SS 2013 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung: Europäische Revolutionen 1848/49 10. Die Gegenrevolution in Preußen und die Bilanz der Herbstkrise I. Preußische Gegenrevolution R. HACHTMANN, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997. D. BLASIUS, Friedrich Wilhelm IV. 1795 – 1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992. Auch in Preußen gab es nach den Märzereignissen und den Wahlen keine dauerhafte politische Beruhigung. Dies galt besonders für die Hauptstadt Berlin. Hier prallten die unterschiedlichen Auffassungen des liberalen Ministeriums, der von linksliberalen und demokratischen Kräften beherrschten preußische Nationalversammlung, einer starken außerparlamentarischen demokratischen Vereinsbewegung, radikalisierten Berliner Unterschichten und des von Anfang an zur Gegenrevolution tendierenden Hofes hart aufeinander. Erste große Konflikte gab es wegen der Rückkehr des Prinzen Wilhelm, der wegen der Märzereignisse nach London gegangen war, jetzt aber als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung zurückkam und als Vertreter der Militärpartei galt. Am 14. Juni stürmten Berliner Unterschichten das Zeughaus. Bürgerwehr und Militär stellten die Ordnung wieder her. Zwischen Regierung und Parlament brach nun ein Streit aus, ob man zusätzliche Truppen nach Berlin schicken sollte. Die Auseinandersetzungen führten zum Rücktritt der Regierung CAMPHAUSEN. Am 25. Juni folgte das neue Kabinett AUERSWALDHANSEMANN, das den gemäßigt liberalen Reformkurs fortsetzen wollte. Im Umfeld des Königs bereitete man dagegen schon die gezielte Zerschlagung der Revolution vor. Das neue Kabinett amtierte nur bis zum 8. September, dann trat es wegen tief greifender Differenzen mit der Nationalversammlung zurück (Antireaktionsbeschluss). Noch wagte es Friedrich Wilhelm IV. nicht, den Bruch mit der Revolution offen zu vollziehen. Am 21. September wurde der General Ernst von PFUEL zum neuen preußischen Ministerpräsidenten berufen, der als Reformer galt und zunächst nochmals versuchte, einen Ausgleich mit der preußischen Nationalversammlung herbeizuführen. Der Grundsatzkonflikt zwischen Krone und Parlament war aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die von der Nationalversammlung im Oktober vorgelegte preußische Verfassung – die Charte Waldeck – war für den König nicht annehmbar (suspensives Veto, Abschaffung des Zusatzes von Gottes Gnaden, Eingriffe in das altpreußische Herrschafts- und Gesellschaftssystem). Der gegenrevolutionären Strategie des König kamen neue Unruhen in Berlin entgegen, die auf tiefe Gegensätze zwischen gemäßigten Bürgerlichen und den Unterschichten hinwiesen. Die Politik der Mitte, wie sie die Nationalversammlung betrieb, hatten angesichts der Formierung der Gegenrevolution und wachsender Sozialproteste nur noch wenige Chancen. Nach neuerlichen Berliner Unruhen, die sich an der Frage "Unterstützung der Wiener Revolution" entzündeten und bei denen Parlamentsabgeordnete angegriffen wurden, trat PFUEL Ende Oktober zurück. Neuer Ministerpräsident wurde Friedrich Wilhelm Graf von BRANDENBURG, ein Onkel des Königs. Innenminister wurde Otto Theodor von MANTEUFFEL, der später die reaktionäre Politik der 1850er Jahre als Ministerpräsident leitete. Die Nationalversammlung protestierte gegen das Kabinett und verlangte eine volkstümlichere Regierung. Der König beharrte aber auf seinem Kurs. Am 9. November wurde die Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt. Sie setzte sich zur Wehr, hatte aber gegen das einrückende Militär (General Friedrich 1 von WRANGEL) keine Chance. Am 14. November beschloss die Mehrheit der Nationalversammlung noch, auf den Staatsstreich des Königs mit einer Aufforderung an die Bürger zur Steuerverweigerung zu antworten. Große Auswirkungen hatte die Kampfmaßnahme des Parlaments aber nicht. Aufstandsversuche in verschiedenen preußischen Provinzen (Erfurt 24. November) wurden vom Militär rasch niedergeschlagen. Auch in Preußen hatte die zweite Revolution keine Chance. Dennoch wurden auch hier die Weichen nicht in Richtung Neoabsolutismus gestellt. König und gegenrevolutionäre Kräfte waren dazu nicht stark genug. Die oktroyierte Verfassung, die am 5. Dezember 1848 vom König bekannt gegeben wurde, kam der Charte Waldeck noch recht nahe (noch gab es sogar das allgemeine Wahlrecht). Auch der König selbst wollte sie eigentlich nicht. Von der Paulskirche wurde die innerpreußische Entwicklung aufmerksam verfolgt. Die kleindeutschen Liberalen, die ja mit dem preußischen König national-politisch ins Geschäft kommen wollten, versuchten deshalb zwischen König und preußischem Parlament zu vermitteln. BASSERMANN und Heinrich von GAGERN reisten Ende des Jahres 1848 nach Berlin, um Friedrich Wilhelm dazu zu bringen, den Ausgleich mit seinem Parlament zu suchen und zugleich ein Bekenntnis zu Preußens deutscher Rolle abzugeben. Schon in diesen Gesprächen wurde klar, dass Friedrich Wilhelm die Solidarität mit Österreich und den anderen deutschen Fürsten einer Kooperation mit der deutschen Nationalbewegung vorzog. Der Sieg der Gegenrevolution in Preußen erschwerte damit auch alle weiteren Einigungsbestrebungen der Paulskirche. II. Chancen einer zweiten Revolution im Herbst 1848: Über diese Frage ist in der Forschung vielfach diskutiert worden. Hätte nicht eine zweite Revolution den Dingen noch einmal eine entscheidende Wende geben und damit die Märzerrungenschaften sichern können? Für die Chance einer zweiten Revolutionswelle sprach immerhin, dass es im Herbst 1848 in vielen Teilen Deutschlands (Wien, Berlin, Frankfurt, Rheinland, Baden, Thüringen) zu einer beachtlichen oppositionellen Welle kam. Karl GRIEWANK [Ursachen und Folgen des Scheiterns der deutschen Revolution, in: D. LANGEWIESCHE, Hrsg., Die deutsche Revolution] schreibt zum Ausbleiben der zweiten Revolution: "Wer diese Ereignisse genauer verfolgt, kann sich dem Eindruck nicht verschließen, dass es kaum anders kommen konnte." Er und andere Historiker betonen die fehlende Koordination der einzelnen Aktionen, die fürstentreue Loyalität vieler Deutscher und vor allem die in breiten Schichten im Herbst 1848 erkennbare Revolutionsmüdigkeit, die auch mit Enttäuschungen über fehlende materielle Verbesserungen zusammenhing. Zum Teil wird auch die fehlende politische Reife der Deutschen angeführt (Günter WOLLSTEIN). Die letzte These verkennt aber die beachtlichen politischen Leistungen, die 1848/49 in Parlamenten, Stadtverordnetenversammlungen, Vereinen, Petitionskampagnen usw. erbracht worden sind, und auch die dauerhaften Revolutionserfahrungen, die später in die großen politischen und gesellschaftlichen Bewegungen eingingen (Parteien, Gewerkschaften, Frauenbewegung). Die neuere Forschung zeigt, dass die Bereitschaft zur politischen Betätigung im deutschen Volk weit größer war, als man es früher gesehen hat. Die zweite Revolution scheiterte deshalb weniger an fehlender politischer Reife als vor allem an anderen, bereits genannten Faktoren: den regionalen Differenzen, der gerade im Herbst stark zutage tretenden inneren Spaltung des deutschen Bürgertums und nicht zuletzt auch am europäischen Revolutionsrhythmus, der durch den allgemeinen Vormarsch konservativer Kräfte den Spielraum deutscher Innenpolitik entscheidend einengte. 2