Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Psychologische Schlüsselbegriffe: Verdrängung Von Lisa Laurenz Sendung: Donnerstag, 09.03.2006, 08.30 Uhr, hr2 Sprecherin: Zitatorin: 06-033 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, 1 Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Musik 1.... (Regie: sanft einblenden ab: ”Das kann ich nicht getan haben...” 0`17 soll bei 0:08.4 direkt nach dem Zitat kurz hochgezogen werden dann bald ausblenden) Zitator "Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis. "Das kann ich nicht getan haben”, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach. Sprecherin Mit dieser Metapher beschreibt Friedrich Nietzsche ein Phänomen, dass wohl jeder Mensch kennt: man leugnet Offensichtliches und tut so, als würde es nicht existieren. Ein paradoxes Geschehen, für das die Tiefenpsychologie einen eigenen Begriff hat: Verdrängung. Sigmund Freud, der diesen Begriff in die Psychoanalyse einführte, glaubte noch, dass Verdrängung immer unbewusst geschieht. Heute ist man der Meinung, dass Verdrängen eher ein vorbewusster psychischer Vorgang ist: Vorbewusst bedeutet, dass es an der Schwelle des Bewusstseins geschieht und unter bestimmten Bedingungen wahrgenommen und erinnert werden kann: Take 1 (Mackenthun) 0`33 Das läuft folgendermaßen ab. Man lebt sein Leben und auf einmal steigt etwas Peinliches, etwas Unangenehmes, etwas Angstmachendes auf und man sagt sich sofort: darüber will ich nicht nachdenken, verschiebt es nach hinten oder weg, wendet sich mit der Aufmerksamkeit anderen Themen zu und damit ist die Sache eigentlich schon wieder erledigt. Und langfristig resultiert daraus ein bestimmtes Verhalten. Also Workaholics könnten dazu gehören oder alle, die sich in Aktivitäten hineinsteigern, von denen wir annehmen, das sie etwas übertrieben sind. Sprecherin Gerald Mackenthun, Diplompsychologe und Wissenschaftsjournalist, hat seine Dissertation über `Widerstand und Verdrängung` geschrieben. Der psychische 2 Mechanismus des Verdrängens ist ein vielgestaltiges Phänomen. Keiner hat sich ausführlicher und tiefgreifender damit beschäftigt als Sigmund Freud. Dieser erkannte vor 100 Jahren, dass der Mensch verdrängen muss. Er darf aber nicht zu viel und auch nicht zu wenig verdrängen: Take 2 (Mackenthun) 0`36 Verdrängung gehört zu den ich-strukturellen Fähigkeiten eines Menschen. Ein Erwachsener, der nicht verdrängen kann oder nicht gelernt hat zu verdrängen, wird erhebliche Probleme im Leben haben. Also man muss bestimmte Eindrücke verdrängen, weil man sonst überschwemmt wird von Informationen, nicht nur von außen, sondern vor allem was im Inneren des Menschen passiert. Der Mensch hat nur eine begrenzte Aufnahmekapazität, das ist einerseits physiologisch bedingt und hat andererseits auch eine Schutzfunktion. Das ist also eine Grundfunktion des Lebens. Sprecherin Alltagssprachliche Formulierungen wie “das muss ich wohl verdrängt haben” oder “das will ich verdrängen” sollen ausdrücken, dass man etwas bewusst unterdrücken oder vergessen will. Freud sah selbst beim “normalen Menschen” kaum einen seelischen Bereich, in dem Verdrängung keine Rolle spielt: Zitator “Jeder Mensch weiß, dass es bei ihm solche Dinge gibt, die er anderen nur sehr ungern mitteilen würde oder deren Mitteilung er überhaupt für ausgeschlossen hält. Es sind seine `Intimitäten`. Er ahnt auch... dass es andere Dinge gibt, die man sich selbst nicht eingestehen möchte, die man gerne vor sich selbst verbirgt, die man... aus seinem Denken verjagt, wenn sie dort auftauchen. Etwas wie ein Gegensatz zwischen dem Selbst und einem Seelenleben im weiteren Sinne mag sich ihm dunkel anzeigen.” Musik 2...... (Regie: einblenden Ende v. Zitat ab: “...mag sich im dunkel anzeigen.” 3 0`19 ausblenden) einige Sek. hochziehen... dann allmählich 4 Sprecherin Verdrängung ist ein psychischer Schutzmechanismus, der in der Kindheit gelernt wird. Sie ist ein Schutzschild gegen “die Not des Lebens”, wie Freud es genannt hat. Nach Sigmund Freud sind Verdrängungen unbeholfene Abwehrmaßnahmen des schwachen, unreifen Ichs gegen bedrohlich erscheinende Gefühle, denen das Kind sich hilflos ausgeliefert fühlt. Auf die reale oder eingebildete Gefahr reagiert es mit Angst. Und die Angst führt dazu, dass das Kind verdrängt. Im heutigen tiefenpsychologischen Verständnis bereiten frühkindliche Verdrängungen den Boden für alle späteren Bewusstseinsabspaltungen. Wobei Angst, Scham, Ekel und herrschende Moralvorstellungen quasi die Aufgabe übernommen haben zu verhindern, dass bestimmte peinliche und angstmachende Vorstellungen, Wünsche oder Triebe ins Bewusstsein kommen. In der Tiefenpsychologie hatte die Verdrängung lange Zeit ein schlechtes Image. Das hat damit zu tun, dass Freud glaubte, alles an was wir uns nicht erinnern können oder wollen, sei pathologisch. Heute geht man davon aus, dass es eine pathologische und eine gesunde Verdrängung gibt. Von pathologischer Verdrängung spricht man, wenn jemand unangenehme oder peinliche Inhalte beiseite schiebt, die nicht in das eigene Lebenskonzept passen. Luise Reddemann ist Psychotherapeutin und Traumaexpertin: Take 3 (Reddemann) 0`48 Verdrängung kann sich so auswirken, dass es pathologische Auswirkungen hat, aber wir müssen alle verdrängen. Wir können uns nicht alles merken, das würde uns verrückt machen. Das Wort hat einen etwas komischen Beige-schmack, ja. Ich finde aber, das ist in gewisser Weise auch sinnvoll und gesund, dass wir verdrängen. Ich glaube, die Veränderung die wir jetzt haben ist einfach, dass wir heute mehr diese Vorgänge auch würdigen als etwas Sinnvolles. Heute denken wir, dass zumindest in Zusammenhang mit außerordentlich belastenden Dingen es auch sehr hilfreich sein kann, wenn Menschen es schaffen, diese Erfahrung zu verdrängen und auch nicht mehr so leicht den Zugang dazu zu haben zu diesem was man verdrängt, weil uns das natürlich auch schützen kann. 5 Sprecherin Das psychische Verarbeitungssystem ist bei traumatischen Erfahrungen völlig überfordert. Darum werden in einer Art Überlebensstrategie die unerträglichen Gefühle abgespalten. Im Fachjargon nennt man das Dissoziation, eine Form der Verdrängung: Take 4 (Reddemann) 0`37 Das bedeutet, dass man sich sozusagen von sich selber trennt und sich mehr oder weniger von außen beobachtet. Das macht man z.B., indem man erstarrt. Das hilft dann zum Beispiel das man keinen Schmerz mehr fühlt oder dass man überwältigende Gefühle nicht mehr fühlt und das ist auf jeden Fall ein Selbstschutz und in gewisser Weise auch eine Selbstregulation und ein Selbstheilungsversuch oder ne Möglichkeit. Dass ist uns von der Natur mit gegeben, das machen Menschen spontan. (Stimme oben) Sprecherin Und das erklärt auch, warum jemand einen sexuellen Missbrauch in früher Kindheit 30 oder 40 Jahre lang auf eine gewisse Art “vergessen” kann. Wirklich vergessen war das Ganze aber in Wahrheit nie, sondern nur verdrängt. Der Unterschied zwischen vergessen und verdrängen besteht darin, dass vergessene Gedächtnisinhalte eher einen neutralen Charakter haben, während verdrängte und verleugnete mit konflikthaften Gefühlen verbunden sind. Das Verdrängte verschwindet zwar aus dem Bewusstsein, bleibt aber quasi als gefühlsbeladenes inneres Bild im unermesslich großen Speicher des Unbewussten aufbewahrt und präsent. Dort kann es Jahre oder sogar Jahrzehnte ruhen, bis es sich vielleicht irgendwann einen Weg ins Bewusstsein bahnt: Take 5 (Reddemann) 0`18 Manche Menschen holen Verdrängtes dann irgendwann doch noch mal aus ihren Erinnerungen. Und man weiß ja auch, dass alte Menschen sich besonders gut an die Kindheit erinnern können und da kommt natürlich sehr viel was verdrängt erschien, wieder hoch. Also das ist keine Einbahnstraße, Verdrängung. 6 Sprecherin Wenn Konflikte oder Traumata aus der Kindheit verdrängt und nicht bewältigt wurden, reagieren Körper und Seele häufig mit Beschwerden und sogar mit schweren Erkrankungen: 7 Take 6 (Reddemann) 0`37 Ich denke schon, dass Freud recht hatte wenn er sagt, dass das Verdrängte dann auf anderen Wegen auch wieder sich ins Bewusstsein drängt, z.B. durch Symptome oder so, die uns dann zwingen, mit dem was wir verdrängt haben, uns auseinander zu setzen. Also z.B. Ängste, darunter leiden viele Menschen ja sehr, Angstattacken, Depressionen haben ganz viel mit Verdrängtem zu tun. Dann natürlich alles, was irgendwie körperliche Symptomatik hervorruft. Zwänge, also eigentlich fast jedes Symptom was man sich vorstellen kann, kann auch mit Verdrängung zu tun haben. Sprecherin Es gibt Menschen, die mehr verdrängen und solche, die weniger verdrängen. Wer zuviel verdrängt, schadet seiner Seele. Und wenn das Gehirn ständig damit beschäftigt ist, schlimme Gefühle unter der Decke zu halten, dann kostet das Kraft, die an anderer Stelle im Organismus fehlt. So können beispielsweise auch psychische Starrheit, Verschlossenheit, Überempfindlichkeit oder Aggressivität darauf hindeuten, dass wichtige Gefühle verdrängt wurden: Take 7 (Mackenthun) 0`23 Das andere ist, wenn man merkt, ich komme an einem bestimmten Punkt nicht weiter. Oder, es gibt immer wieder mit anderen Menschen einen bestimmten Konflikt, einen Streit und ich weiß gar nicht, wie der entsteht. Und hinterher bin ich ganz erstaunt und kann es mir nicht erklären. Wenn das immer wieder passiert, das ist auch ein gutes Signal zu gucken, was verdränge ich denn wohl? Musik 3..........(Regie: direkt dran, steht 10-12 Sek. frei, dann rasch wegblenden) 0`11 Zitator “Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, und um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen.” (Jurek Becker) 8 Sprecherin Der Schriftsteller Jurek Becker war als kleines Kind in den Lagern Ravensbrück und Sachsenhausen interniert, aber erinnern konnte er sich daran nicht. Sein Leben lang hat er den kleinen Jungen in sich gesucht, der die Grausamkeiten dank der Fürsorge seiner Mutter überlebt hat. Die eigene verdrängte Geschichte zu kennen und zu verstehen, wird von vielen Menschen als heilsam empfunden. Häufig ist Leidensdruck ein Grund, dass jemand bereit ist, sich mit seinen abgespaltenen Gefühlen auseinander zu setzen. Aber das ist nicht immer so: Take 8 (Reddemann) 0`26 Es gibt Menschen, die furchtbar leiden, die sich trotzdem nichts Verdrängtes angucken wollen. Es kommen zu mir oder zu meinen Kollegen immer wieder Menschen, die sagen: irgendetwas war schrecklich, aber damit möchte ich mich auf keinen Fall beschäftigen. Und da haben wir eben auch gelernt, dass wir das jetzt mehr respektieren, dass wir nicht drängen, dass die Leute sich damit auseinander setzen müssen. Take 9 (Mackenthun) 0`33 Wir würden heute sagen, dass es Patienten gibt, die nicht alles erinnern müssen, was in ihrer Vergangenheit vorgefallen ist. Es gibt bestimmte Konstellationen, die lässt man lieber ruhen. Dann gibt es aber andere Patienten, bei denen wäre es sehr gut, wenn sie über das was sie erlebt haben in Kindheit und Jugend sprechen würden. Den Unterschied herauszufinden, kann man theoretisch kaum benennen, sondern da muss man die konkrete Person vor Augen haben und deren Lebensgeschichte kennen, um entscheiden zu können, lassen wir`s ruhen oder sprechen wir lieber drüber. Sprecherin Die menschliche Fähigkeit, belastende Gefühle und Erinnerungen wegzupacken, wird in der modernen Traumatherapie sogar bewusst genutzt. Manche Therapeuten geben ihren traumatisierten Patienten Vorstellungsbilder an die Hand, die ihnen helfen sollen, bedrohliche Gefühle bewusst zu verdrängen. Die Traumatherapeutin Luise Reddemann hält z.B. die sogenannte Tresorübung in vielen Fällen für hilfreich: Take 10 (Reddemann) 1`05 Wenn jemand sich herumschlägt mit etwas sehr Belastendem, dass man der Person vorschlägt sich vorzustellen, dass er oder sie das wegpackt, in einer Tresor. Das ist 9 zumindest die Imitation einer Verdrängung, aber es geschieht natürlich bewusst. Und es funktioniert auch nicht immer so gut, weil oft kommt es dann doch wieder sehr schnell ins Bewusstsein, was da weggepackt worden ist. Deshalb kann man nicht allein mit dieser Tresorübung den Menschen helfen. Aber wir haben das oft erlebt, dass die Patienten eben doch das Gefühl haben, sie haben jetzt wieder ein bisschen Kontrolle, weil wenn was hochkommt in ihnen, eine Vorstellung, ein Bild, eine Erinnerung, dann arbeiten sie mit dieser Imagination. Z.B. könnte man, wenn man was denkt, könnte man sich vorstellen, das ist jetzt aufgeschrieben und tut dieses Papier dann in den Tresor. Oder wenn man was hört, das wäre auf einer Cassette oder auf einer Filmrolle und das kommt dann immer in diesen Tresor rein und da ist es erst mal gut verwahrt und man kann es auch jeder Zeit wieder herausholen. Musik 4..........(Regie: direkt dran, steht kurz frei... dann unterlegen und unter den folgenden Zeilen ausblenden) Sprecherin Ob man nun bewusst oder unbewusst etwas vor sich selbst verbirgt, das Phänomen der Verdrängung findet sich überall, sowohl bei Individuen wie auch bei Nationen. Man blendet aus, rationalisiert oder verharmlost. Die Verleugnung der Nazi-Verbrechen ist zu einem Prototyp der Verdrängung geworden. Wer verdrängt, hat immer seine guten Gründe dafür. Dem Raucher schmeckt die Zigarette. Der Workaholic will sein Unternehmen zum Erfolg führen. Menschen verdrängen im Privatleben, im Beruf wie auch in der Politik. Noch einmal Gerald Mackenthun: Take 11 (Mackenthun) 0`37 Wie Politiker handeln, hängt auch davon ab, wie stark die verdrängen. Warum unterschreiben die Vereinigten Staaten nicht das Kyoto Protokoll? Das hat natürlich auch wieder aus deren Sicht gute Gründe, aber es werden eben die negativen Umweltkonsequenzen verdrängt. Und so sieht man das bei allem, vor allem kriegerischen Konflikten, was wird da verdrängt? Letztlich die Humanität. Ein anderes Kriterium: sind schnelle oder langfristige Konse-quenzen zu erwarten? Die schnellen Konsequenzen, da reagieren wir viel schneller und verdrängen vielleicht auch weniger. Bei den langfristigen Konsequenzen gucken wir lieber weg und beschäftigen uns mit dem was aktuell anliegt. 10