschen Katholizismus den Trend in Richtung Ultramontanismus. Handwerkerbewegung: Handwerker als wichtige Trägerschicht der Revolution, moderne politische Ziele, in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht aber noch sehr der alten Handwerkerwelt verbunden. 1. deutscher Handwerker- und Gesellenkongreß (15. Juli 1848 in Frankfurt), Spaltung von Meistern und Gesellen. Schutzzoll- und Freihandelsbewegungen: Streit um den künftigen deutschen Zolltarif führte zu nationalen Organisationen und Petitionskampagnen der auf Norddeutschland konzentrierten Freihändler und der Schutzzöllner, die ihre Zentren in Süd- und Mitteldeutschland hatten. Frauen und Revolution: Die Revolution bildete auch für das politische Engagement von Frauen eine wichtige Zäsur. Frauen beteiligten sich in mehrfacher und sehr verschiedener Hinsicht an der Revolution: Unterschichtenfrauen am Straßenprotest und an Barrikadenkämpfen, bürgerliche Frauen in Vereinen, bei Festen und einige sogar an Aufständen. Gründung von Frauenvereinen, 1848/49 Auftakt einer eigenständigen Frauenbewegung in Deutschland. VI. - Lage im Herbst 1848: Politisierung der Gesellschaft; Vielfalt der Interessen und Gegensätze; Einheit der deutschen Märzbewegung zerbrach, Dynamik der Revolution ließ nach durch die Pariser Junischlacht 24. Juni (Cavaignac); verstärkt Revolutionsfurcht im Bürgertum und bei Konservativen. VII. Deutscher Einheitsstaat und europäische Nachbarn: Kernfrage von 1848: wie weit soll sich der deutsche Nationalstaat erstrecken, wie soll er notfalls mit den in ihm lebenden ethnischen und sprachlichen Minderheiten umgehen. Die deutsche Nationalversammlung geriet aufgrund ihrer territorialen Zielsetzungen sehr schnell in Konflikt mit anderen Nationalbewegungen und mit bestehenden Staaten. 1. Die Polen-Frage und Böhmen: nach früherer Unterstützung der polnischen Nationalbewegung kommt es 1848 in der Posenfrage zum Bruch. Nach Aufständen der Polen, die Preußen niederschlägt, schließt sich die Nationalversammlung in Frankfurt nach der großen Posendebatte vom 24. bis 27. Juli 1848 einem Teilungsplan an und beruft sich auf die nationalen Interessen. Auch der von Frantisek Palacky an Pfingsten 1848 organisierte Prager Slawenkongreß zeigt die nationalen Gegensätze. Mitte Juni wird der Prager Aufstand gegen die Habsburger vom österreichischen General Fürst Windischgrätz niedergeschlagen. 4 2. Italien: Streit um Tirol: Mailänder Volksaufstand vom März 1848 (unterstützt vom Königreich Piemont-Sardinien); die Hoffnungen auf einen durchschlagenden Erfolg einer gesamtitalienischen Einigung werden zerschlagen – durch vorsichtige Haltung des Papstes, Gegenrevolution in Neapel-Sizilien und vor allem durch die Siege der von Feldmarschall Radetzky geführten Österreicher. 25. Juli 1848 Schlacht bei Custozza. 3. Schleswig-Holstein-Frage: Ripener Freiheitsbrief von 1460, März 1848: provisorische, beide Herzogtümer umfassende revolutionäre Landesregierung; Einverleibungsgesetz des Dänenkönigs für Schleswig, Deutscher Bundestag erklärt Dänemark am 12. April 1848 den Bundeskrieg; Rückzug der erfolgreichen deutschen Truppen aufgrund englischer Vermittlungsbemühungen, am 26. August 1848 schließt Preußen auf englischen und russischen Druck den Waffenstillstand von Malmö und gibt Positionen preis, die die Nationalversammlung als unverzichtbar ansah; 5. September 1848 nach heftigen Debatten in der deutschen Nationalversammlung Ablehnung des Waffenstillstandes; 16. September 1848: Annahme des Malmöer Waffenstillstandes gegen heftige Proteste der Linken und der öffentlichen Meinung. VIII. Innenpolitische Wende im Herbst 1848: - 18. September: Niederschlagung des Frankfurter Septemberaufstandes neue vergebliche Erhebungen im Rheinland und in Baden (Struve), teilweise auch in Thüringen Folgen der Septemberkrise: - Schwächung der politischen Legitimation und Handlungsfähigkeit der Revolution - Reichszentralgewalt und Nationalversammlung brauchten Schutz des von alten Gewalten dominierten Militärs, dies minderte das Prestige und stärkte das Machtbewusstsein der gegenrevolutionären Kräfte - Weiter wachsende Spaltung innerhalb des bürgerlichen Lagers (Linke: Preisgeben der Revolution; Liberale: soziale Revolution) Erfolge der Gegenrevolution in Österreich: - - - 10. Juli 1848: Konstituierung des neugewählten Reichstags in Wien, den bis auf Ungarn und Oberitalien alle Gebiete der Habsburger Monarchie beschickten, rasche und bauernfreundliche Lösung der Agrarfrage (Hans Kudlich) Wachsende soziale Spannungen in Wien und Streit um Verhalten gegenüber den auf Eigenständigkeit pochenden Ungarn führten zur Herbstkrise im Oktober 1848. Am 6. Oktober begann die "Wiener Oktoberrevolution" – neuer Kurs Am 31. Oktober wurde Wien von Windischgrätz besiegt; Hinrichtung des Paulskirchenabgeordneten Robert Blum am 9. November; der Justizmord an Robert Blum löste in ganz Deutschland eine Welle des Protestes aus. Die Neuordnung der Habsburger Monarchie: - Am 19. November wurde Fürst Felix Schwarzenberg, der Schwager von Windischgrätz, als Ministerpräsident und Außenminister berufen. Er war ein entschiedener Gegner der nationalen, großdeutschen und demokratischen Bestrebungen. Seine neue Politik lief 5 darauf hinaus, die Habsburger Monarchie als Gesamtstaat zu erhalten und ihr die alte Vorherrschaft über Mitteleuropa zurückzugeben. Voraussetzung dieser Politik war die Niederschlagung der Revolutionen in Ungarn und Deutschland; Thronverzicht des Kaisers, Thronbesteigung seines gerade 18-jährigen Neffen Franz Joseph am 2. Dezember 1848. Die erfolgreiche Wiener Gegenrevolution gab auch den preußischen Konterrevolutionären neuen Auftrieb. Gegenrevolution in Preußen: - Wachsende soziale Spannungen, vor allem in Berlin; Ausgleich zwischen Monarchie und preußischer Nationalversammlung gestaltete sich aufgrund unterschiedlicher Verfassungsvorstellungen schwierig - König Friedrich Wilhelm IV. wollte die vom Parlament vorgelegte preußische Verfassung - die Charte Waldeck - nicht annehmen (suspensives Veto, Abschaffung des Zusatzes von Gottes Gnaden, Eingriffe in das altpreußische Herrschafts- und Gesellschaftssystems) - 9. November: Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg, vergebliche Proteste der Nationalversammlung, Aufruf zur Steuerverweigerung - Aber auch in Preußen hatte die zweite Revolution keine Chance; Auflösung der Nationalversammlung, aber die oktroyierte Verfassung, die am 5. Dezember 1848 vom König bekannt gegeben wurde, kam Charte Waldeck noch recht nahe (noch allgemeines Wahlrecht). Der Sieg der Gegenrevolution in Preußen und Österreich erschwerte alle weiteren Einigungsbestrebungen in Frankfurt IX. - - Probleme einer deutschen Reichsverfassung Debatte der Nationalversammlung über Umfang und innere Struktur eines deutschen Bundesstaates. Kernfragen: Stellung der Einzelstaaten zum Gesamtstaat; Frage nach den Kompetenzen der Reichsgewalt gegenüber den Einzelstaaten; Wahlrecht; Kompetenzabgrenzung zwischen Exekutive und Parlament große Mehrheit der Paulskirche tendiert zur bundesstaatlichen Lösung allgemeines und gleiches Männerwahlrecht, aber nicht unumstritten parlamentarische Monarchie mit suspensivem Veto des Monarchen Die Entscheidung über die groß- oder kleindeutsche Lösung und die Kaiserwahl: - parlamentarische Monarchie mit suspensivem Veto des Monarchen - Scheitern der großdeutschen Hoffnungen durch unnachgiebige Politik Schwarzenbergs (Einheit der Habsburger Monarchie) - Idee des engeren und weiteren Bundes (Heinrich von Gagern als neuer Ministerpräsident) - die Wiener Obstruktionspolitik führt in der Paulskirche zu einer Verschiebung der politischen Fronten, nach neuen Debatten kommt es im März 1849 zu Entscheidungen über die deutsche Frage. Die Mehrheit für Gagerns Plan wird durch den sogenannten Simon-Gagern-Pakt erreicht. Am 27. März entscheidet sich eine knappe Mehrheit dafür, die Würde des Reichsoberhauptes einem regierenden deutschen Fürsten anzutragen und für die Erblichkeit der Kaiserwürde. Am 28. März 1849 unterstützen 290 Abgeordnete die Forderung, Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anzubieten. 248 enthalten sich. Die Entscheidung von Friedrich Wilhelm IV.: - Ablehnung der vom deutschen Parlament angebotenen Kaiserkrone durch den preußischen König (3. April 1849), unwürdige („aus Dreck und Kletten“) Krone des Volkes, Rücksicht auf Österreich; König lässt sich auch von der Mehrheit der deutschen Einzelstaaten und 6 - vom preußischen Parlament nicht umstimmen; das preußische Parlament wird aufgelöst und auf der Basis des Drei-Klassen-Wahlrechts neu gewählt. 28. April 1849: endgültige Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. Vergebliche Versuche zur Durchsetzung der Reichsverfassung (Reichsverfassungskampagne). 1. gewaltfreie Versuche: parlamentarische Kämpfe (durch Reste der Paulskirche bis zur gewaltsamen Auflösung des nach Stuttgart ausgewichenen Rumpfparlaments am 18. Juni) und außerparlamentarische Bewegungen in Form von Versammlungen und Petitionen (letzteres stark in Thüringen) 2. Aufstände zur Durchsetzung der Reichsverfassung: - Dresdener Maiaufstand, Beginn am 3. Mai (Michael Bakunin, Richard Wagner, Gottfried Semper); 4. Mai 1849 provisorische Regierung, 9. Mai Niederschlagung durch preußische Truppen - Kämpfe in Preußen: Aufstände in Schlesien, der Provinz Sachsen und dem Rheinland, Zerschlagung durch Militäreinsatz unter Prinz Wilhelm. - preußische Truppen schlagen anschließend auch die Reichsverfassungskampagne in der bayerischen Pfalz nieder, wo sich ebenfalls eine provisorische Regierung gebildet hatte. Am 14. Juni 1849 flieht diese aus Kaiserslautern - längere Zeit braucht man dann bei der Niederschlagung der badischen Revolution. Man versucht, vom Süden aus der Revolution noch einmal neuen Schwung zu geben. Bildung einer provisorischen Regierung (16. Mai) nach Flucht des Großherzogs; nach Vorrücken der preußischen Truppen Niederlagen der Revolutionsarmee (15. Juni Fall Mannheims; 21. Juni entscheidender preußische Sieg bei Waghäusel; 23. Juli 1849 Kapitulation der 6000 Revolutionskämpfer in der Festung Rastatt nach dreiwöchiger Belagerung); hartes Vorgehen der Preußen, Standgerichte, zahlreiche Todesurteile - Mit dem Fall von Rastatt war die deutsche Revolution im Sommer 1849 zu Ende. Im August 1849 stellten die österreichischen und französischen Truppen dann auch in Italien die alte Ordnung wieder her. Im gleichen Monat konnten die Österreicher mit Unterstützung des Zaren auch die Revolution in Ungarn (13. August 1849) niederwerfen X. URSACHEN UND FOLGEN DES SCHEITERNS DER REVOLUTION VON 1848/49: Die neuere Forschung hat davon Abstand genommen, das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/49 monokausal zu erklären (z.B.: Widerstand der europäischen Mächte; Verrat des Bürgertums; großdeutsch-kleindeutsche Frage). Es war eher das Zusammenfallen unterschiedlichster Faktoren, das den Erfolg der Revolution verhinderte. Man muss vor allem die soziale Vielschichtigkeit der Revolution, die unterschiedlichen Revolutionsbewegungen, die großen regionalen wie konfessionellen Mentalitäts- und Interessenunterschiede und das schwierige Verhältnis zwischen bürgerlichen und unterbürgerlichen Bewegungen hervorheben. 1848/49 war keine rein bürgerliche, politisch wie sozialökonomisch in die Zukunft gerichtete Revolution. Allerdings trat die bürgerliche Gesellschaft als Gegenmodell zur vorrevolutionären Staats- und Gesellschaftsordnung am Ende der Revolution (Reichsverfassung) klarer hervor als noch zu Beginn. Sie hat auch trotz des Scheiterns der großen Ziele modernisierende Auswirkungen gehabt (1848/49 als Epochenschwelle). Stärkung der Einheits- und Freiheitsidee, Politisierung der Gesellschaft, Impuls für Bildung von Parteien und Verbänden; Begünstigung des wirtschaftlichen Aufschwungs durch einzelstaatliche Reformen während und nach der Revolution. Preußen bleibt Verfassungsstaat. 7 Nach der Revolution konnte keine Regierung in Deutschland mehr da anknüpfen, wo man 1847 aufgehört hatte. 4. Europa auf dem Weg in die Moderne 1850-1870 I. Charakter der Epoche: Die Jahrzehnte zwischen 1850 und 1870 sind in nahezu ganz Europa eine wichtige Phase im Modernisierungsprozess. 1. Durchbruch der Industrialisierung auf breiter Front 2. Beschleunigung des sozialen Wandels, Herausbildung der industriellen Klassengesellschaft 3. Bevölkerungswachstum, Wanderungsbewegungen, Urbanisierung 4. Weitreichende Veränderungen des Alltagslebens (Fabrikarbeit, städtische Wohnverhältnisse, Beschleunigung aller Lebensverhältnisse, neues Zeitgefühl) 5. Wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Aufstieg des Bürgertums 6. Neuformierung innenpolitischer Kräfte, Entstehung neuer Massenparteien und nationaler Interessenverbände 7. Reformen des politischen Systems infolge wachsender Partizipationsforderungen und neuer gesellschaftlicher Konflikte 8. Entstehung neuer Nationalstaaten und Veränderung der europäischen Mächtekonstellationen Politische Ordnungen: Parlamentarismus (England; Belgien); Konstitutionalismus (Deutschland); Bonapartismus (Frankreich); Absolutismus (Russland). Die mit dem ökonomischen und sozialen Wandel verbundenen Krisen geben starken Führungspersönlichkeiten weitreichende Handlungsmöglichkeiten: Otto von Bismarck in Deutschland, Benjamin Disraeli in England, Louis Napoleon in Frankreich, Graf Cavour in Italien. II. Entwicklungen in Deutschland a. Preußisch-österreichischer Dualismus nach der Revolution von 1848/49 - - - - 1849/50: Preußen unternimmt - unterstützt von den gemäßigten Liberalen (Gothaer Liberale) - den vergeblichen Versuch einer preußisch-kleindeutschen Einigungspolitik unter konservativem Vorzeichen (Unionspolitik; Erfurter Unionsparlament 1850) Der österreichische Ministerpräsident Schwarzenberg setzt dem preußischen Vorgehen den Plan eines von Wien dominierten großen mitteleuropäischen Bundes entgegen (Mitteleuropa, gemeinsame Zollpolitik) Am Ende des ausgebrochenen Streits um die Vorherrschaft in Mitteleuropa, der im Herbst 1850 fast zum Krieg führt, müssen sowohl Preußen (Olmützer Punktation) als auch Österreich unter dem Druck der europäischen Großmächte von ihren Maximalzielen abrücken Wiedereröffnung des Deutschen Bundestages in Frankfurt zu den alten Grundlagen nach vergeblichen Bemühungen um eine gerade auch von den deutschen Mittelstaaten (Sachsen, Bayern) gewünschte Reform des Bundes (Dresdener Konferenz 1851); der neue preußische Bundestagsgesandte Otto von Bismarck (1851-1859) hält weitere Auseinandersetzungen mit Österreich für unausweichlich 8 - Erweiterung und Erneuerung des Zollvereins zu preußischen Bedingungen 1851-53; Österreich bemüht sich vergeblich um Teilnahme an einer gesamtdeutschen Zollunion; Preußen behauptet trotz der politischen Niederlage seine Führung auf dem Feld der Handelspolitik b. Das politische System der Reaktion - - - - - trotz der machtpolitischen Gegensätze stimmen Österreich und Preußen in den innenpolitischen Fragen überein und begründen gemeinsam das System der Reaktion, um ein Wiedererstarken der liberalen und nationalen Bewegung zu verhindern Wiederbefestigung des konservativ-bürokratischen Obrigkeitsstaates; im Unterschied zum Vormärz wird die Unterdrückungspolitik des Reaktionssystems aber meist mit einer sozialökonomischen Modernisierungspolitik verbunden 12. August 1851 Bundesreaktionsbeschluß, der in die innere Ordnung der Gliedstaaten eingreift; reaktionäre Pressegesetzgebung, Polizeiverein deutscher Staaten zur Überwachung politischer Opposition neoabsolutistischer Kurs in Österreich unter dem neuen Kaiser Franz Joseph, unterstützt von der katholischen Kirche unter dem hochkonservativen Papst Pius IX. Preußen bleibt in den fünfziger Jahren Verfassungsstaat, konservative Verfassungsrevisionen und reaktionäre Innenpolitik behindern aber die Entfaltung des politischen Lebens; Streit um künftige preußische Deutschlandpolitik zwischen Hochkonservativen und Wochenblattpartei auch in den Klein- und Mittelstaaten kommt es zu Rücknahme vieler Errungenschaften der Revolution, zur Disziplinierung der Opposition und der Kammern und zur Erstarrung des politischen Lebens c. Durchbruch der Industriellen Revolution 1850-1873 Zwischen 1850 und 1873 setzte sich der seit 1845 beschleunigt verlaufende Strukturwandel der deutschen Wirtschaft in voller Breite durch, begünstigt durch die Reformpolitik der Revolutionsjahre 1848/49 (Bauernbefreiung), die verstärkte Hinwendung des Bürgertums zum wirtschaftlichen Erwerb, die entwicklungsfördernde Wirtschaftspolitik der meisten deutschen Staaten, die eine repressive Innenpolitik mit einem ökonomischen Modernisierungskurs verbanden, sowie außerordentlich guten internationalen Rahmenbedingungen (Goldfunde in Kalifornien, Mexiko und Australien; kräftige Expansion des Welthandels). In allen westeuropäischen Staaten gab es in den fünfziger und sechziger Jahren ein kräftiges Wirtschaftswachstum, ebenso in Nordamerika. Besonders starkes Wachstum in Deutschland vor allem 1853-1857; Weltwirtschaftskrise von 1857 dämpfte etwas, dann folgte eine weitere kräftige Expansion. Der von den Führungssektoren Eisenbahnen, Eisenindustrie, Steinkohlenbergbau und Maschinenbau aus getragene Wachstumsschub hielt bis 1873 an. Wachsende Wertschätzung der deutschen technischen Errungenschaften im In-und Ausland, deutsche Erfolge auf den seit 1851 durchgeführten Weltausstellungen (Siemens, Krupp). Die Industrielle Revolution war zu einem ersten Abschluss gekommen. Es folgte dann der Weg in die Hochindustrialisierung. d. Sozialer Wandel in den 50 und 60er Jahren - starkes Bevölkerungswachstum: 1850 35 Millionen in Deutschland, 1870 40 Millionen ausgesprochen junge Gesellschaft; Anteil der über 45jährigen nur bei 21% 9 - - wachsende Anteile des sekundären Sektors (Gewerbeproduktion) an der Erwerbsbevölkerung rascheres Wachstum der Städte durch deutsche Binnenwanderung vom Land in die Städte Bürgertum: wachsender gesellschaftlicher Einfluß und ökonomische Macht des politisch geschlagenen, aber nicht resignierenden Bürgertums; Wende zur Realpolitik (Ludwig August von Rochau), d. h. wachsende Orientierung an ökonomischer Macht und den ökonomischen Interessen, stärkere Hinwendung zu Preußen; Orientierung an europäischen Realitäten und deutschen machtstaatlichen Interessen Arbeiterschaft: Die Durchsetzung der freien Lohnarbeit; Herausbildung einer „Arbeiterklasse“ durch ökonomischen Wandel, Durchsetzung der Lohnarbeit und Entstehung einer neuen Marktklasse, Herausbildung eines Klassenbewusstseins und gemeinsame Aktionen und/oder Organisationen zur Verbesserung der sozialen Lage. Die Industrialisierung schuf mit den neuen Arbeitsplätzen zwar zusätzliche Erwerbschancen, vergrößerte aber zugleich die soziale Ungleichheit innerhalb der Gesamtgesellschaft sowohl bei Einkommen und Besitz als auch beim Wohnen, bei Krankheit und Tod. Innerhalb der Arbeiterschaft gab es noch große Unterschiede im Hinblick auf Qualifikationen und Entlohnung (niedrigste Löhne für arbeitende Frauen) III. Europäische Konflikte und ihre Folgen a) Aufstieg Louis-Napoleons - - 10. 12. 1848 Wahl Louis-Napoleons zum Präsidenten der französischen Republik (nach Verfassung vom Nov. 1848); Sieg der konservativen Ordnungskräfte Als Präsident war Louis-Napoleon auf die Kooperation mit der Nationalversammlung angewiesen, zudem sah die Verfassung nur eine vierjährige Amtszeit vor. Am 02. 12. 1851 sicherte sich Louis-Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zur dauerhaften Macht, ließ sich dann durch Plebiszit legitimieren, führte eine neue Verfassung ein (starke Stellung des Präsidenten) und sicherte sich 1852 den Kaisertitel durch ein neues Plebiszit (System des Bonapartismus: Verselbständigung der Exekutive, gestützt auf Militärmacht, erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik, Unterstützung der Landbevölkerung, Bündnis mit der katholischen Kirche, außenpolitische Erfolge stabilisierten das System) Starke innenpolitische Stellung in den fünfziger Jahren, wachsende Opposition und innere Krisen in den 1860er Jahren b) Der Krimkrieg und die Erosion der Wiener Ordnung von 1815 In den fünfziger Jahren vollzogen sich entscheidende Veränderungen in den Beziehungen der europäischen Mächte. Damit wurden einerseits die außenpolitischen Voraussetzungen für die Entstehung neuer Nationalstaaten (Italien, Deutschland) geschaffen. Andererseits wirkten die außenpolitischen Veränderungen auch auf die Innenpolitik der europäischen Staaten zurück. Am 1. 11. 1853 begann der russisch-türkische Krieg, der sich nach der britischfranzösischen Kriegserklärung an Rußland am 28. 03. 1854 zum Krimkrieg ausweitete. Großbritannien wollte eine Ausweitung der russischen Einflusszonen verhindern, Napoleon III. versuchte, durch den Krieg die französische Position in Europa zu verbessern und Voraussetzungen für eine Revision der Grenzen von 1815 zu schaffen. Nach dem Tod Nikolaus I. (02. 03. 1855) und dem Fall der Festung Sewastopol (8. 09.1855) lenkte der neue Zar Alexander II. ein. Am 30. 03. 1856 kam es zum Frieden von Paris, in dem die Neutralisierung des Schwarzen Meeres beschlossen wurde. 10 c) Folgen des Krimkrieges für das europäische Mächtesystem - - - Erosion bisheriger Strukturen, neben Russland war auch Österreich, das sich gegen Russland gestellt hatte, ein Verlierer. Preußen, das neutral blieb und zudem die unterschiedlichen „deutschen“ und habsburgischen Interessen betonte, profitierte vom Ausgang des Krieges (Misstrauen zwischen Russland und Österreich, ebenso zwischen den deutschen Mittelstaaten und Wien) Nach außen waren Großbritannien und das Frankreich Napoleons III. zunächst die wichtigsten Gewinner; Real- und Interessenpolitik wurden seit dem Krimkrieg in der Außenpolitik zur wichtigsten Richtschnur der Mächte Allianzen wurden nicht mehr auf der Grundlage gemeinsamer ideologischer Prinzipien (Heilige Allianz) geschlossen, sondern auf der Grundlage der Interessen; dies bot pragmatischen Machtpolitikern wie Bismarck langfristig neue Chancen IV. Neue Bewegung in der deutschen Politik - Mit der Regentschaft des Prinzen Wilhelm in Preußen begann im Oktober 1858 die „Neue Ära“. Das bisherige Reaktionssystem wurde aufgegeben, Preußen suchte eine begrenzte Verständigung mit der sich neu formierenden deutschen Nationalbewegung. Die deutschen Dinge erhielten durch die einsetzende italienische Einigungspolitik einen zusätzlichen Schub - 03. 5. 1859 französisch-piemontesische Kriegserklärung an Österreich; Niederlagen der Österreicher am 4. 6. bei Magenta und am 24. 6. bei Solferino; 11. 7. Vorfriede von Villafranca, 10. 11. Friede von Zürich; Österreich trat die Lombardei an Frankreich ab, das sie an Piemont (Cavour) weitergab - die neue Situation in Italien, die bald zum Anschluss weiterer Gebiete an den sich formierenden Nationalstaat führte (Garibaldi), intensivierte die Debatten über eine Neuordnung Deutschlands - Kritik am sicherheitspolitischen Zustand; neue Forderungen nach einer nationalen Verfassung - im September 1859 wurde der Deutsche Nationalverein gegründet, dessen Mehrheit eine preußisch geführte, aber zugleich liberal geprägte Einigungspolitik favorisierte; 1862 entstand als großdeutsche Gegenbewegung der Deutsche Reformverein - Österreich verbesserte durch innere Reformen (Verfassungspolitik) seit 1861 seine Position in der deutschen Politik; in Preußen verschärfte sich dagegen unter dem neuen König Wilhelm I. (seit 1861) der Konflikt mit den Liberalen, der sich an der Frage der Heeresreform entzündete - 1861 Gründung der Deutschen Fortschrittspartei, die bei den Wahlen in Preußen klar dominierte; 24. 09. 1862 Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten, der bis 1866 die Position des Monarchen in dem sich zum Verfassungskonflikt ausweitenden Streit entschlossen gegen die Liberalen verteidigte - die liberale Wirtschaftspolitik (Durchsetzung der Freihandelspolitik und Verlängerung des preußisch geführten Zollvereins), die zu unentschlossenen Bemühungen Österreichs und der deutschen Mittelstaaten um eine Bundesreform (1863 Frankfurter Fürstentag) und das Aufkommen neuer Parteien (Arbeiterbewegung, politischer Katholizismus, Konservative als Konkurrenten der Liberalen) führte, stärkten Bismarcks Position ebenso wie die außenpolitischen Entwicklungen 11 V. Außenpolitische Entwicklungen 1862-1866 - - 1863/64 polnischer Aufstand gegen die russische Herrschaft; Bismarck unterstützte St. Petersburg der Schleswig-Holstein-Konflikt kam 1863 neu auf die politische Tagesordnung; Preußen und Österreich erklärten Dänemark den Krieg, um allein die deutschen Interessen im Norden zu vertreten. Am 18. April 1864 wurden die Düppeler Schanzen von preußischen Truppen gestürmt, wo sich der Großteil des dänischen Heeres verschanzt hatte. Dänemark musste die preußisch-österreichischen Bedingungen akzeptieren und beim Vorfrieden im Sommer 1864 und im Frieden von Wien (30. 10.) auf seine Herrschaftsrechte in Schleswig-Holstein verzichten Für Bismarck war dieser Ausgang ein großer Erfolg, weil Preußen im Norden deutsche Interessen gesichert hatte, ohne in Abhängigkeit von der deutschen Nationalbewegung zu geraten. Zudem hatte er Österreich eingebunden und von den deutschen Mittelstaaten (andere Lösung im Norden bevorzugt) getrennt. Bei den zu erwartenden Konflikten um die künftige Stellung Schleswig-Holsteins hatte Preußen gegenüber Österreich die besseren Karten. VI. Der deutsche Krieg von 1866 Als Österreich im Frühjahr 1865 wieder umschwenkte und sich nun gemeinsam mit den deutschen Mittelstaaten für ein eigenes Herzogtum Schleswig-Holstein unter Friedrich von Sonderburg-Augustenburg einsetzte, ging Preußen auf Konfliktkurs. Der am 14. August 1865 geschlossene Vertrag von Gastein war zwar nochmals ein Kompromiss (Teilung der Beute, Holstein fällt an Österreich, Schleswig an Preußen), aber Bismarck blieb in der Offensive und bemühte sich um eine außenpolitische Absicherung sowie um die richtige innenpolitische Vorbereitung (überzeugender Kriegsgrund) des Krieges. Englands und Russlands Neutralität war relativ sicher. Frankreichs Forderung nach territorialen Zugeständnissen lehnte Bismarck Ende 1865 gegenüber Napoleon III. ab. Frankreich schloss im Juni 1866 zwar einen geheimen Neutralitätspakt mit Österreich, auf dessen Sieg Napoleon setzte. Frankreich stellte sich aber nicht offen gegen Preußen, sondern hoffte auf eine Schiedsrichterrolle. Wichtig war ferner das am 8. April 1866 geschlossene geheime preußisch-italienische Angriffsbündnis, in dem sich Italien für eine begrenzte Zeit verpflichtete, im preußisch-österreichischen Kriegsfall eine zweite Front zu eröffnen. Der Krieg und die Folgen: - - 9. April 1866: Preußen forderte beim Bundestag ein nach allgemeinem gleichen Wahlrecht und direkt gewähltes deutsches Parlament Juni 1866: nach weiterem Streit um Schleswig-Holstein und die Bundesreform, stellte Österreich am 11. Juni 1866 einen Mobilisierungsantrag beim Bundestag, um eine Bundesexekution gegen Preußen einzuleiten. Die Mehrheit der Bundesversammlung stimmte am 14. Juni diesem Antrag zu. Preußen erklärte daraufhin den Deutschen Bund für erloschen. Damit war der Krieg unvermeidlich geworden. Österreich zählte 13 weitere Bundesstaaten, darunter alle Mittelstaaten, zu seinen Bündnispartnern. Hinter Preußen standen 18 Bundesstaaten, vor allem die kleineren mittel- und norddeutschen Staaten. In der öffentlichen Meinung war der Krieg - auch bei vielen kleindeutschen Liberalen unpopulär 21. 06. Beginn des Krieges; 03. 07. 1866 entscheidende Schlacht bei Königgrätz/Sadowa; Sieg der von Moltke geführten preußischen Truppen 12 - Österreich konnte sich zwar in Italien durch Siege (Custozza und Lissa) noch behaupten, blieb aber auf dem deutschen Kriegsschauplatz ohne Chance. Um ein Eingreifen Frankreichs zu verhindern, setzte Bismarck auf eine rasche Einigung mit dem geschlagenen Österreich in Form eines Verständigungsfriedens. Schon am 26. Juli wurde der Vorfrieden von Nikolsburg geschlossen. Am 23. August 1866 folgte der Friede zu Prag. Österreich stimmte der Auflösung des Deutschen Bundes ebenso zu wie der Schaffung eines Norddeutschen Bundes unter Führung Preußens, dem alle Staaten nördlich des Mains angehören sollten. - Schleswig-Holstein wurde von Preußen annektiert weitere preußische Annexionen von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt Sicherung der preußischen Führungsrolle durch den Norddeutschen Bund engere Anbindung der süddeutschen Staaten, die mit Österreich gekämpft hatten, durch Schutz- und Trutzbündnisse und eine Reform des Zollvereins Herausdrängung Österreichs aus den deutschen Angelegenheiten Bismarck schuf durch seine Einigungspolitik (Fortschritte in der Frage der deutschen Einheit und Bejahung eines direkt gewählten deutschen Parlaments) eine Basis für die Kooperation mit großen Teilen der liberalen Bewegung. Lösung des Verfassungskonflikts durch Zustimmung zur Indemnitätsvorlage, die den Konflikt zwischen Regierung und Parlament beendete, zugleich aber die Fortschrittspartei in Nationalliberale und Linksliberale spaltete - VII. Der Weg zum Deutschen Reich a) Gründung des Norddeutschen Bundes Der Norddeutsche Bund, der nach 1866 entstand, war ein bis zur Maingrenze reichender Bundesstaat unter der Hegemonie Preußens. Bismarck wollte durch die weitreichenden Veränderungen von 1866 einen Kompromiss zwischen den neuen Forderungen der liberalen Kräfte und den Machtinteressen der alten Gewalten erreichen. Nur auf diese Weise konnte aus seiner Sicht die politische Macht vor dem Zugriff der neuen sozialen Kräfte bewahrt werden und der preußische Machtstaat – dem sich der Junker Bismarck zu allererst verpflichtet fühlte – sein politisches Gewicht bewahren. Die Liberalen sollten Konzessionen in Bezug auf Einheit, Verfassung und Wirtschaft erhalten, letztlich aber Juniorpartner der Bismarckschen Politik bleiben. Der konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes wurde im Februar 1867 nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählt. Gemeinsam mit den Liberalen und Teilen der Konservativen (Freikonservative) schuf Bismarck eine stark auf seine Person zugeschnittene Verfassung. Wichtigste Organe: BUNDESRAT als Vertretung der einzelstaatlichen Regierungen (faktische Hegemonie Preußens) mit legislativen und exekutiven Befugnissen; BUNDESPRÄSIDIUM, das bei der „preußischen Krone“ (dem König) lag; BUNDESKANZLER, der vom Bundespräsidium ernannt wurde und die politische Verantwortung für alle Regierungsakte trug; der nach allgemeinem Männerwahlrecht gewählte REICHSTAG hatte wichtige Rechte im Bereich der Gesetzgebung und der Finanzen, aber keinen direkten Einfluss auf die Regierungsbildung. Die stark auf die Person Bismarcks zugeschnittene die Verfassung etablierte ein konstitutionelles, aber kein parlamentarisches System. Sie war ein Kompromiss, der als „System umgangener Entscheidungen“ bezeichnet worden ist, weil er klaren und dauerhaften Entscheidungen in Bezug auf das Machtgewicht zwischen Exekutive und Parlament auswich (W. J. MOMMSEN). 13 b) Reformpolitik im Norddeutschen Bund und nationaler Stillstand In Kooperation mit den Liberalen wurden nach 1867 zahlreiche innere Reformen durchgeführt, die den wirtschaftlichen und sozialen Interessen des Bürgertums entgegenkamen (Durchsetzung des Wirtschaftsliberalismus). Dagegen stießen die Bemühungen um eine engere Anbindung der süddeutschen Staaten trotz der 1866 abgeschlossenen Schutz- und Trutzbündnisse und der Zollvereinsreorganisation von 1867 (Schaffung eines Zollparlaments) auf Schwierigkeiten. Die Stimmung in Süddeutschland war nach 1866 preußenfeindlich. Die Kritik wuchs auch durch den beginnenden Kulturkampf, der zu einer scharfen Frontstellung zwischen dem protestantisch geprägten Liberalismus und dem ultramontan geprägten Katholizismus führte (antimodernistischer Kurs von Papst PIUS IX.: 1854 Dogma der unbefleckten Empfängnis, 1864 Syllabus Errorum, 1869/70 Erstes Vatikanisches Konzil und Unfehlbarkeitsdogma). Da Bismarck die Vollendung der kleindeutschen Einheit als notwendigen Schlussstein für sein neues Staatsgebäude ansah, musste er nach anderen Integrationsmitteln Ausschau halten. Diese boten sich in der Außenpolitik. c) Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71 Der Kriegsausbruch von 1870 war nicht allein Bismarcks Werk. Er war nicht die Folge eines genialen Planes, sondern eher das Aufeinandertreffen zweier machtpolitischer Offensiven, die jeweils viel mit der innenpolitischen Situation zu tun hatten. Bismarck wurde getrieben durch den Stillstand der nationalen Integrationspolitik. Die französischen Entscheidungsträger wurden durch die instabile innenpolitische Lage und die seit 1866 stark angewachsene antipreußische Stimmung – verstärkt durch die Luxemburg-Krise von 1867 – zu einer Risikopolitik getrieben. Die europäische Situation war für Bismarck recht günstig: Großbritannien und Russland blieben ebenso neutral wie Österreich, das sich schon innenpolitisch keine Frontstellung gegen Preußen-Deutschland leisten konnte. Wichtigste Etappen: - Hohenzollernsche Thronkandidatur in Spanien (Hohenzollern-Sigmaringen) als Anlass des deutsch-französischen Krieges Verschärfung der deutsch-französischen Spannungen durch die von Bismarck manipulierte Emser Depesche (13. Juli 1870) 19. Juli 1870 Kriegserklärung des sich gedemütigt fühlenden Frankreichs an den Norddeutschen Bund Der Krieg von 1870/71 ging auf zwei Offensiven zurück, die ihren tieferen Grund in unterschiedlichen französischen und deutschen Interessen hatten. Obwohl auch Bismarck die Krise mächtig angeheizt hatte, traf die französische Seite die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges. Kriegsziel der Franzosen war die Eindämmung der preußischen Macht und die Neuordnung des deutschen Raumes in Form einer Föderation unter stärkerem Einfluss Frankreichs. Das Kriegsziel der deutschen Seite bestand zunächst in der Vollendung des Nationalstaates. Im Süden Deutschlands traten nicht nur die Regierungen an die Seite des Nordens, auch in der Bevölkerung des Südens gab es einen klaren Stimmungsumschwung. Nicht mehr Preußen, sondern Frankreich war nun der große Gegner. - rasche Erfolge der von Moltke geführten deutschen Truppen 2. September 1870 Kapitulation der 2. frz. Armee in Sedan; Gefangennahme des Kaisers Napoleon III. 14 - 4. September Ausrufung der Republik in Paris, „Regierung der nationalen Verteidigung“ unter den Republikanern Jules Favre und Léon Gambetta Vergebliche Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges, Ausrufung des Volkskrieges gegen die deutschen Truppen Ende 1870 verschärfte Bismarck den Druck auf das belagerte Paris nach Wahlen zur französischen Nationalversammlung kam es am 26. Februar 1871 zum Vorfrieden von Versailles, der am 10. Mai 1871 durch den Frieden von Frankfurt bestätigt wurde: Abtretung Elsaß-Lothringens (sicherheits-, militär- und nationalpolitische Motive, schwere Belastung des deutschfranzösischen Verhältnisses); frz. Kriegsentschädigung in Höhe von 5 Milliarden Francs d) Die Gründung des Deutschen Reiches - - - - Bismarck setzte nach dem militärischen Erfolg auf den freiwilligen Beitritt der süddeutschen Staaten zum preußisch geführten Bundesstaaten Beitrittsverhandlungen mit den süddeutschen Staaten: 15. November 1870 Beitrittsverträge mit BADEN und HESSEN-DARMSTADT; 23. November Beitrittsvertrag mit BAYERN; 25. November Beitrittsvertrag mit WÜRTTEMBERG am 10. Dezember fasste der Reichstag des Norddeutschen Bundes den Beschluss, Wilhelm I. darum zu bitten, „durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“; Wilhelm lehnte zunächst ab Bismarck brachte den bayerischen König Ludwig II. (nach Wilhelm ranghöchster Monarch) dazu, den preußischen König zur Annahme der Kaiserkrone zu bitten. Dies ebnete den Weg zur Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles e) Bewertung der Reichsgründung - - - zeitgenössische Kritik an der militärisch geprägten Kaiserproklamation nach 1871 zunächst Verklärung Bismarcks, die kleindeutsch-preußische Geschichtsschreibung (Treitschke, Sybel) verklärt die Reichsgründung als Vollendung deutscher Geschichte nach 1945 wurde das Reich vielfach als Bollwerk gegen den Geist der Zeit (militaristisch, antiliberal, antiparlamentarisch, großpreußisch) interpretiert, das im Grunde von Anfang an seine Chancen bereits verspielt habe in den letzten Jahren hat sich eine differenzierte Sicht durchgesetzt. Man betont dabei zum einen, dass die zeitweise diskutierten Alternativen zur Reichsgründung (Reform des Deutschen Bundes) wenig Chancen hatten. Man hebt zum zweiten wieder stärker die „Normalität“ einer deutschen Nationalstaatsgründung (NIPPERDEY) und auch der preußisch-kleindeutschen Lösung (ENGELBERG) hervor. Schließlich wird drittens auf die Offenheit verwiesen, die auch nach der Reichsgründung zunächst in Bezug auf die deutsche Innenpolitik bestand (Wolfgang J. MOMMSEN). 15