Nichtigkeitsklage I. Zulässigkeit 1. Sachliche und funktionelle Zuständigkeit Die Zuständigkeit des Gerichtshofes ist nur gegeben, wenn das Verfahren diesem ausdrücklich zugewiesen ist (Prinzip der enumerativen Einzelermächtigung, Art. 7 Abs.1 S.2, 240 EGV). Der EuGH ist nicht in den Fällen zuständig, die aufgrund Art. 225 Abs.2 EGV dem Gericht erster Instanz zugewiesen sind. Nach Art. 3 lit.c des Beschlusses des Rates zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz (Nomos-Sammlung Nr.16) ist die Nichtigkeitsklage grds. dem EuGH zugewiesen, bei Klagen von natürlichen oder juristischen Personen gem. Art. 230 Abs.4 EGV ist jedoch das Gericht erster Instanz zuständig. 2. Beteiligtenfähigkeit 1. Bei der Aktivlegitimation ist zwischen den privilegierten und nicht privilegierten Klagebefugten zu unterscheiden: 2. o o Privilegiert klagebefugt sind gem. Art. 230 Abs.2 EGV jeder Mitgliedstaat, der Rat und die Kommission. Nicht privilegiert klagebefugt sind gem. Art. 230 Abs.3 und 4 EGV das EP, der Rechnungshof, die EZB sowie natürliche und juristische Personen. 3. Passiv legitimiert sind das EP (zusammen mit dem Rat), die Rat, die Kommission und die EZB (Art. 230 Abs.1 EGV). 3. Klagegegenstand / Antrag Klagegegenstand sind grundsätzlich alle Handlungen der Gemeinschaftsorgane, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen. Dies sind alle Rechtsakte iSd. Art. 249 Abs.2 bis 4 EGV (nicht z.B. unverbindliche Stellungnahmen oder Empfehlungen) sowie alle Handlungen EP mit Wirkung gegenüber Dritten. Bei Individualklagen (Art. 230 Abs.4 EGV) können dagegen nur Entscheidungen mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden. Hierbei kommt es nicht auf die Bezeichnung, sondern alleine auf die materielle Natur der jeweiligen Handlung an, d.h. auch Entscheidungen, die in Form einer Verordnung ergangen sind. 4. Klagebefugnis Bei der Klagebefugnis ist zwischen den verschiedenen Klageberechtigten zu unterscheiden: 1. Mitgliedstaaten, Rat und Kommission benötigen keine Klagebefugnis (Art. 230 Abs.2 EGV). 2. Das EP, der Rechnungshof und die EZB müssen gem. Art. 230 Abs.3 EGV die Beeinträchtigung eigener Rechte durch einen Gemeinschaftsrechtsakt geltend machen. 3. Bei Individualklagen nach Art. 230 Abs.4 EGV ist erforderlich, dass der Betroffene entweder Adressat einer Entscheidung ist (Alt.1) oder eine Entscheidung ihn unmittelbar und individuell betrifft (Alt.2). Unmittelbare Betroffenheit bedeutet die Beeinträchtigung von Rechtspositionen und/oder wirtschaftlichen Interessen durch die angefochtene Gemeinschaftshandlung selbst, ohne dass es einer Umsetzung, Vollziehung oder Abwendung der Handlung durch die nationalen Behörden oder irgendwelche Dritte bedürfte. Individuelle Betroffenheit liegt nur vor, wenn die „Entscheidung“ den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebenden Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten. 5. Klagegrund Der Kläger muss ferner einen der in Art. 230 Abs.2 EGV genannten Klagegründe geltend machen: Unzuständigkeit des handelnden Organs, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm, Ermessensmissbrauch (s.u.) 6. ordnungsgemäße Klageerhebung 1. Postulationsfähigkeit: Art. 17 Abs.1 Satzung EuGH (Nomos-Sammlung Nr.13) 2. Klageschrift: Art. 18, 19 Satzung EuGH; Art. 37, 38 VerfO EuGH (Nomos-Sammlung Nr.14) 3. Klagefrist: Art. 230 Abs.5 EGV iVm. Art. 80 f. VerfO EuGH 7. Rechtsschutzinteresse Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis bedarf nur dann einer besonderen Prüfung, wenn Anhaltspunkte für sein Fehlen bestehen. Nach dem EuGH kann ein Mitgliedsstaat sogar dann gegen einen Rechtsakt klagen, wenn er diesem im Rat selbst zugestimmt hat. II. Begründetheit Die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV ist begründet, wenn der angefochtene Akt mit Mangeln behaftet ist, die unter einen der in Art. 230 Abs.2 aufgeführte Tatbestände fallen. Dabei ist der EuGH nicht auf die Prüfung der geltend gemachten Rechtsfehler beschränkt, sondern kann auch von Amts wegen nicht gerügte Mängel aufgreifen. 1. Unzuständigkeit Beachte das Subsidiaritätsprinzip des Art.5 Abs.2 EGV! 2. 3. 4. 5. 6. 7. absolute Unzuständigkeit der Gemeinschaft Unzuständigkeit des handelnden Organs (relative Unzuständigkeit) räumliche Unzuständigkeit sachliche Unzuständigkeit Verletzung wesentlicher Formvorschriften Formvorschriften sind alle Regeln über die organinterne Willensbildung und die Entscheidungsverfahren zwischen den Organen. „Wesentlich“ sind die Formvorschriften, wenn sich ihre Verletzung auf den Inhalt der erlassenen Maßnahmen ausgewirkt haben könnte. 8. Verletzung des EGV oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm 9. nicht zutreffende Ermächtigungs- bzw. Rechtsgrundlage 10. von der Rechtsgrundlage nicht gedeckt 11. Verletzung der Normenhierarchie 12. Verletzung auch allg. Rechtsgrundsätze (z.B. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), Gemeinschaftsgrundrechte und völkerrechtliche Verträge 13. Ermessenmißbrauch 14. „Ermessen“ ist jeder der Verwaltung durch die einschlägigen Normen eröffnete Entscheidungs- bzw. Beurteilungs- bzw. Gestaltungsspielraum. Ein Missbrauch liegt dann vor, wenn mit dem Erlass einer Maßnahme absichtlich ein rechtswidriges Ziel verfolgt wird oder aus einem schwerwiegenden, einer Verkennung des gesetzlichen Zwecks gleichkommenden Mangel an Voraussicht bzw. Umsicht andere Ziele als diejenigen verfolgt werden, zu deren Erreichung die im Vertrag vorgesehenen Befugnisse verliehen sind. III. Entscheidung des Gerichtshofs Ist die Nichtigkeitsklage begründet, so erklärt der EuGH bzw. das EuG den betreffenden Rechtsakt für nichtig (Art. 231 Abs.1 EGV). Das Urteil des EuGH ist ein Gestaltungsurteil und wirkt ex tunc und erga omnes (d.h. gegenüber jedermann). Nach Art. 231 Abs.2 EGV kann der EuGH anordnen, dass einzelne Bestimmungen als fortgeltend zu betrachten sind, obwohl sie für nichtig erklärt wurden. Damit wird dem Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gedient. Nach Art. 233 Abs.1 EGV hat das Organ, dessen Rechtsakt für nichtig erklärt wurde, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungen dürfen für nichtig erklärte Gemeinschaftsrechtsakte nicht weiter anwenden.