In der “Dedicatoria” zum zweiten Teil des Don Quijote hat Cervantes

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Gerhard Poppenberg
Das Buch der Bücher
Einführende Überlegungen zu einer Lektüre des Don Quijote
„Daß die Puppen nicht selbst redeten, hatte ich mir schon das erstemal
gesagt; […] aber warum das alles doch so hübsch war, und es doch so
aussah, als wenn sie selbst redeten, […] diese Rätsel beunruhigten mich
um desto mehr, je mehr ich wünschte, zugleich unter den Bezauberten
und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt im Spiel zu haben
und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen.“
Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre I,4
In der “Dedicatoria” zum zweiten Teil des Don Quijote hat Cervantes eine kleine, zunächst
possenhaft anmutende Phantasie mitgeteilt. Der Kaiser von China habe ihm einen Boten
gesandt, „pidiéndome, o, por mejor decir, suplicándome le enviase el Don Quijote, porque
quería fundar un colegio donde se leyese la lengua castellana, y quería que el libro que se
leyese fuese el de la historia de don Quijote”. Cervantes erhebt mit dieser Geschichte den
Anspruch, sein Buch sei mehr als nur komische Unterhaltung; wenn es als Schulbuch
verwendet wird, hat es den Rang eines kanonischen Werks erhalten – wie es etwa die
Metamorphosen des Ovid oder die Aeneis des Vergil sind. Cervantes trägt mit diesem
Anspruch der Tatsache Rechnung, daß die europäische Zivilisation und in ihrem Gefolge
ein großer Teil der sogenannten westlichen Zivilisation in der Tradition des Humanismus
sich als eine begriffen hat, die den Grund der Ausbildung ihrer Mitglieder in das Lesen von
Büchern legt. Dazu soll sich aber nicht jedes beliebige Buch eignen, sondern es wurden
eine Reihe von exemplarischen Werken ausgewählt, die den Kanon der humanistisch
geprägten Schultradition bilden. Ein großer Teil davon sind literarische Werke. Diese
Kanonisierung von Werken der weltlichen Literatur ist ein Vorgang, der dem analog ist,
mit dem in der katholischen Kirche exemplarische Mitglieder durch Selig- oder
Heiligsprechung kanonisiert werden. Das griechische Wort „kanon“ bezeichnet die
Meßlatte; der Kanon ist demnach das Maß, das die kanonisierten Werke vorgeben und an
dem Schüler ihr Maß zu nehmen haben. Dieses Maßgeben und Maßnehmen ist die
Bildung.
Das Lesen von Büchern ist doppelt charakterisierbar. Zum einen ist es ein
informativer Vorgang; man eignet sich dabei Kenntnisse und Wissen an. Zum anderen ist
es aber nicht nur ein informativer, sondern auch und vor allem ein performativer Vorgang;
es wird dabei nicht nur etwas mitgeteilt, sondern es geschieht etwas. Dieser
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Handlungscharakter des Lesens – und das heißt auch damit einhergehend: des Denkens –
war es, was einst als „der lebendige Geist“ apostrophiert wurde. Es gibt Gründe für die
Annahme, daß ein Teil der Misere der heutigen Schul- und Wissenschaftspolitik in einer
Unwilligkeit oder Unfähigkeit zur Unterscheidung dieser beiden Formen des Lesens
besteht – und das bedeutet weiter: in der Unwilligkeit oder Unfähigkeit zum Denken.
Die Literatur gestaltet den Glutkern der literarischen Erfahrung als einen geistigen
Vorgang. Das Lesen von Literatur bietet die Möglichkeit, an dieser Erfahrung teilzuhaben.
Aufgabe der Literaturwissenschaft ist es, diese Erfahrung intellektuell nachvollziehbar zu
machen. Wenn in unseren Schul- und Studienplänen nun für die Zukunft die Vermittlung
von Kenntnissen und Fähigkeiten als Studienziel formuliert wird, dann ahnt man, daß
solches Wissenschaftsmanagement von dieser Art von Wissenschaft nichts mehr weiß und
wissen will.
Wenn Cervantes den Anspruch erhebt, der Don Quijote sei ein im Sinne des
Humanismus kanonisches Werk, muß es etwas enthalten, was für den Umgang mit
Literatur maßgebend ist. Tatsächlich ist der Don Quijote das Ur-Meter der modernen
Literatur. Der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel hat den Don Quijote für ein, ja recht
eigentlich für das Muster moderner Literatur gehalten. In seiner Rezension der deutschen
Übersetzung des Romans durch Ludwig Tieck hat er deshalb gefordert, den Don Quijote
nicht nur als ein possierliches Stück komischer Unterhaltung und als „Spaßmacher“,
sondern ihn „auch noch in andern Stunden als denen der Verdauung zu lesen, welcher
bekanntlich alles, was nicht zu lachen macht, vorzüglich ernsthafte oder gar tragische
Poesie, so leicht nachteilig wird“ (257). In dieser Hinsicht stellt er ihn neben Shakespeare,
der damals noch vor allem, so Schlegel, „für einen rasend tollen Sturm- und Drangdichter“
genommen wurde. In künstlerischer Hinsicht sind beide, „was die verborgene
Absichtlichkeit betrifft“, gleichermaßen „schlau und arglistig“. Deshalb betrachtet Schlegel
die beiden Autoren, ohne daß sie voneinander gewußt hätten, als Freunde und Brüder: „als
hätten sich ihre Geister in einer unsichtbaren Welt überall begegnet und freundliche
Abrede genommen“. Diese unsichtbare Welt ist die geistige Welt dessen, was Schlegel das
Romantische oder die Moderne nennt. Cervantes ist ein moderner Dichter im Unterschied
zu den Alten, also den Dichtern der Antike. Die Prosa des Cervantes „ist die einzig
moderne, welche wir der Prosa eines Tacitus, Demosthenes oder Plato entgegenstellen
können. Eben weil sie so durchaus modern, wie jene antik, und doch in ihrer Art ebenso
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kunstreich ausgebildet ist. […] Darum ist auch die spanische Prosa dem Roman, der die
Musik des Lebens phantasieren soll, und verwandten Kunstarten so eigentümlich
angemessen, wie die Prosa der Alten den Werken der Rhetorik oder der Historie.“
Der Roman ist demnach für Schlegel die moderne literarische Gattung überhaupt und
Cervantes hat ihm mit dem Don Quijote seine maßgebende und mustergültige Gestalt
gegeben. Der Roman ist modern im Unterschied zu dem, was in der Antike die Prosa der
Rhetorik und der Historie war: also der öffentlichen, vor allem politisch-forensischen Rede
und der Geschichtsschreibung, für die Demosthenes und Tacitus als Beispiel angeführt
werden. Den Unterschied benennt Schlegel des weiteren dadurch, daß der Roman „die
Musik des Lebens phantasieren soll“. Der Roman ist also nicht rhetorisch-forensisch oder
historisch-realistisch, sondern phantastisch und musikalisch. Er eröffnet die Welt des
Phantastischen und gibt ihr kompositorisch – das meint musikalisch – eine Gestalt. Der
Unterschied dieser von Schlegel in den Blick genommenen Moderne zur Antike liegt
demnach darin, daß sie die geistige Welt des Phantasmatischen eröffnet und dabei zugleich
reflektierend erschließt. Und genau in dieser Hinsicht ist der Don Quijote ein
mustergültiges Buch. Das deutlichste Bewußtsein davon ist in dem Buch von Anfang an
am Werk.
Für einen rechtschaffenen Griechen, so hat Nietzsche einmal gesagt, hatte es nichts
Phantastisches, wenn ihm die Göttin Athene auf dem Marktplatz begegnete. So etwas
geschah, weiß Gott, nicht jeden Tag, aber es lag auch nicht außerhalb der Wirklichkeit.
Wenn Don Quijote seine wirkliche Welt mit phantastischen Riesen und Zauberern
bevölkert, markiert das die entscheidende Differenz. Don Quijote als Romangestalt weigert
sich beharrlich, die literarische Erfahrung des Phantastischen zu machen, indem er die
Gestalten der Phantasie für solche des alltäglichen Lebens nimmt. Diese literarische
Erfahrung kann hingegen der Leser des Don Quijote machen, wenn er zu lesen versteht.
Das kann er beim Lesen des Don Quijote lernen, denn der Roman ist ein Buch, das vom
Umgang mit Büchern handelt, eine Abhandlung vom Nutzen und Nachteil des Lesens für
das Leben.
Der alte Landadlige aus einem Ort in der Mancha ist vom vielen Lesen der
Ritterromane verrückt geworden. „Es, pues, de saber, que este sobredicho hidalgo, los ratos que estaba ocioso – que eran los más del año –, se daba a leer libros de caballerías con
tanta afición y gusto, que olvidó casi de todo punto el ejercicio de la caza, y aun la admi-
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nistración de su hacienda. [...] En resolución, él se enfrascó tanto en su lectura, que se le
pasaban las noches leyendo de claro en claro, y los días de turbio en turbio; y así, del poco
dormir y del mucho leer se le secó el celebro, de manera que vino a perder el juicio. Llenósele la fantasía de todo aquello que leía en los libros [...] y asentósele de tal modo en la
imaginación que era verdad toda aquella máquina de aquellas sonadas soñadas invenciones
que leía, que para él no había otra historia más cierta en el mundo” (I,1,37).
Der Don Quijote ist aber keineswegs eine Warnung vor dem Lesen von Literatur. Er
gibt vielmehr eine Lektion über das falsche Lesen, indem er davon handelt, wie jemand
durch eine bestimmte Form des Lesens wahnsinnig wird. Des weiteren und genau dadurch
gibt der Roman eine Einführung in die Kunst des richtigen Lesens, die den Leser befähigt,
literarische Erfahrung zu machen. Diese Kunst macht ihn zu einem kanonischen Text; um
sie zu erlernen, muß man den Roman nur zu lesen verstehen. Das ergibt eine sonderbare
Kreisfigur. Man muß schon lesen können, um die Einführung in das Lesen, die der Don
Quijote ist, lesen zu können. Diese kreisförmige Bewegung liegt dem Don Quijote selbst
zu Grunde, und die Lehre, die er erteilt, ist die Einführung in diesen Kreislauf. Der Don
Quijote selbst setzt sich in gewisser Weise selbst voraus, indem er seine eigenen Voraussetzungen im Werdegang seines Entstehens selbst erst schafft. Im Nachvollzug dieser
kreisförmigen Selbstbildung – auf Altgriechisch: autopoiesis – besteht nun die Kunst des
Lesens, in die der Don Quijote einführt: Bildung als (Nach)Vollzug eines Kreislaufs –
noch einmal Altgriechisch: en kyklo paideia. Der Don Quijote ist eine Enzyklopädie der
Literatur.
Cervantes stellt im Don Quijote die Frage nach der Bedeutung und der Wahrheit von
literarischen Figuren und Fiktionen und versucht mit dem Roman das Feld dieser Frage zu
erkunden. Wenn es eine Antwort auf die Frage gibt, ist zu vermuten, daß der Roman selbst
in seinem Verlauf diese Antwort ist. Man muß ihn einfach lesen, um sie zu erfahren. Aber
vielleicht ist das weniger einfach, als es den Anschein gibt. Don Quijote selbst zeigt, daß
die etwa in der Schule erworbene elementare Fähigkeit zu lesen mitnichten eine Befähigung zum Lesen von Literatur ist. Ja, der Roman legt nahe und bestätigt das durch eine
Reihe von Symptomen, die Don Quijote aufweist und die den Zeitgenossen als deutlich
pathologisch erkennbar waren, daß die Unfähigkeit, einen literarischen Text als
literarischen Text zu lesen, nicht nur ein Zeichen von Verrücktheit, sondern eine
elementare Form von Wahnsinn ist. Und möglicherweise ist die Frage des Lesens – wie
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entsprechend auch die des Schreibens – tatsächlich die Erkundung der Grenze zu dem, was
als Wahnsinn bezeichnet wird. Auch davon handelt der Don Quijote.
Man kann den Don Quijote in mehrfacher Hinsicht als Buch der Bücher auffassen.
Zunächst einmal ist er das, weil er wesentlich auf der Grundlage anderer Bücher entstanden ist. Zuvörderst ist er eine kritische Parodie der Ritterromane, die Don Quijote gelesen
hat und die ihm als Vorbild für seine eigene Ritterschaft dienen. Don Quijote entwirft sich
als Ritter nach Maßgabe des Rittertums, das die Romane entwerfen. Durch die vielen
Formen des Mißverhältnisses zwischen dem Anspruch der Vorbilder und dessen Erfüllung
in der Wirklichkeit Don Quijotes entsteht die Komik. Die dadurch ins Werk gesetzte Kritik
ist keineswegs eine bedingungslose Verurteilung; die als auto de fe inszenierte
Verbrennung der Bücher ist auch eine kleine Lektion in Literaturkritik und gibt Elemente
für die Entwicklung einer Kunst des Lesens von Literatur. Außerdem spielen andere
literarische Gattungen eine Rolle: die bei den Zeitgenossen ebenfalls beliebten Schäferund Schelmenromane, die großen Epen der Antike und des Mittelalters, die
Metamorphosen des Ovid und des Apuleius, und nicht zuletzt die Bibel. Die von den
Troubadours und der nachfolgenden italienischen Lyrik initiierte und durch den
Canzoniere Petrarcas zu einem vollendeten System entwickelte Liebesdichtung, die als
Petrarkismus die Lyrik und die durch sie verbreitete allgemeine Auffassung von Liebe in
den folgenden Jahrhunderten bestimmt hat, wird im Don Quijote durch den DulcineaKomplex und die verschiedenen, ihn reflektierenden Liebesgeschichten ebenfalls kritisch
kommentiert. So wird der Roman zu einer Erkundung des Felds, in dem und als das die
Literatur der Zeit sich artikuliert.
Des weiteren ist der Don Quijote Buch der Bücher, sofern er nicht einfach ein Buch
ist. Der Autor Cide Hamete Benengeli beklagt sich gelegentlich über die Eintönigkeit, die
entstehe, wenn immer nur von denselben Personen die Rede sei, weshalb er im ersten Teil
zum Beispiel die Geschichte von der „ungehörigen Neugier“ und die von dem
Christensklaven und andere Digressionen eingefügt habe. Im zweiten Teil sind diese
Abschweifungen durchgängig mit der Haupthandlung verbunden. Am auffälligsten ist das
gewiß in der großen Episode, die Sancho Panzas Statthalterschaft auf der Insel Barataria
behandelt. All diese vermeintlichen Digressionen und Episoden, so legt Cide Hamete nahe
und so erschließt es sich aufmerksamer Lektüre, sind tatsächlich konzeptuell mit der
vermeintlichen Haupthandlung verbunden, indem sie diese reflektieren und ihre Themen in
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einem anderen Register erneut zur Sprache bringen und so den Gehalt des ganzen Romans
potenzieren.
Vor allem aber ist der Don Quijote Buch der Bücher, weil er selbst aus zwei Büchern
besteht. Der erste Teil von 1605 war zunächst seinerseits in vier Teile unterteilt, auf die die
zweiundfünfzig Kapitel einer subtil komponierten Ordnung gemäß verteilt waren. Der
zweite Teil von 1615 bezieht sich dann in hochingeniöser und abgründiger Weise auf den
ersten Teil, indem er ihn und seinen Gehalt – wie die Episoden die Haupthandlung –
reflektiert und potenziert. Friedrich Schlegel hat in seinen literarischen Notizbüchern von
1787-1801 die tiefgründige Einsicht notiert, die „Hauptperson“ des zweiten Teils sei der
erste Teil. „Es ist durchgängig Reflexion des Werks auf sich selbst. Vielleicht lassen sich
die Novelas auffinden, die in den zweiten Don Quijote sollten. Die im ersten sind die
kühnsten, hellsten, dunkelsten, schönsten. –“ Schlegel hat aus dieser Einsicht in das
Verhältnis der beiden Teile eine romantheoretische Schlußfolgerung von allgemeiner
Tragweite gezogen: „Daß der Roman zwei Centra wünscht, deutet darauf, daß jeder
Roman ein absolutes Buch sein will, auf seinen mystischen Charakter. Dies gibt ihm einen
mythologischen Charakter, er wird dadurch eine Person.“1
Schließlich ist Don Quijote Buch der Bücher, weil es apokryphe Versionen gibt. Dazu gehören zunächst einmal die im Roman immer wieder angesprochenen verschiedenen
Versionen des Textes, von dem es, wie im achten Kapitel ausführlich geschildert, eine
Fassung auf Arabisch oder Aljamiado gibt, die in einem weiteren Schritt übersetzt oder
transkribiert und dann durch den „zweiten Autor“ bearbeitet worden ist. Im zweiten Teil
gibt es immer wieder Hinweise auf Passagen, die schon Cide Hamete für apokryph hält,
die er aber der guten Ordnung halber und aus historiographisch-philologischer
Rechtschaffenheit trotzdem mitteilt. Vor allem gehört dazu der „falsche“ Don Quijote des
Avellaneda, der, kurz bevor Cervantes seinen eigenen zweiten Teil zu Ende gebracht hatte,
als Fortsetzung des ersten Teils 1614 erschienen ist, und der sich so sehr in den Gehalt des
„wahren“ Don Quijote einfügt, daß man versucht sein könnte anzunehmen, Avellaneda sei
ein Heteronym von Cervantes.
Diese verschiedenen Konstellationen gilt es zu verstehen, will man erfassen, was es
mit der Wahrheit auf sich hat, die mit dem Don Quijote in die Welt gekommen ist. Das
Buch ist eine Welt aus Büchern – in der Welt. Diese Beziehung des Buchs zu anderen
1
Friedrich Schlegel, Literarische Notizen 1797-1801, herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner,
Ullstein Verlag, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980, Nr. 1727/28.
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Büchern, die formal als die Figur „Buch der Bücher“ zu fassen ist, ergibt eine
Reflexionsfigur, die zuletzt und zuerst eine Figur der Selbstreflexion jener „zwei Centra“
ist, und die zu entfalten ist, um dem auf die Spur zu kommen, was den Don Quijote zu
einer wahrhaften Geschichte macht. Die Wahrheit des Romans hängt wesentlich an dieser
Reflexionsfigur, die seine Dynamik bildet und ihn zu einem Vorgang macht, der nicht so
sehr darin besteht, die Wirklichkeit ab- und nachzubilden, sondern darin, daß er gemacht
wird, daß er Werk ist und als Werk wird und geworden ist. Von diesem Werden als seiner
Wahrheit handelt das Werk. Der Prolog inszeniert das vorweg und beispielhaft, indem er
die Unfähigkeit, einen Prolog zu schreiben, zu eben diesem Prolog macht, dessen
Entstehen im Text (re)produziert wird. Damit gibt er auch einen Hinweis auf das
nachfolgende Buch, in dem es ebenfalls um das Werden des Romans geht, indem es das
Ritterwerden Don Quijotes aus dem Geist der Ritterromane beschreibt.
***
In den Orígenes de la novela teilt Menéndez y Pelayo eine Passage aus dem Arte de galantería von Francisco de Portugal mit. „Vino un caballero muy principal para su casa, y halló
a su mujer, hijas y criadas llorando; sobresaltose y preguntóles muy congojado su algun hijo o deudo se les había muerto; respondieron ahogadas en lágrimas que no; replicó más
confuso: pues ¿porqué llorais? Dijeronle: Señor, hase muerto Amadis.“2 Die Szene stellt
pointiert das Problem dar, das dem Don Quijote zu Grunde liegt: die Vermischung von
Literatur und Leben. Der Roman geht der Frage nach, wie sich Fiktion und Wirklichkeit
zueinander verhalten. Don Quijote möchte Ritter werden, weil er die Ritterromane, die er
gelesen hat, für historische Berichte von tatsächlich vorgefallenen Begebenheiten und
wirklichen Personen, für wahrhaftige Geschichten im Sinne der Geschichtsschreibung hält.
Ein großer Teil der Konflikte und der daraus resultierenden Komik vor allem im ersten
Teil des Romans hat seinen Grund in dieser Verwechslung und Vermischung von Roman
und Geschichte, Fiktion und Realität. Aus diesem Grund gilt Don Quijote als verrückt.
Das wohl berühmteste Abenteuer Don Quijotes, sein Kampf gegen die Windmühlen,
die er für Riesen hält, zeigt das und führt prototypisch vor, was ich das Don Quijote-Prinzip nennen möchte. Die Passage ist dreigeteilt; der Auseinandersetzung zwischen Ritter
2
Marcelino Menéndez y Pelayo, Orígenes de la novela I, Madrid 21925, S. CCXXXIII.
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und Knappe folgt der Kampf und die Niederlage Don Quijotes, auf die wiederum eine
Auseinandersetzung folgt. Das Abenteuer wird also von interpretierenden Kommentaren,
die Tat durch Sprache eingerahmt. Aus verschiedenen Erwartungs- und Wissenshorizonten
ergeben sich zwei verschiedene Wahrnehmungen. Wo der Bauer Windmühlen sieht, die er
aus seiner alltäglichen Arbeit kennt, sieht der Ritter Riesen, die er sie aus seinen Büchern
kennt. Die Konfrontation von Wahn und Wirklichkeit wird zugespitzt, wenn Sancho Panza
die Technik der Windmühlen erklärt – „lo que en ellos parecen brazos son las aspas, que,
volteadas del viento, hacen andar la piedra del molino“ – und Don Quijote ihm dieses
Wissen als Unwissen in Sachen des Rittertums vorhält: „Bien parece […] que no estas
cursado en esto de las aventuras: ellos son gigantes“ (I,8,95)3. Don Quijote projiziert seine
Ritterphantasien auf die wirkliche Welt und verwandelt diese so in die Welt der Romane,
bestückt sie mit dem Arsenal der Ritterwelt und überzieht sie mit einem Netz aus
Phantasmen. Wenn dann die Wirklichkeit in Gestalt der Windmühlen in den Wahn
einbricht, führt das nicht zur desillusionierenden Anerkennung der Wirklichkeit, sondern
vielmehr dazu, daß diese Wirklichkeit selbst in den Wahn integriert und so ein Teil von
ihm wird. Das Prinzip dieser Verwandlung sind Gedanke und Wort Don Quijotes: „yo
pienso, y así es verdad“ (I,8,96) und „lo que yo digo es verdad“ (I,8,100). Die von Don
Quijote phantasmatisch in Riesen verwandelten Windmühlen sind, nachdem ihre
Windmühlenwirklicheit unbestreitbar geworden ist, in Windmühlen verwandelte Riesen.
Sie haben nicht ihr substantielles Wesen, sondern nur ihr Aussehen verändert und bleiben
auch in Gestalt der Windmühlen Riesen. Das ist das Prinzip der antiken Metamorphosen,
die allesamt Gestaltwandel sind. Das Aussehen wandelt sich, das substantielle Wesen
bleibt erhalten. Die christliche Theologie hat die Konzeption des Substanzwandels
entwickelt, um die wirkliche Anwesenheit Christi im Sakrament der Eucharistie denkbar
zu machen. Die Worte des Priesters – dies ist mein Leib – verwandeln die Substanz von
Brot und Wein in den sakramentalen Leib Christi, der dann in der Gestalt von Brot und
Wein sichtbar wird. Die Substanz wandelt sich, das Aussehen bleibt erhalten. Die Worte
Don Quijotes – das sind Riesen – bewirken – aber nur für ihn – die wirkliche Anwesenheit
der Riesen. Und wenn diese dann als Windmühlen erscheinen, kann das folglich nur die
akzidentelle Hülle sein. Die Wahrheit des Romans entsteht dann in diesem Spannungsfeld
3
Der Don Quijote wird nach folgender Ausgabe jeweils mit Angabe des Teils, des Kapitels und der Seite im
laufenden Text zitiert: Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, edicón del Instituto Cervantes, dirigida por Francisco Rico, Ediciones Crítica, Barcelona 1998.
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von eucharistischer Transsubstantiation und literarischer Figuration. Im Unterschied zur
antiken Verwandlung, die magischen Charakter hat und den Körper betrifft, geht es hier
um eine sakramentale Verwandlung, die den Geist betrifft.
Und das alles steht im Horizont der psychotischen Phantasmenbildung, denn Don
Quijote ist ja ganz offenkundig verrückt. Seine Worte und Gedanken haben gar keine
verwandelnde Kraft, sie erzeugen nur wahnhafte Phantasmen. Die Riesen sind in Wirklichkeit gar keine, sondern Windmühlen. Ortega y Gasset hat in den Meditaciones del
Quijote auf die tiefgründigen Implikationen dieser Szene hingewiesen: „Pero el problema
no queda resuelto porque Don Quijote sea declarado demente. Lo que en él es anormal, ha
sido y seguirá siendo normal en la humanidad. Bien que estos gigantes no lo sean; pero …
¿y los otros?, quiero decir, ¿y los gigantes en general? ¿De dónde ha sacado el hombre los
gigantes? Porque ni los hubo no los hay en realidad. Fuere cuando fuere, la ocasión en que
le hombre pensó por vez primera los gigantes no se diferencia en nada esencial de esta escena cervantina. Siempre se trataría de una cosa que no era gigante, pero que mirada desde
su vertiente ideal tendía a hacerse gigante.“4 Eine psychologische Erklärung des Ursprungs
der Riesenphantasie, dergestalt etwa, daß Kindern die Erwachsenen als Riesen erscheinen,
trägt nicht sehr weit. Die Vorstellung müßte dann mit dem Erwachsenwerden als falsch
und nichtig erkannt werden, und dieser Irrtum könnte für Erwachsene nicht mehr – oder
allenfalls als regressive Angstphantasie – von Belang sein. Und Ortegas Überlegung meint
deutlich eine Erwachsenenvorstellung, die gesamtmenschheitlichen Charakter hat.
Auch die Analyse des Vorgangs, der Don Quijote dazu führt, die Mühlen als Riesen
wahrzunehmen, bringt nicht sehr viel weiter. Man kann das Moment, das die Verwandlung
oder Verwechslung möglich macht, als die Ähnlichkeit benennen, die den großen Mühlenbau und die Flügel als Körper und Arme eines Riesen erscheinen läßt. Don Quijotes
Lektüreerinnerungen aus den Romanen und der antiken Literatur – Briareos wird
ausdrücklich benannt; er ist zwar eigentlich kein Gigant im engeren Sinn, aber die Titanen
und Giganten wurden in späteren Zeiten zunehmend identifiziert – statten die Erinnerung
mit konkreten Details aus. Sie geben dem ganzen Problem aber auch eine konkrete Gestalt.
Der Riese mag bei Don Quijote ein wahnhaftes Phantasma sein. Das ist er aber auch, weil
er zuvor bereits eine mythische und literarische Figur war. Die Ähnlichkeit ist nur soweit
eine Erklärung für die verwandelnde Wahrnehmung von Windmühlen oder anderen großen
4
José Ortega y Gasset, Meditaciones del Quijote (1914), in: ders., Obras completas I, Madrid 41957, S. 385.
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Phänomenen als Riesen, wie sie das Konzept des Riesen immer schon voraussetzt. Etwas,
das kein Riese ist, wird zu einem, weil es dem Konzept des Riesen korrespondiert. Die
Frage nach dem Ursprung der Riesen ist dann die, aus welchem Grund und zu welchem
Zweck es dieses Konzept gibt. Warum hat sich die Menschheit die Figur des Riesen – in
jüngster Zeit zum Beispiel noch einmal in Gestalt von King Kong und Godzilla – gebildet?
Was figuriert der Riese?
In der Theogonie Hesiods bilden die Giganten und Titanen sowie die Gigantomachie
und die Titanomachie ein wesentliches Moment der Genealogie der Götter und der
Abfolge der Generationen. Die Genealogie der Götter ist eine Abfolge von Kämpfen
zwischen Vätern und Söhnen. Uranos mißhandelt seine Kinder, und Kronos entmannt
deshalb den Vater. Aus den Blutstropfen des kastrierten Glieds entstehen die Göttinnen der
Rache, die Erinyen, und die Giganten, die so als elementare Figuren einer agonalen
Genealogie erkennbar werden. Aus dem Glied selbst – oder aus seinem letalen Ejakulat –
entsteht die Liebesgöttin Aphrodite, begleitet von Eros und Himeros. Die aphrodisische
Liebe zeigt sich so ebenfalls als eine Gestalt der agonalen Genealogie. Dieser
Generationenkonflikt wiederholt sich dann im Kampf des Zeus gegen den Vater Kronos
und der olympischen Götter gegen die Titanen. Wenn die Titanen nach der Niederlage in
die unterste Region des Tartaros verbannt werden, dorthin, wo noch jenseits des Chaos der
gemeinsame Ursprung von Erde, Himmel, Meer und Unterwelt ist, in eine Region also, die
der ähnelt, die Faust als die der Mütter besucht, dann werden sie als Figuren des
archaischen Werdens vor allem Werden markiert. Dem Aufstand und der Niederwerfung
der Titanen und Giganten korrespondiert in der jüdisch-christlichen Überlieferung die
Rebellion und der Höllensturz Luzifers. Die antike Gigantomachie und der christliche
Teufelskampf sind archetypische Figurationen eines elementaren Agon, bei dem die
Riesen die Gestalten des Widerständigen und Bösen sind. Und wenn man eine
psychologische Erklärung hinzuziehen möchte, müßte man wohl die innerpsychischen
Kämpfe wahrhaft gigantomachischen Ausmaßes berücksichtigen, die Melanie Klein und
ihre Schule der Psychoanalyse als die Frühstadien des Ödipuskomplexes untersucht hat.
Demzufolge nehmen Triebkomplexe und Affektkonstellationen als Phantasien Gestalt an.
Die Gigantomachie erweist sich dann so sehr als eine archetypische Figur der Genealogie,
wie gigas ein Wort- und Bedeutungsfeld mit gignomai – werden, entstehen bildet. Der Gigant ist eine Figur des Werdens. Wenn die Phantasie des Giganten dem Geist der
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Genealogie entstammt, könnte das umgekehrt bedeuten, daß aus dem Geist der
Gigantomachie die Genealogie der Phantasie verstehbar wird. Es geht dabei um das
Verhältnis von fingere und gignere; die Schöpfung und das Werden, das dem Ingenium
entstammt, ist die Figur und das Figurale, dessen Urgestalt der Gigant als die Urfigur des
Werdens ist.
So kann der Riese zu einer Figur der Figuration der Figur werden. Zwar ist er im
Falle Don Quijotes ein Symptom seines Wahns. Dessen Phantasmen aber generieren sich
aus der Tradition von Mythos, Sage und Literatur, deren elementare Gestalten sie sind. Die
Entstehung der Riesen als Verwandlung von etwas, das kein Riese ist, in einen Riesen, ist
eine Gestalt des figurativen Prozesses überhaupt. Sie gibt das Prinzip der dichterischen
Fiktion, das sich somit als dem Don Quijote-Prinzip unmittelbar benachbart erweist. Der
Roman wird dann als eine Erkundung dieses Feldes der Nachbarschaft von Wahn und Fiktion, Phantasma und Figur lesbar. Er ist eine besondere Gestalt der „gigantomachía peri tès
ousías – des Riesenkampfs um das Sein“, von dem Platon im Sophistes handelt. Es geht
dabei um das Sein und die Wahrheit der Figuren in Auseinandersetzung mit dem Schein
der Phantasmen. Don Quijote ist die Gestalt dieser Erkundung und dieses Kampfs. So wird
er – in dem Sinne, wie die Logiker vom Begriff des Begriffs reden – zur Figur der Figur.
Das wird er um so mehr, als der Roman im weiteren das Problem reflektiert, daß solche
archetypischen Figurationen im Zeitalter der beginnenden Moderne banal und unglaubhaft
werden und deshalb als Konzeptualisierungen von Affektkonstellationen nicht mehr
wirksam sind. Deshalb wird Don Quijote zur triste figura und womöglich zur Figur der
Defiguration.
***
Der Beginn des Romans markiert das Feld, in dem die Unterscheidung zwischen dem
realistischen, gar historiographischen Bericht und der fiktiven, imaginären Erzählung zu
treffen ist und für den Roman von Anfang an getroffen wird. Die Situierung des
Geschehens in einem geographisch bestimmten Ort in der Mancha legt zunächst einen
realistischen Bericht nahe. Das wird aber sofort zurückgenommen, indem sein Name
ausdrücklich nicht genannt wird. „En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero
acordarme...” (I,1,35). Das ist scheinbar konkret und realistisch, auf eine weltliche
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Wirklichkeit bezogen, und bleibt doch zugleich vollkommen unfaßbar, geographisch
gerade nicht lokalisierbar; was durch die Absichtserklärung – „no quiero acordarme“ –
noch verstärkt wird. Dieses Spiel verdeutlicht sich im Namen des Protagonisten selber, für
den verschiedene Varianten angegeben werden. Sie werden zum einen auf unterschiedliche
Autoren der Geschichte zurückgeführt, zum anderen wird eine
Wahrscheinlichkeitsannahme ins Feld geführt, und schließlich wird all der scheinbar
quellenkritische und konjekturale Aufwand für nichtig erklärt, weil es auf ihn gar nicht
ankomme. Entscheidend ist die Wahrheit der Geschichte, die so von ihrer realistischen
Wirklichkeitsreferenz unterschieden wird. „Quieren decir que tenía el sobrenombre de
‚Quijada’ o ‚Quesada’, que en esto hay alguna diferencia en los autores que deste caso escriben, aunque por conjeturas verisímiles se deja entender que se llamaba ‚Quijana’. Pero
esto importa poco a nuestro cuento: basta que en la narración dél no se salga un punto de la
verdad“ (I,1,37). Sancho Panzas Frau hat eine ganze Serie von Namen. Im Abstand
weniger Zeilen nennt Sancho selbst sie einmal Juana Gutiérrez und dann Mari Gutiérrez
(I,7,94); am Ende des ersten Teils heißt sie dann Juana Panza (I,52,590) und im zweiten
Teil heißt sie Teresa Panza und ist als Teresa Cascajo geboren (II,5,667). Dieses Spiel
zieht sich durch beide Teile des Romans und ruft immer wieder die Frage in Erinnerung,
was es mit der Wahrheit einer Fiktion auf sich hat, wenn sie nicht auf ihrem
Wirklichkeitsbezug beruhen soll.
Wenn es kurze Zeit später von Don Quijote heißt, er habe beim Lesen der Ritterromane deren phantastische Geschichten von Riesen und Zauberern für Wahrheit genommen
und genau das sei ein Zeichen für seinen Wahn, dann deutet sich damit an, daß nicht nur
die Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit die Wahrheit der Literatur verfehlt,
sondern daß diese auch nicht einfach in den phantastischen Erfindungen der
Einbildungskraft, also den Riesen und Drachen, den Zauberern und verwunschenen
Prinzessinnen liegt. Worum es bei dieser Wahrheit gehen könnte, deutet sich erneut in der
Frage der Namen an, die der Hidalgo sich, seinem Pferd und seiner Dame gibt, als er
beschließt, nach dem Vorbild und Muster der Romane selber Ritter zu werden. Die Namen
werden jeweils ausgehend von der lebensweltlichen Wirklichkeit und als ihre
Verwandlung gebildet. „Al cabo se vino a llamar ‚don Quijote’, de donde, como queda dicho, tomaron ocasión los autores desta tan verdadera historia que sin duda se debía llamar
‚Quijada’ y no ‚Quesada’, como otros quisieron decir“ (I,1,42/3). Nach dem Vorbild des
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Ritters aller Ritter, Amadis von Gallien, fügt er dem Namen die Ortsbezeichnun „de la
Mancha“ hinzu.
Entsprechend bildet er den Namen seiner Dame; ausgehend von der Süße, die die
Liebe gibt, wird die Bäuerin aus dem Nachbardorf zur Dulcinea von Toboso. Man hat
darauf verwiesen, daß ihr bürgerlicher Name, Aldonza Lorenzo, auch derjenige der Urund Erzhure der spanischen Literatur, der „lozana andaluza“ sei. Damit wird die Kluft
zwischen sinnlicher Körperlichkeit und idealer Verliebtheit von Anfang an deutlich
gemacht; sie wird immer wieder aufgenommen und bildet dann – in Gestalt der
verzauberten Dulcinea – ein wesentliches Moment des Gehalts im zweiten Teil. Damit
wird aber auch ein weiterer intertextueller Verweis auf ein anderes Buch eingeführt: La
lozana andaluza von Francisco Delicado. Die Verwandlung ist nicht nur eine von
Wirklichkeit in Phantasie, sondern auch die Transformation von Texten. Das
charakteristische Moment ihres Namens – die dulcedo, Süße – ist aber auch in anderer
Hinsicht durch Prätexte bestimmt. Eine wichtige Etappe in der mittelalterlichen
Liebeslyrik zwischen der Dichtung der Troubadours und der Lyrik des Petrarkismus ist der
dolce stil nuovo. Das Süße ist demnach sowohl eine ästhetische als auch eine erotische
Kategorie. Außerdem und zuvor ist es eine Kategorie des mystischen Schrifttums. Die
innere Erfahrung und die unio mystica sind durch dulcedo und Süßigkeit ausgezeichnet.
Dulcinea wird so zur Gestalt, in der Liebe, Dichtung und Religion eine Konstellation
bilden.
Die Transformation von Aldonza Lorenzo in Dulcinea del Toboso hat die gleiche
Struktur wie die der Windmühlen in Riesen. Sie fügt dem Feld der Verwandlung und des
Phantasmas die Dynamik und Ökonomie des Begehrens hinzu, also den erotischen
Komplex, der in der antiken Titanomachie als die Geburt der Aphrodite verhandelt wird.
Das bedeutet, daß auch und vielleicht gerade das Begehren eine Sache des Phantasmas und
der Phantasie, des Bildes und der Imagination ist. Die Frage stellt sich dann anaolog. Wie
entsteht das Bild, das das Begehren generiert? Und wie ist das Begehren verfaßt, das Bilder
generiert?
Die Namen sind also das Ergebnis einer Transformation, bei der Elemente der
wirklichen Welt verändert und neu geordnet eine neue Wirklichkeit bilden. Zugleich wird
durch die Entstehung seines Ritternamens angedeutet, daß für seine – phantasmatische –
Ritterexistenz eine Verwandlung maßgebend ist. Der Übergang vom armen Landadligen
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zum fahrenden Ritter ist ein Wechsel des Standes und wird beinahe wie eine Konversion
dargestellt. Wenn all das Elemente der „wahrhaften Geschichte“ Don Quijotes sind, zeigt
sich, daß diese Wahrheit weder schlicht in der Wirklichkeit noch einfach in der Fiktion
liegt, sondern etwas mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion zu tun hat, das im
Begriff der Verwandlung zu fassen ist. Wahrheit in der Literatur wäre dann eine
dynamische Figur, eine Beziehung, die sich als Verwandlung vollzieht. Das wird in den
folgenden Kapiteln durch Don Quijotes Ritterweihe verdeutlicht.
Die Verwandlung vom Landadligen zum Ritter ist einerseits ein Schritt ins
Phantastische. Don Quijote überzieht die wirkliche Welt mit den Phantasien der
Ritterromane. Umgekehrt ist seine Verwandlung zum Ritter auch das Moment, wo die
Phantasien der Ritterromane sich in Don Quijote zu verkörpern beginnen und die Literatur
in Wirklichkeit umgewandelt wird. Diese beiden Richtungen der Verwandlung sind für die
Wahrheitsfrage der Literatur von Belang. Der Vorgang der Verwandlung ist eines der
leitenden Motive und vielleicht das zentrale Problem, das der Roman untersucht, so daß er
– im zweiten Teil wird explizit darauf verwiesen – als eine moderne Version der antiken
Verwandlungsgeschichten, der Metamorphosen des Ovid und des Apuleius, zu lesen ist.
Ein solcher Verweis auf die Autoritäten der Tradition ist für einen Roman, der im Horizont
des frühneuzeitlichen Humanismus entstanden ist, nicht müßig. Wenn der Prolog zum Don
Quijote diese Art von Gelehrsamkeit verspottet, die eine autoritative Absicherung von
modernen Texten durch solche antiker Autoren für unerläßlich hält und Texte immer nur
ausgehend von antiken oder modernen kanonischen und deshalb zu imitierenden
Vorbildern konzipieren kann, ist das ein deutlicher Ausdruck eines modernen
Selbstbewußtseins bei Cervantes – oder beim Erzähler, denn es ist ja nicht klar, wer im
Prolog eigentlich spricht.
Der Hinweis am Ende des Prologs, es gehe ja um Ritterromane, von denen die
antiken Autoritäten Aristoteles und Cicero nichts wissen konnten, deutet an, daß nicht so
sehr diese antike Tradition das Maßgebende ist, sondern die moderne, die neue und eigene
Tradition und Geschichte. Mit ihr setzt der Roman sich zuvörderst kritisch und sie
überbietend auseinander. Damit verabschiedet er die humanistische Tradition nicht,
sondern wertet sie um. Auch der Don Quijote erfordert einen desocupado lector, wie es der
klassische lector otiosus war, der im Unterschied zum Geschäftigen, dem negotiosus, und
zum unfreien Sklaven die Muße hatte, sich den deshalb so genannten artes liberales, den
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freien Künsten zu widmen. Damit ist auch impliziert, der Roman, obwohl der Gattung und
dem Stil nach nicht zu den klassischen Texten der hohen Wertschätzung gehörig, erhebe
denselben Anspruch wie sie und gehöre ebenfalls ins Corpus der mustergültigen Texte und
erfordere ebenfalls eine „gelehrte“ Rezeption. Das Widmungsschreiben zum zweiten Teil
an den Herzog von Béjar nimmt diesen Anspruch – ironisch gebrochen – in der Geschichte
des Kaisers von China, der den Don Quijote zum Schulbuch machen will, wieder auf und
deutet zugleich an, daß die Ironie des ganzen Unternehmens ein konstitutiver Bestandteil
dieser neuen Bildung ist.
Der Protagonist des Romans ist ebenfalls ein müßiggängerischer Leser: „los ratos
que estaba ocioso – que eran los más del año –, se daba a leer libros de caballerías, con tanta afición y gusto, que olvidó casi de todo punto el ejercicio de la caza y aun la administración de su hacienda“ (I,1,37). Ein derartiger müßiger Leser und ebensolche Autoren, wie
es die der von Don Quijote gelesenen Ritterromane sind, geben den Hintergrund, vor dem
der Roman eine andere Kunst des Lesens und Schreibens als eine andere Form des
Müßiggangs ins Werk setzt. So wird auch der Hinweis auf die Muße, die ein Aufenthalt im
Gefängnis beschert, wo der Roman entstanden sein soll, bedeutsam. Freiheit, so die stoisch
gefärbte Lehre, ist zuletzt und zuerst eine Sache des freien Geistes, und der scheinbar,
nämlich körperlich freie und müßiggängerische Landadlige des Romans erweist sich als
der unfreieste Geist überhaupt, indem er sich von seinen Lektüren in Bann schlagen läßt.
Die neue freie Kunst des Romans ist gleichermaßen frei von der Autorität der Tradition
wie vom Bann einer identifikatorischen Lektüre, die vermutlich nur das negative Revers
jener autoritativen ist, und deren Emblem Don Quijote selber ist, der ja beständig die
deutlichsten Bekundungen seiner humanistischen Bildung gibt.
Das Spiel, das der Prolog mit der humanistischen Gelehrsamkeit inszeniert und das
sie als nichtig und unbedeutend vorführt, zeigt, daß der Anspruch des Romans, gleichwohl
ein mustergültiger Text zu sein, einen anderen Maßstab als den der autoritativen Vorbilder
hat. Entscheidend ist nicht die fremde Autorität, sondern die eigene Ingeniösität. Der
Roman ist „hijo del entendimiento … e ingenio mío“ (9). Dieser Hinweis ist mindestens
von doppelter Bedeutung. Indem diese Vaterschaft zugleich als Stiefvaterschaft bezeichnet
wird – „aunque parezco padre, soy padrastro de Don Quijote“ (10) –, wird das Spiel um die
Autorschaft des Romans eröffnet, das dann im Roman bis ins Abgründige getrieben wird,
demzufolge nicht Cervantes und nicht der im Text sprechende Erzähler, sondern der
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Arabische Historiker Cide Hamete den Text verfaßt hat. Die Autorschaft als Prinzip der
Autorität wird durch dieses Spiel fraglich – und mit ihr das Prinzip der Autorität selbst.
Deshalb hat der Hinweis auf die Vaterschaft vermutlich eine zweite Dimension, die
ebenfalls das Prinzip der Autorität betrifft. Petrarca hat in einer seiner Epistulae familiares
(XXIV,23,19) das Verhältnis des Schreibenden zu seinen kanonischen Vorbildern als das
der Imitation beschrieben, die sich dem Vorbild, es nachahmend, anähnelt. Der
Nachahmende verhält sich zu seinem Vorbild, so der Vergleich Petrarcas, wie der Sohn
zum Vater. Petrarca, und mit ihm die ganze vormoderne humanistische Tradition,
konzipiert dieses Genrationsverhältnis irenisch als ein versöhntes. Der US-amerikanische
Kritiker Harold Bloom hat für die Moderne das Generationenmodell anders, nämlich –
nach dem Modell des von der Psychoanalyse beschriebenen Ödipuskomplexes – agonal
konzipiert. Der spätere Dichter folgt als Sohn dem vorbildlichen Vater nicht einfach nach,
indem er ihn als gültige Autorität nachahmt, sondern will ihn überbieten und so
vatermörderisch beseitigen und unwirksam machen. Die moderne Literaturgeschichte wäre
dann auch eine auf Dauer gestellte querelle des anciens et des modernes als permanenter
Kampf von Vätern und Söhnen. Es liegt auf der Hand, daß damit das Prinzip des
autoritativen Vorbilds und der Autorität nicht außer Kraft gesetzt ist. Das zu bekämpfende
Vorbild ist vermutlich mächtiger, als es das nachzuahmende je gewesen ist, und diese
Form der Moderne bleibt im Grunde prämodern. Wenn der Prolog des Don Quijote den
Roman als Kind des Geistes und Ingeniums bezeichnet, könnte sich damit auch ein
Ausstieg aus dieser Logik und Ökonomie der Generationenfolge andeuten. Es geht nicht so
sehr um Ähnlichkeit und Sohnschaft im Bezug auf fremde Textväter, sonder in bezug auf
das Ingenium, dessen Produktionsweise sich selbst autorisieren und rechtfertigen muß. Aus
dieser radikalen Modernität ergibt sich die selbstreflexive Verfassung des Don Quijote. –
Man kann hier auch an die Figur des quer zur Generationenfolge stehenden Bastards
denken, die André Gide so teuer war; in den Falschmünzern hat er die Abgründe des
Romanschreibens ebenfalls und nicht minder freigeistig erkundet.
***
Das angedeutete Netz von inter- und intratextuellen Figurationsbeziehungen charakterisiert
Sancho Panza in einer ingeniösen Wendung als triste, indem er Don Quijote, die Gestalt
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dieser Figurationen, als Caballero de la Triste Figura benennt. Don Quijote akzeptiert das
sofort als seine angemessene Bezeichnung, weist aber Sanchos materielle Begründung
durch seine körperliche Erscheinung zurück: er sieht mit seiner „más mala figura“ zum
Erbarmen aus, sei es wegen der Erschöpfung nach dem Kampf, sei es wegen der fehlenden
Zähne. Don Quijotes Begründung ist doppelt und verweist ins Zentrum der figuralen
Problematik. Es ist Brauch bei den Rittern, einen zweiten Namen zu führen, der sich auf
ihre besonderen Taten oder Eigenschaften bezieht. Deshalb wird der weise Zauberer, der
seine Geschichte zu schreiben hat, ihm ebenfalls einen solchen Beinamen zugedacht
haben. „Y, así, digo que el sabio ya dicho te habrá puesto en la lengua y en el pensamiento
ahora que me llamases el Caballero de la Triste Figura, como pienso llamarme desde hoy
en adelante.“ Er wird sich, sobald es Gelegenheit gibt, eine muy triste figura auf seinen
Schild malen lassen (I,19,205). Dem gebildeten Don Quijote dürfte die Auffassung von der
Melancholie als Verfassung der kreativen Geister nicht unbekannt sein, so daß er die
Bezeichnung als Ehrennamen akzeptieren kann.
Der Beiname ist eine figurative Zubenennung. Don Quijotes Beiname reflektiert das,
indem er das Figurative selbst zum Wesen des Namens macht und es zudem mit dem
Adjektiv triste charakterisiert. Im Don Quijote und mit Don Quijote ist das figurative
Prinzip zu sich selbst gekommen. Don Quijote, so könnte man fast sagen, ist an und für
sich Figur. Das wird aus dem zweiten Moment dieser Passage deutlich, das den weisen
Zauberer ins Spiel bringt, der die Geschichte schreibt. An ihn hatte Don Quijote bereits bei
seiner ersten Ausfahrt gedacht und seine Situation durch die – vorgestellte – Darstellung
des schreibenden Berichterstatters verdoppelt. Dort war das Verhältnis von Schreibendem
und Gegenstand, Beschreibung und Beschriebenem eindeutig: der Historiker beschreibt,
wie es gewesen ist. Hier nun denkt sich Don Quijote eine gegenläufige Bewegung: der
Schreibende nimmt Einfluß auf seinen Gegenstand, so daß er nicht – nur – beschreibt,
sondern quasi vorschreibt. Er hat Sancho eingegeben, Don Quijote als Caballero de la
Triste Figura zu benennen. Dieses Schreiben bildet seinen Gegenstand überhaupt erst aus.
Und wenn dieser Gegenstand die Figur des Caballero de la Triste Figura wird, liegt hier
zweifellos eine der zahlreichen Stellen vor, an denen der Roman sich reflexiv mit dem
eigenen Werden, mit der Figuration der Figur auseinandersetzt. Wie der Text aus anderen
Texten, entsteht die Figur aus anderen Figuren: als deren Re- und Transfiguration. Dieser
infinite Re- und Progreß wird hier keineswegs stillgestellt, sondern in einer konzeptuellen
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mise en abyme an sein Generationsmoment geführt: als die Frage nach der Entstehung der
Figur selber. Die Antwort, so legt die Stelle nahe, hat etwas mit dem Schreiben des
Romans – und vermutlich mit dem Schreiben überhaupt – zu tun. Sie ergibt sich in seiner
Auslegung als Figur der Figuration der Figur. Dabei ist auch zu bedenken, daß es, dem Zug
der Ironie des Romans gemäß, Sancho Panza ist, der Don Quijote diesen Namen gibt.
Sancho und Don Quijote sind im ersten Teil Gestalten der „zwei Centra“ – wie des
weiteren Don Quijote und Dulcinea, Ritter und Dame, Kampf und Liebe –, so daß Don
Quijote sich zu Sancho verhält wie der erste Teil des Romans zum zweiten, in dem Sancho
noch einmal durch seine Inselstatthalterschaft in ein reflexives Verhältnis zu Don Quijote
tritt.
Die nächste Frage ist dann, in welchem Sinne diese Figur der Figuration der Figur im
Roman als triste figura erscheint. Warum ist die Figur zur triste figura geworden? Die
Antwort auf diese Frage wäre ein Beitrag zu dem, was man die Modernität Don Quijotes
nennen kann. Sie hängt mit dem anderen großen Thema des Romans, der Frage nach dem
Verhältnis von Sein und Schein, zusammen. Die „gigantomachia peri tes ousías“ ist hier
immer auch und vor allem eine „gigantomachía peri ton phantasmaton“, ein Riesenkampf
um den Schein und die Erscheinungen, der als Kampf um das Verhältnis von Sein und
Schein im Feld der Figuration und der Fiktion ausgetragen wird.
Damit wirft der Roman ein Problem auf, das Leo Spitzer5 einst in einer hochingeniösen Intuition ausgehend von Rabelais als das erkannt hat, was in der Philosophie und
Theologie als Nominalsmusdebatte verhandelt wird. Die Tendenz der Literatur, autonome
fiktionale Welten zu bilden und als nur in der Sprache wirkliche Nebenwelten, die als reine
Scheinwelten den ontologischen Status des Unwahren haben, in den geistigen Raum
einzuführen, steht demnach in einer Linie mit dem philosophischen Nominalismus. Spitzer
hat das für eine ganz verderbliche Entwicklung gehalten und an ihrem Ende den
Antisemitismus seiner Zeit stehen sehen. Meine Hypothese ist, daß Cervantes dieses
Problem erkannt hat, und es in Don Quijote, der Gestalt des fiktionalen Konstruktivismus,
figuriert. Darüber hinaus reflektiert er das Problem und versucht sich an einer Lösung;
deren Gestalt ist Don Quijote, der Roman. Deshalb stellt er im Don Quijote und mit Don
Quijote die Wahrheitsfrage als die nach der Wahrheit – der Literatur – im Zeitalter des
Nominalismus. Gibt es einen literarischen Realismus, der nicht mimetisch-referentiellen
Leo Spitzer, „Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft“, in: ders., Texterklärungen. Aufsätze zur
europäischen Literatur, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1990, S. 7-33.
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Charakter hat? Das ist die wahrhafte Realismusfrage im Don Quijote.
Als Grundproblem der Überlegungen ergibt sich somit die Frage nach dem
Verhältnis von Figur und Wahrheit. Die Romane haben, so der Befund des auto de fé im
sechsten und siebten Kapitel, häretischen Charakter. Sie sind als Literatur verderblich und
wirken wie eine Sekte. Sie bilden die Sektion des Phantasmatisch-Imaginären in der Welt.
Und Don Quijote, der sie imitiert, wird deshalb zur extraña figura. Zugleich aber soll die
Geschichte dieser figura contrahecha eine historia verdadera sein. Das Problem ist
folglich, wie aus der scheinhaften Figuration und der wahnhaften figuralen Beziehung zu
ihr eine wahrhafte Geschichte wird. Wenn die Wahrheit der Figur ihr Scheincharakter ist,
wird die Frage nach dem Roman als verdadera historia und Figur der Wahrheit, wie aus
der wahnhaften die wahrhafte Figur wird.
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