Hörfunk – Bildungsprogramm

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Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Arne Kapitza
WISSENSWERT
Mar i muntanya (3)
Der katalanische Architekturkünstler Antoni Gaudi
Von Sylvia Schopf
Sendung:
Donnerstag, 04.10.2007, 08:30 Uhr, hr2
Sprecherin: Monica Müller-Heusch
Übersetzer: Helmut Winkelmann
07 – 092
COPYRIGHT:
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1
Eröffnungsmusik (Maria del Mar Bonet aus „Raixa“ - Intro)
Sprecherin
Sie ist das Wahrzeichen von Barcelona und die meistbesuchte
Baustelle Europas. Mehr als 1,5 Millionen Menschen kommen jedes
Jahr, um eine seit 125 Jahren im Bau befindliche Kathedrale zu
bestaunen: die „Sagrada Familia“ [Ssagráda Família], die „Sühnekirche
der Heiligen Familie“. Ein ungewöhnliches Bauwerk, wie alles was der
katalanische Architekt Antoní Gaudí [endbetont] geschaffen hat. Wie
schlanke Zypressen oder schmale Eiszapfen ragen inzwischen acht
von insgesamt 18 vorgesehenen Kirchtürmen in den Himmel von
Barcelona, unschön garniert von Baukränen. Aber das tut dem
weltweiten Interesse keinen Abbruch.
Im Inneren der Kathedrale empfängt den Besucher im wahrsten Sinne
des Wortes ‚ein Wald von Säulen‘. Diese streben Baumstämmen gleich
in die Höhe, verästeln sich im oberen Teil und tragen eine Decke
gebildet aus weit geöffneten Sonnenblumenkelchen in strahlendem
Gold-gelb.
O-Ton 1
Die Art, wie er dieses Gebäude konstruiert hat, find ich unwahrscheinlich
beeindruckend, diese Verbindung von Natur, von Pflanzen mit einem
Gebäude. Also, das ist Wahnsinn.
Sprecherin
schwärmt Gerhard Brümmer, ein Besucher der Kathedrale. Egal ob
Kirche oder Kloster, Wohnhaus, Parkanlage oder Möbel - in Gaudís
Werken ist die Natur allgegenwärtig: Häuserfassaden sehen aus, als
hätten Wind und Wasser sie geformt. Treppen winden sich wie
Schneckenhäuser nach oben. Dächer erinnern an ein sanft auf- und
abschwingendes Meer oder ähneln dem gewölbten Rücken einer
Echse, der mit bunten Keramikschuppen überzogen ist. Auch Türme
und Schornsteine bekommen in Gaudís Architekturkunst lebendige
Formen:
O-Ton 2 (0’23) Als würden sie aus dem Boden herauswachsen in einer spiralförmigen
Drehung, dann in Pilzköpfe übergehen und in einigen Fällen in baumartige
Strukturen übergehen. Und die Analogie zum Baum ist darin zu erkennen, das
2
beispielsweise keinerlei Übergang ist zwischen Boden und Säulen oder
Stützansatz.
Sprecherin
erklärt der Architekturhistoriker Joaquin Medina Warmburg [ch-oakín
Medína Warmburg]. Auch für Joan Bassegoda [Schoán Bassgóda], der
sich seit Jahrzehnten mit Werk und Leben des katalanischen
Architekten beschäftigt, ist die Natur mit ihren vielfältigen und
faszinierenden Formen der Schlüssel zu Antoni Gaudí und seinen
Werken.
O-Ton 3 (0’26)
„Gaudi no tiene otro merito, sino haber ... nunca han utilisado ... la
naturaleza lo rechaza.“
Übersetzer
„Es ist der größte Verdienst von Gaudi, dass er erkannte: in der Natur
gibt es nicht nur dekorative und interessante Formen, sondern sie bringt
auch beeindruckende Strukturen hervor, die jedoch von den Architekten
niemals genutzt wurden. Gaudi aber interessierte sich für diese Formen
und Strukturen, weil sie logisch und bewährt sind. Denn die Natur ist
absolut logisch. Was sich nicht bewährt hat, das hat sie ausgesondert.“
Sprecherin
Deswegen wurde die Natur für Gaudi der Maßstab seiner Architektur.
Anders als seine Kollegen verstand er sich auch nicht als Schöpfer oder
Erschaffer, sondern als einer, der mit den von der Natur geschaffenen
Formen arbeitet.
O-Ton 4 (0’17)
Übersetzer
“Gaudí decia ...... eso es mi libro de la arcitecutra.”
„Gaudí sagte: ich kopiere, was bereits existiert. Denn für eine gute Architektur
muss man nichts erfinden. Es reicht voll und ganz aus, das Vorhandene zu
nehmen; und das versucht man zu perfektionieren. Als ein Journalist Gaudi
einmal nach dem Architekturbuch fragte, das ihn am meisten beeinflußt habe,
sagte Gaudi: hier, dieser Baum, das ist mein Architekturbuch.“
Sprecherin
Formen, die die Natur hervorbringt, waren für Gaudí nicht nur Anregung
für dekorative Elemente, sondern Vorbild für perfekte Statik.
O-Ton 5 A (0’20)
Übersetzer
“Por ejemplo: el femor ... no hay piernas corinticaa. Es una invención.”
„Nehmen wir zum Beispiel den Oberschenkelknochen. Er war für Gaudí
eine wunderbare Säule, die dem Menschen erlaubt, aufrecht zu stehen
und zu gehen. Eine Form, die direkt aus der Natur kommt - und Gaudi
3
sagte: so möchte ich meine Säulen machen, jenseits der korinthischen,
ionischen, dorischen Säulen und wie sie alle heißen. Denn es gibt keine
Beine, die wie dorische oder korinthische Säulen geformt sind.“
Sprecherin
Gaudis Hinwendung zur Natur ist eng mit seiner Herkunft und Kindheit
verknüpft. Als Sohn eines Kesselschmieds wuchs er in einem Dorf etwa
50 Kilometer südlich von Barcelona auf. Schon als kleiner Junge litt er
an einem rheumatischen Fieber, dass ihn in seinen
Bewegungsmöglichkeiten einschränkte.
O-Ton 6 (0’16)
Übersetzer
“De pequeño no podia correr ... que son utilisables.”
„Er konnte nicht mit seinen Freunden und Klassenkameraden draußen
herumtoben und spielen. Er war deshalb oft alleine, ging dann in die Natur
und fing an zu beobachten. Als er Architektur studierte, sagte er sich: warum
komplizierte geometrische Form suchen, wo es doch in der Natur genügend
gibt.“
Sprecherin
Gaudí vermied geometrische Grundformen wie Dreiecke, rechte Winkel
oder Quadrate, gebrauchte für seine Entwürfe nicht Lineal, Zirkel und
Rechenschieber. Sondern er experimentierte mit dreidimensionalen
Modellen. Mit Hilfe von horizontal gespannten Fäden, an die er kleine
mit Schrot gefüllte Säckchen hängte, die das Gewicht simulierten, das
das Mauerwerk später tragen sollte, entwickelte er die Formen und
Krümmungen von Kuppeln und Bögen.
O-Ton 7 (0’30)
Übersetzer
Gaudi es absolutamente intuitivo.... que la tenía delante.”
Gaudi war absolut intuitiv, keine komplizierte Person, die sich in Philosophien
vertiefte. Er kümmerte sich um die einfachen Dinge. So sagte einmal ein
Zimmermann, der viele Jahre mit Gaudi zusammengearbeitet hat, dass Gaudi
einen ganz klaren Kopf habe. Wenn man ihm ein Problem schilderte, sah er
sofort die Lösung und hat diese praktisch erprobt. Andere hätten erst mal
analysiert und studiert, um dann irgendwann mal zu einer Lösung zu
kommen. Gaudi sah diese sofort und musste sie nicht kalkulieren und vorher
Studien machen.
4
Sprecherin
Mit seinen ungewöhnlichen Ideen und Vorstellungen von Architektur
stieß Gaudi damals, vor über 100 Jahren, nicht unbedingt auf
Verständnis. Als er mit 26 an der Architekturschule in Barcelona das
Abschlußdiplom bekam, zweifelte der Direktor, ob man den Titel einem
Verrückten oder einem Genie gegeben habe. Doch Gaudi hatte Glück.
Der katalanische Großindustrielle Eusebi Güell [Eusebi Gu’eij] wurde
auf den ungewöhnlichen Architekten aufmerksam. Von ihm bekam
Gaudi seinen ersten Großauftrag: ein Wohnhaus im Zentrum von
Barcelona.
O-Ton 8A (0’26)
Eusebi Güell, das ist ein bürgerlicher Industrieller, der sich nicht ein
Haus bauen läßt, sondern einen Palast und zwar ganz im Sinne eines Mäzens
der Renaissance, der auch einen Künstler hat [, den er fördert]. Und dieser
Künstler soll dazu beitragen, diese Vorstellung einer neuen Aristokratie des
Geldes und ihrer Machtansprüche zum Ausdruck zu bringen und letzten
Endes auch zu legitimieren.
Sprecherin
Und tatsächlich erinnert das Wohnhaus mit seiner nüchternen, von
klaren Linien bestimmten Fassade an einen venezianischen Palast.
Doch auf dem Dach kündigt sich schon der spätere Gaudí an:
Schornsteine und Belüftungstürmchen, die mit Spitzen, Ecken und
farbigen Mosaiken fantasievoll gestaltet sind. Am Hauseingang und im
Inneren wölben sich ungewöhnliche Bögen: es sind weder Spitz- noch
Rundbögen, sondern schmale, einer Parabel ähnlich geformte
Rundungen, sogenannte „parabolische Bögen“. Sie finden sich in vielen
Bauten von Gaudi und haben ihre Entsprechung in der Natur wie der
Architekturprofessor Bassegoda erklärt:
O-Ton 9 (0’21)
Übersetzer
Si usted considerai.... se habían utilizado en la arquitectura”.
Schauen Sie sich den Raum zwischen Ihren Fingern an, den Bogen
zwischen zwei gespreizten Fingern. Das nennt man parabolisch. Wenn
wir die ausgestreckten Finger bewegen, entstehen unendlich
verschiedene parabolische Bögen. Das ist phänomenal! Doch die
Architektur hat so etwas niemals als Vorlage benutzt.
Sprecherin
Aber Gaudi! Für den „Palacio Güell“, das Stadthaus des Textilfabrikanten
Güell wendet er die parabolischen Bögen zum ersten Mal an. Der Bau macht
Gaudi bekannt bei einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Zahlreiche
5
Presseberichte erscheinen. Sogar amerikanische Zeitungen schreiben über
Gaudí als einen Mann, der neue Wege in der Architektur beschreitet und bis
heute beeinflussen Gaudís außergewöhnliche Bauten immer wieder Künstler,
Designer und Architekten wie etwa Friedensreich Hundertwasser. Der
amerikanische Stararchitekt Norman Foster bewundert Gaudís Schaffen und
seine Methoden, die man auch heute noch als revolutionär bezeichnen kann.
O-Ton
Er hat nicht nur die Vorstellung seiner Bauherrn, seiner Förderer
wiedergegeben, sondern auch im Dialog mit ihnen wichtige Darstellungen
politischer, kultureller Ansprüche geschaffen durch seine Bauwerke. D.h. sie
wurden zu Symbolen.
Sprecherin
Symbole des Geldadels, aber auch Symbole des nationalen
Selbstbewußtseins. Wie in ganz Europa erstarkt auch in Katalonien im
19. Jahrhundert das Nationalbewußtsein. Man besinnt sich auf die
ruhmreiche katalanische Geschichte des längst vergangenen
Mittelalters; es wächst der Anspruch auf nationale Eigenständigkeit.
Und Gaudi, ein Anhänger dieser nationalen Strömung, verwendet
nationale Symbole wie die katalanische Nationalflagge oder Figuren
aus der katalanischen Mythologie bei der Gestaltung seiner Gebäude.
O-Ton 12 (0’40)
Übersetzer
Gaudi naturalmente era catalan ... no es verdad, pero eso lo entendía.
Natürlich hatte Gaudi als Katalane eine große Zuneigung zu seinem Land.
Aber mehr denn als Katalane fühlte er sich als mediterraner Mensch, als
Mensch des Mittelmeers. Das Wort ‚mediterran‘ sagt es ja schon: media-terra,
Hälfte der Welt; für Gaudi war es der Ort des Gleichgewichtes, der Ort, an
dem man die Dinge am besten sieht, weil das Licht im 45° Winkel aufkommt
und alles perfekt beleuchtet. Deswegen sehen wir die Dinge so, wie sie
wirklich sind, meinte Gaudi, während die Leute im Norden durch den Nebel,
der dort oftmals herrscht, die Dinge nicht klar und realistisch sehen können
und diese dann durch Vorstellungen und Phantasien ersetzen. Außerhalb des
Mittelmeerraumes – so Gaudis Meinung – sei keine Kunst möglich. Das ist
nun etwas radikal und nicht richtig, aber für ihn war das halt so.“
Sprecherin
Nicht nur das katalanische Selbstbewußtsein, sondern auch die Religion
spielen in Gaudís Architektur eine Rolle. In allen seinen Gebäuden findet man
religiöse Symbole, erzählt Joan Bassegoda.
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O-Ton 13 (0’16)
Übersetzer
„Todas sus obras...... no lo hubiera echo es proyecto.“
Diese gehörten für ihn dazu. Als er zum Beispiel das Casa Milá in Barcelona
baute, plante er auf dem Dach des Wohnhauses eine Statue der Jungfrau
Maria mit den Erzengeln aufzustellen. Sein Auftraggeber, der Textilfabrikant
Milá, aber war dagegen. Die Statue wurde schließlich nicht ausgeführt und
Gaudi sagte: wenn ich das gewußt hätte, hätte ich das ganze Projekt gar nicht
gemacht.
Sprecherin
Nicht immer hatte die Religion für Gaudi diesen Stellenwert. Er kam
zwar aus einer katholischen Familie, besuchte eine Klosterschule, weil
das für ihn als Kind aus einfachen Verhältnissen die einzige Möglichkeit
war, eine Schulbildung zu bekommen. Als junger Mann aber wandte er
sich gegen Kirche und Klerus. Dann kam er jedoch durch seine Arbeit
mit Bischöfen und Geistlichen in Kontakt und begann, sich intensiv mit
religiösen Fragen zu beschäftigen..
O-Ton 14 (0’14)
Übersetzer
El fue amigo de los sacerdotes ... cambiar las cosas.”
Er war mit fortschrittlichen Geistlichen seiner Zeit befreundet wie dem Bischof
von Astorga, Leute, die nicht nur an der Religion interessiert waren, sondern
auch an den Dingen des Lebens.
Sprecherin
Im Laufe der Zeit entwickelte sich Gaudí zu einem tiefgläubigen
Katholiken, und der Bau der „Sagrada Familia“ wurde für ihn zur alles
bestimmenden Lebensaufgabe. Die letzten 15 Jahre widmete er sich
ausschließlich der Kathedrale, wohnte am Ende sogar auf der Baustelle
- bis er im Juni 1926, 74-jährig, bei einem Zusammenstoß mit einer
Straßenbahn lebensgefährlich verletzt wurde. Niemand erkannte in dem
einfach und armselig gekleidet Mann den bekannten Architekten. Man
brachte ihn in ein Armenhospital; drei Tage später starb er an seinen
Verletzungen. Der Bau an der ‚Sagrada Familia‘ aber ging weiter - und
ist seitdem umstritten bei Fachleuten und Künstlern ebenso wie bei den
Besuchern. „Monumentalkitsch“ und „ein Verbrechen am Werk“
schimpfen die einen und kritisieren, dass man die Kirche nicht in ihrem
unfertigen Status belassen habe. Für andere wie den Gaudífachmann
Bassegoda steht es außer Frage, dass die Kirche im Sinne Gaudís
vollendet wird.
O-Ton 15
El dejó la maqueta del conjunto ... otros tenían que inspirarse.“
7
Übersetzer
Er hinterließ ein Entwurfsmodell des gesamten Baus. Außerdem hat er
eine Fassade als Beispiel gebaut, weil er wußte, dass er die Kirche
nicht fertigstellen würde und dass andere nach ihm durch etwas
inspiriert werden müssen.
Abschlußmusik
Amargós, Joan Albert ; Mar Bonet, María: Campanas de bastabales (Schluss)
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