SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst „Glück

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst
„Glück und Pein des Wahns Die bipolare Störung und ihre Behandlung“
Autor: Jochen Paulus
Sprecherin: Dörte Tebben
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 11. Januar 2012, 8.30 Uhr, SWR2
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1
Sprecherin:
Psychische Störungen sind für die Betroffenen meist eine schwere Last. Doch bei einer
fühlen sich die Kranken grandios - wenn auch nur für kurze Zeit.
O-Ton 1 - Markus Kolb:
Manie ist toll in dem Augenblick, wo man sie hat. Da gehört einem die Welt.
Ansage:
„Glück und Pein des Wahns - Die bipolare Störung und ihre Behandlung“. Eine
Sendung von Jochen Paulus.
O-Ton 2 - Markus Kolb:
Da checkt man auch einfach nicht, dass man sehr krank ist und gerade viel Blödsinn
macht.
Sprecherin:
Markus Kolb, wie wir ihn hier nennen, leidet an der bipolaren Störung. Seine Stimmung
schwankt oft zwischen zwei extremen Polen - dem Hochgefühl der Manie und der Qual
der Depression. „Manisch-depressives Irresein“, hieß die Krankheit beim
Psychiatrievater Emil Kraepelin vor hundert Jahren. In Behandlung begeben sich die
Betroffenen meist in einer depressiven Phase. Auch Markus Kolb kam erstmals in die
Klinik, als seine Stimmung ganz unten war - zu auffälligen manischen Phasen war es bei
ihm vorher nie gekommen.
O-Ton 3 - Markus Kolb:
Also das Verhalten auf der Station war so, dass ich ja in einer ganz, ganz schlimmen
Depression da ankam, minimal vor dem Selbstmord stand, deswegen auf der
geschlossenen Station war. Ich kam dann nach ein paar Wochen wieder runter auf eine
offene Station, hatte mich da sehr gefreut. Dann hat mir meine damalige behandelnde
Ärztin eröffnet, dass sie die Station verlässt. Und dieser kleine Punkt, der hat dann
gereicht, so dass ich wieder abrausche, da war ich wieder auf der geschlossenen aus
den gleichen Gründen.
Sprecherin:
Soweit sah alles einfach wie eine schwere Depression aus. Doch nach einiger Zeit
hatten die Spezialisten einen anderen Verdacht.
O-Ton 4 - Markus Kolb:
Es war dann letztlich hier in der Klinik, da war ich damals dann zwei Monate, da kamen
dann die behandelnden Ärzte auf die Idee, dass da möglicherweise in die andere
Richtung was nicht stimmt aufgrund meines Verhaltens auf der Station.
Sprecherin:
Denn der angeblich depressive Patient fing an zu lachen und zu strahlen. Er schmiedete
große Pläne, obwohl er gerade erst psychisch zusammengebrochen war.
2
O-Ton 5 - Markus Kolb:
Beruflich was ich noch alles machen will, mit Wohnung, mit Familie und lauter solche
Dinge, auch hochtrabende Geschichten, die in dem Augenblick überhaupt nicht
realistisch waren, weil es mir richtig schlecht ging eigentlich.
Sprecherin:
Die Ärzte tippten nun auf eine bipolare Störung und sollten recht behalten. Markus Kolb
war Anfang dreißig, beruflich beim Fernsehen erfolgreich, glücklich verheiratet und hatte
mit seiner Frau endlich das ersehnte Kind bekommen. Nun wurde er aus dem Leben
gerissen. So geht es oft bei dieser Krankheit, hat der Manie-Spezialist Emanuel Severus
festgestellt, der auch Markus Kolb behandelt.
O-Ton 6 - Emanuel Severus:
Die Brisanz dieser Erkrankung resultiert daraus, dass sie oftmals schon im frühen Alter
startet, wenn diejenigen dabei sind, sich ein Leben aufzubauen oder wie wir hier gehört
hatten, gerade auf dem Höhepunkt sind.
Sprecherin:
Um zu erfassen, welches Leid eine Krankheit verursacht, errechnet die
Weltgesundheitsorganisation, wie viele Lebensjahre sie belastet und wie stark. Die
bipolare Störung sorgt demnach für mehr Pein als alle Formen von Krebs zusammen einfach weil sie so früh im Leben beginnt. Markus Kolb erinnert sich im Nachhinein auch
an Stimmungsschwankungen in seiner Jugend, die aber nicht besonders auffällig waren
und die niemand weiter ernst nahm. Das ist typisch, weiß Severus, Oberarzt an der
Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München:
O-Ton 7 - Emanuel Severus:
Auch wichtig, denke ich, dass es oft Vorboten schon in der Jugend gibt. Das sind dann
nicht unbedingt ausgewachsene behandlungsbedürftige Episoden, aber doch
Schwankungen in der Stimmung, teilweise auch Angstsymptome, Schlafstörungen, die
rückblickend sehr wohl ein erstes Zeichen für diese Erkrankung darstellen können.
Sprecherin:
Die eigentliche Krankheit beginnt dann oft mit Anfang 20. In manischen Phasen sprühen
die Betroffenen nur so vor Energie. Sie platzen fast vor Selbstbewusstsein, haben
tausend Pläne und es scheint kein Problem, sie alle umzusetzen, am besten sofort. Auf
Einwände der Umwelt reagieren die Kranken gereizt, doch oft ist ihre Stimmung
blendend. Jules Angst, längst emeritierter Psychiatrieprofessor der Universität Zürich,
der mit Mitte 80 immer noch in wichtigen Zeitschriften publiziert und auf Kongressen
referiert, vergleicht die Stimmung in manischen Phasen mit Zeiten der Verliebtheit.
O-Ton 8 - Jules Angst:
Man hat Studien gemacht über diese Verliebtheit an Adoleszenten in Basel und hat
gefunden, dass das Hoch ebenso hoch ist wie bei Manisch-Depressiven.
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Sprecherin:
Die Psychiatrie-Professorin Kay Jamison von der renommierten Johns Hopkins
University in Baltimore, USA, hat diese Euphorie in ihrer Autobiografie „Meine ruhelose
Seele“ beschrieben - sie ist selbst bipolar.
Zitatorin:
„Überall herrscht Sinnlichkeit; das Verlangen, zu verführen und verführt zu werden, ist
unwiderstehlich. Gefühle von Leichtigkeit, Intensität, Kraft, Wohlbefinden, finanzieller
Allmacht und Euphorie durchdringen einen bis ins Mark.“
Sprecherin:
Wie im Rausch stürzen sich die Kranken in neue Beziehungen und geben viel zu viel
Geld aus. Die Folgen kennt Emanuel Severus aus den Berichten seiner Patienten.
O-Ton 9 - Emanuel Severus:
Es kann tatsächlich ein Leben zumindest zeitweise ruinieren, dergestalt dass diejenigen
dann Insolvenz anmelden müssen, dass Partnerschaften auseinandergehen und das
leider auch nicht immer in Anführungszeichen zu reparieren ist.
Sprecherin:
Kay Jamison erstand alles Mögliche bis hin zu einem ausgestopften Fuchs, den sie
schon bald grässlich fand.
Zitatorin:
„Ich kaufte zwölf Erste-Hilfe-Sets gegen Schlangenbisse in der Überzeugung, dass das
notwendig und wichtig sei. Ich kaufte Edelsteine, elegante und absolut überflüssige
Möbelstücke, innerhalb einer Stunde drei Uhren (wobei ich mich eher in Richtung Rolex
als Timex orientierte) sowie Unmengen von aufreizenden Kleidungsstücken, die
überhaupt nicht zu mir passten.“
Sprecherin:
Es liegt auf der Hand, dass ein bipolar Erkrankter in dieser Situation leicht depressiv
wird.
O-Ton 10 - Markus Kolb:
Und dann kann es halt auch passieren, hatte ich leider, dass man dann gleich wieder in
die andere Richtung runter rauscht mit einer vielleicht doppelt so hohen Fallhöhe,
einfach. Das ist dann ein tiefer Fall.
Musik: Berlioz anspielen und unterlegen
Sprecherin:
Auch der französische Komponist und Musikkritiker Hector Berlioz hat die extremen
Gefühlsschwankungen erlebt, die die Krankheit mit sich bringt.
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Zitator:
„Es gibt zwei Arten dieses Spleens, die eine ironisch, spöttisch, leidenschaftlich,
gewalttätig, boshaft, die andere still und düster, wo man nur Ruhe will, Schweigen,
Einsamkeit und Schlaf. Für den, der von der dieser Art besessen ist, wird alles
gleichgültig, der Untergang der Welt würde ihn kaum berühren. Ich wünschte mir dann,
dass die Erde eine mit Schießpulver gefüllte Bombe wäre und ich sie anzünden würde,
um mich zu erheitern.
Sprecherin:
Auch die Beziehungen der Kranken werden aufs Äußerste belastet. Denn es ist extrem
schwer, mit einem Partner auszukommen, der erst tatendurstig unverwirklichbar große
Pläne schmiedet und dann am Boden zerstört ist. Die Ehe von Markus Kolb ging
deshalb in die Brüche.
O-Ton 11 - Markus Kolb:
Die Krankheit hat sicher eine große Rolle gespielt, es hat sich halt eingeschlichen. Erst
hat es keiner gemerkt, dann kam der Superknall, dann war ich hier in der Psychiatrie auf
der geschlossenen Station, dann war es ihr wahrscheinlich alles zu viel, weil sie ja auch
noch mit dem Baby, sind jetzt keine gesicherten Erkenntnisse. Aber es ist anzunehmen.
Sprecherin:
Andere Bipolare stürzen sich in Affären. Eine Folge davon zeigte sich in einer großen
neuseeländischen Studie: Bei Bipolaren waren gut viermal so viele
Geschlechtskrankheiten zu verzeichnen wie üblich. Professor Jules Angst, der fünfzig
Jahre lang Patienten behandelt hat und sich seit Jahrzehnten mit der bipolaren Störung
beschäftigt, kennt noch andere Versuchungen, denen manische Menschen nicht gut
widerstehen können.
O-Ton 12 - Jules Angst:
Dass man also anfängt dann in dieser Stimmung auch mehr zu konsumieren, nicht nur
zu essen, sondern vor allem zu trinken, Alkohol zu konsumieren oder Drogen zu
konsumieren. Die Hemmschwelle ist einfach niedrig.
Sprecherin:
Oft gehen weitere Erkrankungen mit der bipolaren Störung einher oder sind ihre Folge:
Ängste und Ess-Störungen, aber auch Übergewicht, Diabetes und Herzprobleme:
O-Ton 13 - Jules Angst:
Je mehr die Manie im Vordergrund steht, umso größer ist das Risiko des kardialen
Todes, also des Herztodes am Schluss. Da haben wir also Langzeituntersuchungen bis
zum Tode der Patienten durchgeführt.
Sprecherin:
Nicht alle bipolaren Störungen sind gleich schwer, Experten wie Jules Angst
unterscheiden verschiedene Typen. Angst hat die moderne Konzeption der Krankheit
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entscheidend mitgeprägt, sie in großen Studien untersucht und genießt unter Kollegen
großen Respekt, der sich in zahllosen Auszeichnungen niedergeschlagen hat.
O-Ton 14 - Jules Angst:
Also Bipolar-I ist ja, wenn man schwere Manien hat und schwere Depression. Bipolar-II
also nur leichte, hypomanische Zustände mit schwerer Depression. Und der Verlauf ist
sehr ähnlich. Also die Phasenzahl über die Zeit, über die Jahre, ist genau gleich.
Sprecherin:
Die an Bipolar-II-Erkrankten müssen sich laut Definition mindestens vier Tage
hintereinander in einem hypomanen - also noch nicht ganz manischen - Zustand
befinden. Sie brauchen dann beispielsweise nur ein paar Stunden Schlaf, reden
ausgesprochen viel, sind leicht ablenkbar oder haben das Gefühl, dass ihre Gedanken
rasen. Das klingt nicht so schlimm und allemal besser als eine reine Depression. Doch
Bipolar-II ist die schwerere Erkrankung, weil sie nicht gut zu behandeln ist und ähnliche
Risiken mit sich bringt wie die Bipolar-I-Störung. Diese beiden klassischen Diagnosen
erfassen aber nicht alle Kranken, wie Jules Angst und andere Wissenschaftler in den
letzten Jahren herausgefunden haben. Viele Menschen werden nicht als bipolar
erkannt, denn sie befinden sich nicht vier Tage am Stück in einer leicht manischen
Phase, wie es für eine Bipolar-II-Diagnose erforderlich wäre. Doch dafür haben sie mehr
hypomane Phasen, so dass sie im Jahr genau wie die anderen Kranken auf etwa
zwanzig hypomane Tage kommen. Damit sind sie auch genauso krank, argumentiert
Jules Angst.
O-Ton 15 - Jules Angst:
Und das ist gar kein Unterschied, das hängt nicht davon ab, ob die Phasendauer ein,
zwei Tage, drei und so weiter ist. Das ist nicht das Entscheidende dabei. Dass man
eigentlich nicht sagen kann, die sind mehr oder die sind weniger oft in Tagen gezählt
über ein Jahr im Hoch. Das wird gar nicht durch die einzelne Phase bestimmt.
Sprecherin:
Die Weltgesundheitsorganisation hat das neue Diagnosekonzept bereits für eine
Untersuchung in elf Ländern mit über 60.000 Teilnehmern eingesetzt. Sie wurde im
März 2011 veröffentlicht. 0,6 Prozent der Weltbevölkerung haben demnach schon an
einer Bipolar-I-Störung gelitten, 0,4 Prozent an einer Bipolar-II-Störung und weitere 3,8
Prozent an einer leichteren Form.
Manische und depressive Phasen können aber nicht nur schnell wechseln - im
Extremfall innerhalb von Stunden - sie können sogar gleichzeitig auftreten. Auch Markus
Kolb hat diesen bizarren Zustand erlebt.
O-Ton 16 - Markus Kolb:
Einerseits war wieder diese überbordende Energie, Kreativität und so weiter,
andererseits war ich ziemlich besessen davon, mich umzubringen und das ist halt
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deshalb so gefährlich, weil man dann diese Energie im schlimmsten Falle dann auch
dazu umsetzt. Insofern habe ich Glück gehabt, war rechtzeitig hier.
Sprecherin:
Die Klinik konnte ihn davor bewahren, sich tatsächlich zu töten. So gefährlich die Manie
ist - dass alle Hemmungen und alle Bremsen wegzufallen scheinen, kann auch Vorteile
haben. Die Ideen sprudeln nur so. Kein Wunder, dass „Verrückte“ schon lange als
besonders kreativ gelten.
Zitator:
„Wir in dieser Zunft sind alle verrückt.“
Sprecherin:
... behauptete der Dichter Lord Byron. Tatsächlich fanden sich immer wieder besonders
viele Manisch-Depressive, wenn Forscher die Lebensläufe berühmter Künstler unter die
Lupe nahmen. Unter den bedeutenden britischen Dichtern des 18. Jahrhunderts waren
dreißigmal so viele manisch-depressiv wie unter ihren Zeitgenossen. Bei modernen
Theatermachern scheint es nicht anders zu sein. Als die Regisseurin Andrea Breth am
Wiener Burgtheater wirkte, hielt sie sich zeitweise für so grandios, dass ihr alle anderen
völlig unbegabt erschienen. Ihr Kollege Sebastian Schlösser hatte es schon mit 27 zum
Regisseur am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gebracht, dann landete er in der
Psychiatrie. Von dort schrieb er Briefe an seinen kleinen Sohn, die als Buch erschienen
sind unter dem Titel „Lieber Matz, Dein Papa hat 'ne Meise“:
Zitator:
„Ich bin so schnell gewesen in der letzten Zeit. Wie ein Raumschiff bin ich durchs Leben
geflogen. So schnell, dass ich vieles gar nicht mehr sehen konnte, vor allem auch Dich.
Das tut mir wahnsinnig leid und war für Dich bestimmt sehr schwer.“
Sprecherin:
Nun sind auffällig viele Einzelfälle noch kein wissenschaftlicher Beweis und an großen
Studien mangelte es lange. Doch im Sommer 2011 veröffentlichten Forscher des
Stockholmer Karolinska-Instituts eine Untersuchung, wie sie in den meisten Ländern gar
nicht denkbar wäre. In Schweden hat jeder Einwohner eine Nummer, die es möglich
macht, Daten aus verschiedenen Registern miteinander zu verknüpfen. Die Forscher
konnten deshalb die Berufe von fast 30.000 Menschen herausfinden, die im Verlauf von
dreißig Jahren wegen einer bipolaren Störung in einer Klinik behandelt worden waren.
Ergebnis: Verglichen mit dem Rest der Bevölkerung gingen gut 40 Prozent mehr einem
kreativen Beruf nach, etwa als Künstler oder Wissenschaftler.
Musik: Schumann „Bärentanz“ anspielen und unterlegen
Sprecherin:
Viele große Künstler sollen an der bipolaren Störung gelitten haben, darunter Robert
Schumann, in dessen „Bärentanz“ rechte und linke Hand die Höhen und Tiefen seines
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Gefühlslebens spielen. Schumann starb 1856 in einer Nervenheilanstalt. Eine sichere
Diagnose ist postum nicht möglich, auch andere Erkrankungen werden diskutiert. Doch
schon 1838 notierte der Komponist, dass er sich zwar „oft sehr wohl befinde, aber noch
viel öfter zum Erschießen melancholisch“. Zwei britische Psychiater haben
herausgearbeitet, wie sich seine Stimmungen auf die Zahl seiner Kompositionen
auswirkte: Während schwere Depressionen seine Produktivität auf den Nullpunkt
drücken konnten, schnellte sie in hypomanen Phasen steil nach oben. In solchen Jahren
komponierte Robert Schumann ein Vielfaches seiner durchschnittlichen Zahl an
Werken. Auch zahllose Schriftsteller sollen bipolar gewesen sein, etwa Virginia Woolf,
Ernest Hemingway und August Strindberg. Francis Scott Fitzgerald, der Autor des
„Großen Gatsby“, hat sogar einen Essay über seinen Absturz in die Depression
geschrieben.
Zitator:
„Ich stellte fest, dass jede Tätigkeit zur Anstrengung geworden war, vom Zähneputzen
am Morgen bis zum Essen mit einem Freund am Abend. Ich hasste die Nacht, in der ich
nicht schlafen konnte und hasste den Tag, weil er zur Nacht führte.“
Sprecherin:
Viele bipolare Künstler haben sich umgebracht. Die Schriftstellerin Virginia Woolf
hinterließ einen ergreifenden Abschiedsbrief an ihren Mann:
Zitatorin:
„Liebster, ich habe das sichere Gefühl, dass ich wieder verrückt werde. Ich fühle, dass
wir nicht noch einmal diese schrecklichen Zeiten durchleben können. Und dieses Mal
werde ich mich nicht wieder erholen. Ich beginne, Stimmen zu hören und kann mich
nicht konzentrieren. So werde ich tun, was das Beste zu tun scheint. Du hast mir das
größtmögliche Glück gegeben.“
Sprecherin:
Hemingway erschoss sich - Hemingway, der Suizid einst zum Kennzeichen von
Schwäche erklärt hatte:
Zitator:
„Mein Vater war ein Feigling. Er hat sich ohne Notwendigkeit erschossen. Jedenfalls
dachte ich das. Ich hatte es selbst durchgemacht, bevor mir alles klar wurde. Ich wusste,
was es bedeutete, ein Feigling zu sein und was, kein Feigling mehr zu sein.“
Sprecherin:
Sechs bis 15 Prozent der bipolaren Patienten bringen sich um - die Ergebnisse der
Studien gehen auseinander. Etwa jeder Dritte unternimmt einen oder mehrere
Suizidversuche. Auch Markus Kolb war verzweifelt genug. Und nicht immer kam er so
rechtzeitig in die Klinik, dass ein Versuch zu verhindern gewesen wäre.
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O-Ton 17 - Markus Kolb:
Und da helfen dann auch nicht mehr Freunde, Ehepartner und vor allen Dingen noch
nicht mal das eigene Kind, auf das man sich ewig gefreut hat, kann einen letztlich davon
abhalten. Und irgendwann ist man besessen von der Vorstellung, das muss jetzt
aufhören.
Sprecherin:
Bei vielen psychischen Störungen hängt es auch von der Kultur ob, wie oft sie auftreten
und wie sie sich äußern. Depressionen etwa machen sich in nicht-industrialisierten
Ländern mehr durch körperliche Symptome bemerkbar als bei uns. Die bipolare Störung
aber ist universell.
O-Ton 18 - Jules Angst:
Die internationalen Daten, die wir haben - wir haben ja Studien aus Brasilien, aus
Nordafrika, aus dem Nahen Osten, aus dem fernen Osten, Osteuropa, da haben wir
gesehen, dass das transkulturell über all diese Kulturen hinweg äußerst stabil ist. Also
das Syndrom ist wirklich dasselbe.
Sprecherin:
Das könnte mit daran liegen, dass die bipolare Störung so stark von den Genen abhängt
wie kaum eine andere Geisteskrankheit. Die Familiengeschichten vieler Künstler liefern
dafür traurige Beispiele. Vincent van Gogh war - wahrscheinlich - bipolar, sein Bruder
Theo litt an schweren Depressionen und am Ende an Wahnvorstellungen, seine
Schwester Wilhelmina verbrachte vierzig Jahre in einer Anstalt für Geisteskranke. Nicht
nur der bipolare Ernest Hemingway tötete sich selbst - auch sein offenbar ebenso
veranlagter Vater, eine seiner Schwestern und einer seiner Brüder.
O-Ton 19 - Emanuel Severus:
Wir wissen, dass es eine deutliche genetische Komponente gibt. Das heißt, aus
Zwillingsstudien sagt man, dass zwischen 40 und 70 Prozent wenn ein eineiiger Zwilling
daran erkrankt ist, der andere das auch ist.
Sprecherin:
Aller Wahrscheinlichkeit nach tragen die Gene dazu bei, dass die Botenstoffe des
Gehirns, die Neurotransmitter, nicht so funktionieren wie bei Gesunden. Worin die
Probleme aber genau bestehen, ist unbekannt. Man weiß auch, dass das Gehirn der
Erkrankten Veränderungen aufweist. So sind manche Teile des Frontalhirns direkt hinter
der Stirn etwas kleiner. Diese Region ist an der Kontrolle des eigenen Verhaltens
beteiligt. Die für Gefühle zuständige Amygdala wiederum scheint aktiver zu sein als bei
Gesunden. Doch zu einem Gesamtbild, das die Symptome wirklich erklären könnte,
fügen sich diese und zahllose andere Befunde bislang nicht.
Trotz dieser Wissenslücken gibt es heute eine Reihe von Medikamenten, um die
bipolare Störung zu behandeln. Allerdings lässt sich nicht vorhersagen, welches
welchem Patienten tatsächlich hilft. Emanuel Severus stellt das immer wieder fest.
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O-Ton 20 - Emanuel Severus:
Insofern ist es in der Tat oft ein längerer Prozess, in dem es darum geht, zum einen eine
wirksame, zum anderen aber auch eine nebenwirkungsarme Indikation für denjenigen
zu finden, die ihn dann auch zuverlässig vor weiteren Episoden schützt.
Sprecherin:
Das älteste und für viele Experten immer noch beste Medikament ist Lithium (sprich:
Litium, KEIN „z“) - oder streng genommen ein Salz des silbrig schimmernden
Alkalimetalls. Die Karriere der simplen Verbindung begann in den 40-er Jahren des
vorigen Jahrhunderts. Der australische Psychiater John Cade spritzte Lithium zufällig
einigen Meerscheinchen, die daraufhin apathisch wurden. Das war wohl einfach eine
Vergiftung, weil er sehr viel gegeben hatte. Doch Cade testete Lithium nun an zehn
manischen Patienten und fand eine beruhigende Wirkung. Sein Bericht erschien 1949 in
einer obskuren Zeitschrift und wäre vergessen worden, wenn er nicht dem jungen
dänischen Mediziner Mogens Schou [sprich Skau] in die Hände gefallen wäre. Schou
suchte verzweifelt nach einem Mittel gegen die bipolare Störung, denn sein Bruder und
andere Verwandte litten an ihr. Er war mit einem Arzt befreundet, der in einer Klinik in
Glostrup außerhalb von Kopenhagen arbeitete und Lithium dort an Patienten erproben
konnte.
O-Ton 21 - Jules Angst:
Es war dann Mogens Schou mit ihm, die das zusammen bearbeitet haben, das
Datenmaterial aus Glostrup und da war es klar, dass schon optisch, wenn man einen
Kalender geführt hatte über die Zeit, die dunklen Zeiten und die hellen Zeiten, dass das
also durch Lithium stabilisiert wird, dass die dunklen Zeiten verschwinden und die
hellen, die Hochs auch verschwinden. Man hat nur die Kurven gesehen dieses
Verlaufes und das hat genügt. Das war damals eine große Sache. Wir haben es dann
nachher statistisch bearbeitet. Wir haben das dann auch zusammen publiziert.
Sprecherin:
So wurde Lithium 1954 der erste nachweislich wirksame „Stimmungsstabilisator“ - ein
Medikament das dafür sorgt, dass die Stimmung nicht ins Manische oder Depressive
kippt. Später war Lithium heftig umstritten, besonders in den USA tobten die
sogenannten Lithiumkriege: Die Pharmaindustrie hatte andere Vorlieben, erinnert sich
Jules Angst.
O-Ton 22 - Jules Angst:
Es hat sich niemand dafür stark gemacht seitens der Industrie, weil das eben nicht
patentierfähig war und billig war.
Sprecherin:
Mittel, die sonst gegen Epilepsie gegeben werden, sogenannte Antikonvulsantien,
wurden gegen Lithium in Stellung gebracht. Im Herbst 2010 erschienen die Ergebnisse
eines internationalen, randomisierten Vergleichs. Lithium erwies sich als überlegen.
„Wieder einmal ist Lithium aus dem Exil zurück und hat seinen rechtmäßigen Thron
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wiederbekommen“, jubilierte ein Kommentar im Fachblatt „Bipolar Disorders“. Allerdings
ist Lithium ein einäugiger König unter Blinden, was auch der Kommentator nicht
verschweigt: Der langfristige Erfolg sämtlicher Medikamente sei „im besten Fall
unvorhersagbar und im schlechtesten vorhersagbar bescheiden“. In einer großen USStudie mit realistischen Bedingungen war 70 Prozent der Patienten kein „nachhaltiger“
Erfolg beschieden. Dabei bedeutete „nachhaltig“ auch nur acht Wochen. Emanuel
Severus fasst den Forschungsstand so zusammen:
O-Ton 23 - Emanuel Severus:
Lithium ist in der Tat ein Medikament, das wir seit mehreren Jahrzehnten kennen. Auch
heutzutage kann man sagen, dass es, wie wir manchmal sagen, den Goldstandard in
der Langzeit-Behandlung bipolarer Erkrankungen darstellt. Das heißt, es wirkt effektiv
sowohl gegen manische als auch depressive Episoden. Richtig ist aber auch, dass dies
nicht unbedingt bedeutet, dass mit diesem Medikament tatsächlich alle Episoden
vollständig verschwinden. Das heißt, es kann eine Kombinationsbehandlung notwendig
sein. Und auch nicht jeder Patient spricht auf dieses Medikament gleichermaßen gut an.
Sprecherin:
Doch auch kein anderes Medikament taugt eben für alle. Die Psychiater probieren, was
sie haben. Stimmungsstabilisatoren sollen hauptsächlich Rückfällen vorbeugen.
Deshalb sollen viele es für den Rest des Lebens nehmen. Antidepressiva kommen eher
akut gegen Depressionen zum Einsatz. Auch Antipsychotika, die ansonsten vor allem
Schizophrenen verschrieben werden, werden gegeben. Dabei müssen Arzt und Patient
nicht nur die erhoffte Wirkung im Auge behalten, sondern auch die möglichen
Nebenwirkungen.
O-Ton 24 - Emanuel Severus:
Da finde ich es durchaus legitim, wenn ein Patient sagt, Ich möchte gerne die zweite
Option wählen, auch wenn sie der Meinung sind, dass die vielleicht ein bisschen
weniger wirksam ist. Aber ich fühle mich wohler damit, wenn ich weiß, ich werde
hierunter nicht 20 Kilo an Gewicht zunehmen.
Sprecherin:
Allerdings nützen selbst geeignete Medikamente nichts, wenn man sie nicht nimmt. Und
bei der bipolaren Störung fehlt es in manischen Phasen oft am Willen, sich behandeln
zu lassen. Das ist fast Teil des Krankheitsbilds.
O-Ton 25 - Jules Angst:
Der fühlt sich ja nur super und gut. Diese Menschen, die lassen sich auch nicht
behandeln, die fühlen sich gar nicht krank.
Sprecherin:
Hier kann möglicherweise Psychotherapie helfen. Dr. Britta Bernhard, früher die leitende
Psychologin der Münchener Uni-Klinik, ist auf die bipolare Störung spezialisiert und hat
heute eine Praxis bei München.
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O-Ton 26 - Britta Bernhard:
Dann kommen die Patienten in eine Depression, man behandelt erst mal die
Depressionen und schaut, wie sich die Stimmung auch langsam wieder ein bisschen
steigern lässt und insgesamt die Aktivitäten steigern lassen. Und dann merkt man schon
irgendwann, okay, jetzt ist die Stimmung gut, so würde ich mir wünschen, dass es bleibt
und das ist dann etwas, was man mit dem Patienten auch besprechen muss.
Sprecherin:
Die Patienten sollen erkennen lernen, wann ihre Stimmung zu gut wird und sie sich
schnellstmöglich in eine Klinik begeben sollten.
O-Ton 27 - Britta Bernhard:
Jetzt sehe ich sie so, schätze ich sie so ein, dass sie gerade in einer guten Stimmung
sind, wie schätzen sie sich ein, sehen sie es genauso, um dann auch zu sehen, wenn
jetzt noch eine Stufe nach oben geht, also nochmal zwei, drei Stufen in der
Stimmungsskala nach oben, dann wird es wirklich Zeit, die Notbremse zu ziehen.
Sprecherin:
In den Augen von Britta Bernhard ist Psychotherapie aber nicht nur dazu da, Patienten
in medizinische Behandlung zu bringen oder dort zu halten.
O-Ton 28 - Britta Bernhard:
Wenn wir es schaffen, die Patienten dazu zu motivieren, die Medikamente regelmäßig
einzunehmen, dann haben wir dadurch schon eine ganz gute Rückfallverbesserung. Auf
der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass wir in der Psychotherapie darüber
hinaus gehen und schauen, was sind denn Ursachen für eine Manie oder Ursachen
dafür, dass die Erkrankung überhaupt ausgebrochen ist.
Sprecherin:
Wie viel Psychotherapie bei bipolaren Störungen erreichen kann, ist unklar, die Studien
widersprechen sich. Zumindest bei der schweren Form kann sie jedenfalls die
Medikamente nicht ersetzen, so begrenzt auch deren Möglichkeiten sind. Doch es
macht einen gewaltigen Unterschied, ob sich die Krankheit ungebremst entfaltet und
sich der Patient womöglich umbringt oder ob sie zumindest gelindert wird - wie bei
Markus Kolb.
O-Ton 29 - Markus Kolb:
Die Abstände sind vielleicht ein bisschen größer geworden und die Spitzen sind nach
oben hin auch etwas kleiner geworden, nach unten schlägt’s schon auch nochmal sehr
wild aus. Aber von der Gesamtentwicklung bin ich überzeugt davon und spüre es auch,
dass es mir besser geht als vor sieben Jahren, vor acht Jahren, als ich richtig krank
wurde.
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Sprecherin:
Doch nicht wenige trauern trotzdem ihren Hochphasen nach - so auch Kay Jamison, die
als Psychiaterin natürlich weiß, warum der Abschied sein musste.
Zitatorin:
„Aber wenn man einmal die Sterne zu seinen Füßen gehabt hat und die Ringe der
Planeten mit der Hand erreichen konnte, wenn man nachts nie mehr als vier, fünf
Stunden Schlaf brauchte und nun plötzlich acht Stunden schläft, wenn man es gewohnt
war, manchmal über Wochen nächtelang aufzubleiben, und das nun nicht mehr kann,
dann ist es eine enorme Umstellung, sich an einen konventionellen Zeitplan halten zu
müssen, der vielen vielleicht entgegenkommt, für einen selbst aber neu, restriktiv,
offenbar weniger produktiv und alles andere als stimulierend ist.“
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