Einladung/Invitation - Maria

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Hohenheimer Romanze
Aus der Geschichte Hohenheims, nach Briefen, Memoiren, Akten und persönlichen
Erinnerungen von Zeitgenossen, zusammengestellt von Annelise Franz.
Schloss Hohenheim,
den 23. 10. 1873
(Ein Brief von Helene Polchau an Tante Sophie Schröter in Hannover)
»Da wären wir denn endlich in Hohenheim! Schön ist’s, und weit schöner als ich’s
mir gedacht habe und das ist das beste, was einem auf Reisen passieren kann.
Jetzt ist's 8 Uhr vorbei nach dem Kaffee, und es verspricht ein schöner Tag zu
werden. Tante Ottilie sagt: »Na, schiess nur los, Helenche!« und damit meint sie,
ich soll herunterlaufen. Sie kann sich denken, wie es einem vorher eingespannten
Stadtfräulein zu Mut sein muss, wenn sie Freiheit schmeckt, - Freiheit, durch das
rote, raschelnde Herbstlaub zu laufen, mit dem Wind um die Wette, als wenn man
endlich an der Schwäbischen Alb ankommen müsste, die so blau unter dem
blauen Himmel liegt. - Aber ich will doch erst Dir, Tantchen, schreiben!
Helene Polchau
Ludwig Eisenlohr
(Zeichnung von Sophie Eisenlohr)
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Am Stuttgarter Bahnhof (der Hauptbahnhof lag damals noch in der jetzigen Bolzstrasse) empfing uns Onkel Carl (Siemens). Es war grimmig kalt und ein schneidender der Wind. Wir mussten erst noch einige Gebäude und öffentliche Gärten
bewundern, nachdem er uns mit Chokolade und Kuchen traktiert hatte, und dann
führte er uns in das behaglich durchwärmte und erleuchtete Heim von Tante Mimi
(Eisenlohr, der Schwester seiner Frau in der Kanzleistrasse 24). Nach herzlicher
Begrüssung dieser echt gemütlich schwäbischen Tante rasselte es an der Tür und
Arnold (von Siemens) in vollem Glanz der Uniform stürmte herein. Wir Cousinen
waren natürlich starr vor Bewunderung. Er sah wirklich in dem bunten Rock wunderhübsch aus und fühlte sich auch sehr. Die Tante Mimi erzählte, er habe schon
fünf mal nach uns gefragt und sei immer zur Bahn gelaufen... Wir sassen dann
noch eine Stunde vergnügt beieinander bis zur Abfahrt der Post (Strassen- und
Filderbahn nach Hohenheim gab es damals noch nicht). Arnold versprach, mit
Ludwig Eisenlohr uns Sonnabend abzuholen, wir wollen dann unsere Stuttgarter
Besorgungen machen und vielleicht ins Konzert und bei Tante Mimi schlafen.
Die Postfahrt nach Hohenheim war sehr hübsch. Ich sah nie eine Illumination so
glänzend schön, als wie Stuttgart sie uns bot. Es lag tief unter uns mit seinen
1000 Lichtern, der Bahnhof wie eine Flammenschrift. Die Postlaternen warfen ihre
Schatten auf die Weinreben. . ., dann auf die ersten Waldbäume, die hell vor dem
dunklen Grund der Nacht zu uns herübersahen. Sterne funkelten darüber. Wagen
mit Glocken kamen vorbei. »Das sind Weinbauern, sagte Onkel Carl.
In Hohenheim war's finstere Nacht, als Tante Ottilie uns am Teetisch empfing alles warm und gemütlich, und sie selbst so herzlieb. Leonie und ich bekamen ein
grosses Schlafzimmer angewiesen mit Sofa, Tisch und Schreibtischen. Wir schliefen bald ein und wachten nicht grade früh auf. Die Glocke läutete schon zum Kolleg - 8 Uhr. - Ich kann Dir nicht sagen, wie überrascht ich war, als ich vom Stubenfenster ins Land sah, zum erstenmal: vor mir lag der Park im Grunde, die
Bäume in den prachtvollen Farben des Herbstes, vom glühenden Rot bis gelb und
grün, als wenn die Sonne schiene -; und sie war doch nicht da. Zwischen den
hohen Bäumen sieht man den schlanken Kirchturm von Plieningen und verschiedene andere Dörfer mit ihren weissen Häuserchen. Dahinter die Schwäb. Alb mit
Achalm und Liechtenstein. . . Das kann ich nun alle Tage sehen! . . . Nach dem
Kaffee packten wir unsre Sachen aus. Um 10 Uhr hatten wir gefrühstückt herrliche süsse Trauben, Wein und Butterbrot. Um 1 Uhr zu Mittag: Dicke
schwäbische Suppe, Kalbsbraten, mit Riesenkartoffeln, Sauce und Gemüs, und
zuletzt wieder Wein und Trauben. Um ½ 4 Kaffee mit Weissbrot. Das Strickzeug
spielt dabei eine grosse Rolle. Dann machten wir mit Tante Ottilie und Fräulein
Clara einen langen Spaziergang. Nachher besuchten wir Onkel in seiner Fabrik und
liessen uns Trauben schneiden. In der Dämmerung kam dann noch Frau Prof.
Wolff mit ihrem WölfIe. Abends begleitete ich Leonie zum Gesang und nachher
Onkel, der auf seinem Cello Lieder spielte u. a. Adelaide (Beethoven). Ich spielte
auch mit Tante vierhändig, während Leonie schrieb, und sang sogar einige Lieder.
Um ½ 10 gingen wir zu Bett. Das war der erste Tag und ein schöner Tag. - Tante
Ottilie grüsst euch vielmals, sie ist einzig lieb und nett ebenso wie der gute Onkel
Carl«.
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Prof. Carl von Siemens 1809-1885, war damals 64 Jahre alt. Er hatte seit 1839
einen Lehrstuhl für Technologie in Hohenheim inne und war schon vorher Vorstand der technologischen Werkstatt. Er hatte die landwirtschaftlichen Gewerbe
durch zahlreiche Verbesserungen und Erfindungen gefördert. Sein hauptsächlichstes Arbeitsgebiet waren Destillierapparate, Branntweinbrennerei, Brauerei-, Zukker- und Stärkefabrikation. Er forschte und unterrichtete über Bodenanalyse und
hatte sein Wissen und seine Erfahrungen durch viele Auslandsreisen vermehrt. Er
hatte den Königl. Württembergischen persönlichen Adel erhalten.
Hermann Settegast (später Prof. in Berlin) war 1845 als freiwilliger Assistent bei
Prof. Siemens. Er berichtet über Siemens: »Seine Kenntnisse und sein Eifer wirkten sich auf die vermehrte Studentenschaft aus, vor allem auf Aussenwürttemberger. Dabei darf an Siemens gerühmt werden, dass der Zutritt zu seinem Hause
den Zöglingen sehr gastfreundlich offen stand, was für ihn immer mit einigem
pekuniärem Aufwand verbunden war. Die Studenten kamen gern in dies gastliche
Heim, zumal sich Siemens bemühte, zugleich belehrend und, was ihr Betragen
betraf, erziehend auf die jungen Leute einzuwirken. Ich selbst verlebte 1845 unvergessliche Stunden in dem Siemensschen Familienkreise, der sehr musikalisch
war.« Der Professor spielte Geige und vor allem Cello, seine Frau Klavier; und er
freute sich über musikfreudige Partner. Ausser den Studenten und Kollegen wurden in späteren Jahren auch die jungen Verwandten aus Stuttgart zu seinen
Hauskonzerten zugezogen, vor allem die Stiefsöhne seiner Schwägerin Mimi, der
Witwe des Oberschulrats Eisenlohr, von denen Ferdinand einen sehr schönen
Bariton hatte, Ludwig ausgezeichnet Geige spielte.
Carl und Ottilie Siemens, seit 1839 (also 34 Jahre) verheiratet, hatten nur eine
Tochter Toni, die als Einzelkind besonders herzlich mit Vettern und Basen väterlicher- und mütterlicherseits stand. - Auch die 6 Stiefkinder Tante Mimis, der
Schwester ihrer Mutter, wurden wie Blutsverwandte behandelt. - Ferdinand, nur
wenig älter als Toni, war ihr bester Freund. Er hatte studieren wollen, aber die
finanziellen Verhältnisse gestatteten es nicht. So wurde er Kaufmann und ging
nach einer Ausbildung in Hamburg und London 23jährig nach Calcutta, wo er als
Vertreter der Firma Ernsthausen und Cie. bald deutscher Konsul wurde.
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Er hoffte wohl, wenn er als »gemachter Mann« zurückkäme, könne er Toni
Siemens Hand gewinnen. Im ersten Brief aus Indien, der erhalten ist, kündigte
der 25jährige der geliebten Mama Mimi ein Paket mit neuen Seidenstoffen für
Kleider an, von denen sich nach der Mama »eine gewisse Toni Siemens in Hohenheim« den schönsten Stoff vor seinen Schwestern aussuchen solle. - Auch Toni
scheint gegen seine Gefühle nicht gleichgültig gewesen zu sein. Jedenfalls hat sie
ihm zeitlebens eine herzliche Freundschaft bewahrt und sie in schwerster Zeit ihm
und seinen Kindern gegenüber bewährt. Aber als im Jahre 1869 der berühmteste
ihrer Verwandten, Werner von Siemens (geb. 1816) um die fast 29jährige warb,
gab sie dem bedeutenden genialen Mann, der zugleich von grosser Herzensgüte
war, ihr Jawort und folgte ihm nach Berlin-Charlottenburg, wo er seine grossen
Werke Siemens und Halske und Siemens-Schuckert leitete. Dass Toni eine grosse
Leidenschaft für den 53jährigen Witwer empfand oder dass er gar ihre erste Liebe
war, ist kaum anzunehmen. Aber sie war dem ebenso klugen wie gütigen und
selbstlosen Manne von Herzen zugetan. Tüchtig, selbständig, hilfsbereit und von
heiterer Gemütsart eignete Toni sich trefflich für den grösseren Wirkungskreis, der
ihr zugedacht war. Werners vier erstehelichen Kindern war sie eine verständnisvolle, gütige Mutter. Arnold von Siemens, der älteste Stiefsohn, stand in Stuttgart
in Garnison und war bei den Eltern der Stiefmutter wie ein Sohn oder Neffe des
Hauses jederzeit willkommen. Werner von Siemens selbst schreibt in seinen
Memoiren über seine zweite Ehe nach vierjähriger Witwerschaft: »Mein häusliches
Leben erfuhr eine vollständige Umgestaltung durch meine am 13. Juli 1869 erfolgte Wiederverheiratung mit Antonie Siemens, einer entfernten Verwandten,
dem einzigen Kinde des verdienten, in der landwirtschaftlichen Technik wohlbekannten Prof. Carl Siemens in Hohenheim bei Stuttgart.
Ich habe in Tischreden und bei ähnlichen Veranlassungen oft scherzhaft gesagt,
dass die Verheiratung mit einer Schwäbin als eine politische Handlung zu betrachten sei, da die Mainlinie notwendig überbrückt werden müsste und dies zunächst
am besten dadurch geschähe, dass möglichst viel Herzensbündnisse zwischen
Nord und Süd geschlossen würden, denen die politischen dann von selbst bald
nachfolgen würden. Ob mein Patriotismus hierbei nicht wesentlich durch die liebenswürdigen Eigenschaften dieser Schwäbin, die wieder warmen Sonnenschein in
mein etwas verdüstertes, arbeitsvolles Leben gebracht hat, beeinflusst war, will
ich nicht näher untersuchen.« Am 30. Juli 1870 schenkte ihm seine Frau ein
Töchterchen Hertha, dem 2 Jahre später ein Sohn Karl Friedrich folgte.
In das nach Tonis Heirat leer gewordene Heim luden sich Carl und Ottilie Siemens
im Winter 1873 zwei junge Nichten ein, die Töchter seiner Schwestern. Leonie
Lynckers Mutter, Aline geborene Siemens, war die Gattin des Geh. Hofrats Dr.
med. Lyncker in Pyrmont. Helenes Vater, der Konsistorialrat Polchau in Hannover,
hatte nacheinander die jüngste und zweit jüngste Schwester von Carl v. Siemens
geheiratet. Minna, Helenes Mutter, starb nach 6jähriger Ehe 30jährig im Jahre
1857, ein Töchterchen von drei Jahren zurücklassend. Vier Jahre später heiratete
Polchau Minnas 36jährige Schwester Francisca, die nach der Geburt der kleinen
Minna 39jährig starb. Fräulein Sophie Schröter stand dem Haushalt des vereinsamten, vom Schicksal so schwer getroffenen Mannes vor und versuchte den
beiden Töchtern von 11 und 1 Jahr die Mutter zu ersetzen. Besonders Helene
liebte »das Tantchen« zärtlich. Aber vermutlich herrschte im Hause des zweifach
verwitweten Konsistorialrats kein allzu fröhliches Leben. So freute sich Helene von
Herzen auf die Ferien mit der vertrauten Cousine Leonie im Hohenheimer Schloss.
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Den reizenden, humorvollen und poetischen Briefen Helenes an Vater und Tantchen in Hannover verdanken wir, dass wir ein anschauliches Bild vom geselligen
Leben in Hohenheim aus dem Winter 1873/74 bekommen und erleben zugleich die
Ausstrahlung der glückseligen Zeit einer jungen Liebe mit.
Den beiden jungen Mädchen sollte natürlich gerade jetzt im Winter auch etwas
von den Reizen der Hauptstadt geboten werden. Das Stadtquartier der Familie
Prof. Carl Siemens war das Haus von Frau Ottiliens Schwester Mimi in der
Kanzleistrasse 24 neben dem herrlichen Park des Müllerschen Grundstücks. Hier
stand immer ein Fremdenzimmer für die Hohenheimer Nichten und Schwester
Ottilie bereit, zumal von den sechs erwachsenen Stiefkindern nur noch der jüngste
Sohn Ludwig, der erst 22 war, im Haus wohnte. Tante Mimi und das Helenchen
fassten gleich eine herzliche Zuneigung zueinander; und der liebenswürdige
Ludwig war gern bereit, als Begleiter der jungen, hübschen Basen aufzutreten.
Auch Arnold von Siemens und sein Freund Hentschel waren eifrig, sich als Kavaliere der jungen Damen zu betätigen, sie an der Post abzuholen, bei Besorgungen
zu begleiten, mit ihnen zu tanzen und was sonstige Kavalierspflichten sind. - Aber
obwohl das gute Aussehen vom »Neffen Arnold« betont wird, »fällt er doch neben
Ludwig sehr ab«, der musikalisch, vielseitig künstlerisch interessiert und zu allem
zubrauchen ist.
Helenes Briefe verraten wahrscheinlich mehr als beabsichtigt von dem, was ihr
Herz bewegt. Fast jedes Wochenende findet die Mädchen in Stuttgart oder Tante
Mimi und ihr »Ludwigle« in Hohenheim. - Da wird sehr drollig der Besuch beim
vornehmen Hofrat Hemsen geschildert, der im alten Stuttgarter Schloss residiert,
und dem die Mädchen ein Glas Essigbohnen überreichen sollen. Aber, obwohl sie
mit den Tanten im »Sonntagnachmittagsausgehkleid« nach langem vergeblichen
Umherirren unangemeldet in sein Arbeitszimmer hineinschneien, ist er sehr liebenswürdig, zeigt ihnen das alte Schloss mit dem Saal, der noch wie zu Schillers
Zeit ist und jetzt als Bibliothekssaal dient, und lädt die reizenden jungen Mädchen
in die »Wilhelma« ein, von der sie ganz begeistert sind. Er führt sie aus, als seien
sie seine eigenen Töchter, lächelt freilich ein wenig seltsam, als das Helenchen auf
die Frage, welchen Beruf denn der junge Eisenlohr habe, stolz erklärt: »Der
Ludwig der ist Architekt, Landwehroffizier, Geiger und Maler.« - Ludwig führt die
jungen Mädchen zur Parade auf den Schlossplatz, - die Sonne scheint, die Musik
spielt, die Fontainen springen - und überreicht beiden einen Veilchenstrauss. Sie
gehen mit Tante Mimi ins Konzert. - Ist's Zufall, dass Tante Mimi mit Leonie unten
im Saal sitzt, Ludwig sich aber die Ehre erbittet, Helene auf die Galerie zu führen,
wo sie sich herrlich miteinander amüsieren. Sie sind begeistert über das berühmte
Florentiner Quartett. Aber Helene hat doch Zeit zu bemerken: »Ludwigs Gesicht
strahlte und man konnte merken, dass er sich keinen Ton der süssen Geigenstimmen entgehen liess.« Er wiederum stellt fest: »Wenn's Helenche Musik hört,
s'ischt doch grad, als wenn sie eine Vision zu sehen kriegt.« Und von da an wird
Helene mit dem Visionsblick aufgezogen.
Zuweilen ist Helene auch allein, d. h. ohne Leonie, bei Tante Mimi. Dann wird mit
Ludwig musiziert. Ist er fort, übt Helene oder sie studiert Schleiermachers Werke,
die vollzählig auf der Kommode stehen. Abends unterrichtet Ludwig, der Architekturstudent, sie dann über Kunstgeschichte. Sie sitzen mit Tante Mimi zusammen auf der Klavierbank. Meist schläft diese über dem Strickstrumpf ein. Ob die
beiden jungen Leute auch dann nur über Musik und Architektur gesprochen haben? Wenn Ludwig bei strömendem Regen in einer Stunde statt in zweien nach
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Hohenheim trabt, geschieht's wohl auch nicht nur aus Sehnsucht nach Mama
Mimi, die schon tags Zuvor mit dem »Pöscht'le, auch Rattekasten« genannt, gefahren ist. »Ich geh nauf und wenn's Schmiedsknechtle regnet« hat er gesagt.
Helenchen lernt schon ganz gut schwäbisch; und wenn Ludwig nach Tisch vorschlägt »Wir wollen net Sieschtle halte, wir spiele Fangerles auf der Wies« verzichtet sie gern auf die Siesta.
Leonie spielt ein heiteres Stück, und Helene und Ludwig führen einen übermütigen, wilden Fantasietanz auf. So merkten sie nicht, dass die Tür aufgeht, und da
ganz verdutzt zwei Studenten stehen, die Visite bei dem würdigen Herrn Professor
machen wollen, wie es damals in Hohenheim für alle Studenten üblich war. Es
waren aber Böhmen, die ganz entzückt über den sie heimatlich anmutenden Tanz
waren. »So geht es hier im lustigen Schwabenland zu«, heisst's in Helenes
nächstem Brief, »ein bisschen derb, aber kreuzbrav und kreuzfidel.« . . . »Was
Toilette anbelangt, so darf ich hier nur einfache Wollkleider tragen. Mousselin und
Mull sind zu arrogant für hiesige Verhältnisse. Meine Hüte sind viel zu auffallend,
aber das macht Spass. Was praktische Sachen anlangt, so brauche ich hier nur
wenig, meine hellen Kleider sind zu schön oder zu unpassend für hier. Wenn
Leonie oder ich unser grünes und rosa Kleid anhaben, sind wir im übertriebenen
Luxus«.
»Nach dem Stockhausen Konzert«, berichtet Helene im Brief an das Tantchen,
»ging der Tag fröhlich zu Ende und ein wunderschöner Sonntagmorgen brach an.
Beim Kaffeetisch wurde mir angeboten, zu Fuss herauf nach Hohenheim zu gehen,
während Tante und Leonie fahren wollten. Ludwig wollte mich heraufbringen und
dann gleich wieder umkehren, weil er zu einem Stiftungsfest musste. Ich zögerte
erst etwas. Da sagte Tante Mimi: »Aber Helenche, du werscht di doch net vor
meinem Ludwig ferchte! der tut dir ebe garnix«. Nun musste ich einwilligen und
tat es nur zu gern. Zuerst ging es durch die Weingärten, die Weinsteige hinauf,
Stuttgart immer zu unsern Füssen, aber kein Strassenlärm und Wagengerassel
tönte zu uns herauf - alles war still. Das rote und goldene Laub raschelte zu unseren Füssen und zuweilen schrie ein Rabe, das war wie kommender Winter, aber
man dachte nicht an die kalte Zeit, denn die Sonne funkelte, und der Wald war
morgenhell, wie es mir im Herzen wurde, als wir so in den Sonntag hinein wanderten. Da läuteten die ersten Kirchenglocken und wir blieben stehen und sagten
nichts, sahen nur vom Waldessaum in die weite schöne Welt hinaus. Bauersleute
gingen vorüber und sagten »Grüss Gott« und »Grüss Gott« sagte auch Ludwig.
Ich nickte nur stumm. Wir kamen durch ein Dorf: Birkach und blieben an der
Kirchentür stehen. Drinnen spielte die Orgel. Wir sangen leise mit.«
Dem Papa oder dem Tantchen ist am Ton dieses Briefes wohl doch etwas aufgefallen. - Jedenfalls hält es Helene für nötig im nächsten Brief vom 21.11. dem
Papa zu versichern: »Ludwig ist unser bester Freund, versteh wohl unser bester
Freund. Du darfst keine Vermutungen hegen, die die Harmlosigkeit unseres Umgangs stören können. . . Du kennst ihn eben nicht, und das muss man, um ihn
beurteilen zu können. Er ist unser Stolz und unsere Freude, und wir sind »seine
geliebten Basen.« Keine Eifersucht, kein Misston keine Zurücksetzung kommt in
unserem Kleeblatt vor, und das ist nur gläublich bei einer so gesunden, prächtigen
Natur, wie Ludwig sie hat. Zum erstenmal empfinde ich, wie schön es sein muss,
einen Bruder zu haben. . . Auch Ludwig sagt gelegentlich »Du bist so gut und
schwesterlich zu mir« . . .
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In der Tanzgesellschaft gestern behauptete er immer, ich sei ihm ganz ungewohnt, und er könne sich nicht dreinfinden, mich so geputzt unter fremden Menschen zu sehen. »Bischt noch die Alte?« fragte er. Erst zu hause, als wir drei ein
neu gelerntes Studentenlied von einem, der am Galgen hing »Und da wollt er
wieder runter und da konnt' er nicht, radibimmel, radibammel, radibumm...« usw.
sangen, meinte er, jetzt würde es ihm wieder gemütlicher zu Sinn. Hast du genug
von unserm Ludwig gehört?
So versuchte Helene dem Vater und vielleicht auch sich selber einzureden, dass
sie nur geschwisterliche Gefühle mit Ludwig verbinden. Sie wird vorsichtiger und
erzählt mehr von Hohenheim, soll doch der Vater die Erlaubnis geben, dass sie
über Weihnachten bei den Verwandten bleiben darf, bei denen sie immer heimischer wird. - Der Schauplatz der festlichen Unternehmungen hat sich mehr von
Stuttgart nach Hohenheim verlagert. Auch die Studenten und Professoren haben
anscheinend entdeckt, dass zwei reizende, ebenso hübsche, elegante wie vielseitig
talentierte und doch natürliche junge Mädchen im Hohenheimer Schloss zu Besuch
sind. (Da es noch keine landwirtschaftlichen Studentinnen und technische Assistentinnen gab, herrschte sicher Mangel an passenden Damen für gemeinsame
Feste). Die wenigen Professoren - Helene nennt etwa ein Dutzend - sind zum Teil
kinderlos, manche haben kleine Kinder, andere schon verheiratete wie Onkel
Siemens. Nun plötzlich kommt ein Aufschwung in das gesellige Leben.
Brief Helenes vom 9.11.1873 »Neulich hatten wir 2 Gesellschaften: einen gesetzten Professorenkreis und eine junge Gesellschaft. Die Studenten waren uns alle
ganz unbekannt, aber ein glücklicher Zufall wollte, dass fast alle recht nett waren,
ein Herr von Oheimb, ein Freiherr von Thüngen, ein Herr Wiedershein usw.. . .wir
tanzten sehr vergnügt im Ehrn (Vorplatz)«. Auch ein Herr Seiler und ein Herr
Mucha werden oft genannt, Herr von Thüngen und Herr Mucha meist im Gefolge
von Leonie.
In ihren Briefen vom 20. und 22. 11. berichtet Helene ausführlich von Hohenheim.
Der grosse Dilettanten-Konzertabend, der die Gemüter schon wochenlang in Aufregung hielt, fand am 19. im Balconsaal statt. Auch Onkel Carl trotz seiner
wissenschaftlichen Verpflichtungen und des bereits am nächsten Tag stattfindenden Stiftungsfestes, an dem er im ordensgeschmückten Frack teilnahm, wirkte bei
dem Konzert mit. Die Debütanten waren in grosser Aufregung. Helene spielte mit
Ludwig »Du bist die Ruh« (Schubert) und mit Dr. Kreuzhage »die ungarischen
Tänze«. Onkel Carl mit Kreuzhage und Ludwig ein Trio von Haydn. »Leonie sang
sehr hübsch und spielte mit bewundernswerter Ruhe und Präzision. Unser Quartett ging sehr gut und es wurde rasend applaudiert. Ludwigs Debüt war glänzend.
. .alles bewunderte den genialen Strich (seiner Geige). Onkel Carl spielte auch
recht gut auf seiner »Feldwanze« (Cello). Alles beglückwünschte und applaudierte.
Zum Tanz spielten dann einige Damen - auch Tante Tilli, sowie einige Herren.«
»Leonie hatte ihr rosa Mousselinkleid an und ich mein blaues mit der blauen
Schärpe; und beide trugen wir frische Rosen im Haar. - Arnold und sein Freund
Hentschel waren zu Fuss beraufgekommen. Um 2 Uhr nachts sind sie wieder heruntergegangen; da hat man wirklich seine Freude dran, wie sie körperliche Anstrengung und Unbequemlichkeit für nichts achten, um mit uns vergnügt zu sein«
(Einer der Studenten, der damals den Besuch gemacht hatte, tanzte häufig und
sehr temperamentvoll mit Helene). »Ich weiss es selber kaum, dass ich bis
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gestern kaum gewusst habe, was Tanzen ist. Gesprochen habe ich mit dem Ungarn kein Wort. Herr von Oheimb, der selbst nicht tanzen darf, engagierte mich
zuweilen fest zum Stillsitzen, weil er nicht leiden wollte, dass ich so atemlos
tanzte. Mit Arnold, (der sehr hübsch tanzt), Hentschel und Ludwig tanzte ich natürlich am meisten. Nach dem festlichen Abend waren die Jungen gar nicht fortzubringen.
Ludwig ist ein treuer Freund für Oheimb, der sehr leidend ist. Bis zu seinem 18.
Jahr ist er bettlägerig gewesen wegen eines furchtbaren Asthmas und sein ganzes
Leben ist eine Kette von Entsagungen . . . Er ist aber doch fröhlich mit den
Fröhlichen, und ich bewundere sein liebenswürdiges Gemüt. Ludwig findet Gefallen an seinen feinen Manieren und geistiger Begabung und nennt ihn einen
»wundervollen Kerl«; von Thüngen ist, glaube ich, recht vornehm, aber gar nicht
adelsstolz. Arnold hat das Soldatenleben sehr zu seinem Nachteil verändert. Hentschel ist sehr gescheit und amüsant; Gonsti Siemens, (der Sohn von Carl
Siemens' Bruder Adolf, Generalmajor in Stuttgart) ist noch immer Soldat mit Leib
und Seele und sein Dienst geht ihm über alles.«
Am 22.11.1873 »Nun noch einiges über Hohenheim zur Erklärung des (beiliegenden) Bildes. Es zeigt die Südseite des Schlosses und ein Stück vom botanischen
Garten; die schattigen Laubgänge und Baumgruppen am Rande des Parks sind
leider nicht mit drauf. Vom Gitter ab ziehen sich Wiesen abwärts, das Dorf Plieningen liegt wieder etwas mehr auf der Höhe. . . Links von Plieningen zieht sich
ein Waldrücken hin; am Rande desselben liegt die Mühle mit dem Teich... Noch
weiter links zieht sich ein sanftes Wiesenthal zwischen zwei Höhenzügen hin; dort
liegt Scharnhausen. Rechts von Plieningen liegt der exotische Garten mit seinen
seltenen Tannen... Im Norden Hohenheims geht der Weg nach Stuttgart herunter,
durch Felder, Wiesen, Dorf, Wald und Weinberge, 2 Stunden weit. Links ist weite
Hochebene (die Fildern), rechts Wiesengründe und ein schöner Waldrücken, Tannen und Laubwald - mit »Klein Hohenheim« - Meierei und Gestüt. Das wäre die
Umgebung.
Jetzt kommt das Schloss. In der Mitte siehst du den Balconsaal, wo unser Konzert
stattfand.. Auf dem Balcon ist herrlich lustwandeln im Abendschein. Unten sind
Canzleizimmer. Vom Garten aus gesehen rechts vom Balconsaal wohnt der Direktor Rau, ein schöner, alter, feiner, liebenswürdiger, amüsanter Mann (Direktor
der Akademie und Lehrer der Landwirtschaft von 1872-82) mit einer hässlichen
Frau, die eine Perücke trägt (keine Kinder), weiter rechts im Seitenflügel haben
wir die Ehre zu residieren. Nach vorn heraus liegen Onkel's und Tante's
Schlafzimmer - das grosse Wohnzimmer, das kleine gemütliche Cabinet mit den
geblümten Cattunvorhängen und drei kleinen geblümten Ecksofas in der Fensternische, hinter Epheuwänden verborgen - der Lieblingsplatz der Jugend -... Dann
die letzten 3 Fenster sind das Staatszimmer, was nur bei Festen geöffnet wird.
Nach dem Hof hinaus liegen Küche und unsere Schlafzimmer. Eigentümlich der
»Ehrn«, der grosse, hohe Vorplatz mit den Steinfliessen, in dem jeder Ton (dreifach) hallt«. Das Tanzen ging prachtvoll damals, und von daher schreibt sich die
Tanzlust der Studierenden.
Dienstag haben wir nun wieder Theaterabend: Graf Quadt, Graf Adelmann, Andor
von Jeszinsky u. dergl. vornehmes Gemurksel.
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Doch zu den Wohnungen: Rechts neben uns Forstrat Nördlinger, unten im Parterre
Prof. Wolff’s: dort ist auch das physikalische Cabinet, Laboratorium von Dr. Dulk
etc. Nach dem Hof hinaus - mit uns auf einer Etage - die netten Vosslers. Das
Gebäude am meisten rechts ist Onkel's Fabrik. Unten im Schloss wohnen
Hochstetters und (Prof.) Fleischers. Dann sind noch Säle darin, Lehrer- und Conventszimmer und dergleichen. Links ist die Modellsammlung und die Kapelle. Dann
folgen lauter Studentenwohnungen (60-80 Studierende gibt es), die sich nach
Norden um den ganzen inneren Schlosshof ziehen. Der ist mit grossen Bäumen
und Rasenflächen versehen. Post- und Wirtschaftsgebäude sowie Stallungen und
Fabriken - liegt alles nördlich. Einige Häuser liegen ausserhalb, wo Kreuzhages
wohnen und Prof. Baurs, Prof. Funkes (auch Prof. Nies). . .
Nun ist es doch gut, dass Tante Tilli mir gestern dies Bild von Hohenheim geschenkt hat. Da könnt Ihr Euch einen Begriff 'Von unserer Schlossherrlichkeit machen«
Genauere Angaben über die in Helene Polchaus Briefen genannten Professoren
und Studenten sowie ein Namensverzeichnis ihrer hier erwähnten Verwandten
finden sich im Anhang.
Am 2. Dezember 1873 verlebte Helene den 20. Geburtstag in Hohenheim. Es war,
wie sie schreibt, ein Wintertag, durchleuchtet von Sonnenglanz. Onkel Siemens,
Tante Ottilie, Leonie und Ludwig beglückwünschten sie früh am Kaffeetisch. Tante
Ottilie schenkte ihr ein Buch »Beruf der Jungfrau«, Onkel Carl eine Rolle
Chocolade und einen Blumenstrauss, Leonie zwei Fotografien nach bekannten
Bildern, Ludwig aber ein reizendes Körbchen, mit blauseidenen Bändern fest zugeschnürt. Als Helene sie mühsam gelöst hatte, fielen ihr, eigens für sie angefertigt, Fotografien von Ludwig und, extra in Watte gehüllt, ein flammendes Herz mit
zwei schnäbelnden Täubchen entgegen - innerlich mit Chocolade. Das gab allgemeine Heiterkeit. Von daheim bekam sie reiche Gaben. Das schönste Geschenk
war aber die Erlaubnis des Vaters, über Weihnachten in Hohenheim bleiben zu
dürfen, denn man hatte noch grosse Pläne, ein neues Konzert, eine Liebhaberaufführung, Ausflüge und Bälle. Am Geburtstag konnten zur eigentlichen Feier
Ludwig, Arnold und Tante Mimi nicht anwesend sein. - Ludwig musste eine Gedenktafel an die Schlacht von Orleans, wo er mitgekämpft hatte, mit einweihen
bei einem feierlichen Kommers. - So spielte er mit der Base nur noch eine Romanze von Beethoven. Dann geleiteten ihn Leonie und Helene wohl eine Stunde
weit in Richtung Stuttgart. Unterwegs trafen sie Freund Hentschel, der extra zum
Gratulieren von Stuttgart heraufgewandert war zum allgemeinen Erstaunen.
Der 2. Dezember war ein doppelter Feiertag. Onkel Carl bekam den Franz-JosefOrden und wurde somit Ritter von Siemens. Helene hielt übermütig eine würdige
Geburtstagsrede »Ritter, treue Schwesternliebe widmet Euch dies Herz, fordert
keine andre Liebe etc.« und sie bekam einen ritterlichen Kuss. Onkel Carl hatte es
längst aufgegeben, wie sein Bruder Adolf den würdigen Erzieher zu spielen, liess
sich in dies übermütige Treiben der reizenden Nichten hineinziehen und war von
ihnen zum ersten Kavalier ernannt worden.
Tante Ottilie brachte die festlichen Gefühle durch Hasenbraten und Geburtstagskuchen zum Ausdruck. Am Sonntag wurden die 3 Stuttgarter Kavaliere zu einer
Gans eingeladen. Im übrigen war auch Tante Ottilie keine Spielverderberin und
hatte Spass am Unternehmungsgeist der Nichten. Wie einst mit Toni übte sie
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jetzt mit diesen, von Frau Prof. Vossler unterstützt, die Theaterstücke ein. Vorgesehen waren 3 Einakter: »Die Eifersüchtigen«, die »Hochzeitsreise« (von Bendix)
und »Frauenemanzipation«. Das Ensemble bestand aus Leonie und Helene, einem
Fräulein Hochstetter und den Herren von Oheimb, von Thüngen, Mucha und
Seiler. Herr Hentschel wollte Souffleur sein. Helene spielte als einzige in allen drei
Stücken mit, und Tante Tilli lobte ihr besonderes schauspielerisches Talent.
So schrieb Ottilie Siemens dann am 10. Dezember einen Brief an den Schwager
Polchau, in dem auch sie für eine Verlängerung des Besuches eintrat: »Es drängt
mich schon lange, Dir ein Wörtchen über Dein holdes Töchterchen zu sagen, dass
es uns eine wahre Freude ist, sie näher kennen zu lernen und uns ein bisschen
hineinreissen zu lassen in ihr fröhliches Treiben. .. Wir nehmen den herzlichsten
Anteil an der Vielseitigkeit ihrer Leistungen. An Unternehmungsgeist fehlt es den
beiden Mädchen nicht. Vorgestern war die erste Theaterprobe bei Prof. Vossler,
gestern Singübung bei uns. Sie lernen zum nächsten Konzert gemischte Quartetts
von Mendelssohn. Sie musizieren mit Onkel Carl, Ludwig Eisenlohr und Dr.
Kreuzhage.«
Neben den Proben setzen auch die Wintergeselligkeiten bei den Verwandten und
Bekannten in Stuttgart und Hohenheim ein. - Brief Helenes vom 10. Dezember an
die Tante: »Die Geselligkeit ist hier so hübsch, weil sie beständig anregend ist und
nichts Geistloses oder Verflachendes an sich trägt. Auf Essen und Trinken wird
nicht viel gegeben; glücklicherweise nicht wie in Hannover eine stundenlange
materielle Beschäftigung, sondern einfach Tee mit belegten Butterbroten und
nachher Obst mit Wein und kleinen Bretzelchen; und das dauert höchstens ¾
Stunden.«
Etwas ganz besonderes war freilich das Zauberfest bei Direktor Rau. . . Die Säle
mit fürstlicher Pracht ausgeschmückt, schwellende Polster, strahlende Kronleuchter, kostbare Statuen und Bildwerke und dergl. Auf dem Parquet bewegten sich
nun die einfachen Schwäbinnen in ihren meist. geschmacklosen Toiletten - möglichst steif. . .
Ich trug mein blaues Kleid mit weissem Mull und Apfelblüten im Haar. Der Direktor
ist wie ein feiner geistreicher Hofmann und mein besonderer Liebling. Er hängt
immer ein »chen« an das Fräulein, wenn er mit mir spricht, und wir sind gut
Freund miteinander. Nun denke Dir, wir sassen im Musiksaal rings an den Wänden
auf grünen Polstern - ein Kreis von Frauen und Mädchen, einzelne Herren wie
Oheimb, Thüngen und Mucha wagten sich zwischen uns -- und »der König rief, der
Page lief, den Alten einzulassen«: Herr Direktor hatte die berühmten Gebrüder
Krüger kommen lassen (was ihn mindestens 50 Gulden kostete), um seinen
Gästen eine besondere Aufmerksamkeit zu erzeigen. Eine goldene Harfe und ein
Flügel standen in der Mitte. Sie spielten herrliche Sachen aus Oberon, »Lorelei«,
Schubertlieder und dergleichen. Bei der Lorelei dachte ich lebhaft an das
Wirtshaus in St. Goar, als Papa spielte und ich hinausblickte in den wunderbaren
Abend: »Die Luft ist kühl und es dunkelt und ruhig fliesset der Rhein«. - Mit einem
mal stand Herr von Oheimb vor mir und sagte neckend: »Das war wieder der
Visionsblick! (den hat Leonie verraten und sie necken mich allesamt damit). Ich
möchte wissen, gnädiges Fräulein, an was Sie eben dachten?« - »An ein Wirtshaus! erwiderte ich ganz lakonisch, und da mussten Thüngen und Mucha kommen, und alle mussten hören, dass Frl. Polchau an ein Wirtshaus! gedacht hatte. Herr von Oheimb führte mich dann zu Tisch, sicherte sich aber einen Platz an
Leonies Seite.
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Gestern war allgemeine Familienberatung (wegen von Oheimb). Leonie und ich
werden fast überall gleich behandelt, so dass es schwer zu sagen ist, wer den Vorzug hat - behauptet der Familienrat. Ich behaupte aber, Oheimb gehört ihr ganz
allein.« (An den Rand des Briefes hat Leonie geschrieben »Ich behaupte, Oheimb
gehört ihr«
»Ein zweiter reizender Abend war in der vorigen Woche bei Prof. Fleischer, einem
alten würdigen Ehepaar. Wir wurden gebeten, lebende Bilder zu stellen. Wir
führten das Wort »Germania« auf, ohne alle Proben. Man sagt, es sei wunderschön gelungen, halb ideal, halb komisch«. - (Die Herren Oheimb, Mucha,
Thüngen, Seiler sind mit den Cousinen zusammen immer die Hauptdarsteller;
besonders Helenes und von Thüngens schauspielerisches Talent wird gerühmt.)
Weihnachten in Hohenheim. - Vielseitige Vorbereitungen gehen wir überall voraus;
die Mädels machen zeitgemässe Handarbeiten, deren Beschreibung allein mir ein
leichtes Gruseln einjagt. Tante Mimi und Ludwig kommen herauf. Onkel Carl und
Tante Tilli sind beunruhigt, ob die Charlottenburger Kiste, die sicher mit
besonderer Liebe für Tochter und Enkel gepackt ist, angekommen ist. - Eine ganze
Kinderschar ist geladen. Jedes erwartet seinen Gutselesteller und sein »Christkindle« denn Tante Tilli gibt mit »vollen Händen und willigem Herzen«. Unter dem
Weihnachtsbaum liegen die Geschenke der Familie und alle behaupten, Helene
habe eine richtige Prinzessinnenbescherung. Eine Schreibmappe von Ludwig, »die
er wunderschön und kunstreich gemalt hat«, freut sie besonders. Das neue Kleid
wird am 1. Feiertag abends gleich angezogen, und Ludwig äussert entzückt
»Schnepperle Du imponierst mir auf einmal«.- Lenchen ihrerseits hat für Ludwig
die Kopie eines bekannten Bildes leicht abgewandelt angefertigt, für Tante Tilli
zwei graue Damastdecken mit weissen Litzen gearbeitet, für Tante Mimi aber
einen Nähtisch mit grauem Leinen bezogen, rot gestickt, mit Troddeln an den
Ecken und Täschchen darunter »sehr modern und sehr hübsch«. Die Kisten aus
Hannover und die mit besonders kostbaren Geschenken gefüllte Kiste von Cousine
Toni werden ausgepackt. Am 1. Feiertag werden von Oheimb und Mucha eingeladen, die wegen der Entfernung nicht nach Hause gefahren sind.
Der Silvesterabend wird besonders gefeiert: Kirchgang im Mondschein nach
Plieningen. Die ganze Hohenheimer Jugend zieht den Schlossberg hinunter trotz
Schnee und Eis. Zu Haus stellt man lebende Bilder, die das Rätselwort Silvester
ergeben. Der übliche Kreis der Studenten sowie die Vettern aus Stuttgart, Ludwig,
Arnold, Consti und Leo von Siemens sind geladen. Es wird Blei gegossen, Helene
giesst eine Gans, Oheimb und Mucha glauben Rittergüter zu erblicken. Man lässt
Lebenslichtchen in Nussschalen auf dem Wasser schwimmen. Dann wird Julklapp
ins Zimmer geworfen, ganz zuletzt kommen ein Nadelkissen für Leonie und ein
kleines rot und goldenes Lederetui für Helene mit Versen von Oheimb heraus.
Im Januar jagt eine Festlichkeit die andere. Tante Tilli hat in einem zweiten Brief
an den Schwager eine Verlängerung des Ferienaufenthaltes bis Anfang Februar
durchgesetzt, da die Liebhaberaufführung und der Sonderbundsball im Königsbau,
an dem auch die Majestäten teilnehmen, noch ausstehen.
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Über die gemeinsamen Unternehmungen im Januar hat nicht nur Helene, sondern
auch Herr von Oheimb genau Buch geführt: Alles, was in Hohenheim an Vergnügungen möglich ist, wird scheint's in diesen letzten Monat hineingepackt. Etwa
jeden zweiten Tag ist etwas los: neben Theaterproben, Gesellschaften bei den
verschiedenen Professoren, Schlittschuhlaufen in Echterdingen und auf den
Hohenheimer Seen, Postfahrten nach Stuttgart, zur Fleckenburg, zur Wilhelma,
ein Museumsbesuch, eine Schneewanderung nach Bernhausen, Conzert der
Hohenheimer Liedertafel, Gesellschaftsspiele, eine etwas verunglückte Schlittenfahrt zur Solitude.
Frl. Polchau, Thüngen, Mucha, Kreuzhage, Prof. Siemens, Frl. Lyncker, von
Oheimb, Frl. Bohneberger (Clara), Herr Seiler sind mit. Da ein Schlitten kaputt
geht, kommt man mit 2 Stunden Verspätung nach Haus. (Helene fährt mit
Oheimb).
Als Höhepunkt kommt noch die Theateraufführung am 31. 1. Oheimb berichtet im
Kurzstil: »Abends 6 Uhr Caffeegesellschaft im Secretariat - Toilette - Lampenfieber - Schminke- Bart -- die ersten Gäste! brrr! Operngläser verbeten. Die
Ouvertüre beginnt, das Publikum lauert - Herzklopfen - ein Glas Wein.
Nochmalige Musterung, Angstschweiss, Klingel- der Vorhang geht auf. - Hinterher
grosser Applaus/ Der Vorhang fällt - bravo, bravo. Der Tanz beginnt, Staub wirbelt, alles tanzt - viel frohe Gesichter - alles gelungen - 12 Uhr!!
1. Februar 1874. Ein neuer Monat, ein anderes Bild. Musik verstummt - Gute
Nacht, alles leer - vorüber -- Der Vorhang fällt. Fr. Oheimb«.
An Helene, die am 11. Februar reisen muss, schickt er einen handgeschnitzten
Brotteller, ringsum mit Epheublättern verziert. Dazu ein Briefchen;
»Zur freundlichen Erinnerung an frohe Tage, frohe Stunden,
an Freud und Leid, an Scherz und Ernst, an Licht und Schatten.
Das Spiel ist aus, der Vorhang fällt.«
Glücklich und froh, der auf freundliches Andenken hoffen
darf, das einzige dauernde Geschenk der Freundschaft.
Mit herzl. Gruss
Ihr von Oheimb
Hat er wirklich Leonie und Helene gleichmässig verehrt? In dem grossen Gartentisch, der vom Hohenheimer Schloss nach der Villa Siemens in Degerloch gewandert ist und in den viele Studenten ihre Namen geschnitzt hatten, fand die Tochter
Helenes die Namen Helene Polchau und von Oheimb eingeschnitzt, von einem
Herz umgeben. - Vornehm und still hatte Oheimb dem Freund und glücklicheren
Rivalen den Vortritt gelassen.
Auch für Helene war unaufschiebbar das Ende der Hohenheimer Zeit gekommen.
Am 10. 2. schreibt sie »Ach Scheiden, ach Scheiden! Ludwig kommt herauf- er
bringt die Grüsse aus dem eisigen Tannenwald, der nichts mehr weiss von den
Frühlingsträumen und von denen, die so fröhlich durch ihn geschritten sind. Die
Koffer und Kisten sind gepackt…Die letzten Milchbrode werden in den Caffee getunkt, und dann wird Abschied genommen - Dann sind wir allein - Fahr wohl - du
Sonne - Glücks genug.
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11. 2. Abschied von Hohenheim, von Onkel und Tante und Clara. Wie ist es kalt!
Dass die Tränen gefrieren könnten, wenn sie nicht so heiss aus dem Herzen kämen. Die letzte Ecke verschwindet vom Schloss. Fahr wohl- fahr wohl- dann
weiss ich nichts mehr, als dass ich bei Tante Mimi war und meinen Kopf in ihren
Schoss legte und meinte, das Herz müsse mir brechen Das mit reizenden Zeichnungen versehene Tagebuch Helenes über die Hohenheimer Zeit wurde von einer prüden alten Tante nach Helenes und Tante Mimis
Tod verbrannt. - Nur ein Brief, wahrscheinlich aus dem Jahre 1877 gibt Auskunft,
wie sich Helenes Beziehung zu Ludwig weitergestaltet hat. - Er ist an ihre beste
Freundin Lili Fabricius gerichtet
»0 Wort wie du bewährt dich hast:
Wer wenig sucht, der findet viel.
Ich wollte sein Dein Wintergast
Und ward dein Herzgespiel«.
So war's mit meinem Leben, als mir Hohenheim und die Kanzleistrasse 24 in
Stuttgart zur Heimat wurden. Darf ich Dir von jener goldenen Zeit erzählen? Da
hinten liegt meine Jugend, meine Hoffnung. Und hinter mir liegt auch die Zeit des
Kampfes, als das Herz nicht loslassen wollte von dem Jugendtraum und von der
Hoffnung. .. Nun brauche ich Dir nicht mehr mit leidenschaftlichen Klagen zu
kommen. . .
.
Das was im Werden, im Keimen ist, was auf eine schöne Blüte hoffen lässt, daran
soll man nicht rühren und den Kampf, den das Schicksal fordert, soll man auch
allein auskämpfen. Aber wenn alles abgeschlossen ist, warum soll man die farbenhellen Bilder der Vergangenheit nicht hervorzaubern.
Eine gute ehrliche Freundschaft ist entstanden aus der Liebe, die einst mein Herz
mit einem starken, stolzen Mannesherzen verband. Noch heute erhielt ich einen
zwei Bogen langen Brief von dem Sohn meiner Tante Mimi. . . Es ist ihm noch
immer Bedürfnis mir von Zeit zu Zeit (oft alle Monat) seine Bestrebungen mitzuteilen - besonders seitdem er nach dem Baumeisterexamen ein eigenes Geschäft gegründet hat. Dasselbe geht noch recht schlecht und da er kein Vermögen
hat, könnte er ohne seine Mutter nicht existieren, die mit aller Liebe und Fürsorge
sich für ihn bemüht. Er ist zu sehr Künstler, um sich in den Staatsdienst zu
schmieden. Seine Reisen in Italien und Frankreich haben köstliche Früchte getragen. . . . Mit schwesterlichen Augen verfolge ich seine Laufbahn. . . Ihn gekannt
zu haben ist ein grosses Glück, (er ist ein schöner, reiner und ganzer Charakter) .
. . Ich hoffe, dass die Erinnerung an seine Jugendliebe ihm niemals Schmerzen
bereitet. Die Leidenschaft in ihm ist an der Unmöglichkeit, seine Wünsche zu verwirklichen, erkaltet - aber die Zuneigung ist geblieben. Gott erhalte sie mir.
Neben mir steht ein Tannenbäumchen mit frischen hellen Knospen. . . Das redet
mir von den Tannen, die auf dem Wege von Stuttgart nach Hohenheim stehen, wo
wir, Ludwig und ich, miteinander gegangen sind, Hand in Hand, wie zwei glückliche sorglose Sonntagskinder. Das war im Februar 1874. Im April schrieb er dann
»Ich ging wieder des Weg’s und die Tannenbäume mit ihren hellen Knospen sahen
mich wehmütig an - als wollten sie mich fragen: »Kommt sie noch immer nicht? und nimmt uns so lieb in ihren Arm«. Ich tat das damals in kindlicher Freude.
Zu erzählen aus der Gegenwart habe ich nichts«.
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Ludwig und Helene hatten zunächst ebenso wenig wie Tante Mimi an einen
Abschied auf immer gedacht, wenn auch, da sie beide vermögenslos waren und
Ludwigs Ausbildung sich hinzog, eine lange Wartezeit vor ihnen lag. Sie waren im
Briefwechsel geblieben - auch ohne feste Verlobung.
Den endgültigen Anlass zur Trennung gab wohl Helenes schwere Erkrankung an
Rippenfellentzündung, die tuberkulöser Art war und sich mehrfach wiederholte
(auch ihre Mutter und deren Schwester waren früh gestorben). Nur ein Mann in
glänzenden Verhältnissen, der seiner Frau alle Hilfe, Sorgfalt, Kuraufenthalte etc.
leisten konnte, durfte an eine Verbindung mit ihr denken. - So hatte Helene ganz
resigniert, bis sie im Jahre 1880 bei Tante Mimi Ludwigs 12 Jahre älteren Bruder
Ferdinand kennen lernte. Beide fühlten sich vom ersten Augenblick zueinander
hingezogen. Ferdinand, der seit 17 Jahren fern der Heimat ein einsames Leben,
wenn auch das eines Fürsten führte, fand in dieser Cousine der von ihm einst
verehrten Toni ein zartes, schönes poetisches Geschöpf, von dem ihm Mutter Mimi
und Ludwig gewiss vorgeschwärmt hatten. Sie lernten sich auf einem Ausflug zum
Hohenstaufen näher kennen, und Helene entdeckte viele Ähnlichkeiten mit dem
Bruder: seine Güte und Feinfühligkeit, seine Heiterkeit und Liebenswürdigkeit,
seine Musikalität. Nur war Ferdinand ein Mann von 40, ein Krösus, ein Märchenprinz in den Augen der Stuttgarter, vor allem aber eine Persönlichkeit, die einer
zarten Frau ein starker Halt sein und ihr alle Bequemlichkeit leisten konnte.
Als sie von neuem schwer an Rippenfellentzündung erkrankte, war sein einziger
Wunsch, diese »Prinzessin mit dem gläsernen Herzen, das schon einen feinen
Sprung hatte«, wie Volkmann-Leander sagen würde, dem Tod zu entreissen und
für sich zu gewinnen. Er verlobte sich mit Helene schickte seine Braut für ein halbes Jahr mit Mutter Mimi nach Korfu, während er »seine Zelte« in Calcutta abbrach. - Seine zärtlichen, fürsorglichen Briefe von dort mussten ihm die volle
Liebe Helenes gewinnen. Als er sie 1880 als Frau nach London heimführte, sah sie
dankbar einem grossen Glück entgegen. Die Geburt des ersten Töchterchen
Lenchen brachte einen schweren Rückfall. Helene musste nach Madeira gebracht
werden und alle glaubten, eine vom Tod Gezeichnete in ihr zu sehen. Noch einmal
schien sie die Krankheit zu überwinden. Während sie ihr zweites Kind erwartete,
fühlte sie sich lebensfroh und gesund, wie seit langem nicht. - Aber die schwere
Geburt hatte ihre Kräfte erschöpft. Von da an spielte sich ihr Leben fast nur noch
in Seebädern oder Kurorten ab. Anfangs wurden die Kinder und genügend Personal mitgenommen. - Besonders in Badenweiler fühlten sie sich glücklich, während
Helene den Londoner Nebel gar nicht vertragen konnte. Der Besuch des Vaters
war jedesmal ein Fest. - Ferdinand liebte seine zarte »Heilige«, die alles mit einem
poetischen Hauch zu umgeben wusste, aufopfernd und vergass sein eigenes Wohl
ganz über dem ihren. Ernsthaft versicherte er ihr, »wenn er sie nicht geheiratet
hätte, wäre er ein verlotterter Kerl geworden mit Wirtshausgehen und Kartenspiel
und wäre jeden Abend betrunken nach Haus gekommen«. Das ist gewiss übertrieben.
Aber trotz aller Leidenstage beherrschten Liebe und Harmonie das tägliche Leben
und schafften den Kindern eine glückliche Kindheit. Es gab niemals ein unfreundliches oder ungeduldiges Wort.
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In ein kleines zerlesenes Neues Testament schrieb Ferdinand Eisenlohr »Dieses
Testament wurde von Helene während der 11 Jahre unserer glücklichen Ehe jeden
Abend gelesen. Ich bitte es für meine Kinder aufzubewahren«. - Welcher andere
Mann hätte es vermocht, seine Ehe als »überaus glücklich« zu bezeichnen, wenn
die Frau fast immer krank lag. - Helene hat hierfür selbst die richtigen Worte gefunden. »Ich glaube, er wollte nur etwas zu pflegen haben, - etwas recht Gebrechliches, das mit nichts lohnen konnte, als mit Liebe«.
Helene starb 1891 und liess einen körperlich und seelisch gebrochenen Mann zurück. Für die zwei Kinder engagierte er eine ihnen bis dahin unbekannte Schlesierin, eine ältliche Erzieherin namens Hedwig Schrottky, die den Haushalt energisch
in die Hand nahm. Doch war sie das vollständige Gegenteil der zarten, sanften,
musischen Mutter und wurde vor allem vom älteren Töchterchen Lenchen, das
schon 10 Jahre war, ganz abgelehnt, während die kleine Sophie sich mehr wunderte, dass das ganze Leben verändert schien, zumal der Vater schwer erkrankte.
In dieser verzweifelten Situation war es Toni von Siemens, die dem Freund ihrer
Jugend und den Kindern ihrer verstorbenen Cousine Helene zu Hilfe kam. Sie bot
ihnen ihr Haus in der Heimat, die Villa Siemens in Degerloch, die Werner von
Siemens seiner Frau nach der Emeritierung ihres Vaters hatte bauen lassen, als
Erholungsstätte an. Ottilie Siemens war 1882 gestorben, ihr Mann hatte sich
emeritieren lassen und war zu seiner Tochter nach Berlin-Charlottenburg gezogen.
1885 war er auf dem Siemens'schen Familientag in Harzburg, nachdem er noch
tags zuvor fröhlich mitgefeiert hatte, gestorben. So wurde die Villa Siemens zunächst ein Stück Heimat und Ferienparadies für Toni Siemens und ihre Kinder. Die
Villa war gross genug, um zahlreiche Familienglieder aufzunehmen. In Tonis Abwesenheit wurde sie von ihrer Tante Mimi Eisenlohr verwaltet, die Helenes und
Ferdinands Kinder wie eine echte Grossmutter an ihr Herz nahm. Ludwig
Eisenlohr, inzwischen ein bekannter Architekt und selbst verheiratet, wohnte ganz
in der Nähe und Lenchen und Sophie Eisenlohr hingen leidenschaftlich an diesem
nächsten Blutsverwandten, zumal ihr Vater auf ein halbes Jahr in ein Sanatorium
eingewiesen werden musste. So schliesst sich der Ring. Toni Siemens, Ludwig
Eisenlohr, Tante Mimi, die in Ferdinands und Helenes Jugend eine so bedeutsame
Rolle gespielt hatten, wurden ihren Kindern die treusten und geliebtesten Menschen. Villa Siemens wurde ihnen ein Stück Kindheitsparadies.
Nachdem er aus dem Sanatorium entlassen war, kehrte Ferdinand Eisenlohr nach
einem halben Jahr nach England zurück mit seinen Kindern und der Tante Hedwig,
die ihm in ihrer tatkräftigen, tüchtigen, selbstlosen und aufopfernden Art eine
grosse Stütze war. Er heiratete sie im Juni 1892 in London, um seine Kinder in
guten Händen zu wissen, denn die Ärzte hatten ihm nicht verheimlicht, dass seine
Jahre gezählt waren. Nach seinem Tod 1895 kehrte Hedwig Eisenlohr-Schrottky
»das Muttel« mit Lenchen und Sophie in die Villa Siemens zurück. Die finanziellen
Verhältnisse waren durch die lange Krankheit Eisenlohrs, durch Spekulationen und
unredliche Teilhaber in seiner Abwesenheit zerrüttet. Grossmutter Mimi und
Werner von Siemens lebten nicht mehr; aber Tante Toni und Onkel Ludwig blieben
die guten Sterne über der Kindheit der verwaisten Schwestern. In die Villa
Siemens hatte man ein Stück des Zaubers vom Hohenheimer Schloss, in dem Toni
Siemens und Ferdinand, Ludwig und Helene Eisenlohr so glückliche Zeiten verlebt
hatten, herüber gerettet. Da war der alte Gartentisch aus Hohenheim mit den
eingeritzten Studentennamen. Da waren die drei Ecksofas in der Nische, hinter
Efeu verborgen, in denen die jungen Leute so gern geplaudert hatten, die alten
Noten, nach denen sie musizierten. Ja, in Tante Mimis Zimmer fand sich die
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Kommode mit den vollständigen Werken Schleiermachers, in denen das Helenchen
einst studiert hatte. Sie waren noch immer wenig abgenützt, als die kleine Sophie
darin zu lesen begann. - Tante Toni wurde nicht müde, von Hohenheim zu erzählen und ihre Kinder Hertha und Carl Friedrich von Siemens gingen gern zum Hohenheimer Schloss, wo sie in ihrer Kindheit so schöne Ferien verlebt hatten.
Aus den Jungmädchenbriefen ihrer Mutter Helene Polchau endlich wurde Sophie
Eisenlohr die Hohenheimer Romanze lebendig, die für ihre Mutter und Onkel
Ludwig zeitlebens das Sinnbild übermütiger Lebensfreude und unbeschwerten Jugendglücks gewesen war.
Ich bin Frau Prof. Sophie Eckener, geb. Eisenlohr von Herzen dankbar, dass sie
mir durch die Briefe ihrer Mutter, durch ihre Aufzeichnungen und Bilder Einblick
gewährt hat in ein Stück Hohenheimer Vergangenheit und eine Idylle, die für mich
zeitlebens mit dem Hohenheimer Schloss verknüpft bleiben wird.
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Anhang
Der Bericht Helene Polchaus stimmt weitgehend mit den Angaben im Verzeichnis
über die Angehörigen der k. württembergischen Akademie Hohenheim von 181893, das anlässlich des 75jährigen Bestehens der Hochschule herausgegeben
wurde, überein. Im Wintersemester 1873/74 gab es in Hohenheim folgende Hochschullehrer, die grossenteils den Kronenorden, der mit dem persönlichen Adel
verbunden war, besassen oder bis 1893 verliehen bekommen hatten.
Drei Professoren der Landwirtschaft
Dr. Ludwig v. Rau, Direktor der Akademie von 1872-82
Dr. Walter Funke, Prof. der Landwirtschaft, 1865-81
(später Prof. der Universität Breslau)
Otto v. Vossler, Prof. der Landwirtschaft seit 1865,
seit 1884 Direktor der Akademie
.
Weitere Hochschullehrer:
Carl v. Siemens, Prof. der Technologie, 1839-82, und seit 1836 Vorstand der
landwirtschaftlichen technischen Werkstätten
Dr. Franz v. Fleischer, Prof. der Naturwissenschaften von 1840-78, für Zoologie
bis 47, Chemie bis 54, Mineralogie bis 74, Botanik bis 78
Dr. Emil v. Wolff, Prof. der Agrikulturchemie seit 1854, Vorstand der
landwirtschaftl. chemischen Versuchsstation seit 65 .
Dr. Friedrich v. Weber, Prof. der Physik und Mathematik 1873-75,
später Prof. am Polytechnikum Zürich
Dr. Hermann v. Nördlingen, Prof. der Forstwirtschaft 1845-81,
später Oberforstrat und Prof. in Tübingen .
Dr. Franz v. Baur, Prof. der Forstwirtschaft 1869-78
Dr. Friedrich Nies, Prof. der Geologie und Mineralogie seit 74, geb. 1839
Wilhelm Zipperlen, Prof. der Tierheilkunde und Pferdezucht seit 1870
Dr. Gustav Jäger, Lehrer der Zoologie von 1847-84,
Prof. am Polytechnikum Stuttgart.
Akademische Hilfskräfte hatten die Professoren nur wenige:
Oberförster Romberg, Dozent
.
Dr. Kar! Kreuzhage, 1. chem. Assistent der landw. chem. Versuchsstation
seit 1866
Dr. Ludwig Dulk, Assistent des chem. Labors
Ökonomierat Hochstetter, Lehrer des Weinbaus.
Im Wintersemester 1873/74 gab es 67 land- und forstwirtschaftliche Studenten
(im Sommer waren es 88 gewesen).
Von den 67 waren 59 Landwirte, 8 Forstwirte. Etwa 1/3 waren Württemberger,
1/3 deutsche aus anderen bundesstaatlichen Ländern, 1/3 waren Ausländer.
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Schloss Hohenheim bei Stuttgart. Auf der schon 1120 genannten Burg Hohenheim sass
einst ein gleichnamiges Adelsgeschlecht, das seit 1270 den Beinamen Bombast führte.
Burg und Gut kamen 1768 an Herzog Karl Eugen, der 1785 für sich und seine Gemahlin
Franziska von Hohenheim das heutige hübsche Schloss erbauen liess. König Wilhelm I.
richtete 1818 im Schloss eine landwirtschaftliche Musteranstalt ein, die im Jahre 1828 zu
einer Lehranstalt für Land- und Forstwirtschaft, 1847 zur Land- und Forstwirtschaftlichen
Akademie ernannt wurde und 1904 den Rang einer Landwirtschaftlichen Hochschule
erhielt.
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