Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts

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Aachener Europarechts-Atelier, 2. Mai und 6. Juni 2002
Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts
Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht - Strukturen
und Problemfelder
Dr. U. Maidowski, Münster
Inhaltsübersicht
A. Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts
1. Primäres Gemeinschaftsrecht
1.1. Gründungsverträge und Änderungen / Erweiterungen
1.2. Ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht
1.3. Sonstige, dem primären Gemeinschaftsrecht angenäherte Rechtsakte
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2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht
2.1. Rechtsetzungsverfahren
2.2. Die Rechtsakte im einzelnen
2.2.1. Verordnung
2.2.2. Richtlinie
2.2.3. Entscheidung
2.2.4. Empfehlung, Stellungnahme
2.2.5. Sonstige Rechtsquellen
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3. Fundstellen für das Gemeinschaftsrecht
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4. Quellen zum Studium des Gemeinschaftsrechts
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B. Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht
1. Die bestimmenden Faktoren
1.1. Die Charakteristika der Europäischen Gemeinschaften
1.2. Die Reichweite des Gemeinschaftsrechts
1.3. Die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten
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2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts
2.1. Die Rechtsprechung des EuGH
2.2. Die Rechtsprechung des BVerfG
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3. Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit
3.1. Die Begriffe
3.2. Die Rechtsprechung des EuGH
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4. Anhang: Die Leitsätze zur Maastricht-Entscheidung
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1. Primäres Gemeinschaftsrecht
Als primäres Gemeinschaftsrecht wird die Gesamtheit aller Rechtsregeln bezeichnet, die von
den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften als Völkerrechtssubjekten zur
Konstituierung und Ausgestaltung der Gemeinschaften geschaffen worden ist. Die
Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht ist wichtig, weil sie
eine gemeinschaftsrechtliche Normenhierarchie kreiert. Das Primärrecht schafft die
Möglichkeit der autonomen Rechtsetzung und bildet gleichzeitig den
gemeinschaftsrechtlichen Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts.
1.1. Gründungsverträge und Änderungen / Erweiterungen
Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl vom 18. April 1951, BGBl 1952 II 447
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957
(Zählung der Artikel in der konsolidierten Fassung des Vertrages von
Amsterdam), BGBl II 766
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März
1957 (keine Änderungen in der Zählweise), BGBl II 1014
Zu den Gründungsverträgen gehören Annexe: Protokolle, Erklärungen, Anhänge usw., die
nach Art. 311 EGV (Art. 207 EAGV, Art. 84 EGKSV) Bestandteile der Verträge sind. Die
Gründungsverträge werden wesentlich ergänzt u.a. durch den Beschluss des Rates in der
Zusammensetzung der Vertreter der Mitgliedstaaten vom 20. September 1976, BGBl 1977 II,
734, zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung
(Direktwahlbeschluss). Teil des Primärrechts sind selbstverständlich die Verträge, die die
Gründungsverträge geändert und grundlegend umgestaltet haben:
Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986, BGBl II 1102:
Änderung der Gründungsverträge zur Vorbereitung der Europäischen
Union; Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit
(EPZ, Art. 30)
EU-Vertrag vom 7. Februar 1992 ("Maastrichter Vertrag"), BGBl II 1253:
- Schaffung der EU: Art. 1 bis 7
- Änderung der Gründungsverträge: Art. 8 bis 10
- GASP: Art. 11 bis 28
- Zusammenarbeit in Strafsachen usw: Art. 29 bis 42
- Verstärkte Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten: Art 43 bis
45
- Schlussbestimmungen: Art. 46 bis 53, u.a. Vertragsänderungen,
Beitritt, Vertragsdauer, Aufhebung der EPZ
Vertrag von Amsterdam zur Änderung des EUV, der EG-Verträge sowie
einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, vom 2. Oktober 1997
(eine Zusammenstellung aller maßgeblichen Texte enthält die
Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam, Abl. EG C 340 vom
10.11.1997, S. 115), BGBl 1998 II 386
- Änderungen der Gründungsverträge, des EUV und des Ratsbeschlusses vom 20. September 1976 (Wahlakt EP): Art. 1 bis 5
- Redaktionelle Änderungen der Gründungsverträge (Streichung hinfälliger Bestimmungen), Übergangsbestimmungen: Art. 6 bis 11
- Umnummerierung, Geltungsdauer: Art. 12 bis 15
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1.2. Ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht
Es kann als primäres oder (seltener) als sekundäres Gemeinschaftsrecht entstehen.
Gemeinschaftsgewohnheitsrecht ist denkbar, wenn durch das Handeln der
Gemeinschaftsorgane und / oder der Mitgliedstaaten aufgrund "ständiger Übung"
Rechtsüberzeugung gebildet wird (Bsp: Vertretung der Mitgliedstaaten im Rat nicht nur durch
Minister - so Art. 203 EGV -, sondern auch durch Staatssekretäre). Wichtiger sind die
"Allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
gemeinsam sind". Sie stellen (i.d.R.) kein Gewohnheitsrecht dar, weil sie nicht notwendig
eine Rechtsüberzeugung aller Mitgliedstaaten wiedergeben, sondern vom EuGH im Wege
wertender Rechtsvergleichung als die im Sinne des Gemeinschaftsrechts beste Lösung aus
dem Normenbestand der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten ausgewählt und formuliert
worden sind. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher
Grundrechte (dazu Referat Dr. Keller). Eine eigene Kategorie bilden daneben die Prinzipien
zur Sicherung des Gemeinschaftsrechts (Vorrang des Gemeinschaftsrechts, unmittelbare
Anwendbarkeit mit der Folge individueller Rechte und Pflichten, Staatshaftungsanspruch).
1.3. Sonstige, dem primären Gemeinschaftsrecht angenäherte Rechtsakte
Die Mitgliedstaaten werden als Völkerrechtssubjekte in vielfältiger Form auch "neben" den
Strukturen der Europäischen Gemeinschaften tätig. Wenn das Ergebnis dieser Tätigkeit
unmittelbar die weitere rechtliche Ausgestaltung der Gemeinschaften ist, handelt es sich um
primäres Gemeinschaftsrecht (Bsp: Direktwahlakt). Gehen die Ziele dieser Tätigkeit darüber
hinaus, sind die betroffenen Rechtsakte "in der Nähe" des Gemeinschaftsrechts zu verorten,
ohne Primärrecht im strengen Sinn darzustellen. Die Zone der dem Gemeinschaftsrecht
angenäherten Rechtsakte ist durch den EUV erheblich ausgeweitet worden. Die wichtigsten
Kategorien:
- Gemeinschaftsabkommen: völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft mit Internationalen
Organisationen oder Drittstaaten, vgl. Art. 300 EGV (Verfahrensbestimmungen), Art.
133, 302 bis 304, 310 EGV (Bsp. für Zuständigkeiten). Die Wirkung liegt zwischen
Primär- und Sekundärrecht. Gemeinsch.Abk. stehen über dem Sekundärrecht, weil sie
die Gemeinschaftsorgane binden (Art. 300 Abs. 7 EGV), aber unter dem Primärrecht
(Art. 300 Abs. 6 EGV).
- Gemischte Abkommen: völkerrechtliche Verträge zwischen der Gemeinschaft sowie
zusätzlich den Mitgliedstaaten und Internationalen Organisationen / Drittstaaten in
Bereichen, die teilweise zur nationalen, teilweise zur Gemeinschaftszuständigkeit
gehören
- Abkommen der Mitgliedstaaten "mit besonderem Gemeinschaftsbezug": vgl. Art. 293
EGV (Verhandlungspflicht in den Bereichen "Europa der Bürger", Doppelbesteuerung
usw.). Wichtigstes Beispiel: Brüsseler Gerichtsstands- und
Vollstreckungsübereinkommen vom 27.9.1968, das dem nationalen Recht vorgeht.
- Weitere Formen der Zusammenarbeit im Rahmen des EUV:
Grundsätze und Gemeinsame Leitlinien (GASP: Art. 13 Abs. 1 EUV, ZBJI: Art. 4)
Beschluss über Gemeinsame Strategien (GASP: Art. 13 Abs. 2 EUV, ZBJI: Art. 4)
Gemeinsame Standpunkte (GASP: Art. 15 EUV, ZBJI: Art. 34 Abs. 2 Lit. a EUV)
Gemeinsame Aktionen (GASP: Art. 14 EUV)
Rahmenbeschlüsse und andere Beschlüsse (ZBJI: Art. 34 Abs. 2 Lit. b und c EUV)
Maßnahmen zur Durchführung "anderer" Beschlüsse (Art. 34 Abs. 2 lit.c S 2 EUV)
Regelmäßige Zusammenarbeit (Art. 12, 16 EUV)
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- System der "engeren Zusammenarbeit" einzelner Mitgliedstaaten ("Flexibiliserung"):
Art. 43-45 EUV mit allgemeinen Regeln, Art. 11 EGV speziell für den ersten Pfeiler
(EG), Art. 40 EUV speziell für den dritten Pfeiler (ZBJI) - zu verstehen als
Ermächtigung zur Schaffung partiellen Sekundärrechts.
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2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht
2.1. Rechtsetzungsverfahren
Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit sind die Kompetenzen an
Gemeinschaftsorgane verteilt, jeweils verknüpft mit der Festlegung, in welcher Rechtsform
des sekundären Gemeinschaftsrecht die Kompetenz auszuüben ist (Bsp.: Art. 94 - "Der Rat
erläßt ... Richtlinien"); gelegentlich ist dem handelnden Organ auch eine Auswahl aus
mehreren oder allen zur Verfügung stehenden Rechtsformen überlassen (Bsp.: Art. 93 - "Der
Rat erläßt ... die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften..."). Für jeden in
den Verträgen vorgesehenen Rechtsakt ist also angegeben, wer ihn erlassen darf oder soll, in
welchem Verfahren und mit welchen Stimmverhältnissen (Einstimmigkeit, Mehrheit) ist
jeweils geregelt.
Rechtsakte der Kommission: Vgl. den sog. "Komitologie-Beschluss" (B. des Rates v.
13.7.1987, Abl L Nr. 197 S. 33) über das Zusammenwirken der Kommission mit Ausschüssen
(besetzt mit Vertretern der MS) unterschiedlicher Verbindlichkeit - beratender Ausschuss
(Verfahren I), Verwaltungsausschuss (Verfahren II), Regelungsausschuss (Verfahren III a
und b). Welche Verfahrensvariante zu wählen ist, ergibt sich aus dem jeweils die Delegation
der Rechtsetzungsbefugnis an die Kommission enthaltenden Sekundärrechtsakt des RAtes. In
all diesen Verfahrensarten bleibt das Europäische Parlament ausgeschaltet (dazu Modus
vivendi vom 20.12.1994 - Abl 1995 C 293/1, der informelle Stellungnahmen vorsieht).
Rechtsakte des Rates oder des Rates mit dem Parlament:
Verfahren der Alleinentscheidung, Bsp Art. 94: "Der Rat erläßt einstimmig auf Vorschlag
der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des
Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien..." Früheres Regelverfahren. Starke
Stellung der Kommission, keine Kontroll- und Blockademöglichkeit des Parlaments.
Verfahren der Mitentscheidung (Kodezisionsverfahren), Bsp Art. 95 Abs. 1 Satz 2: "Der
Rat erläßt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 und nach Anhörung des Wirtschaftsund Sozialausschusses die Maßnahmen ...". Durch den Maastrichter Vertrag in den
EGV aufgenommen; Anwendungsbereich im Vertrag von Amsterdam erheblich
ausgedehnt. Ziel: Stellung des demokratisch legitimierten Organs Parlament zu
stärken. Zum Verfahrensablauf - 4 Phasen -: Art. 251 EGV (lesen!)
Verfahren der Zusammenarbeit, Bsp Art. 103 Abs. 2 EGV: "Der Rat kann
erforderlichenfalls nach dem Verfahren des Artikels 252 Definitionen ... näher
bestimmen." Nur noch im Rahmen der WWU. Zum Verfahrensablauf: Art. 252 EGV.
Zustimmungsverfahren, Bsp Art. 161 EGV: Der Rat "legt auf Vorschlag der Kommission
und nach Zustimmung des EP sowie nach Anhörung des Wirtschafts- und
Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen einstimmig die Aufgaben ..
fest...".
Nicht alle Rechtsakte des Sekundären Gemeinschaftsrechts, sondern nur Verordnungen des
Rates und der Kommission sowie die an alle MS gerichteten Richtlinien dieser beiden Organe
müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. Nach Art. 253 EGV müssen Verordnungen,
Richtlinien und Entscheidungen, die vom EP und Rat gemeinsam oder vom Rat oder von der
Kommission allein erlassen werden, mit Gründen versehen sein. Dies dient u.a. der
Selbstkontrolle der handelnden Organe und erleichtert die Auslegung und gerichtliche
Überprüfung der Rechtsakte. Informationsrecht: Art. 255 EGV enthält ein
grundrechtsähnliches Recht der Unionsbürger (und jeder natürlichen oder juristischen
Person mit Sitz oder Wohnsitz in einem MS), nämlich das Recht auf Zugang zu Dokumenten
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des EP, des Rates und der Kommission. Inhaltlich geht es um die Beratungsunterlagen der
betroffenen Organe, vor allem des Rates, etwa Protokollerklärungen der MS bei
Abstimmungen im Rat.
2.2. Die Rechtsakte im einzelnen
EG und EAG
Art. 249 EGV,
Art. 161 EAGV
Verordnung
(249 II)
Richtlinie
(249 III)
EGKS
Art. 14
EGKSV
Allg.
Entscheidung
(14 II)
Empfehlung
(14 III)
Mögliche Adressaten
alle Mitgliedstaaten, individuelle
Gemeinschaftsangehörige
unmittelbare und allgemeine
Geltung, in allen Teilen verbindlich
alle oder bestimmte Mitgliedstaaten
Verbindlichkeit des Ziels,
Wahlfreiheit hinsichtlich der Form
und Mittel; nach der Rspr. u.U.
unmittelbare Wirkungen für
individuelle Personen
in allen Teilen für die Adressaten
verbindlich
bei EGKS: auch individuelle
Personen
Entscheidung
(249 IV)
Empfehlung
(249 V)
Individuelle
Entscheidung
(14 II, 15 II)
Stellungnahme
(14 IV)
Stellungnahme
(249 V)
Stellungnahme
(14 IV)
Rechtswirkungen
bestimmte Mitgliedstaaten,
bestimmte Personen:
Einzelfallregelung
alle oder bestimmte Mitgliedstaaten, unverbindlich
Gemeinschaftsorgan (Bsp.: Art. 276
EGV, Haushaltsentlastung),
Einzelpersonen
bestimmte Mitgliedstaaten (Bsp.:
unverbindlich
Art. 226,
Vertragsverletzungsverfahren),
Gemeinschaftsorgan, unbestimmter
Adressatenkreis
Es gibt keine Hierarchie innerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsquellen, ebensowenig
zwischen den denkbaren Normgebern.
2.2.1. Verordnung (EGKS: Allgemeine Entscheidung)
Die Verordnung hat "allgemeine Geltung, .. ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt
unmittelbar in jedem Mitgliedstaat." Sie ist das Kernstück der supranationalen, also über
den Kopf des Nationalstaats hinweg direkt auf die innerstaatliche Rechtsordnung zielenden
Gesetzgebung. Sie setzt für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Individuen unmittelbar
geltendes Recht. Nationale Organe müssen keine Umsetzungsmaßnahmen vornehmen (falls
Durchführungsvorschriften erforderlich sind, besteht eine Verpflichtung zu ihrem Erlaß - Art.
10 EGV). Gerichte und Verwaltungsbehörden müssen sie anwenden, auslegen und ggf. dem
EuGH zur Auslegung vorlegen. Entgegenstehendes nationales Recht bleibt außer Anwendung,
Maßnahmen, die ihre Wirkungen behindern könnten, müssen unterbleiben. Späteres
nationales Recht, das gegen die VO verstößt, kann nicht den Satz des lex posterior für sich in
Anspruch nehmen. Die VO richtet sich unterschiedslos an jeden Mitgliedstaat, auch wenn sie
ihrem Inhalt nach möglicherweise nicht in jedem MS einschlägige Sachverhalte vorfindet.
Mögliche Verordnungsgeber sind Rat, Rat und Parlament gemeinsam, Kommission und
Europäische Zentralbank. Beispiel für den Aufbau einer Verordnung:
"VO (EG) Nr. 2561/1999 der Kommission vom 3. Dezember 1999 zur Festlegung der
Vermarktungsnorm für Erbsen", ergangen auf der Grundlage einer Ratsverordnung über die
Gemeinsame Marktorganisation für Obst und Gemüse, Aufbau der Verordnung:
- Rechtsgrundlagen (EGV, VO EG Nr. 2200/96 des Rates)
- Gründe für den Erlaß der Verordnung (Rechtsklarheit, Völkerrecht, Verbraucherschutz)
- Verordnungstext (Art. 1-3): Geltung der Norm, Zulässigkeit von Abweichungen
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- Anhang: Norm für Erbsen, eigentlicher, stark gegliederter Norminhalt mit
Begriffsbestimmungen, Normen zu den Güteeigenschaften (Mindesteigenschaften,
Güteklassen), Größensortierung, Packtoleranzen, Aufmachung, Kennzeichnungspflicht
hinsichtlich Absender, Art des Erzeugnisses, Handelsmerkmal, Ursprungsbezeichnung,
Kontrollstelle
2.2.2. Richtlinie (EGKS: Empfehlung)
"Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu
erreichenden Ziels verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der
Form und der Mittel." Die Richtlinie muss also durch einen nationalen Rechtsakt "umgesetzt"
werden - innerstaatliche Vorschriften werden erlassen oder, wenn sie schon existieren, mit
Blick auf die Richtlinie ausgelegt und dürfen nicht mehr entgegen der Richtlinie geändert oder
aufgehoben werden. Bei unterbleibender oder fehlerhafter Umsetzung hilft nur die Rechtsfigur
der unmittelbaren Anwendbarkeit (s.u.).
Richtlinie und Verordnung nähern sich aufgrund der praktischen Handhabung durch die EGInstitutionen häufig einander an, weil Richtlinien in der Formulierung des verbindlichen
"Ziels" teilweise sehr detailliert sein können. Mögliche Richtliniengeber sind der Rat, Rat
und Parlament gemeinsam oder die Kommission (seltener, auf technischem Gebiet oder zur
Änderung oder Anpassung bestehender Ratsrichtlinien). Nur die an alle MS gerichteten
Richtlinien müssen im Amtsblatt veröffentlicht werden. Sie treten zu dem im Normtext
genannten Datum in Kraft; fehlt ein solches Datum, treten sie am 20. Tag nach ihrer
Veröffentlichung in Kraft (Art. 254 Abs. 2 EGV). Alle anderen Richtlinien werden mit
Bekanntgabe an die Adressaten wirksam (Art. 254 Abs. 3 EGV). Beispiele für den Aufbau
einer Richtlinie:
"Richtlinie 2000/3/EG der Kommission
vom 22. Februar 2000
zur Anpassung der Richtlinie 77/541/EWG des Rates über Sicherheitsgurte und
Haltesysteme für Kraftfahrzeuge an den technischen Fortschritt
(Text von Bedeutung für den EWR):
- Rechtsgrundlagen (EGV, RL 70/156/EWG, RL 77/541/EWG)
- Gründe für den Erlaß der Verordnung (6 Erwägungsgründe)
- Richtlinientext (Art. 1-5): Normtext, Umsetzungsfrist, Inkrafttreten, Adressaten
- Anhänge I bis XVIII: technische Einzelheite über Sicherheitssysteme (ca. 75 Seiten)
-------------------------------------------------------------------"Richtlinie 1999/94/EG des EP und des Rates
vom 13. Dezember 1999
über die Bereitstellung von Verbraucherinformationen über den Kraftstoffverbrauch und
CO²-Emissionen beim Marketing für neue PKW:
- Rechtsgrundlagen (EGV, Verfahrenshinweis auf Art. 251)
- Gründe für den Erlaß der Verordnung (11 Erwägungsgründe)
- Richtlinientext
Art. 1 Zweck der Richtlnie
Art. 2 Begriffsbestimmungen
Art. 3-9 Verpflichtungen der MS
Art 10-12 Ausschuß, Verpflichtung, Sanktionen einzuführen, Umsetzungsfrist
Informationspflichten zur Erleichterung der Umsetzungskontrolle
Art. 13 Inkrafttreten
Art. 14 Adressaten
Umsetzungspflicht: Jede Richtlinie enthält eine Frist, binnen derer sie in nationales Recht
umgesetzt werden muss. Erfolgt die Umsetzung nicht innerhalb der Frist, kann die
Richtlinie ganz oder teilweise - je nach Normstruktur - unmittelbar anwendbar werden,
ohne dass dies die fortdauernde Pflicht zur Umsetzung hindern würde. Die
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Verlängerung der Frist kann nur auf Gemeinschaftsebene politisch erreicht werden. Das
Argument, die innerstaatlichen Rechtsetzungsprozesse seien zu langwierig, um die Frist
einhalten zu können, ist belanglos. Auch das Argument, andere MS verstießen ebenfalls
gegen die Pflicht zu rechtzeitiger Umsetzung, ist wertlos. Die Frist kann auch nicht
relativiert werden durch Übergangsvorschriften für den Zeitraum zwischen Fristablauf
und verspäteter Umsetzung (EuGH, Rs C 396/92, Rspr. 1994 I, 3717ff., zum deutschen
UVP-Gesetz). Die Kommission überwacht die Umsetzung (Art. 211 EGV). Verstößt ein
MS gegen die Umsetzungspflicht und hat der Gerichtshof dies festgestellt, kann die
Kommission die Verhängung eines Zwangsgelds beantragen (Art. 228 Abs. 2 EGV).
effet utile: Die Umsetzung muss inhaltlich so erfolgen, dass das - wie detailliert auch immer
formulierte - Ziel der Richtlinie wirksam erreicht wird. Bei Richtlinien, die (vor allem
im Bereich technischer Harmonisierung) ein gleichsam "endgültiges" Maß an
Detailgenauigkeit aufweisen, beschränkt sich die Umsetzung inhaltlich also auf ein
Abschreiben der Regelungen; hier bezieht sich die Wahlmöglichkeit lediglich auf die
Rechtsform der Umsetzungsnorm.
Rechtsnormvorbehalt: Die Umsetzung muss durch zwingende nationale Rechtsvorschrift
mit Außenwirkung erfolgen, auf die der einzelne sich vor Gericht berufen kann; dies
setzt Publizität voraus. Es wäre nicht ausreichend, die Umsetzung auf die Ebene der
(jederzeit revidierbaren) Verwaltungsvorschriften zu verlagern (bestritten). Es reicht
auch nicht aus, auf eine der Richhtlinie entsprechende innerstaatliche Praxis zu
verweisen. Falls zum geregelten Sachverhalt innerstaatliche Normen schon bestehen,
müssen sie dem Richtlinienzweck entweder durch Änderung oder durch
richtlinienkonforme Auslegung angepaßt werden. In den Einzelheiten gibt es hier aber
noch einige Unklarheit.
Vorwirkung: Während des Laufs der Umsetzungsfrist dürfen keine nationalen Rechtsakte
erlassen werden, die den Zweck der Richtlinie gefährden können (Bsp.: EuGH Rs C
129/96, RSpr. 1997 I, 7411 - Inter-Environnement Wallonie), Art. 10 Abs. 2, 249 Abs. 3
EGV.
Sperrwirkung: Solange die Richtlinie gilt, darf die nationale Rechtsordnung nicht in
Widerspruch zu den Geboten der Richtlinie geraten - es darf weder neues
widersprechendes Recht gesetzt noch dürfen notwendige Umsetzungsakte aufgehoben
werden.
2.3.3. Entscheidung (EGKS: Individuelle Entscheidung)
"Die Entscheidung ist in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet."
Zuständig für den Erlaß einer Entscheidung sind Rat oder (praktisch meist) Kommission (im
EGKSV nur die Kommission). Entscheidungen sind an Individuen gerichtet (Bsp:
Kartellrecht) oder an Staaten (Bsp.: Art 88 Abs. 2 EGV) und regeln einen konkreten
Sachverhalt verbindlich. Sie sind in der Rechtsanwendungspraxis (nicht in der
Fortentwicklung oder Gestaltung der Rechtsordnung) außerordentlich wichtig und effektiv.
Die Entscheidung wird durch Bekanntgabe (EGKSV: Zustellung) wirksam. Abgrenzung von
der VO: Bei der Verordnung ist der Adressatenkreis abstrakt-generell benannt, bei der
Entscheidung ist der Adressat entweder individuell genannt oder individualisierbar. Auch eine
an einen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidung kann bei Individuen unmittelbare
Wirkungen erzeugen (dazu s.u.).
2.2.4. Empfehlung, Stellungnahme (EGKS: Stellungnahme)
"Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich." Die Unterscheidung
zwischen beiden Formen ist nicht bedeutend. Stellungnahme (Reaktion auf einen Vorschlag)
und Empfehlung (eigene Initiative) werden meist (EGKSV: immer) von der Kommission,
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daneben auch vom Rat abgegeben. Vgl. Art. 211 2. Spiegelstrich EGV: Abweichung vom
Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit zugunsten der Kommission! Auch vom
Europäischen Parlament und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss kommen
Stellungnahmen, etwa im Rahmen ihrer Beteiligung am Rechtsetzungsverfahren, ohne dass
diese in Art. 249 EGV genannt sind. Neben der politischen entfalten sie auch rechtliche
Relevanz: Prozessvoraussetzung im Vertragsverletzungsverfahren, Art. 226 EGV; vgl. auch
Art. 97/96 EGV oder EuGH, Rs C 322/1988 (Grimaldi, Rspr. 1989, 4407: Empfehlung und
Stellungn. als zwingend zu berücksichtigendes Mittel zur Auslegung nationalen und
Gemeinschaftsrechts!); Empfehlungen und Stellungn. als Auslöser der Loyalitätspflichten
(gemeinschaftsfreundliches Verhalten) nach Art. 10 EGV.
2.2.5. Sonstige Rechtsquellen
Hier ist eine breite, aber recht diffuse Zone zwischen politischem Effekt und "gewissen
rechtlichen Wirkungen" angesprochen. Als Ausgangspunkt gilt festzuhalten, dass nach dem
Willen der Mitgliedstaaten nur diejenigen Rechtsquellen verbindliche Aussagen treffen sollen,
die als solche in den Verträgen bezeichnet werden. Dennoch: Im Gemeinschaftsrecht ist mehr als im nationalen Recht! - die Phantasie des Juristen gefragt. Das hat der EuGH bei der
stetigen Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und bei der Ausdifferenzierung des
"effet utile" bewiesen. Die Gemeinschaftsinstitutionen liefern reichlich Material, das bei der
Entfaltung juristischer Kreativität helfen kann, da sie sich sehr häufig gerade in den ihrer
Kompetenz noch nicht mit aller Klarheit zugewiesenen Randzonen äußern, und zwar gerade
in Rechtsformen, die außerhalb des in den Verträgen als Rechtsquelle bezeichneten Kanons
liegen (Aktionsprogramm, Weißbuch, Grünbuch usw.). Wer diese Äußerungen verfolgt, wird
häufig nach dem Motto "steter Tropfen höhlt den Stein" zugunsten neuer oder der Abrundung
bestehender Kompetenzen argumentieren können oder beispielsweise für eine stärkere
Orientierung des Gemeinschaftshandelns an Grundrechten streiten können. Dennoch ist hier
auch Vorsicht geboten: So halten einzelne MS in den sogenannten Protokollerklärungen des
Rates häufig ihren Standpunkt zu dem in Entstehung begriffenen Rechtsakt fest, meist in
negativer Form, um deutlich zu machen, was sie nicht geregelt haben wollen. Mehr als eine
Auslegungshilfe bieten diese Erklärungen nicht!
3. Fundstellen für das Gemeinschaftsrecht
Amtsblatt C, Mitteilungen und Bekanntmachungen, erscheint fast täglich, mehrere
Abteilungen: I. Mitteilungen, II. Vorbereitende Rechtsakte, III. Bekanntmachungen;
gelegentlich weitere Rubriken (EWR, Titel V EUV, Titel VI EUV). Zusätzlich erscheint
ein Supplement (S), Ausschreibungen und öffentliche Aufträge, sowie ein
Mitteilungsblatt über Stellenausschreibungen. Internet: http://europa.eu.int/eur-lex (45
Tage ab Erscheinen)
Amtsblatt L, Rechtsvorschriften, mehrere Abteilungen: Veröffentlichungsbedürftige und
Nicht veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte; gelegentlich weitere Rubriken (s.o.)
Bulletin "Tätigkeiten des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz der Europäischen
Gemeinschaften"
Fundstellennachweis des geltenden Gemeinschaftsrechts: erscheint halbjährlich in
systematischer und chronologischer Ordnung. Enthält alle in den verfügbaren
Auslieferungen des Amtsblatts veröffentlichten Rechtsakte einschließlich der
"Rechtsakte politischer Natur oder einzelner Rechtsakte von allgemeinem Interesse" aus
den sonstigen Tätigkeitsbereichen der Europäischen Union: von den Gemeinschaften
geschlossene internationale Abkommen, Sekundärrecht der Gemeinschaften ohne
"Rechtsakte der laufenden Verwaltung", Komplementärrecht (Beschlüsse der im
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Ministerrat vereinigten Regierungsvertreter), abgeleitete nicht bindende Rechtsakte, die
die Organe für wichtig halten
Anhand der Dokumentennummer läßt sich jeder Rechtsakt eindeutig
identifizieren. Beispiel:
3 68 R 1612
"3" Celex Dokumentationsbereich (3 = abgeleitetes Gemeinschaftsrecht)
"68" Jahr der Veröffentlichung
"R"
Rechtsform (R = Verordnung, L = Richtlinie, usw.)
"1612"
Nummer des Rechtsaktes
Also: VO (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Abl L 257,
19.10.1968, S. 2
Allgemeiner Veröffentlichungskatalog des Amtes für Amtliche Veröffentlichungen der
Europäischen Gemeinschaften: Jahresbände
Register für den Schriftwechsel von Kommissionspräsident Prodi, wird seit dem 31. März
2000 veröffentlicht: http://europa.eu.int/comm/commissioners/prodi/mail_de.htm
Bulletin der EU und Gesamtbericht über die Tätigkeit der EU, als CD-Rom ab Mai 2000
erhältlich (Amt für Amtliche Veröffentlichungen der EG, L 2985 Luxemburg)
4. Quellen zum Studium des Gemeinschaftsrechts
Textausgaben (Taschenbuchausgaben):
Beck-dtv (Europa-Recht, 16. Auflage 2000, Stand 1.11.1999): recht umfassend, aber
ohne Liste der Vertragsänderungen
Nomos-Textausgabe (Europarecht, 12. Auflage, Stand 1.1.2000): etwas weniger
vollständig, aber mit Liste der Änderungen
Aktuelle Lehrbuchliteratur:
Waltraud Hakenberg (Referentin am EuGH), Grundzüge des europäischen
Gemeinschaftsrechts, 2. Aufl. 2000, Verlag Vahlen: knapp, aber (auch optisch)
ausgezeichnet aufbereitet
Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Auflage 1999, Beck-Verlag: umfassend und in
der Tradition der Verfechter der Europäischen Idee
Rudolf Streinz, Europarecht, 4. Aufl. 1999, C.F.Müller: Schwerpunkt auf den
allgemeinen Fragen, optisch hervorgehobene Fallbeispiele, sparsame, aber
zielgerichtete Beigabe von Literaturhinweisen zu jedem Kapitel
Albert Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Heymanns: umfassend, sehr
theoretisch orientiert (ausführlich zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht - nationales
Recht), wegen des Erscheinungsdatums inzwischen nicht mehr durchgehend aktuell
zu Schweitzer / Hummer, Europarecht (5. Aufl. 1996): Nachtrag 1999 mit einer
Zusammenstellung aller durch den Amsterdamer Vertrag bewirkten Änderungen,
einschließlich eines Auszugs aus dem erläuternden Bericht des Generalsekretariats des
Rates zur Vereinfachung der Gemeinschaftsverträge
Case-books:
Hummer / Simma / Vedder, Europarecht in Fällen, 3. Aufl. 1999: jeweils mit Thema,
Rechts- und Verständnisfragen, Sachverhalt und ausführlichen Auszügen aus der
Entscheidung einschließlich der Schlußanträge der Generanwälte sowie Hinweisen auf weitere
einschlägige Entscheidungen; Schwerpunkte: allgemeine Fragen, Grundfreiheiten,
Wettbewerbsrecht und des Beihilfenrecht
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Pieper / Schollmeier / Krimphove, Europarecht, Das Casebook, 2. Aufl. 2000: weniger
ausführlich als Hummer u.a.
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Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatliches Recht Strukturen und Problemfelder
1. Die bestimmenden Faktoren
Ein vollständiges Bild über die vielfältigen Aspekte des Verhältnisses von
Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht läßt sich nur gewinnen, wenn die sich aus den
Verträgen und der diese Verträge umsetzenden Staaten- und Gemeinschaftspraxis ergebenden
"aussteuernden" Faktoren betrachtet werden.
1.1. Charakteristika der Gemeinschaften
Die Gemeinschaft weist folgende (nicht vollständig erfaßte) Besonderheiten auf:
- Sie ist Trägerin einzelner Hoheitsrechte (System der begrenzten Einzelzuständigkeit)
- Die ihr übertragenen Hoheitsrechte weisen inzwischen eine enorme Breite auf
- Ihr fehlt eine umfassende Gebiets- und Personalhoheit
- Sie besitzt autonome Rechtsetzungsgewalt mit unmittelbarer innerstaatlicher Verbindlichkeit
- Sie ist finanziell selbständig
- Sie hat sich verbindlich auf gemeinsame politische Grundwerte festgelegt und strebt diese an
- Sie ist eine Rechtsgemeinschaft (fast) ohne Zwangsgewalt
- Sie ist dauerhaft, aber offen strukturiert
Anhand dieser Charakteristika läßt sich die viel (und mit wenig greifbaren Ergebnissen und
ohne Aussicht auf weiterführenden Erkenntniswert) diskutierte Frage nach der Einordnung
in eine völkerrechtliche Kategorie beantworten:
- Internationale Organisation?
- Bundesstaat (oder Vorstufe dazu)?
- Staatenbund?
- Verwaltungsunion?
- "Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten
- Völker Europas" (BVerfGE 89, 155, Maastricht)?
- Zweckverband funktioneller Integration (H.P.Ipsen)?
- "Gemeinschaft": "eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener
Art, ... auf die die Bundesrepublik Deutschland - wie die übrigen Mitgliedstaaten bestimmte Hoheitsrechte 'übertragen' hat (BVerfGE 22, 296)!
1.2. Die Reichweite des Gemeinschaftsrechts
Das - die traditionelle Einteilung in Zivilrecht, Öffentliches und Strafrecht überspannende Gemeinschaftsrecht wirkt in einer Vielzahl von Rechtsbeziehungen. Angesprochene
Rechtssubjekte sind die Mitgliedstaaten, Drittstaaten und Internationale Organisationen
ebenso wie Unionsbürger, Staatsangehörige von Drittstaaten und die Organe und Bediensteten
der Gemeinschaft selbst. Das sich ergebende Geflecht möglicher Rechtsbeziehungen läßt sich
in wenigstens acht Rechtsebenen aufgliedern, die in ihrer Gesamtheit die
Gemeinschaftsrechtsordnung ausmachen:
(1) EG - MS
(2) EG - Unionsbürger
(3) EG - Drittstaaten und IO
(4) EG - Drittstaatsangehörige
(5) Interorganbeziehg., Dienstrecht
(6) MS - MS
(7) Unionsbürger untereinander
(8) MS - Unionsbürger
14
1.3. Die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten
Art. 5 EGV beschäftigt sich mit der Klarstellung und Eindämmung der
Gemeinschaftskompetenzen, während Art. 10 EGV umgekehrt die zu weitgehende Berufung
auf integrationshemmende nationale Interessen bezweckt.
(1) Kompetenzabgrenzung
Art. 5 EGV
Art. 5 Abs. 1 EGV:
Art. 5 Abs. 2 EGV:
Art. 5 Abs. 3 EGV:
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
Subsidiaritätsprinzip
neg.: Effizienztest
pos.: Mehrwerttest
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Zum Subsidiaritätsprinzip (vgl. auch Art. 2 EUV): Nichteinhaltung des
Subsidiaritätsprinzips führt zur Nichtigkeit des betroffenen Rechtsakts. Beispielsfälle mit
diesem Ergebnis gibt es nicht, allerdings ist es zu umfangreichen "Rückrufaktionen" von
bereits auf den Weg gebrachten Gesetzgebungsvorhaben durch die Kommission gekommen.
Die bisherige Bilanz ist umstritten - das EP beklagt das SP gelegentlich als
Integrationsbremse, während die MS eine zu unklare Formulierung und zu wenig weitgehende
Verwirklichung rügen.
Prüfung des Subsidiaritätsprinzips
(1) Feststellung des konkret verfolgten Ziels
(2) Feststellung der Rechtsgrundlage
(3) Anwendungsbereich des SP: nicht ausschließliche Zuständigkeit?
(4) Zweistufige Prüfung:
(4.1.) Effizienztest (negative Prüfung): Motto: "die MS schaffen es nicht"
(4.2.) Mehrwerttest (positive Prüfung): Motto: "die EG schafft es besser"
Vgl. Prot. über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
zum EUV und EGV (1997) und Erklärung Nr. 43 hierzu!
(2) Pflichten der Mitgliedstaaten
Art. 10 EGV - Gemeinschaftstreue
Abs. 1 Satz 1, Handlungspflichten:
- Pflicht zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien
- Pflicht zur Anpassung / Aufhebung nat. Rechts bei Widerspruch zum GemR
- Handlungspflicht bei Untätigkeit der Gemeinschaftsorgane
- Sicherung der Grundfreiheiten gegen Beeinträchtigung durch Private
Abs. 1 Satz 2, Treuepflichten einschließlich der Pflicht der MS zur Kooperation
untereinander.
Abs. 2, Unterlassungspflichten: Die MS dürfen keine "Maßnahmen ergreifen oder
aufrechterhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages
beeinträchtigen könnten" (EuGH, Rs 14/68, Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt,
Rspr. 1969, 1).
15
Hinzu kommen mit demselben Ziel Abrundungsklauseln (vor allem Art. 308 EGV) sowie
die Stichworte "Effet utile" und "Implied powers".
2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts (EuGH)
(1) Bestehendes nationales Recht, das im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht
steht, muss in Sachverhalten mit Gemeinschaftsbezug ohne weiteres außer
Anwendung gelassen werden.
(2) Auf der Seite des nationalen Rechts wird Recht jeglicher Stufe bis hin zum
Verfassungsrecht erfaßt.
(3) Auf der Seite des Gemeinschaftsrechts profitiert sowohl das primäre als auch
das sekundäre Gemeinschaftsrecht vom Vorrang des EG-Rechts.
(4) Auch neues innerstaatliches Recht kann sich nicht - etwa mit Blick auf den
"lex posterior"-Satz - im Widerspruch zum GemR durchsetzen.
(5) Jedes innerstaatliche Gericht muss den Vorrang berücksichtigen, materiell und
prozessual. Ein Verweis auf parlamentarische oder verfassungsgerichtliche
Überprüfungsverfahren ist nicht zulässig.
2.1. Leitentscheidungen des EuGH:
(1) Costa / E.N.E.L., EuGH, Rs 6/64, Urteil vom 15.7.1964, Rspr 1964 1141: "Aus alledem
folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle
fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten
innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter
als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der
Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll."
(2) Internat. Handelsges. ./. Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide- u. Futtermittel,
EuGH, Rs 11/70, Urteil vom 17.12.1970, Rspr 1970, 1125: "Die einheitliche Geltung
des GemR würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von
Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts
herangezogen würden. ... Es kann die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder
deren Geltung in einem MS nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die
Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenenen Gestalt oder
die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt".
(3) Staatl. Finanzverwaltung ./. S.p.A. Simmenthal ("Simmenthal II"), EuGH, Rs 106/77,
Urteil vom 9.3.1978, Rspr 1978, 629: "Aus alledem folgt, dass jeder im Rahmen seiner
Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das GemR
uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu
schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen
Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist,
unangewendet läßt."
2.2. Leitentscheidungen des BVerfG:
(1) Vorrang des GemR
Beschl. v. 18.10.1967, 1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293; bestätigt durch Beschl. v. 7.1.1975, 1
BvR 444/74, EuR 1975, 168 (REWE): Keine Verfassungsbeschwerde gegen EWG-VO;
16
Beschl. v. 5.7.1967, 2 BvL 29/63, BVerfGE 22, 134: EWG-VO kann nicht mittels
Normenkontrolle am Maßstab des deutschen Gesetzes- und Verfassungsrechts gemessen
werden;
Beschl. v. 9.6.1971, 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 (Lütticke): Vorrang des
Gemeinschaftsrechts, Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz jedes Gerichts.
(2) Solange I:
"Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist,
daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und
in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem
Grundrechtskatalog des GG adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des
Vertrages geforderten Entscheidung des EuGH die Vorlage eines Gerichts der
BRD an das BVerfG im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das
Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in
der vom EuGH gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie
mit einem der Grundrechte des GG kollidiert."
Internat. Handelsges. ./. Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide- u. Futtermittel,
BVerfG, Beschl. v. 29.5.1974, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271, "Solange I"
(3) Auf dem Weg zu Solange II:
Beschl. v. 7.1.1975, 1 BvR 444/74, EuR 1975, 168 (REWE): Keine Verfassungsbeschwerde
gegen EWG-VO;
Beschl. v. 25.7.1979, 2 BvL 6/77, BVerfGE 52, 187, "Vielleicht": Keine Prüfung von Normen
des primären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des GG, mit obiter dictum "vielleicht";
Beschl. v. 23.6.1981, 2 BvR 1107, 1124/77, BVerfGE 58, 1, "Eurocontrol":
Rechtsschutzsystem einer zwischenstaatlichen Einrichtung muß nicht "in jeder Hinsicht"
demjenigen des GG gleichkommen. " Eine derart weitgehende Ausrichtung der rechtlichen
Ausgestaltung einer zwischenstaatlichen Einrichtung an den innerstaatlichen
Bestimmungen ... würde die BRD im Bereich ... des Art. 24 GG nicht selten faktisch
'vertragsunfähig' machen".
(4) Solange II:
"Solange die EGen, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH einen wirksamen
Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften
generell gewährleisten, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen
Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt
der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über
die Anwendbarkeit von abgeleitetem GemR, das als Rechtsgrundlage für ein
Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der BRD in
Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht
mehr am Maßstab der Grundrechte des GG überprüfen; entsprechende Vorlagen
nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig."
(5) Auf dem Weg nach Maastricht:
17
Beschl. v. 10.4.1987, 2 BvR 1236/86, EuR 1987, 269, Melchers: Der BMJ muss bei der
Erteilung der Vollstreckungsklausel für Urteile des EuGH nicht die Übereinstimmung der
Urteile mit dem Wesensgehalt der deutschen Grundrechte überprüfen, sondern nur die
Echtheit des Titels.
Beschl. v. 12.5.1989, 2 BvO 3/89, EuR 1989, 270, Tabak-Etikettierungsrichtlinie: "Soweit
die Richtlinie den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt
der EuGH Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom GG als unabdingbar gebotene
Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das BVerfG angerufen
werden."
Urteil v. 28.1.1992, 1 BvR 1225/82; 1 BvL 16/83 und 10/91, BVerfGE 85, 191, Nachtarbeit:
"Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall des Widerspruchs zu
innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang ..
gegenüber früherem wie späterem natioanlen Gesetzesrecht .. zu. ...Die Auffassung des
EuGH zur rechtlichen Qualität der genannten Richtlinie hält sich im Rahmen des durch das
ZustimmungsG zum EWGV abgesteckten Integrationsprogramms.... Über die
Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten
deutscher Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, übt das BVerfG seine
Gerichtsbarkeit unter den gegebenen Umständen nicht aus."
(6) Maastricht-Entscheidung:
Die Maastricht - Entscheidung setzt die Schwerpunkte (natürlich) bei der Beurteilung des EUVertrages, hier insbesondere im Hinblick auf Demokratieprinzip, staatsbürgerliche Rechte,
Gewaltenteilung, Übertragung der Kompetenz-Kompetenz auf die EU usw. Zum hier im
Vordergrund stehenden Thema Vorrang des Gemeinschaftsrecht wiederholt sich das BVerfG
(nach Meinung vieler Kommentatoren im Sinne eines gewissen Rückschritts):
"Das BVerfG gewährleistet durch seine Zuständigkeit <hier steht ein Verweis auf Solange I
und Solange II>, daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands
auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem
vom GG als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist,
zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das BVerfG sichert so diesen
Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft. ... Allerdings übt das
BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem GemR in
Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum EuGH aus, in dem der EuGH den
Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der EG en garantiert, das
BVerfG sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren
Grundrechtsstandards beschränken kann."
BVerfG, 12. Oktober 1993, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155-213
Vgl. daneben noch - zu eher politischen Themen:
Beschl. v. 31.5.1995, 2 BvR 635/95, NJW 1995, 2216: Sitzverteilung im EP
Beschl. v. 31.3.1998, 2 BvR 1877/94, EuGRZ 1998, 164: Euro (Bezug zu Art. 14 GG;
Leitsätze zu dieser Entscheidung im Anhang)
BVerfG, 22. Juni 1998, 2 BvR 532/98, NVwZ 1998, 1285, Euro (andere Aspekte)
18
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3. Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit
3.1. Die Begriffe:
Unmittelbare Geltung: Das von den Organen der EG gesetzte Europäische
Gemeinschaftsrecht - also das sekundäre Gemeinschaftsrecht - entfaltet im
binnenstaatlichen Rechtsraum der Mitgliedstaaten Rechtswirkungen, ohne dass
es zuvor noch einmal durch die Legislativorgane der Mitgliedstaaten bestätigt
werden muss.
Unmittelbare Anwendbarkeit: Unmittelbar anwendbar ist ein Rechtssatz, wenn
nationale Behörden und Gerichte unter ihn ohne Dazwischentreten nationaler
Rechtsetzungsorgane subsumieren können, wenn also Einzelfälle unter seiner
Regie gelöst werden können, ohne dass er zuvor "umgesetzt" werden muss.
Bezieht man diese Begriffe auf die einzelnen Quellen des Gemeinschaftsrechts, so ergibt sich
folgende Übersicht:
Unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit
(1) Primäres Gemeinschaftsrecht: Keine unmittelbare Geltung, unmittelbare
Anwendbarkeit möglich, je nach Norminhalt
(2) Verordnungen: Unmittelbare Geltung immer; unmittelbare Anwendbarkeit
möglich, je nach Norminhalt
(3) Richtlinien: Unmittelbare Geltung hinsichtlich der Adressaten (MS) immer,
unmittelbare Anwendbarkeit im Regelfall nicht, aber in (häufigen)
Ausnahmefällen möglich (Vorsicht mit der Terminologie: Unmittelbare
Geltung wird z.T. mit dem Begriff unmittelbare Wirkung verwechselt)
(4) Entscheidungen: Unmittelbare Geltung immer, unmittelbare Anwendbarkeit
gegenüber den Adressaten immer. Unmittelbare Anwendbarkeit von
Entscheidungen, die an die Staaten gerichtet sind, hinsichtlich der
Rechtsunterworfenen ist unter den für Richtlinien entwickelten
Voraussetzungen möglich.
3.2. Leitentscheidungen des EuGH
(1) Unmittelbare Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts: EuGH, Urteil v.
5.2.1963, Rs 26/62, Rspr. 1963, 1, van Gend & Loos:
Es geht um die Frage, "ob Artikel 12 in dem Sinne unmittelbare Wirkung im
innerstaatlichen Recht hat, dass die Einzelnen aus diesem Artikel Rechte herleiten
können, die vom nationalen Richter zu beachten sind. Ob die Vorschriften eines
völkerrechtlichen Vertrages eine solche Tragweite haben, ist vom Geist dieser
Vorschriften, von ihrer Systematik und von ihrem Wortlaut her zu entscheiden."
<es folgt das Zitat, das im Skript Dr. Keller S. 2 wiedergegeben ist.>
"Der Wortlaut des Art. 12 enthält ein klares und uneingeschränktes Verbot. Diese
Verpflichtung ist .. durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung
von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig machen würde. Das Verbot ... eignet
sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare Wirkungen in den
Rechtsbeziehungen zwischen den MS und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu
erzeugen. Der Vollzug von Art. 12 bedarf keines Eingriffs der staatlichen Gesetzgeber.
20
Der Umstand, dass dieser Art. die MS als Adressaten der Unterlassungspflicht
bezeichnet, schließt nicht aus, dass dieser Verpflichtung Rechte der Einzelnen
gegenüberstehen können." ... "Nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des
Vertrages ist Art. 12 dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkunge erzeugt und
individuelle Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben."
Ebenso: EuGH, Urteil v. 16.6.1966, Rs 57/65, Rspr. 1966, 239, Alfons Lütticke
(2) Unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen: "Die Verordnung erzeugt schon nach
ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts
unmittelbare Wirkungen und ist als solche geeignet, für die einzelnen Rechte zu
begründen, zu deren Schutz die nationalen Gerichte verpflichtet sind."
EuGH, Rs 43/71, Politi, Urteil v. 14.12.1971, Rspr. 1971, 1039;
EuGH, Rs 9/73 Schlüter, Urteil v. 24.10.1973, Rspr. 1973, 1135
(3) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien: Grundsätzlich nicht; Ausnahmefälle:
- nicht vor Ablauf der Umsetzungsfrist
- nach Ablauf der Umsetzungsfrist möglich, wenn keine Umsetzung erfolgt ist und die in
Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist ("self-executing" = es
gibt nach der Formulierung und dem Sinn der Richtlinie keinen Umsetzungsspielraum)
- keine "horizontale" unmittelbare Wirkung (im Verhältnis von Unionsbürgern
untereinander); Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht allerdings.
EuGH, Rs 148/78, Ratti, Urteil v. 5.4.1979, Rspr. 1979, 1629
EuGH, Rs 152/84, Marshall I, Urteil v. 26.2.1986, Rspr. 1986, 723
EuGH, Rs C-91/92, Faccini Dori, Urteil v. 14.7.1994, Rspr. 1994, I 3325
EuGH, Rs C-431/92, Großkrotzenburg, Urteil v. 11.8.1995, Rspr. 1995, I 2189
(4) Unmittelbare Anwendbarkeit von Entscheidungen: EuGH, Rs 9/70, Urteil v. 6.10.1970,
Rspr. 1970, 825, Franz Grad ("Leberpfennig"): Die unmittelbare Anwendbarkeit bezogen
auf den Adressaten versteht sich von selbst. Eine unmittelbare Anwendbarkeit gegenüber
den einzelnen bei einer an die MS gerichteten Entscheidung ist unter denselben
Voraussetzungen wie bei einer Richtlinie möglich: Rechtswidrige Nichterfüllung und
Eignung der rechtlichen Verpflichtung zur unmittelbaren Anwendung ohne Umsetzung.
21
4. Anhang: Die Leitsätze der Maastricht-Entscheidung:
BVerfG, 12. Oktober 1993, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155-213
1. Im Anwendungsbereich des Art 23 GG schließt Art 38 GG aus, die durch die Wahl
bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die
Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das
demokratische Prinzip, soweit es Art 79 Abs 3 in Verbindung mit Art 20 Abs 1 und 2 GG
für unantastbar erklärt, verletzt wird.
Orientierungssatz zu Ls 1: Die Einräumung von Hoheitsbefugnissen an die Europäische
Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften prüft das BVerfG am Maßstab des
Gewährleistungsinhalts von GG Art 38, der auch das Recht umfaßt, durch die Wahl an der
Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre
Ausübung Einfluß zu nehmen.
2. Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer
Mitgliedschaft in einer - supranational organisierten - zwischenstaatlichen Gemeinschaft.
Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation
und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist.
3. a) Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu
hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die
dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin erfolgt
demokratische Legitimation durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe
an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt - im Maße des Zusammenwachsens der
europäischen Nationen zunehmend - innerhalb des institutionellen Gefüges der
Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den
Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.
b) Entscheidend ist, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der
Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten
eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.
4. Vermitteln - wie gegenwärtig - die Staatsvölker über die nationalen Parlamente
demokratische Legitimation, sind der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der
Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem
Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht
verbleiben.
5. Art 38 GG wird verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die
unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der - supranationalen - Europäischen
Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte
Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt (vgl BVerfG, 1981-06-23, 2
BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 <37>). Das bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche
Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner
Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt
sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen
und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus
ihnen ausbrechen (vgl BVerfG, 1987-04-08, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223).
6. Bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der
Gemeinschaften ist zu beachten, daß der Unions- Vertrag grundsätzlich zwischen der
Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung
unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung
gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland
keine Bindungswirkung entfalten.
7. Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen
öffentlichen
Gewalt
einer
supranationalen
Organisation
betreffen
die
22
Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des
Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den
Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen
Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 <27>). Allerdings
übt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von
abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum
Europäischen Gerichtshof aus.
8. Der Unionsvertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer
engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas (Art A EUV), keinen sich auf
ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.
Orientierungssatz zu LS 8: Zu beurteilen ist das Zustimmungsgesetz zu einer
Mitgliedschaft Deutschlands in einem Staatenverbund, nicht die Frage, ob das GG eine
deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt. Der UnionsVertrag nimmt auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht,
indem er die Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet
(EUVtr Art F Abs 1). Eine Gründung "Vereinigter Staaten von Europa" ist derzeit nicht
beabsichtigt. Die BRD ist auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in
einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet
und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls
verbindlich wirken kann. Deutschland könnte seine Zugehörigkeit an den "auf unbegrenzte
Zeit" geschlossenen Unions-Vertrag (EUVtr Art Q) mit dem Willen zur langfristigen
Mitgliedschaft aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben und
somit wahrt es die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht sowie den Status
der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten.
9. a) Art F Abs 3 EUV ermächtigt die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel
oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für
erforderlich erachtet.
b) Art L EUV schließt die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs nur für solche
Vorschriften des Unions-Vertrags aus, die nicht zu Maßnahmen der Union mit
Durchgriffswirkung auf den Grundrechtsträger im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten
ermächtigen.
c) Die Bundesrepublik Deutschland unterwirft sich mit der Ratifikation des UnionsVertrags nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren
"Automatismus" zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffnet den Weg zu einer
stufenweisen weiteren Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem
weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren
Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden
Zustimmung der Bundesregierung abhängt.
Orientierungssatz zu Ls 9c: Die im Unions-Vertrag vorgesehene Einräumung von
Aufgaben und Befugnissen europäischer Organe beläßt dem Deutschen Bundestag noch
hinreichende Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht. Der
Vertrag setzt der in ihm angelegten Dynamik einer weiteren Integration auch eine
hinreichend verläßliche Grenze, die eine Ausgewogenheit zwischen der Struktur
gouvernementaler Entscheidung im europäischen Staatenverbund und den
Entscheidungsvorbehalten sowie Mitentscheidungsrechten des Deutschen Bundestages
wahrt. Soweit die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit auf die Wahrnehmung
von Hoheitsrechten durch europäische Organe nahezu vollständig zurückgenommen sind
(Ausstattung der Europäischen Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber den
Mitgliedstaaten gemäß EGVtr Art 107), so ist durch diese Einschränkung der
demokratischen Legitimation zwar das Demokratieprinzip berührt. Die nach dem
23
gesetzgeberischen Willen auf die Institution der Europäischen Zentralbank begrenzte
Einräumung unabhängig gestellter Befugnisse ist jedoch als eine - im Hinblick auf die
Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösevertrauens - vertretbare und mit GG Art
79 Abs 3 vereinbare Modifikation des Demokratieprinzips zu werten (GG Art 88 S 2).
Weitere Orientierungssätze:
1. Der Unions-Vertrag genügt den Bestimmtheitsanforderungen, weil er den künftigen
Vollzugsverlauf - auch im Hinblick auf die Zuweisung weiterer Aufgaben und Befugnisse
an die EU und die EG - hinreichend voraussehbar normiert. Der Vertrag folgt durch eine
deutliche Unterscheidung der Art und Intensität der eingeräumten Befugnisse dem Prinzip
der begrenzten Einzelermächtigung; dieses wird durch EUVtr Art F Abs 3, der keine
Kompetenz-Kompetenz der Union begründet, nicht in Frage gestellt. Ferner ist die
Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und Befugnisse durch die Europäische Union und die
Europäischen Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und -änderungen abhängig
gemacht und daher der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente
vorbehalten.
2. Die Handhabung des Prinzips der beschränkten Einzelermächtigung wird durch das
Subsidiaritätsprinzip verdeutlicht und weiter begrenzt. Seine Anwendung darf jedoch die
hergebrachten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht berühren, da zu diesen eine
Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft gerade nicht gehört. Gemeinschaftskompetenzen
müssen jeweils durch den Vertrag eingeräumt sein, wie dies EGVtr Art 3b Abs 1 festlegt.
Das Subsidiaritätsprinzip (EGVtr Art 3b Abs 2) begründet mithin keine Befugnisse der
EG, sondern begrenzt die Ausübung bereits anderweitig eingeräumter Befugnisse. Besteht
eine vertragliche Handlungsbefugnis, so bestimmt das Subsidiaritätsprinzip, ob und wie die
EG tätig werden darf. Damit sollen die nationale Identität gewahrt und ihre Befugnisse
erhalten bleiben.
3. Neben dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung und der Subsidiarität regelt als
drittes grundlegendes Prinzip der Gemeinschaftsverfassung EGVtr Art 3b Abs 3 den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem darin enthaltenen Übermaßverbot, um damit die
Aufgaben und Befugnisse ihrer Parlamente gegen ein Übermaß europäischer Regelungen
zu wahren.
4. Der Vertrag über die Europäische Union trifft eine völkerrechtliche Vereinbarung über
einen auf Fortentwicklung angelegten mitgliedstaatlichen Verbund. Vollzug und
Entwicklung des Vertrages müssen vom Willen der Vertragspartner getragen sein. Die in
EGVtr Art 102a ff vorgesehene Wirtschafts- und Währungsunion läßt sich wegen der
wechselseitigen Bedingtheit von vertraglich vereinbarter Währungsunion und
vorausgesetzter Entwicklung auch zu einer Wirtschaftsunion nur bei der stetigen
ernsthaften Vollzugsbereitschaft aller Mitgliedstaaten verwirklichen.
5. Die Europäische Union achtet nach EUVtr Art F Abs 1 die nationale Identität ihrer
Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundlagen beruhen.
Entscheidend ist sowohl aus vertraglicher wie aus verfassungsrechtlicher Sicht, daß diese
schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration
in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.
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