Aachener Europarechts-Atelier, 2. Mai und 6. Juni 2002 Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht - Strukturen und Problemfelder Dr. U. Maidowski, Münster Inhaltsübersicht A. Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts 1. Primäres Gemeinschaftsrecht 1.1. Gründungsverträge und Änderungen / Erweiterungen 1.2. Ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht 1.3. Sonstige, dem primären Gemeinschaftsrecht angenäherte Rechtsakte 2 2 3 3 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht 2.1. Rechtsetzungsverfahren 2.2. Die Rechtsakte im einzelnen 2.2.1. Verordnung 2.2.2. Richtlinie 2.2.3. Entscheidung 2.2.4. Empfehlung, Stellungnahme 2.2.5. Sonstige Rechtsquellen 8 4 4 5 5 6 7 7 3. Fundstellen für das Gemeinschaftsrecht 8 4. Quellen zum Studium des Gemeinschaftsrechts 9 B. Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht 1. Die bestimmenden Faktoren 1.1. Die Charakteristika der Europäischen Gemeinschaften 1.2. Die Reichweite des Gemeinschaftsrechts 1.3. Die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten 10 10 10 11 2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts 2.1. Die Rechtsprechung des EuGH 2.2. Die Rechtsprechung des BVerfG 12 12 12 3. Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit 3.1. Die Begriffe 3.2. Die Rechtsprechung des EuGH 15 15 15 2 4. Anhang: Die Leitsätze zur Maastricht-Entscheidung 17 3 1. Primäres Gemeinschaftsrecht Als primäres Gemeinschaftsrecht wird die Gesamtheit aller Rechtsregeln bezeichnet, die von den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften als Völkerrechtssubjekten zur Konstituierung und Ausgestaltung der Gemeinschaften geschaffen worden ist. Die Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht ist wichtig, weil sie eine gemeinschaftsrechtliche Normenhierarchie kreiert. Das Primärrecht schafft die Möglichkeit der autonomen Rechtsetzung und bildet gleichzeitig den gemeinschaftsrechtlichen Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts. 1.1. Gründungsverträge und Änderungen / Erweiterungen Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951, BGBl 1952 II 447 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 (Zählung der Artikel in der konsolidierten Fassung des Vertrages von Amsterdam), BGBl II 766 Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957 (keine Änderungen in der Zählweise), BGBl II 1014 Zu den Gründungsverträgen gehören Annexe: Protokolle, Erklärungen, Anhänge usw., die nach Art. 311 EGV (Art. 207 EAGV, Art. 84 EGKSV) Bestandteile der Verträge sind. Die Gründungsverträge werden wesentlich ergänzt u.a. durch den Beschluss des Rates in der Zusammensetzung der Vertreter der Mitgliedstaaten vom 20. September 1976, BGBl 1977 II, 734, zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (Direktwahlbeschluss). Teil des Primärrechts sind selbstverständlich die Verträge, die die Gründungsverträge geändert und grundlegend umgestaltet haben: Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986, BGBl II 1102: Änderung der Gründungsverträge zur Vorbereitung der Europäischen Union; Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ, Art. 30) EU-Vertrag vom 7. Februar 1992 ("Maastrichter Vertrag"), BGBl II 1253: - Schaffung der EU: Art. 1 bis 7 - Änderung der Gründungsverträge: Art. 8 bis 10 - GASP: Art. 11 bis 28 - Zusammenarbeit in Strafsachen usw: Art. 29 bis 42 - Verstärkte Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten: Art 43 bis 45 - Schlussbestimmungen: Art. 46 bis 53, u.a. Vertragsänderungen, Beitritt, Vertragsdauer, Aufhebung der EPZ Vertrag von Amsterdam zur Änderung des EUV, der EG-Verträge sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, vom 2. Oktober 1997 (eine Zusammenstellung aller maßgeblichen Texte enthält die Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam, Abl. EG C 340 vom 10.11.1997, S. 115), BGBl 1998 II 386 - Änderungen der Gründungsverträge, des EUV und des Ratsbeschlusses vom 20. September 1976 (Wahlakt EP): Art. 1 bis 5 - Redaktionelle Änderungen der Gründungsverträge (Streichung hinfälliger Bestimmungen), Übergangsbestimmungen: Art. 6 bis 11 - Umnummerierung, Geltungsdauer: Art. 12 bis 15 4 1.2. Ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht Es kann als primäres oder (seltener) als sekundäres Gemeinschaftsrecht entstehen. Gemeinschaftsgewohnheitsrecht ist denkbar, wenn durch das Handeln der Gemeinschaftsorgane und / oder der Mitgliedstaaten aufgrund "ständiger Übung" Rechtsüberzeugung gebildet wird (Bsp: Vertretung der Mitgliedstaaten im Rat nicht nur durch Minister - so Art. 203 EGV -, sondern auch durch Staatssekretäre). Wichtiger sind die "Allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind". Sie stellen (i.d.R.) kein Gewohnheitsrecht dar, weil sie nicht notwendig eine Rechtsüberzeugung aller Mitgliedstaaten wiedergeben, sondern vom EuGH im Wege wertender Rechtsvergleichung als die im Sinne des Gemeinschaftsrechts beste Lösung aus dem Normenbestand der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten ausgewählt und formuliert worden sind. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte (dazu Referat Dr. Keller). Eine eigene Kategorie bilden daneben die Prinzipien zur Sicherung des Gemeinschaftsrechts (Vorrang des Gemeinschaftsrechts, unmittelbare Anwendbarkeit mit der Folge individueller Rechte und Pflichten, Staatshaftungsanspruch). 1.3. Sonstige, dem primären Gemeinschaftsrecht angenäherte Rechtsakte Die Mitgliedstaaten werden als Völkerrechtssubjekte in vielfältiger Form auch "neben" den Strukturen der Europäischen Gemeinschaften tätig. Wenn das Ergebnis dieser Tätigkeit unmittelbar die weitere rechtliche Ausgestaltung der Gemeinschaften ist, handelt es sich um primäres Gemeinschaftsrecht (Bsp: Direktwahlakt). Gehen die Ziele dieser Tätigkeit darüber hinaus, sind die betroffenen Rechtsakte "in der Nähe" des Gemeinschaftsrechts zu verorten, ohne Primärrecht im strengen Sinn darzustellen. Die Zone der dem Gemeinschaftsrecht angenäherten Rechtsakte ist durch den EUV erheblich ausgeweitet worden. Die wichtigsten Kategorien: - Gemeinschaftsabkommen: völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft mit Internationalen Organisationen oder Drittstaaten, vgl. Art. 300 EGV (Verfahrensbestimmungen), Art. 133, 302 bis 304, 310 EGV (Bsp. für Zuständigkeiten). Die Wirkung liegt zwischen Primär- und Sekundärrecht. Gemeinsch.Abk. stehen über dem Sekundärrecht, weil sie die Gemeinschaftsorgane binden (Art. 300 Abs. 7 EGV), aber unter dem Primärrecht (Art. 300 Abs. 6 EGV). - Gemischte Abkommen: völkerrechtliche Verträge zwischen der Gemeinschaft sowie zusätzlich den Mitgliedstaaten und Internationalen Organisationen / Drittstaaten in Bereichen, die teilweise zur nationalen, teilweise zur Gemeinschaftszuständigkeit gehören - Abkommen der Mitgliedstaaten "mit besonderem Gemeinschaftsbezug": vgl. Art. 293 EGV (Verhandlungspflicht in den Bereichen "Europa der Bürger", Doppelbesteuerung usw.). Wichtigstes Beispiel: Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen vom 27.9.1968, das dem nationalen Recht vorgeht. - Weitere Formen der Zusammenarbeit im Rahmen des EUV: Grundsätze und Gemeinsame Leitlinien (GASP: Art. 13 Abs. 1 EUV, ZBJI: Art. 4) Beschluss über Gemeinsame Strategien (GASP: Art. 13 Abs. 2 EUV, ZBJI: Art. 4) Gemeinsame Standpunkte (GASP: Art. 15 EUV, ZBJI: Art. 34 Abs. 2 Lit. a EUV) Gemeinsame Aktionen (GASP: Art. 14 EUV) Rahmenbeschlüsse und andere Beschlüsse (ZBJI: Art. 34 Abs. 2 Lit. b und c EUV) Maßnahmen zur Durchführung "anderer" Beschlüsse (Art. 34 Abs. 2 lit.c S 2 EUV) Regelmäßige Zusammenarbeit (Art. 12, 16 EUV) 5 - System der "engeren Zusammenarbeit" einzelner Mitgliedstaaten ("Flexibiliserung"): Art. 43-45 EUV mit allgemeinen Regeln, Art. 11 EGV speziell für den ersten Pfeiler (EG), Art. 40 EUV speziell für den dritten Pfeiler (ZBJI) - zu verstehen als Ermächtigung zur Schaffung partiellen Sekundärrechts. 6 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht 2.1. Rechtsetzungsverfahren Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit sind die Kompetenzen an Gemeinschaftsorgane verteilt, jeweils verknüpft mit der Festlegung, in welcher Rechtsform des sekundären Gemeinschaftsrecht die Kompetenz auszuüben ist (Bsp.: Art. 94 - "Der Rat erläßt ... Richtlinien"); gelegentlich ist dem handelnden Organ auch eine Auswahl aus mehreren oder allen zur Verfügung stehenden Rechtsformen überlassen (Bsp.: Art. 93 - "Der Rat erläßt ... die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften..."). Für jeden in den Verträgen vorgesehenen Rechtsakt ist also angegeben, wer ihn erlassen darf oder soll, in welchem Verfahren und mit welchen Stimmverhältnissen (Einstimmigkeit, Mehrheit) ist jeweils geregelt. Rechtsakte der Kommission: Vgl. den sog. "Komitologie-Beschluss" (B. des Rates v. 13.7.1987, Abl L Nr. 197 S. 33) über das Zusammenwirken der Kommission mit Ausschüssen (besetzt mit Vertretern der MS) unterschiedlicher Verbindlichkeit - beratender Ausschuss (Verfahren I), Verwaltungsausschuss (Verfahren II), Regelungsausschuss (Verfahren III a und b). Welche Verfahrensvariante zu wählen ist, ergibt sich aus dem jeweils die Delegation der Rechtsetzungsbefugnis an die Kommission enthaltenden Sekundärrechtsakt des RAtes. In all diesen Verfahrensarten bleibt das Europäische Parlament ausgeschaltet (dazu Modus vivendi vom 20.12.1994 - Abl 1995 C 293/1, der informelle Stellungnahmen vorsieht). Rechtsakte des Rates oder des Rates mit dem Parlament: Verfahren der Alleinentscheidung, Bsp Art. 94: "Der Rat erläßt einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien..." Früheres Regelverfahren. Starke Stellung der Kommission, keine Kontroll- und Blockademöglichkeit des Parlaments. Verfahren der Mitentscheidung (Kodezisionsverfahren), Bsp Art. 95 Abs. 1 Satz 2: "Der Rat erläßt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 und nach Anhörung des Wirtschaftsund Sozialausschusses die Maßnahmen ...". Durch den Maastrichter Vertrag in den EGV aufgenommen; Anwendungsbereich im Vertrag von Amsterdam erheblich ausgedehnt. Ziel: Stellung des demokratisch legitimierten Organs Parlament zu stärken. Zum Verfahrensablauf - 4 Phasen -: Art. 251 EGV (lesen!) Verfahren der Zusammenarbeit, Bsp Art. 103 Abs. 2 EGV: "Der Rat kann erforderlichenfalls nach dem Verfahren des Artikels 252 Definitionen ... näher bestimmen." Nur noch im Rahmen der WWU. Zum Verfahrensablauf: Art. 252 EGV. Zustimmungsverfahren, Bsp Art. 161 EGV: Der Rat "legt auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des EP sowie nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen einstimmig die Aufgaben .. fest...". Nicht alle Rechtsakte des Sekundären Gemeinschaftsrechts, sondern nur Verordnungen des Rates und der Kommission sowie die an alle MS gerichteten Richtlinien dieser beiden Organe müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. Nach Art. 253 EGV müssen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen, die vom EP und Rat gemeinsam oder vom Rat oder von der Kommission allein erlassen werden, mit Gründen versehen sein. Dies dient u.a. der Selbstkontrolle der handelnden Organe und erleichtert die Auslegung und gerichtliche Überprüfung der Rechtsakte. Informationsrecht: Art. 255 EGV enthält ein grundrechtsähnliches Recht der Unionsbürger (und jeder natürlichen oder juristischen Person mit Sitz oder Wohnsitz in einem MS), nämlich das Recht auf Zugang zu Dokumenten 7 des EP, des Rates und der Kommission. Inhaltlich geht es um die Beratungsunterlagen der betroffenen Organe, vor allem des Rates, etwa Protokollerklärungen der MS bei Abstimmungen im Rat. 2.2. Die Rechtsakte im einzelnen EG und EAG Art. 249 EGV, Art. 161 EAGV Verordnung (249 II) Richtlinie (249 III) EGKS Art. 14 EGKSV Allg. Entscheidung (14 II) Empfehlung (14 III) Mögliche Adressaten alle Mitgliedstaaten, individuelle Gemeinschaftsangehörige unmittelbare und allgemeine Geltung, in allen Teilen verbindlich alle oder bestimmte Mitgliedstaaten Verbindlichkeit des Ziels, Wahlfreiheit hinsichtlich der Form und Mittel; nach der Rspr. u.U. unmittelbare Wirkungen für individuelle Personen in allen Teilen für die Adressaten verbindlich bei EGKS: auch individuelle Personen Entscheidung (249 IV) Empfehlung (249 V) Individuelle Entscheidung (14 II, 15 II) Stellungnahme (14 IV) Stellungnahme (249 V) Stellungnahme (14 IV) Rechtswirkungen bestimmte Mitgliedstaaten, bestimmte Personen: Einzelfallregelung alle oder bestimmte Mitgliedstaaten, unverbindlich Gemeinschaftsorgan (Bsp.: Art. 276 EGV, Haushaltsentlastung), Einzelpersonen bestimmte Mitgliedstaaten (Bsp.: unverbindlich Art. 226, Vertragsverletzungsverfahren), Gemeinschaftsorgan, unbestimmter Adressatenkreis Es gibt keine Hierarchie innerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsquellen, ebensowenig zwischen den denkbaren Normgebern. 2.2.1. Verordnung (EGKS: Allgemeine Entscheidung) Die Verordnung hat "allgemeine Geltung, .. ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat." Sie ist das Kernstück der supranationalen, also über den Kopf des Nationalstaats hinweg direkt auf die innerstaatliche Rechtsordnung zielenden Gesetzgebung. Sie setzt für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Individuen unmittelbar geltendes Recht. Nationale Organe müssen keine Umsetzungsmaßnahmen vornehmen (falls Durchführungsvorschriften erforderlich sind, besteht eine Verpflichtung zu ihrem Erlaß - Art. 10 EGV). Gerichte und Verwaltungsbehörden müssen sie anwenden, auslegen und ggf. dem EuGH zur Auslegung vorlegen. Entgegenstehendes nationales Recht bleibt außer Anwendung, Maßnahmen, die ihre Wirkungen behindern könnten, müssen unterbleiben. Späteres nationales Recht, das gegen die VO verstößt, kann nicht den Satz des lex posterior für sich in Anspruch nehmen. Die VO richtet sich unterschiedslos an jeden Mitgliedstaat, auch wenn sie ihrem Inhalt nach möglicherweise nicht in jedem MS einschlägige Sachverhalte vorfindet. Mögliche Verordnungsgeber sind Rat, Rat und Parlament gemeinsam, Kommission und Europäische Zentralbank. Beispiel für den Aufbau einer Verordnung: "VO (EG) Nr. 2561/1999 der Kommission vom 3. Dezember 1999 zur Festlegung der Vermarktungsnorm für Erbsen", ergangen auf der Grundlage einer Ratsverordnung über die Gemeinsame Marktorganisation für Obst und Gemüse, Aufbau der Verordnung: - Rechtsgrundlagen (EGV, VO EG Nr. 2200/96 des Rates) - Gründe für den Erlaß der Verordnung (Rechtsklarheit, Völkerrecht, Verbraucherschutz) - Verordnungstext (Art. 1-3): Geltung der Norm, Zulässigkeit von Abweichungen 8 - Anhang: Norm für Erbsen, eigentlicher, stark gegliederter Norminhalt mit Begriffsbestimmungen, Normen zu den Güteeigenschaften (Mindesteigenschaften, Güteklassen), Größensortierung, Packtoleranzen, Aufmachung, Kennzeichnungspflicht hinsichtlich Absender, Art des Erzeugnisses, Handelsmerkmal, Ursprungsbezeichnung, Kontrollstelle 2.2.2. Richtlinie (EGKS: Empfehlung) "Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel." Die Richtlinie muss also durch einen nationalen Rechtsakt "umgesetzt" werden - innerstaatliche Vorschriften werden erlassen oder, wenn sie schon existieren, mit Blick auf die Richtlinie ausgelegt und dürfen nicht mehr entgegen der Richtlinie geändert oder aufgehoben werden. Bei unterbleibender oder fehlerhafter Umsetzung hilft nur die Rechtsfigur der unmittelbaren Anwendbarkeit (s.u.). Richtlinie und Verordnung nähern sich aufgrund der praktischen Handhabung durch die EGInstitutionen häufig einander an, weil Richtlinien in der Formulierung des verbindlichen "Ziels" teilweise sehr detailliert sein können. Mögliche Richtliniengeber sind der Rat, Rat und Parlament gemeinsam oder die Kommission (seltener, auf technischem Gebiet oder zur Änderung oder Anpassung bestehender Ratsrichtlinien). Nur die an alle MS gerichteten Richtlinien müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. Sie treten zu dem im Normtext genannten Datum in Kraft; fehlt ein solches Datum, treten sie am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft (Art. 254 Abs. 2 EGV). Alle anderen Richtlinien werden mit Bekanntgabe an die Adressaten wirksam (Art. 254 Abs. 3 EGV). Beispiele für den Aufbau einer Richtlinie: "Richtlinie 2000/3/EG der Kommission vom 22. Februar 2000 zur Anpassung der Richtlinie 77/541/EWG des Rates über Sicherheitsgurte und Haltesysteme für Kraftfahrzeuge an den technischen Fortschritt (Text von Bedeutung für den EWR): - Rechtsgrundlagen (EGV, RL 70/156/EWG, RL 77/541/EWG) - Gründe für den Erlaß der Verordnung (6 Erwägungsgründe) - Richtlinientext (Art. 1-5): Normtext, Umsetzungsfrist, Inkrafttreten, Adressaten - Anhänge I bis XVIII: technische Einzelheite über Sicherheitssysteme (ca. 75 Seiten) -------------------------------------------------------------------"Richtlinie 1999/94/EG des EP und des Rates vom 13. Dezember 1999 über die Bereitstellung von Verbraucherinformationen über den Kraftstoffverbrauch und CO²-Emissionen beim Marketing für neue PKW: - Rechtsgrundlagen (EGV, Verfahrenshinweis auf Art. 251) - Gründe für den Erlaß der Verordnung (11 Erwägungsgründe) - Richtlinientext Art. 1 Zweck der Richtlnie Art. 2 Begriffsbestimmungen Art. 3-9 Verpflichtungen der MS Art 10-12 Ausschuß, Verpflichtung, Sanktionen einzuführen, Umsetzungsfrist Informationspflichten zur Erleichterung der Umsetzungskontrolle Art. 13 Inkrafttreten Art. 14 Adressaten Umsetzungspflicht: Jede Richtlinie enthält eine Frist, binnen derer sie in nationales Recht umgesetzt werden muss. Erfolgt die Umsetzung nicht innerhalb der Frist, kann die Richtlinie ganz oder teilweise - je nach Normstruktur - unmittelbar anwendbar werden, ohne dass dies die fortdauernde Pflicht zur Umsetzung hindern würde. Die 9 Verlängerung der Frist kann nur auf Gemeinschaftsebene politisch erreicht werden. Das Argument, die innerstaatlichen Rechtsetzungsprozesse seien zu langwierig, um die Frist einhalten zu können, ist belanglos. Auch das Argument, andere MS verstießen ebenfalls gegen die Pflicht zu rechtzeitiger Umsetzung, ist wertlos. Die Frist kann auch nicht relativiert werden durch Übergangsvorschriften für den Zeitraum zwischen Fristablauf und verspäteter Umsetzung (EuGH, Rs C 396/92, Rspr. 1994 I, 3717ff., zum deutschen UVP-Gesetz). Die Kommission überwacht die Umsetzung (Art. 211 EGV). Verstößt ein MS gegen die Umsetzungspflicht und hat der Gerichtshof dies festgestellt, kann die Kommission die Verhängung eines Zwangsgelds beantragen (Art. 228 Abs. 2 EGV). effet utile: Die Umsetzung muss inhaltlich so erfolgen, dass das - wie detailliert auch immer formulierte - Ziel der Richtlinie wirksam erreicht wird. Bei Richtlinien, die (vor allem im Bereich technischer Harmonisierung) ein gleichsam "endgültiges" Maß an Detailgenauigkeit aufweisen, beschränkt sich die Umsetzung inhaltlich also auf ein Abschreiben der Regelungen; hier bezieht sich die Wahlmöglichkeit lediglich auf die Rechtsform der Umsetzungsnorm. Rechtsnormvorbehalt: Die Umsetzung muss durch zwingende nationale Rechtsvorschrift mit Außenwirkung erfolgen, auf die der einzelne sich vor Gericht berufen kann; dies setzt Publizität voraus. Es wäre nicht ausreichend, die Umsetzung auf die Ebene der (jederzeit revidierbaren) Verwaltungsvorschriften zu verlagern (bestritten). Es reicht auch nicht aus, auf eine der Richhtlinie entsprechende innerstaatliche Praxis zu verweisen. Falls zum geregelten Sachverhalt innerstaatliche Normen schon bestehen, müssen sie dem Richtlinienzweck entweder durch Änderung oder durch richtlinienkonforme Auslegung angepaßt werden. In den Einzelheiten gibt es hier aber noch einige Unklarheit. Vorwirkung: Während des Laufs der Umsetzungsfrist dürfen keine nationalen Rechtsakte erlassen werden, die den Zweck der Richtlinie gefährden können (Bsp.: EuGH Rs C 129/96, RSpr. 1997 I, 7411 - Inter-Environnement Wallonie), Art. 10 Abs. 2, 249 Abs. 3 EGV. Sperrwirkung: Solange die Richtlinie gilt, darf die nationale Rechtsordnung nicht in Widerspruch zu den Geboten der Richtlinie geraten - es darf weder neues widersprechendes Recht gesetzt noch dürfen notwendige Umsetzungsakte aufgehoben werden. 2.3.3. Entscheidung (EGKS: Individuelle Entscheidung) "Die Entscheidung ist in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet." Zuständig für den Erlaß einer Entscheidung sind Rat oder (praktisch meist) Kommission (im EGKSV nur die Kommission). Entscheidungen sind an Individuen gerichtet (Bsp: Kartellrecht) oder an Staaten (Bsp.: Art 88 Abs. 2 EGV) und regeln einen konkreten Sachverhalt verbindlich. Sie sind in der Rechtsanwendungspraxis (nicht in der Fortentwicklung oder Gestaltung der Rechtsordnung) außerordentlich wichtig und effektiv. Die Entscheidung wird durch Bekanntgabe (EGKSV: Zustellung) wirksam. Abgrenzung von der VO: Bei der Verordnung ist der Adressatenkreis abstrakt-generell benannt, bei der Entscheidung ist der Adressat entweder individuell genannt oder individualisierbar. Auch eine an einen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidung kann bei Individuen unmittelbare Wirkungen erzeugen (dazu s.u.). 2.2.4. Empfehlung, Stellungnahme (EGKS: Stellungnahme) "Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich." Die Unterscheidung zwischen beiden Formen ist nicht bedeutend. Stellungnahme (Reaktion auf einen Vorschlag) und Empfehlung (eigene Initiative) werden meist (EGKSV: immer) von der Kommission, 10 daneben auch vom Rat abgegeben. Vgl. Art. 211 2. Spiegelstrich EGV: Abweichung vom Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit zugunsten der Kommission! Auch vom Europäischen Parlament und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss kommen Stellungnahmen, etwa im Rahmen ihrer Beteiligung am Rechtsetzungsverfahren, ohne dass diese in Art. 249 EGV genannt sind. Neben der politischen entfalten sie auch rechtliche Relevanz: Prozessvoraussetzung im Vertragsverletzungsverfahren, Art. 226 EGV; vgl. auch Art. 97/96 EGV oder EuGH, Rs C 322/1988 (Grimaldi, Rspr. 1989, 4407: Empfehlung und Stellungn. als zwingend zu berücksichtigendes Mittel zur Auslegung nationalen und Gemeinschaftsrechts!); Empfehlungen und Stellungn. als Auslöser der Loyalitätspflichten (gemeinschaftsfreundliches Verhalten) nach Art. 10 EGV. 2.2.5. Sonstige Rechtsquellen Hier ist eine breite, aber recht diffuse Zone zwischen politischem Effekt und "gewissen rechtlichen Wirkungen" angesprochen. Als Ausgangspunkt gilt festzuhalten, dass nach dem Willen der Mitgliedstaaten nur diejenigen Rechtsquellen verbindliche Aussagen treffen sollen, die als solche in den Verträgen bezeichnet werden. Dennoch: Im Gemeinschaftsrecht ist mehr als im nationalen Recht! - die Phantasie des Juristen gefragt. Das hat der EuGH bei der stetigen Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und bei der Ausdifferenzierung des "effet utile" bewiesen. Die Gemeinschaftsinstitutionen liefern reichlich Material, das bei der Entfaltung juristischer Kreativität helfen kann, da sie sich sehr häufig gerade in den ihrer Kompetenz noch nicht mit aller Klarheit zugewiesenen Randzonen äußern, und zwar gerade in Rechtsformen, die außerhalb des in den Verträgen als Rechtsquelle bezeichneten Kanons liegen (Aktionsprogramm, Weißbuch, Grünbuch usw.). Wer diese Äußerungen verfolgt, wird häufig nach dem Motto "steter Tropfen höhlt den Stein" zugunsten neuer oder der Abrundung bestehender Kompetenzen argumentieren können oder beispielsweise für eine stärkere Orientierung des Gemeinschaftshandelns an Grundrechten streiten können. Dennoch ist hier auch Vorsicht geboten: So halten einzelne MS in den sogenannten Protokollerklärungen des Rates häufig ihren Standpunkt zu dem in Entstehung begriffenen Rechtsakt fest, meist in negativer Form, um deutlich zu machen, was sie nicht geregelt haben wollen. Mehr als eine Auslegungshilfe bieten diese Erklärungen nicht! 3. Fundstellen für das Gemeinschaftsrecht Amtsblatt C, Mitteilungen und Bekanntmachungen, erscheint fast täglich, mehrere Abteilungen: I. Mitteilungen, II. Vorbereitende Rechtsakte, III. Bekanntmachungen; gelegentlich weitere Rubriken (EWR, Titel V EUV, Titel VI EUV). Zusätzlich erscheint ein Supplement (S), Ausschreibungen und öffentliche Aufträge, sowie ein Mitteilungsblatt über Stellenausschreibungen. Internet: http://europa.eu.int/eur-lex (45 Tage ab Erscheinen) Amtsblatt L, Rechtsvorschriften, mehrere Abteilungen: Veröffentlichungsbedürftige und Nicht veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte; gelegentlich weitere Rubriken (s.o.) Bulletin "Tätigkeiten des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften" Fundstellennachweis des geltenden Gemeinschaftsrechts: erscheint halbjährlich in systematischer und chronologischer Ordnung. Enthält alle in den verfügbaren Auslieferungen des Amtsblatts veröffentlichten Rechtsakte einschließlich der "Rechtsakte politischer Natur oder einzelner Rechtsakte von allgemeinem Interesse" aus den sonstigen Tätigkeitsbereichen der Europäischen Union: von den Gemeinschaften geschlossene internationale Abkommen, Sekundärrecht der Gemeinschaften ohne "Rechtsakte der laufenden Verwaltung", Komplementärrecht (Beschlüsse der im 11 Ministerrat vereinigten Regierungsvertreter), abgeleitete nicht bindende Rechtsakte, die die Organe für wichtig halten Anhand der Dokumentennummer läßt sich jeder Rechtsakt eindeutig identifizieren. Beispiel: 3 68 R 1612 "3" Celex Dokumentationsbereich (3 = abgeleitetes Gemeinschaftsrecht) "68" Jahr der Veröffentlichung "R" Rechtsform (R = Verordnung, L = Richtlinie, usw.) "1612" Nummer des Rechtsaktes Also: VO (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Abl L 257, 19.10.1968, S. 2 Allgemeiner Veröffentlichungskatalog des Amtes für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften: Jahresbände Register für den Schriftwechsel von Kommissionspräsident Prodi, wird seit dem 31. März 2000 veröffentlicht: http://europa.eu.int/comm/commissioners/prodi/mail_de.htm Bulletin der EU und Gesamtbericht über die Tätigkeit der EU, als CD-Rom ab Mai 2000 erhältlich (Amt für Amtliche Veröffentlichungen der EG, L 2985 Luxemburg) 4. Quellen zum Studium des Gemeinschaftsrechts Textausgaben (Taschenbuchausgaben): Beck-dtv (Europa-Recht, 16. Auflage 2000, Stand 1.11.1999): recht umfassend, aber ohne Liste der Vertragsänderungen Nomos-Textausgabe (Europarecht, 12. Auflage, Stand 1.1.2000): etwas weniger vollständig, aber mit Liste der Änderungen Aktuelle Lehrbuchliteratur: Waltraud Hakenberg (Referentin am EuGH), Grundzüge des europäischen Gemeinschaftsrechts, 2. Aufl. 2000, Verlag Vahlen: knapp, aber (auch optisch) ausgezeichnet aufbereitet Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Auflage 1999, Beck-Verlag: umfassend und in der Tradition der Verfechter der Europäischen Idee Rudolf Streinz, Europarecht, 4. Aufl. 1999, C.F.Müller: Schwerpunkt auf den allgemeinen Fragen, optisch hervorgehobene Fallbeispiele, sparsame, aber zielgerichtete Beigabe von Literaturhinweisen zu jedem Kapitel Albert Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Heymanns: umfassend, sehr theoretisch orientiert (ausführlich zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht - nationales Recht), wegen des Erscheinungsdatums inzwischen nicht mehr durchgehend aktuell zu Schweitzer / Hummer, Europarecht (5. Aufl. 1996): Nachtrag 1999 mit einer Zusammenstellung aller durch den Amsterdamer Vertrag bewirkten Änderungen, einschließlich eines Auszugs aus dem erläuternden Bericht des Generalsekretariats des Rates zur Vereinfachung der Gemeinschaftsverträge Case-books: Hummer / Simma / Vedder, Europarecht in Fällen, 3. Aufl. 1999: jeweils mit Thema, Rechts- und Verständnisfragen, Sachverhalt und ausführlichen Auszügen aus der Entscheidung einschließlich der Schlußanträge der Generanwälte sowie Hinweisen auf weitere einschlägige Entscheidungen; Schwerpunkte: allgemeine Fragen, Grundfreiheiten, Wettbewerbsrecht und des Beihilfenrecht 12 Pieper / Schollmeier / Krimphove, Europarecht, Das Casebook, 2. Aufl. 2000: weniger ausführlich als Hummer u.a. 13 Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht Strukturen und Problemfelder 1. Die bestimmenden Faktoren Ein vollständiges Bild über die vielfältigen Aspekte des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht läßt sich nur gewinnen, wenn die sich aus den Verträgen und der diese Verträge umsetzenden Staaten- und Gemeinschaftspraxis ergebenden "aussteuernden" Faktoren betrachtet werden. 1.1. Charakteristika der Gemeinschaften Die Gemeinschaft weist folgende (nicht vollständig erfaßte) Besonderheiten auf: - Sie ist Trägerin einzelner Hoheitsrechte (System der begrenzten Einzelzuständigkeit) - Die ihr übertragenen Hoheitsrechte weisen inzwischen eine enorme Breite auf - Ihr fehlt eine umfassende Gebiets- und Personalhoheit - Sie besitzt autonome Rechtsetzungsgewalt mit unmittelbarer innerstaatlicher Verbindlichkeit - Sie ist finanziell selbständig - Sie hat sich verbindlich auf gemeinsame politische Grundwerte festgelegt und strebt diese an - Sie ist eine Rechtsgemeinschaft (fast) ohne Zwangsgewalt - Sie ist dauerhaft, aber offen strukturiert Anhand dieser Charakteristika läßt sich die viel (und mit wenig greifbaren Ergebnissen und ohne Aussicht auf weiterführenden Erkenntniswert) diskutierte Frage nach der Einordnung in eine völkerrechtliche Kategorie beantworten: - Internationale Organisation? - Bundesstaat (oder Vorstufe dazu)? - Staatenbund? - Verwaltungsunion? - "Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas" (BVerfGE 89, 155, Maastricht)? - Zweckverband funktioneller Integration (H.P.Ipsen)? - "Gemeinschaft": "eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, ... auf die die Bundesrepublik Deutschland - wie die übrigen Mitgliedstaaten bestimmte Hoheitsrechte 'übertragen' hat (BVerfGE 22, 296)! 1.2. Die Reichweite des Gemeinschaftsrechts Das - die traditionelle Einteilung in Zivilrecht, Öffentliches und Strafrecht überspannende Gemeinschaftsrecht wirkt in einer Vielzahl von Rechtsbeziehungen. Angesprochene Rechtssubjekte sind die Mitgliedstaaten, Drittstaaten und Internationale Organisationen ebenso wie Unionsbürger, Staatsangehörige von Drittstaaten und die Organe und Bediensteten der Gemeinschaft selbst. Das sich ergebende Geflecht möglicher Rechtsbeziehungen läßt sich in wenigstens acht Rechtsebenen aufgliedern, die in ihrer Gesamtheit die Gemeinschaftsrechtsordnung ausmachen: (1) EG - MS (2) EG - Unionsbürger (3) EG - Drittstaaten und IO (4) EG - Drittstaatsangehörige (5) Interorganbeziehg., Dienstrecht (6) MS - MS (7) Unionsbürger untereinander (8) MS - Unionsbürger 14 1.3. Die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten Art. 5 EGV beschäftigt sich mit der Klarstellung und Eindämmung der Gemeinschaftskompetenzen, während Art. 10 EGV umgekehrt die zu weitgehende Berufung auf integrationshemmende nationale Interessen bezweckt. (1) Kompetenzabgrenzung Art. 5 EGV Art. 5 Abs. 1 EGV: Art. 5 Abs. 2 EGV: Art. 5 Abs. 3 EGV: Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Subsidiaritätsprinzip neg.: Effizienztest pos.: Mehrwerttest Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Zum Subsidiaritätsprinzip (vgl. auch Art. 2 EUV): Nichteinhaltung des Subsidiaritätsprinzips führt zur Nichtigkeit des betroffenen Rechtsakts. Beispielsfälle mit diesem Ergebnis gibt es nicht, allerdings ist es zu umfangreichen "Rückrufaktionen" von bereits auf den Weg gebrachten Gesetzgebungsvorhaben durch die Kommission gekommen. Die bisherige Bilanz ist umstritten - das EP beklagt das SP gelegentlich als Integrationsbremse, während die MS eine zu unklare Formulierung und zu wenig weitgehende Verwirklichung rügen. Prüfung des Subsidiaritätsprinzips (1) Feststellung des konkret verfolgten Ziels (2) Feststellung der Rechtsgrundlage (3) Anwendungsbereich des SP: nicht ausschließliche Zuständigkeit? (4) Zweistufige Prüfung: (4.1.) Effizienztest (negative Prüfung): Motto: "die MS schaffen es nicht" (4.2.) Mehrwerttest (positive Prüfung): Motto: "die EG schafft es besser" Vgl. Prot. über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum EUV und EGV (1997) und Erklärung Nr. 43 hierzu! (2) Pflichten der Mitgliedstaaten Art. 10 EGV - Gemeinschaftstreue Abs. 1 Satz 1, Handlungspflichten: - Pflicht zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien - Pflicht zur Anpassung / Aufhebung nat. Rechts bei Widerspruch zum GemR - Handlungspflicht bei Untätigkeit der Gemeinschaftsorgane - Sicherung der Grundfreiheiten gegen Beeinträchtigung durch Private Abs. 1 Satz 2, Treuepflichten einschließlich der Pflicht der MS zur Kooperation untereinander. Abs. 2, Unterlassungspflichten: Die MS dürfen keine "Maßnahmen ergreifen oder aufrechterhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages beeinträchtigen könnten" (EuGH, Rs 14/68, Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Rspr. 1969, 1). 15 Hinzu kommen mit demselben Ziel Abrundungsklauseln (vor allem Art. 308 EGV) sowie die Stichworte "Effet utile" und "Implied powers". 2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts (EuGH) (1) Bestehendes nationales Recht, das im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht, muss in Sachverhalten mit Gemeinschaftsbezug ohne weiteres außer Anwendung gelassen werden. (2) Auf der Seite des nationalen Rechts wird Recht jeglicher Stufe bis hin zum Verfassungsrecht erfaßt. (3) Auf der Seite des Gemeinschaftsrechts profitiert sowohl das primäre als auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht vom Vorrang des EG-Rechts. (4) Auch neues innerstaatliches Recht kann sich nicht - etwa mit Blick auf den "lex posterior"-Satz - im Widerspruch zum GemR durchsetzen. (5) Jedes innerstaatliche Gericht muss den Vorrang berücksichtigen, materiell und prozessual. Ein Verweis auf parlamentarische oder verfassungsgerichtliche Überprüfungsverfahren ist nicht zulässig. 2.1. Leitentscheidungen des EuGH: (1) Costa / E.N.E.L., EuGH, Rs 6/64, Urteil vom 15.7.1964, Rspr 1964 1141: "Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll." (2) Internat. Handelsges. ./. Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide- u. Futtermittel, EuGH, Rs 11/70, Urteil vom 17.12.1970, Rspr 1970, 1125: "Die einheitliche Geltung des GemR würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. ... Es kann die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem MS nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt". (3) Staatl. Finanzverwaltung ./. S.p.A. Simmenthal ("Simmenthal II"), EuGH, Rs 106/77, Urteil vom 9.3.1978, Rspr 1978, 629: "Aus alledem folgt, dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das GemR uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet läßt." 2.2. Leitentscheidungen des BVerfG: (1) Vorrang des GemR Beschl. v. 18.10.1967, 1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293; bestätigt durch Beschl. v. 7.1.1975, 1 BvR 444/74, EuR 1975, 168 (REWE): Keine Verfassungsbeschwerde gegen EWG-VO; 16 Beschl. v. 5.7.1967, 2 BvL 29/63, BVerfGE 22, 134: EWG-VO kann nicht mittels Normenkontrolle am Maßstab des deutschen Gesetzes- und Verfassungsrechts gemessen werden; Beschl. v. 9.6.1971, 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 (Lütticke): Vorrang des Gemeinschaftsrechts, Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz jedes Gerichts. (2) Solange I: "Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des GG adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des EuGH die Vorlage eines Gerichts der BRD an das BVerfG im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom EuGH gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des GG kollidiert." Internat. Handelsges. ./. Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide- u. Futtermittel, BVerfG, Beschl. v. 29.5.1974, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271, "Solange I" (3) Auf dem Weg zu Solange II: Beschl. v. 7.1.1975, 1 BvR 444/74, EuR 1975, 168 (REWE): Keine Verfassungsbeschwerde gegen EWG-VO; Beschl. v. 25.7.1979, 2 BvL 6/77, BVerfGE 52, 187, "Vielleicht": Keine Prüfung von Normen des primären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des GG, mit obiter dictum "vielleicht"; Beschl. v. 23.6.1981, 2 BvR 1107, 1124/77, BVerfGE 58, 1, "Eurocontrol": Rechtsschutzsystem einer zwischenstaatlichen Einrichtung muß nicht "in jeder Hinsicht" demjenigen des GG gleichkommen. " Eine derart weitgehende Ausrichtung der rechtlichen Ausgestaltung einer zwischenstaatlichen Einrichtung an den innerstaatlichen Bestimmungen ... würde die BRD im Bereich ... des Art. 24 GG nicht selten faktisch 'vertragsunfähig' machen". (4) Solange II: "Solange die EGen, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem GemR, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der BRD in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des GG überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig." (5) Auf dem Weg nach Maastricht: 17 Beschl. v. 10.4.1987, 2 BvR 1236/86, EuR 1987, 269, Melchers: Der BMJ muss bei der Erteilung der Vollstreckungsklausel für Urteile des EuGH nicht die Übereinstimmung der Urteile mit dem Wesensgehalt der deutschen Grundrechte überprüfen, sondern nur die Echtheit des Titels. Beschl. v. 12.5.1989, 2 BvO 3/89, EuR 1989, 270, Tabak-Etikettierungsrichtlinie: "Soweit die Richtlinie den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt der EuGH Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom GG als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das BVerfG angerufen werden." Urteil v. 28.1.1992, 1 BvR 1225/82; 1 BvL 16/83 und 10/91, BVerfGE 85, 191, Nachtarbeit: "Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang .. gegenüber früherem wie späterem natioanlen Gesetzesrecht .. zu. ...Die Auffassung des EuGH zur rechtlichen Qualität der genannten Richtlinie hält sich im Rahmen des durch das ZustimmungsG zum EWGV abgesteckten Integrationsprogramms.... Über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit unter den gegebenen Umständen nicht aus." (6) Maastricht-Entscheidung: Die Maastricht - Entscheidung setzt die Schwerpunkte (natürlich) bei der Beurteilung des EUVertrages, hier insbesondere im Hinblick auf Demokratieprinzip, staatsbürgerliche Rechte, Gewaltenteilung, Übertragung der Kompetenz-Kompetenz auf die EU usw. Zum hier im Vordergrund stehenden Thema Vorrang des Gemeinschaftsrecht wiederholt sich das BVerfG (nach Meinung vieler Kommentatoren im Sinne eines gewissen Rückschritts): "Das BVerfG gewährleistet durch seine Zuständigkeit <hier steht ein Verweis auf Solange I und Solange II>, daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom GG als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das BVerfG sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft. ... Allerdings übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem GemR in Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum EuGH aus, in dem der EuGH den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der EG en garantiert, das BVerfG sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann." BVerfG, 12. Oktober 1993, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155-213 Vgl. daneben noch - zu eher politischen Themen: Beschl. v. 31.5.1995, 2 BvR 635/95, NJW 1995, 2216: Sitzverteilung im EP Beschl. v. 31.3.1998, 2 BvR 1877/94, EuGRZ 1998, 164: Euro (Bezug zu Art. 14 GG; Leitsätze zu dieser Entscheidung im Anhang) BVerfG, 22. Juni 1998, 2 BvR 532/98, NVwZ 1998, 1285, Euro (andere Aspekte) 18 -------------------------------------------------- 19 3. Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit 3.1. Die Begriffe: Unmittelbare Geltung: Das von den Organen der EG gesetzte Europäische Gemeinschaftsrecht - also das sekundäre Gemeinschaftsrecht - entfaltet im binnenstaatlichen Rechtsraum der Mitgliedstaaten Rechtswirkungen, ohne dass es zuvor noch einmal durch die Legislativorgane der Mitgliedstaaten bestätigt werden muss. Unmittelbare Anwendbarkeit: Unmittelbar anwendbar ist ein Rechtssatz, wenn nationale Behörden und Gerichte unter ihn ohne Dazwischentreten nationaler Rechtsetzungsorgane subsumieren können, wenn also Einzelfälle unter seiner Regie gelöst werden können, ohne dass er zuvor "umgesetzt" werden muss. Bezieht man diese Begriffe auf die einzelnen Quellen des Gemeinschaftsrechts, so ergibt sich folgende Übersicht: Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit (1) Primäres Gemeinschaftsrecht: Keine unmittelbare Geltung, unmittelbare Anwendbarkeit möglich, je nach Norminhalt (2) Verordnungen: Unmittelbare Geltung immer; unmittelbare Anwendbarkeit möglich, je nach Norminhalt (3) Richtlinien: Unmittelbare Geltung hinsichtlich der Adressaten (MS) immer, unmittelbare Anwendbarkeit im Regelfall nicht, aber in (häufigen) Ausnahmefällen möglich (Vorsicht mit der Terminologie: Unmittelbare Geltung wird z.T. mit dem Begriff unmittelbare Wirkung verwechselt) (4) Entscheidungen: Unmittelbare Geltung immer, unmittelbare Anwendbarkeit gegenüber den Adressaten immer. Unmittelbare Anwendbarkeit von Entscheidungen, die an die Staaten gerichtet sind, hinsichtlich der Rechtsunterworfenen ist unter den für Richtlinien entwickelten Voraussetzungen möglich. 3.2. Leitentscheidungen des EuGH (1) Unmittelbare Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts: EuGH, Urteil v. 5.2.1963, Rs 26/62, Rspr. 1963, 1, van Gend & Loos: Es geht um die Frage, "ob Artikel 12 in dem Sinne unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht hat, dass die Einzelnen aus diesem Artikel Rechte herleiten können, die vom nationalen Richter zu beachten sind. Ob die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages eine solche Tragweite haben, ist vom Geist dieser Vorschriften, von ihrer Systematik und von ihrem Wortlaut her zu entscheiden." <es folgt das Zitat, das im Skript Dr. Keller S. 2 wiedergegeben ist.> "Der Wortlaut des Art. 12 enthält ein klares und uneingeschränktes Verbot. Diese Verpflichtung ist .. durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig machen würde. Das Verbot ... eignet sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den MS und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu erzeugen. Der Vollzug von Art. 12 bedarf keines Eingriffs der staatlichen Gesetzgeber. 20 Der Umstand, dass dieser Art. die MS als Adressaten der Unterlassungspflicht bezeichnet, schließt nicht aus, dass dieser Verpflichtung Rechte der Einzelnen gegenüberstehen können." ... "Nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des Vertrages ist Art. 12 dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkunge erzeugt und individuelle Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben." Ebenso: EuGH, Urteil v. 16.6.1966, Rs 57/65, Rspr. 1966, 239, Alfons Lütticke (2) Unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen: "Die Verordnung erzeugt schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts unmittelbare Wirkungen und ist als solche geeignet, für die einzelnen Rechte zu begründen, zu deren Schutz die nationalen Gerichte verpflichtet sind." EuGH, Rs 43/71, Politi, Urteil v. 14.12.1971, Rspr. 1971, 1039; EuGH, Rs 9/73 Schlüter, Urteil v. 24.10.1973, Rspr. 1973, 1135 (3) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien: Grundsätzlich nicht; Ausnahmefälle: - nicht vor Ablauf der Umsetzungsfrist - nach Ablauf der Umsetzungsfrist möglich, wenn keine Umsetzung erfolgt ist und die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist ("self-executing" = es gibt nach der Formulierung und dem Sinn der Richtlinie keinen Umsetzungsspielraum) - keine "horizontale" unmittelbare Wirkung (im Verhältnis von Unionsbürgern untereinander); Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht allerdings. EuGH, Rs 148/78, Ratti, Urteil v. 5.4.1979, Rspr. 1979, 1629 EuGH, Rs 152/84, Marshall I, Urteil v. 26.2.1986, Rspr. 1986, 723 EuGH, Rs C-91/92, Faccini Dori, Urteil v. 14.7.1994, Rspr. 1994, I 3325 EuGH, Rs C-431/92, Großkrotzenburg, Urteil v. 11.8.1995, Rspr. 1995, I 2189 (4) Unmittelbare Anwendbarkeit von Entscheidungen: EuGH, Rs 9/70, Urteil v. 6.10.1970, Rspr. 1970, 825, Franz Grad ("Leberpfennig"): Die unmittelbare Anwendbarkeit bezogen auf den Adressaten versteht sich von selbst. Eine unmittelbare Anwendbarkeit gegenüber den einzelnen bei einer an die MS gerichteten Entscheidung ist unter denselben Voraussetzungen wie bei einer Richtlinie möglich: Rechtswidrige Nichterfüllung und Eignung der rechtlichen Verpflichtung zur unmittelbaren Anwendung ohne Umsetzung. 21 4. Anhang: Die Leitsätze der Maastricht-Entscheidung: BVerfG, 12. Oktober 1993, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155-213 1. Im Anwendungsbereich des Art 23 GG schließt Art 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art 79 Abs 3 in Verbindung mit Art 20 Abs 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird. Orientierungssatz zu Ls 1: Die Einräumung von Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften prüft das BVerfG am Maßstab des Gewährleistungsinhalts von GG Art 38, der auch das Recht umfaßt, durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen. 2. Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer - supranational organisierten - zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist. 3. a) Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin erfolgt demokratische Legitimation durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt - im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend - innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament. b) Entscheidend ist, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt. 4. Vermitteln - wie gegenwärtig - die Staatsvölker über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, sind der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben. 5. Art 38 GG wird verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der - supranationalen - Europäischen Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt (vgl BVerfG, 1981-06-23, 2 BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 <37>). Das bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen (vgl BVerfG, 1987-04-08, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223). 6. Bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften ist zu beachten, daß der Unions- Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten. 7. Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die 22 Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 <27>). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum Europäischen Gerichtshof aus. 8. Der Unionsvertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas (Art A EUV), keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat. Orientierungssatz zu LS 8: Zu beurteilen ist das Zustimmungsgesetz zu einer Mitgliedschaft Deutschlands in einem Staatenverbund, nicht die Frage, ob das GG eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt. Der UnionsVertrag nimmt auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er die Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet (EUVtr Art F Abs 1). Eine Gründung "Vereinigter Staaten von Europa" ist derzeit nicht beabsichtigt. Die BRD ist auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann. Deutschland könnte seine Zugehörigkeit an den "auf unbegrenzte Zeit" geschlossenen Unions-Vertrag (EUVtr Art Q) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben und somit wahrt es die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht sowie den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten. 9. a) Art F Abs 3 EUV ermächtigt die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachtet. b) Art L EUV schließt die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs nur für solche Vorschriften des Unions-Vertrags aus, die nicht zu Maßnahmen der Union mit Durchgriffswirkung auf den Grundrechtsträger im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten ermächtigen. c) Die Bundesrepublik Deutschland unterwirft sich mit der Ratifikation des UnionsVertrags nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren "Automatismus" zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffnet den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhängt. Orientierungssatz zu Ls 9c: Die im Unions-Vertrag vorgesehene Einräumung von Aufgaben und Befugnissen europäischer Organe beläßt dem Deutschen Bundestag noch hinreichende Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht. Der Vertrag setzt der in ihm angelegten Dynamik einer weiteren Integration auch eine hinreichend verläßliche Grenze, die eine Ausgewogenheit zwischen der Struktur gouvernementaler Entscheidung im europäischen Staatenverbund und den Entscheidungsvorbehalten sowie Mitentscheidungsrechten des Deutschen Bundestages wahrt. Soweit die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe nahezu vollständig zurückgenommen sind (Ausstattung der Europäischen Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten gemäß EGVtr Art 107), so ist durch diese Einschränkung der demokratischen Legitimation zwar das Demokratieprinzip berührt. Die nach dem 23 gesetzgeberischen Willen auf die Institution der Europäischen Zentralbank begrenzte Einräumung unabhängig gestellter Befugnisse ist jedoch als eine - im Hinblick auf die Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösevertrauens - vertretbare und mit GG Art 79 Abs 3 vereinbare Modifikation des Demokratieprinzips zu werten (GG Art 88 S 2). Weitere Orientierungssätze: 1. Der Unions-Vertrag genügt den Bestimmtheitsanforderungen, weil er den künftigen Vollzugsverlauf - auch im Hinblick auf die Zuweisung weiterer Aufgaben und Befugnisse an die EU und die EG - hinreichend voraussehbar normiert. Der Vertrag folgt durch eine deutliche Unterscheidung der Art und Intensität der eingeräumten Befugnisse dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung; dieses wird durch EUVtr Art F Abs 3, der keine Kompetenz-Kompetenz der Union begründet, nicht in Frage gestellt. Ferner ist die Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und Befugnisse durch die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und -änderungen abhängig gemacht und daher der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente vorbehalten. 2. Die Handhabung des Prinzips der beschränkten Einzelermächtigung wird durch das Subsidiaritätsprinzip verdeutlicht und weiter begrenzt. Seine Anwendung darf jedoch die hergebrachten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht berühren, da zu diesen eine Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft gerade nicht gehört. Gemeinschaftskompetenzen müssen jeweils durch den Vertrag eingeräumt sein, wie dies EGVtr Art 3b Abs 1 festlegt. Das Subsidiaritätsprinzip (EGVtr Art 3b Abs 2) begründet mithin keine Befugnisse der EG, sondern begrenzt die Ausübung bereits anderweitig eingeräumter Befugnisse. Besteht eine vertragliche Handlungsbefugnis, so bestimmt das Subsidiaritätsprinzip, ob und wie die EG tätig werden darf. Damit sollen die nationale Identität gewahrt und ihre Befugnisse erhalten bleiben. 3. Neben dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung und der Subsidiarität regelt als drittes grundlegendes Prinzip der Gemeinschaftsverfassung EGVtr Art 3b Abs 3 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem darin enthaltenen Übermaßverbot, um damit die Aufgaben und Befugnisse ihrer Parlamente gegen ein Übermaß europäischer Regelungen zu wahren. 4. Der Vertrag über die Europäische Union trifft eine völkerrechtliche Vereinbarung über einen auf Fortentwicklung angelegten mitgliedstaatlichen Verbund. Vollzug und Entwicklung des Vertrages müssen vom Willen der Vertragspartner getragen sein. Die in EGVtr Art 102a ff vorgesehene Wirtschafts- und Währungsunion läßt sich wegen der wechselseitigen Bedingtheit von vertraglich vereinbarter Währungsunion und vorausgesetzter Entwicklung auch zu einer Wirtschaftsunion nur bei der stetigen ernsthaften Vollzugsbereitschaft aller Mitgliedstaaten verwirklichen. 5. Die Europäische Union achtet nach EUVtr Art F Abs 1 die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundlagen beruhen. Entscheidend ist sowohl aus vertraglicher wie aus verfassungsrechtlicher Sicht, daß diese schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt. --------------------------------------------------