Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten Die EU, die EG und die Mitgliedstaaten Gliederung: I. Die Europäischen Gemeinschaften – Entstehung und Entwicklung......................... 3 II. Die EU ..................................................................................................................... 4 1. Entstehung und Entwicklung ................................................................................ 5 2. Die drei Säulen der EU ......................................................................................... 5 a) Die Europäischen Gemeinschaften.................................................................... 6 b) Die GASP .......................................................................................................... 6 c) Die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen ....................... 7 III. Die Mitgliedstaaten ................................................................................................ 7 IV. Das Europarecht ..................................................................................................... 8 1. Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht ...................................................... 9 2. Vorrang des Gemeinschaftsrechts ....................................................................... 10 3. Das Maastricht-Urteil .......................................................................................... 10 V. Grundgesetzlicher Grundrechtsschutz und Europarecht ....................................... 12 1. Rechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht ......................................... 12 2. Rechtsschutz gegen Vollzugsakte der deutschen Behörden ............................... 12 VI. Literaturhinweise ................................................................................................. 13 I. Die Europäischen Gemeinschaften – Entstehung und Entwicklung Die Europäische Integration geht auf ein kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs von dem Franzosen Jean Monnet entwickeltes Konzept zurück, das durch den französischen Außenminister Robert Schuman aufgegriffen wurde. Der Grundgedanke des sog. SchumanPlans war es, durch die Eingliederung Deutschlands in ein supranationales System zusammen mit anderen Staaten die deutsche Produktion von Kohle und Stahl als wirtschaftlich und militärisch bedeutende Faktoren unter internationale Kontrolle zu bringen und so eine 3 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten Bedrohung des auszuschließen. europäischen Den Anfang Friedens des durch europäischen ein wiedererstarkendes Integrationsprozesses Deutschland bildeten die Gründungsverträge. Zunächst wurde der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion) am 18. April 1951 in Paris durch Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Italien und die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Er trat am 27. Juli 1952 in Kraft, war auf 50 Jahre befristet und hatte zum Ziel, einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zu schaffen. Am 1./2. Juni 1955 beschlossen die Außenminister der EGKS-Staaten in Messina, die Integration auf alle Wirtschaftsbereiche auszudehnen. Infolgedessen wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet. Dies waren der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die Annäherung der nationalen Wirtschaftspolitiken zum Ziel hatte sowie der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom/EAG), der die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie sowie die Schaffung eines gemeinsamen Marktes auf dem Gebiet der Kernenergie bezweckte. Die Römischen Verträge traten am 1. Januar 1958 in Kraft. EGKS, EWG und Euratom bilden zusammen die Europäischen Gemeinschaften. Der Gerichtshof (EuGH) und das Europäische Parlament (früher: Parlamentarische Versammlung) sind für alle drei, jeweils eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzenden Gemeinschaften zuständig. Durch den Fusionsvertrag vom 8. April 1965 werden der gemeinsame Rat (Ministerrat) und die Kommission ebenfalls für alle drei Gemeinschaften zuständig. Eine grundlegende Veränderung gegenüber den Gründungsverträgen erfolgt durch die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte (EEA), in der die Kompetenzen und die Integrationsziele der EG erweitert, die Organe der Gemeinschaft gestärkt und die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes bis Ende 1992 festgeschrieben werden. An die Stelle der bisherigen EWG tritt mit dem EUV 1993 die EG mit erweiterten Kompetenzen. II. Die EU Die Europäische Union (EU) wurde mit dem am 7. Februar 1992 in Maastricht durch die zwölf Staaten der europäischen Gemeinschaften unterzeichneten und am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union (EUV) gegründet. Seit dem Beitritt 4 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten von Finnland, Österreich und Schweden am 1. Januar 1995 hat die EU 15 Mitgliedstaaten und insgesamt ca. 374, 2 Mio. Einwohner auf einer Gesamtfläche von 3,2 Mio. km². 1. Entstehung und Entwicklung Der Vertrag über die Europäische Union (EUV, Vertrag von Maastricht) vom 1. November 1993 bildet durch die Gründung der EU die Grundlage für die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungs-Union (WWU) bis 1999 sowie für weitere politische Integrationsschritte, insbesondere eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz. Durch den EUV wird auch die Unionsbürgerschaft eingeführt, die die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt und nach Art. 17 – 22 EGV bestimmte Rechte verleiht. Die EU verfügt über einen einheitlichen institutionellen Rahmen. Seit dem 31. März 1998 sind bilaterale Beitrittsverhandlungen bezüglich einer EUErweiterung mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern aufgenommen worden. Mit der Einführung des Euro als gemeinsamer eigenständiger Währung in elf Staaten hat am 1. Januar 1999 die Dritte Stufe der WWU termingerecht begonnen. Die Staaten Dänemark, Schweden und Großbritannien sind aus politischen Gründen nicht an dieser Währungsunion beteiligt, Griechenland hat die Konvergenzkriterien nicht erfüllt. Nach der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente ist am 1. Mai 1999 der Vertrag von Amsterdam in allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten. Durch die im Amsterdamer Vertrag festgelegten Änderungen werden die Kompetenzen der EU erweitert, die Organe gestärkt, die Strukturen der GASP verbessert und als neues Ziel der EU die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts festgeschrieben. 2. Die drei Säulen der EU Die Europäische Union wird üblicherweise durch das sog. „Drei-Säulen-Modell“ beschrieben. Die Union wird dabei durch einen Tempel dargestellt, der auf drei Säulen ruht. Die Säule 1 wird durch die drei Europäischen Gemeinschaften als Kern der Europäischen Union gebildet. Die drei europäischen Gemeinschaften, die EGKS, die Euratom und die EWG wurden durch den Vertrag von Maastricht (EUV) in die EU integriert. Säule 2 stellt die gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik (GASP, Art. 11 – 28 EUV), Säule 3 die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 29 – 45 EUV) dar. Die EU faßt die drei Säulen unter 5 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten einem gemeinsamen Dach zusammen. In diesem Dach und im Fundament des Tempels befinden sich allgemeine Bestimmungen, die die EU betreffen: die Schlußbestimmungen der Art. 46 – 53 EUV und die gemeinsamen Bestimmungen der Art. 1 – 7 EUV. Innerhalb dieses Modells ist die erste Säule von den beiden anderen durch ihre Supranationalität zu unterscheiden. Diese Supranationalität bedeutet, daß die Europäischen Gemeinschaften in bestimmten Bereichen dazu in der Lage sind, für die Mitgliedstaaten verbindliches Recht zu setzen. Sie ist dadurch zustande gekommen, daß die Mitgliedstaaten mit den Gründungsverträgen einen Teil ihrer Hoheitsrechte auf diese übertragen haben. Insoweit haben sie ihre Souveränitätsrechte beschränkt und einen Rechtskörper geschaffen, der für sie selbst und für ihre Staatsangehörigen verbindlich ist. Das Recht der Zweiten und Dritten Säule hingegen stellt intergouvernementale Zusammenarbeit im Sinne des Völkerrechts dar. Aufgrund der institutionellen Verzahnung und des gemeinsamen Dachs ist die Europäische Union jedoch als Einheit zu betrachten. a) Die Europäischen Gemeinschaften Die Europäischen Gemeinschaften bilden die Erste und wesentliche Säule der EU. Ihre Entstehung und Entwicklung wurde bereits oben dargestellt. Ihre Aufgaben sind in Art. 2 EGV definiert, ihre Politiken umfassen unter anderem den Binnenmarkt, Kultur, Jugend und Umwelt. Sie besitzt Rechtspersönlichkeit. Die Bereiche Kontrolle der EU-Außengrenzen, Asyl, Einwanderung und justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen wurden durch den Vertrag von Amsterdam unter Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes von der Dritten in die Erste Säule überführt. Sie werden somit ebenfalls von der EG wahrgenommen. Die Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes bedeutet hierbei, daß die Staaten, die die SchengenÜbereinkommen unterzeichnet haben, ihre Zusammenarbeit beim Abbau der Binnengrenzen in den rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU stellen. b) Die GASP Die Europäische politische Zusammenarbeit wurde durch die EEA 1987 vertraglich geregelt, durch den EUV 1993 zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fortentwickelt und durch den Vertrag von Amsterdam (1999) kohärenter und effizienter gestaltet. 1993 wurde der Beschluß gefaßt, eine sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik 6 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten erstreckende GASP zu entwickeln, wozu auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört. Im EUV in der Amsterdamer Fassung sind die sog. Petersberger Aufgaben, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen, als Aufgaben der GASP festgeschrieben. Die Instrumente der GASP sind gemeinsame Strategie, gemeinsame Aktion und gemeinsamer Standpunkt. Die Beschlußfassung erfolgt im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Die Institutionen der EU, Kommission, EuGH und Europäisches Parlament, haben im Rahmen der GASP nur untergeordnete Bedeutung. c) Die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wurde durch den EUV 1993 in der Form der intergouvernementalen Zusammenarbeit vereinbart. Dadurch wurden die Mitgliedstaaten zur Koordinierung ihres Handelns verpflichtet. Der Amsterdamer Vertrag hat 1999 Teilbereiche des Dritten Pfeilers der EU in den Ersten Pfeiler transformiert und damit der Kontrolle des EuGH zugänglich gemacht. Damit verbleibt im Dritten Pfeiler die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Sie sieht durch eine engere Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten und durch die Einschaltung von Europol die Bekämpfung und Verhütung von Rassismus und Kriminalität vor. Die Beschlußfassung erfolgt im Wege der intergouvernementalen Zusammenarbeit, das Europäische Parlament hat keine direkten Befugnisse. III. Die Mitgliedstaaten Die EU hat derzeit 15 Mitgliedstaaten. Zu den sechs Gründerstaaten Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland traten am 1. Januar 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark hinzu, am 1. Januar 1981 wurde Griechenland Mitglied. 1986 traten Spanien und Portugal der Gemeinschaft bei, 1995 Schweden, Finnland und Österreich. Über die Rechtsnatur der EU gibt es verschiedene Ansichten. Nach der früher teilweise vertretenen Völkerrechtstheorie stellte die EG einen intergouvernementalen Zusammenschluß souveräner Staaten dar, der sich nur durch die Supranationalität von anderen internationalen Organisationen unterscheide. Dieser Theorie zufolge wäre das Europarecht Völkerrecht, sie vermag also die Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts nicht 7 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten hinreichend zu erklären. Vereinzelt wird vertreten, die EU habe bundesstaatsähnlichen Charakter. Diese Ansicht übersieht jedoch, daß der Gemeinschaft wesentliche Elemente eines Staates fehlen. Zum einen sind ihr Hoheitsrechte nur auf einzelnen, begrenzten Sachgebieten übertragen worden. Zum anderen fehlen der EU die Allzuständigkeit und die sog. Kompetenz-Kompetenz, die Befugnis, durch Beschlüsse der eigenen Organe die eigene Zuständigkeit zu erweitern. Nach der gemeinschaftsrechtlichen Ansicht stellt die EU eine neue Form der Verbindung von Staaten dar, die zwischen einem Staat im herkömmlichen Sinne und einer internationalen Organisation einzuordnen ist. Sie ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat, sondern eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art. Der EUV begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der staatlich organisierten Völker Europas, keinen sich auf ein Europäisches Staatsvolk stützenden Staat. Die EU ist somit ein Staatenverbund, kein Bundesstaat. Die Mitgliedstaaten übertragen zwar in den durch die jeweilige Verfassung gesetzten Grenzen Hoheitsrechte auf die EU, in Deutschland geschieht dies nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 GG und in den Grenzen der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Folglich behalten die Mitgliedstaaten ihre Souveränität in vollem Umfange. Selbst die auf die EU übertragenen Hoheitsrechte werden nicht mit quasi dinglicher Wirkung übertragen, sondern verbleiben beim jeweiligen Mitgliedsstaat. Dieser verzichtet lediglich in „schuldrechtlicher Weise“ auf die Ausübung der Hoheitsgewalt. Bei einem Austritt aus der EU würde er die Hoheitsrechte wieder in vollem Umfang selbst ausüben können. IV. Das Europarecht Das Europarecht läßt sich in das Europarecht im weiteren Sinne und das Europarecht im engeren Sinne unterscheiden. Europarecht im weiteren Sinne umfaßt die normativen Regelungen aller europäischen internationalen Organisationen und Abkommen. Hierzu gehören z.B. auch die Regelungen des europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), der Westeuropäischen Union (WEU) und des Europarats und damit die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die European Free Trade Area (EFTA). Europarecht im engeren Sinne hingegen wird durch den Vertrag über die Europäische Union in der konsolidierten Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam sowie das Recht der drei Europäischen Gemeinschaften 8 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten gebildet. Aufgrund der starken institutionellen Verzahnung innerhalb des Drei-SäulenModells der EU stellen auch das Recht der Zweiten und Dritten Säule Europarecht im engeren Sinne dar. 1. Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht Das Gemeinschaftsrecht ist das Recht der drei Europäischen Gemeinschaften, also der Ersten Säule der Europäischen Union. Es läßt sich in primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht unterteilen. Das primäre Gemeinschaftsrecht umfaßt die Bestimmungen der Verträge, die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts und das Gewohnheitsrecht. Die Bestimmungen der Verträge sind die der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften sowie deren Anlagen, Anhänge und Protokolle: Der Montanunionvertrag von 1951 zur Gründung der EGKS und die römischen Verträge von 1957 zur Gründung der EWG (seit dem Vertrag von Maastricht: EG) und der Euratom. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind die durch Rechtsvergleichung gewonnenen, sowohl der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst als auch den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten insbesondere durch gemeinsamen das allgemeinen Rechtsstaatsprinzip Rechtsgrundsätze. begründete Sätze Hierzu des gehören allgemeinen Verwaltungsrechts wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip, der Vertrauensschutz, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das Gebot der Rechtssicherheit, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der Grundsatz „ne bis in idem“, das Recht auf Akteneinsicht und der Grundsatz der Gleichbehandlung. Darüber hinaus gehört auch die allgemeine Geltung der Grundrechte zu den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts. Das Gewohnheitsrecht ist durch Übung und Rechtsüberzeugung entstandenes Recht, das geschriebenes Gemeinschaftsrecht ergänzt oder ändert. Ein Beispiel für solches Gewohnheitsrecht war, daß zwar nach Art. 203 Abs. 1 EGV die Regierung jedes Mitgliedsstaates zur Entsendung eines Vertreters auf Ministerebene in den Rat verpflichtet ist, sich aber trotz dieser eindeutigen Bestimmung in der Praxis die Entsendung von Staatssekretären eingebürgert hat. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist das abgeleitete, auf Grundlage der Verträge erlassene Recht der Gemeinschaftsorgane. Hierzu gehören gem. Art. 249 EGV Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen sowie ungekennzeichnete Rechtshandlungen des Rates oder der Kommission wie etwa Verfahrens- 9 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten und Geschäftsordnungen, allgemeine Programme oder Vereinbarungen zwischen den Organen der Gemeinschaften. 2. Vorrang des Gemeinschaftsrechts Das Gemeinschaftsrecht stellt aufgrund der Supranationalität der Europäischen Gemeinschaften eine autonome Rechtsquelle und eine eigenständige Rechtsordnung dar. Diese ist gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten vorrangig. Dies gilt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH sowohl für das Primärrecht als auch für das der autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung entspringende und aus diesem Grunde gleichfalls an der Vorrangwirkung teilnehmende Sekundärrecht. Es besteht also ein Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehendes nationales Recht behält demzufolge seine Gültigkeit, wird aber im Einzelfall nicht angewendet. Statt dessen kommt die betreffende Regelung des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung. Durch die Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften und durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf diese können europäische Rechtsakte den Bürger in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar zu einem Tun oder Unterlassen berechtigen oder verpflichten, was grundsätzlich nur durch die Handlungen deutscher Staatsgewalt geschieht. Hierdurch können die Freiheitsrechte des Bürgers eingeschränkt werden. Aus diesem Grund könnten auch Rechtsakte von Gemeinschaftsorganen an den deutschen Grundrechten zu messen sein, wenn die aus nationaler Sicht unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH nicht sichergestellt werden. Dieses Konzept führt jedoch dazu, daß jedes nationale Verfassungsgericht Gemeinschaftsrechtsakte an seinen Grundrechten messen kann. Dies gefährdet die für das Zusammenwachsen Europas notwendige einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts. Folglich ist diese Konzeption abzulehnen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bezieht sich in vollem Umfang auch auf die deutschen Grundrechte. 3. Das Maastricht-Urteil Nach dem Abschluß des EUV wurde die Vereinbarkeit dieses Vertrages mit Art. 23 Abs. 1 GG bezweifelt. Es ist Verfassungsbeschwerde gegen die deutschen Gesetze zur Umsetzung 10 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten des EUV mit der Begründung erhoben worden, daß die weitgehende Übertragung von Kompetenzen auf die EU das Demokratiegebot verletze. Denn der allein unmittelbar demokratisch legitimierte Bundestag habe letztlich keine wesentlichen Kompetenzen mehr und das zur Verwirklichung des Demokratieprinzips bestehende Wahlrecht des Art. 38 GG laufe leer. Zudem sei das Gewaltenteilungsprinzip verletzt, weil in der EU die wesentlichen legislativen Aufgaben von den nicht zur Legislative gehörenden Organen Rat und Kommission ausgeübt würden. Das Bundesverfassungsgericht wies im sog. Maastricht-Urteil die Verfassungsbeschwerde zurück. Zwar sei eine Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Art. 23 GG nicht unbegrenzt möglich. Art. 38 GG gestatte nicht, daß die durch die Wahl vermittelte Legitimation durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen dermaßen entleert werde, daß das in Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verankerte Demokratieprinzip verletzt werde. Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU sei somit, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert sei. Dies sei jedoch durch die Rückkoppelung zwischen den europäischen Organen und den nationalen Parlamenten gegeben: Die im Rat der EU handelnden Vertreter der deutschen Regierung sind nach Maßgabe der nationalen Verfassung dem Bundestag Rechenschaft schuldig. Somit sind sie zwar nicht unmittelbar durch Wahlen als Rechtsetzungsorgan legitimiert, durch die Verpflichtung gegenüber dem nationalem Parlament ist die Legitimation jedoch wieder hergestellt. Hinzu kommt die zunehmende demokratische Legitimation durch das europäische Parlament. Solange die demokratische Legitimation allerdings primär durch die nationalen Parlamente vermittelt wird, seien der Ausdehnung von Aufgaben und Befugnissen der EU jedoch Grenzen vom Demokratieprinzip her gesetzt, denn dem Bundestag müßten Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben. Auch dies sei trotz der im EUV angelegten Dynamik einer weiteren Integration durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das die nationale Identität der Mitgliedstaaten wahrende Subsidiaritätsprinzip sichergestellt. Zudem stellte das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung fest, daß es seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH ausübe. 11 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten V. Grundgesetzlicher Grundrechtsschutz und Europarecht Wenn sekundäres Gemeinschaftsrecht bzw. dessen Vollzug die Grundrechte des Einzelnen berührt, stellt sich die Frage, wie der Schutz der Grundrechte in diesem Kooperationsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und EuGH gesichert ist. 1. Rechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht Die Verordnung selber als Bestandteil des sekundären Gemeinschaftsrechts ist grundsätzlich an den europäischen Grundrechten zu messen. Hierfür ist grundsätzlich der EuGH zuständig. Bleibt eine Klage vor dem EuGH erfolglos, greift nach der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts seine Kompetenz allenfalls subsidiär und zur „generelle(n) Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards“ ein, soweit diese auf europäischer Ebene nicht gewährleistet sind. Aber auch für den Fall, daß der europäische Grundrechtsschutz einmal nicht dem Standard des GG entspricht, widerspricht eine Jurisdiktionskompetenz des Bundesverfassungsgerichts der Konzeption des Art. 23 Abs. 1 GG. Die Regelung sieht ausschließlich die Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland auf die EU vor. Diese muß gem. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG davon abhängig gemacht werden, ob zum Zeitpunkt der Übertragung bei der Anstellung einer Prognose von einem vergleichbaren Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene ausgegangen werden kann. Ist die Übertragung von Hoheitsrechten jedoch einmal erfolgt, so findet eine Kontrolle an deutschen Verfassungsstandards nicht mehr statt. Die Auswirkungen von sekundärem Gemeinschaftsrecht auf die Grundrechte, die nach der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU erfolgen, sind von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht erfaßt. Zudem würde eine Überprüfung von Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts an den nationalen Verfassungsstandards aller Mitgliedstaaten die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Frage stellen. Damit wäre die Grundlage der Verwirklichung der Europäischen Integration gefährdet. Aus diesen Gründen ist eine Überprüfung der Verordnung bzw. des sekundären Gemeinschaftsrechts an den Grundrechten des GG durch das Bundesverfassungsgericht nicht möglich. 2. Rechtsschutz gegen Vollzugsakte der deutschen Behörden Auch grundgesetzlicher Grundrechtsschutz gegen Vollzugsakte der deutschen Behörden, die in Ausführung des sekundären Gemeinschaftsrechts ergehen, ist nicht immer möglich. Zwar sind die deutschen Behörden gem. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG an die Grundrechte des GG 12 Aachener Europarechtsatelier - Veranstaltung Nr. 1 - EU, EG und Mitgliedstaaten gebunden. Vollziehen die deutschen Behörden jedoch ausschließlich und ohne eigene Entscheidungsbefugnis nur das Gemeinschaftsrecht, so wird ihre Stellung als nationales Vollzugsorgan der deutschen Staatsgewalt durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts überlagert. In diesem Fall wird der Vollzugsakt des Gemeinschaftsrechts durch die deutsche Behörde ebenfalls noch als der Kompetenz des EuGH unterfallendes Gemeinschaftsrecht gewertet. Demzufolge ist eine Messung an den Grundrechten des GG nicht möglich. Eine andere Situation besteht lediglich dann, wenn die Vollzugsakte der deutschen Behörde von den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts nicht erfaßt werden, etwa weil das Gemeinschaftsrecht hierfür keine Regelungen trifft. Dann besteht dieselbe Situation wie beim Vollzug nationalen Rechts, und der Grundrechtsschutz greift ein. VI. Literaturhinweise Vertiefende Hinweise finden sich in der Rechtsprechung bei: -EuGH Slg. 1964, 1251 ff, – Costa/ENEL -BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht -BVerfGE 37, 271 ff. – Solange I -BVerfGE 73, 399 ff. – Solange II Vertiefende Hinweise in der Literatur sind zu finden bei: Blanke, Hermann-Josef, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Staat?, in: DÖV 1993, 412 ff. Bleckmann, Albert, Der Vertrag über die Europäische Union – Eine Einführung, in: DVBl. 1992, 335 ff. Frenz, Walter, Grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie gegen Rechtsakte europäischer Organe?, in: Der Staat 34 (1995), 586 ff. Götz, Volkmar, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, 1081 ff. Wilmowsky, Peter von, Einführung in das Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Jura 1992, 337 ff. 13