Abbildung 2. Kommunikative Kompetenz

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The final version of this manuscript was published as: Tschirner, Erwin (2001). Kompetenz,
Wissen, mentale Prozesse: Zur Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht. In H. Funk
& M. Koenig, Hrsg., Kommunikative Didaktik in Deutsch als Fremdsprache Bestandsaufnahme und Ausblick. Festschrift für Gerhard Neuner (S. 106-25). München:
Iudicium.
0.
Einleitung
Der traditionelle, auch kommunikative Fremdsprachenunterricht geht meist davon aus, dass
grammatische Kompetenz ähnlich wie anderes Wissen direkt vermittelt werden kann, dass die
Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, dadurch erworben wird, dass man
Grammatikregeln lernt und ihre Anwendung übt. Dies setzt voraus, dass das
psycholinguistische Grammatikwissen im Kopf von Sprachbenutzern identisch mit dem von
Sprachwissenschaftlern aus in erster Linie geschriebenen Texten abgeleiteten grammatischen
Regeln ist. Diese Annahme wird von der psycholinguistischen Forschung nicht gestützt. Im
Gegenteil, es wird davon ausgegangen, dass explizites grammatisches Wissen eine qualitativ
andere Art von Wissen ist als die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, und dass es diese
Fähigkeit nicht ersetzen kann.
Dies bedeutet nicht, dass im Fremdsprachenunterricht kein Augenmerk auf grammatisch
korrektes Sprechen oder Schreiben gerichtet werden sollte. Damit sich aber die Diskussion, die
sich in den letzten Jahren vor allem mit dem Begriff language awareness verband,
fruchtbringend auf die Praxis des Fremdsprachenunterrichts auswirken kann, ist genauer zu
unterscheiden, welche Rolle ein Regelwissen grammatischer Art in der Ausbildung der vier
Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens, Sprechens und Hörens spielt. Ausgehend von der
psycholinguistischen Forschung zu Sprachproduktions- und -perzeptionsprozessen versuche
ich zu zeigen, dass grammatisches Regelwissen eine qualitativ andere Art von Wissen ist als
die Fähigkeit, in Echtzeit grammatisch richtig zu sprechen. Ich werde argumentieren, dass
bewusstes grammatisches Wissen (Regelwissen) nicht automatisierbar ist, sondern dem
primären (mündlichen) Spracherwerb nur indirekt hilft, indem es vor allem über die
Verlangsamung der Prozesse im schriftlichen Bereich dafür sorgt, dass grammatisch richtige
Syntagmen gespeichert werden können, die die Entwicklung des lernersprachlichen Systems
vorantreiben.
Während eine systemlinguistische Reflexion nur wenig zum Erlernen perzeptiver
grammatischer Kompetenzen beitragen kann (etwas mehr bei der Entwicklung des
Leseverständnisses, sehr wenig bei der Entwicklung des Hörverständnisses), ist sie bei der
Ausbildung schriftlicher produktiver Fertigkeiten von großem Interesse. Auch beim Erwerb
von Sprechkompetenz kann sie eine Rolle spielen, allerdings mehr im Sinne von focus on form
(Long/Robinson 1998) und input enhancement (Sharwood Smith 1993), d.h. über Lehr- und
Lerntechniken, die die Ausdrucksseite der Sprache in den Vordergrund stellen, damit neben
dem Inhalt auch der sprachliche Ausdruck bewusst wahrgenommen und gespeichert werden
kann. Dies allerdings nicht im Sinne eines Regelwissens, sondern im Sinne eines Speicherns
zielsprachlich authentischer Syntagmen, die im weiteren Erwerbsverlauf implizit analysiert
werden, worüber das mentale Regelsystem entsteht (Ellis 1996).
Neben der grammatischen bzw. lexikalisch-grammatischen Kompetenz, die im mündlichen
Erst- und Zweitspracherwerb erworben wird und auf Grund derer beim spontanen Sprechen
Äußerungen gebildet werden, verfügen Menschen im Regelfall über eine zweite Art
grammatischer Kompetenz. Ein nicht unbedeutender Teil erwachsener muttersprachlicher
Kompetenz wird nämlich erst in der Schule erworben, beim Schreiben- und Lesenlernen. Dies
wird meist durch einen expliziten muttersprachlichen Grammatikunterricht unterstützt. Diese
zusätzliche grammatische Kompetenz, ich nenne sie kulturgrammatische Kompetenz, muss
natürlich auch von Fremdsprachenlernern erworben bzw. gelernt werden, wohl auf ähnliche
Art und Weise wie sie von Muttersprachlern gelernt wird, also über die Auseinandersetzung
mit der schriftlichen Variante der zu lernenden Sprache und teilweise auch über ein Erlernen
eines expliziten analytischen Regelwissens.
Mein Beitrag ist in vier Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt stelle ich ein Modell vor, das
zwischen grammatischer Kompetenz und grammatischem Regelwissen unterscheidet und das
von einer Reihe unterschiedlicher grammatischer Kompetenzen ausgeht. Der zweite Abschnitt
beschäftigt sich mit der Frage, wie grammatische Kompetenz erworben wird. Im dritten
Abschnitt unterscheide ich zwischen einer primären grammatischen Kompetenz und einer
sekundären, kultursprachlichen grammatischen Kompetenz, während ich im vierten Abschnitt
darauf eingehe, welche Vorschläge sich aufgrund dieser theoretischen Überlegungen für die
Didaktik und Methodik des Fremdsprachenunterrichts ableiten lassen.
1.
Kompetenz, Wissen, mentale Prozesse
Lyons (1996) stellt Saussures und Chomskys Unterscheidungen zwischen langue und parole
und zwischen Kompetenz und Performanz einander gegenüber und präzisiert sie auf eine
Weise, die auch für Fremdsprachendidaktiker interessant ist. Er unterscheidet zwischen
Kompetenz, Performanz und Text. Saussure trennt zwischen langue und parole: langue, der
Sprache als soziolinguistischem System, das nicht im Kopf eines einzelnen Sprachbenutzers
existiert, sondern in der Sprachgruppe als Ganzem, und parole, dem Produkt des Sprechens.
Chomsky lehnt Saussures Begriff langue ab und zieht es vor, von Kompetenz zu sprechen. Er
sieht Sprache nicht als ein soziolinguistisches sondern als ein psycholinguistisches System, als
eine Fähigkeit, die allen Teilnehmern einer Sprachgemeinschaft zu eigen ist. Allerdings fasst
auch er Sprache als eine abstrakte Fähigkeit auf, die ein idealer Sprecher-Hörer in einer
homogenen Sprachgemeinschaft besitzt. Unter Performanz versteht er den Akt des Sprechens.
Diesen Akt trennt er allerdings nicht genau vom Produkt, also von Saussures parole. Lyons
macht genau das, trennt Prozess von Produkt und kommt damit zu der Dreiteilung Kompetenz,
Performanz und Text.
Diese Dreiteilung ist aus mindestens zwei Gründen interessant. Zum einen wird in Lyons
Modell klar das Produkt von dem Prozess, der das Produkt generiert, getrennt. Zum anderen
macht es deutlich, dass Fremdsprachen dadurch gelernt werden, dass Prozesse ablaufen, und
nicht dadurch, dass Produkte verändert werden. Da beim Fremdsprachenlernen die
Einzelperson interessiert und nicht ein abstrakter, idealer Sprecher-Hörer, definiere ich, um
Lyons Modell für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar zu machen, Kompetenz als eine
Fähigkeit, die jeder einzelne Sprachbenutzer besitzt. Statt Performanz ziehe ich den Begriff
mentale Prozesse vor. Zum einen richtet es den Blick auf die Prozesse, die beim Sprechen,
Schreiben, Zuhören und Lesen auftreten, zum anderen lassen sich dadurch Lernvorgänge
stärker in den Vordergrund rücken (s. Abb. 1).
Mentale Prozesse produzieren und verarbeiten Texte. Besonders Sprech- und Hörprozesse sind
dabei wesentlich den Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses unterworfen. Darüber hinaus
werden sie von der Gesprächssituation, den Teilnehmerrollen, u.Ä. beeinflusst. Über die
Prozesse wird Kompetenz aufgebaut. Kompetenz wiederum steuert die Prozesse. Um der
Tatsache Genüge zu tun, dass eine Reihe unterschiedlicher Kompetenzen zusammenwirken
müssen, um sprachliche Interaktion stattfinden zu lassen, erweitere ich den Kompetenzbegriff
mit Kategorien aus Bachmans (1990) Modell kommunikativer Kompetenz, das wiederum auf
dem Modell von Canale/Swain (1980) bzw. Canale (1981) aufbaut.
Abbildung 1. Kompetenz, Prozesse, Text
In der geringfügig überarbeiteten Fassung von Bachman/Palmer (1996) unterscheidet
Bachman zwischen pragmatischer, organisatorischer und strategischer Kompetenz. Unter
pragmatischer Kompetenz versteht Bachman, die Fähigkeit Sprachhandlungen durchzuführen,
d.h. Sprache für einen bestimmten Zweck zu benutzen (funktionale Kompetenz), ebenso wie
die Fähigkeit, dies situations- und adressatengerecht zu tun und dabei Regeln soziokultureller
Art zu beachten (soziolinguistische Kompetenz). Unter organisatorischer Kompetenz versteht
er die Fähigkeit, Wörter zu Sätzen und Sätze zu Texten zu verbinden. Ersteres nennt er
grammatische Kompetenz, letzteres Textkompetenz. Unter strategischer Kompetenz
schließlich versteht Bachman die Fähigkeit, sprachliche Kompetenz bewusst und zielgerichtet
einzusetzen, den Einsatz zu planen und zu evaluieren (Abb. 2).
Zu Bachmans Kompetenzen füge ich das Weltwissen hinzu, das besonders beim hörenden und
lesenden Verstehen mit den anderen Kompetenzen interagiert und das Verstehen wesentlich
beeinflusst; dies auch unter dem Aspekt, dass dieses Weltwissen kulturspezifisch ist, also zur
fremdsprachlichen Handlungsfähigkeit auch ein fremdsprachliches Weltwissen gehört. All
diese Kompetenzen und Wissensbereiche steuern unterschiedliche Prozesse, die in ihrem
Zusammenspiel mündliche und schriftliche Produkte generieren bzw. diese verarbeiten.
Schwächen oder Lücken bei einer Kompetenz oder in einem Wissensbereich lassen sich
teilweise durch andere Kompetenzen und Wissensbereiche ausgleichen. So kann z.B. beim
Lesen oder Zuhören das Weltwissen fehlendes Wortschatzwissen ausgleichen. Zudem
verändern sich diese Kompetenzen und Wissensbereiche in der sprachlichen Interaktion,
Wissen wird erweitert oder umstrukturiert, sprachliche Systeme entwickeln sich.
Geht man davon aus, dass beim Sprechen, Zuhören, usw. unterschiedliche mentale Prozesse
ablaufen – und diese Feststellung ist sicher trivial – dann kann man auch postulieren, dass diese
unterschiedlichen Prozesse zu unterschiedlichen Kompetenzen führen und zwar auch auf der
grammatischen Ebene. Damit kann man zwischen einer sprech-, hör-, schreib- und
lesegrammatischen Kompetenz unterscheiden. Abbildung 3 zeigt, wie unterschiedliche
Prozesse unterschiedliche Texte produzieren bzw. verarbeiten und wie dabei unterschiedliche
Kompetenzen aufgebaut werden. Die Pfeile, die von den einzelnen Kompetenzen zu den
jeweiligen Prozessen gehen und wieder zurück, sollen andeuten, dass Prozesse Kompetenz
sowohl aufbauen als auch von ihr gesteuert werden. Die Pfeile, die von den Prozessen zu den
Texten gehen und wieder zurück, sollen andeuten, dass die einzelnen Prozesse nicht
unabhängig voneinander ablaufen, sondern dass oft mehrere Prozesse gleichzeitig stattfinden.
Abbildung 2. Kommunikative Kompetenz
Beim Hören ist keine weitere Fähigkeit beteiligt, der Pfeil geht vom mündlichen Text zum
Hörprozess. Bereits beim Sprechen ist allerdings das Hören mitbeteiligt. Der Pfeil geht vom
Sprechen zum Text und kommt wieder zurück zum Hören. Beim Lesen wird oft mental
mitgesprochen und damit auch mental gehört. Es sind also drei Fähigkeiten beteiligt. Beim
Schreiben schließlich liest man, was geschrieben wird, es kann mental mitgesprochen werden
und mitgehört. Beim Schreiben sind also potentiell alle vier Fähigkeiten beteiligt. Damit kann
das Schreiben helfen, Kompetenzen in allen vier Fähigkeiten zu entwickeln.
Anhand dieses Modells lässt sich nun grammatische Kompetenz genauer von grammatischem
Regelwissen unterscheiden. Sprech-, hör-, lese- und schreibgrammatische Kompetenz wird
dadurch aufgebaut, dass mündliche und schriftliche Texte produziert, gehört und gelesen
werden. Grammatisches Wissen beruht auf einer metasprachlichen Beschreibung
geschriebener Texte, und zwar nicht irgendwelcher Texte, die jemand mal schnell
hingeschrieben hat, sondern Texte, die man als Endprodukt langwieriger, rekursiver
Schreibprozesse und vieler Revisionen ansehen muss, oft auch von Autoren produziert, die
sehr bewusst und überdurchschnittlich gut schreiben, wie z.B. Schriftsteller. Aus der
linguistischen Analyse dieser sorgfältig ausformulierten geschriebenen Texte wird das
grammatische Regelwissen gewonnen.
Abbildung 3. Fähigkeiten und Wissen
Die Systemlinguistik, die dieses grammatische Regelwissen erarbeitet, beschreibt statische
strukturelle Beziehungen zwischen den Elementen eines schriftlichen Textes. Die Grammatik
im Kopf, die mentale Grammatik, muss allerdings aus dynamischen Regeln bestehen, die die
Prozesse steuern, die diese Texte mündlich und schriftlich generieren bzw. verarbeiten. Die
statischen Regeln der Systemlinguistik, die aus sorgfältig formulierten schriftlichen Texten
abgeleitet werden, sind damit qualitativ anderer Art als die dynamischen Regeln der mentalen
Grammatik, die durch Verarbeitungsprozesse in sprachlichen Interaktionssituationen erworben
werden. Grammatische Kompetenz lässt sich nicht dadurch erwerben, dass man grammatische
Regeln lernt, anwendet und durch Üben automatisiert. Die systemlinguistischen Regeln sind
grundverschieden von den mentalen Regeln, die zu spontan wohlgeformter gesprochener
Sprache führen. Es gibt keinen direkten Weg von metasprachlichem, grammatischem
Regelwissen zu grammatischer Kompetenz. Grammatisches Regelwissen lässt sich nur als ein
Aspekt des Weltwissens (vgl. Abb. 2) einordnen, mit dessen Hilfe zwar auch Texte produziert
und teilweise auch verarbeitet werden, das aber die Fähigkeit, grammatisch richtig zu
sprechen, nicht beeinflusst. Allerdings werden die Texte, die potentiell mit Hilfe von
grammatischem Regelwissen produziert werden, gleichzeitig auch wieder gehört bzw. gehört
und gelesen und sind damit in der Lage, wenn es denn wohlgeformte Äußerungen sind, die
grammatische Kompetenz von Fremdsprachenlernern weiter voranzutreiben.
2.
Die Entwicklung grammatischer Kompetenz
Nach Sharwood Smith (1993) wird grammatische Kompetenz nicht dadurch erworben, dass
Regeln gelernt, sondern dass Syntagmen gespeichert werden. Syntagmen sind
bedeutungstragende, unanalysierte Äußerungseinheiten, die aus einzelnen Wörtern bestehen
können, aber auch aus Verbindungen von Wörtern bis hin zu ganzen (kurzen) Sätzen. Die
Annahme, dass ein Speichern von Syntagmen (Holophrasen, lexikalischen Phrasen) eine
wichtige Rolle im Spracherwerb spielt, wird von einer ganzen Reihe von Forschern und
Theoretikern vertreten, sowohl zur Erklärung muttersprachlicher Kompetenzen (Pawley/Syder
1983) als auch für den zweit- und fremdsprachlichen Erwerb (Wong-Fillmore 1976,
Nattinger/DeCarrico 1992, Ellis 1996).
Pawley und Syder (1983) stellen die Frage, warum Muttersprachler nicht nur wissen, welche
Sätze grammatisch richtig sind, sondern auch welche Sätze aus der unendlichen Menge
grammatisch richtiger Sätze gebräuchlich sind, wie es dazu kommt, dass Muttersprachler
idiomatisch richtig sprechen, und sie fragen, wie Muttersprachler trotz der großen
Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses (Speicherkapazität von 5-9 Einheiten,
Speicherlänge von ca. 10 Sekunden) fließend sprechen können. Ihre Antwort auf beide Fragen
ist die gleiche. Muttersprachler wissen, welche Sätze idiomatisch sind, weil sie
Hunderttausende von lexikalisierten Phrasen, Sätzen und Teilsätzen komplett gespeichert
haben und komplett abrufen können. Sie können fließend sprechen, weil sie nicht jede
Äußerung komplett neu generieren müssen, sondern auf eine Vielzahl von Versatzstücken
zurückgreifen können, auf Satzteile und Teilsätze, die sie im Laufe von vielen Jahren im
Ganzen gespeichert haben und die sie mit Variationen neu zusammenstellen.
Ellis (1996) überträgt das Prinzip des lexikalischen Lernens auf den Zweit- und
Fremdsprachenerwerb und argumentiert, dass sprachliches Lernen aus dem Lernen
sprachlicher Sequenzen besteht, aus dem Lernen von Lauten und Lautfolgen, von Wörtern und
Wortfolgen zusammen mit den syntaktischen und situativen Kontexten, in denen sie
eingebettet sind. Lerner lernen über das Speichern von Satzteilen und Teilsätzen Laut- und
Wortzusammenstellungen. Auf diese Art und Weise wird (implizites) Wissen darüber
aufgebaut, welche Laut- und Wortfolgen in einer Sprache möglich sind und welche
wahrscheinlicher als andere sind. Wissen über Wortarten und noch allgemeiner Wissen über
grammatische Regularitäten wird über eine implizite und automatisch stattfindende Analyse
von Wortfolgen aufgebaut, d.h. über ein Wissen darüber, welche Wörter in welchen
Wortzusammenstellungen und Wortfolgen auftauchen können. Lerner speichern Phrasen,
Satzteile, Teilsätze und ganze Sätze, die erst später syntaktisch analysiert werden. Nach Ellis
findet diese Analyse nicht bewusst statt, sondern unbewusst und automatisch. Bevor diese
implizite Analyse stattfinden kann, muss für jedes grammatische Phänomen eine sehr große
Anzahl von Syntagmen gespeichert sein.
Demnach wird grammatische Kompetenz, auch produktive grammatische Kompetenz dadurch
erworben, dass Teile von in authentischen Zusammenhängen gehörter Sprache als
bedeutungstragende Äußerungseinheiten gespeichert werden. Das Problem dabei nun ist, dass
wegen der Begrenzung des Arbeitsgedächtnisses nur ein geringer Teil der ans Ohr dringenden
akustischen Daten auch wirklich wahrgenommen und verarbeitet wird. Hören findet auch bei
Muttersprachlern zu einem großen Teil top down statt, d.h. Zuhörer achten nicht auf jede
einzelne Silbe, was sie auch gar nicht könnten, sondern verknüpfen Aspekte des Gehörten mit
Aspekten ihres Weltwissens und ihrer Interpretation der Situation zu einem in erster Linie
inhaltlichem Verstehen. Dadurch kann zwar Verständigung erzielt werden, aber sprachliches
Lernen findet dabei eher nicht statt.
Im Normalfall wenden Lerner Hörstrategien an, das Verstehen steht im Vordergrund, und
richten ihre Aufmerksamkeit auf inhaltstragende Elemente, auf die Silben, die am deutlichsten
gehört werden, die durch Intonation und Betonung besonders hervorgehoben werden. Bei
diesen Silben handelt es sich im Deutschen vor allem um Wortstämme, um die Anfänge von
Wörtern und um die stärker inhaltstragenden Wortarten wie Substantive, Adjektive und
Verben. Nicht vernommen werden Funktionswörter, Präfixe und Suffixe und andere schwach
betonte Silben, d.h. vor allem die Silben, mit deren Hilfe sich grammatische Kompetenz
entwickeln könnte.
Zur Entwicklung grammatischer Kompetenz müssen Lernstrategien entwickelt werden. Dies
sind vor allem Strategien, die grammatische Elemente ins Arbeitsgedächtnis holen, damit sie
dort verarbeitet werden können. Dafür werden in der Fachliteratur vor allem die Begriffe input
enhancement (Sharwood Smith 1993), input processing (VanPatten/Cadierno 1993) und focus
on form (Long/Robinson 1998) verwendet. Gemeint ist beim Zuhören das Lenken der
Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst, nicht darauf, was gesagt wird, sondern wie es gesagt
wird. Allerdings sollte dies immer erst in einem zweiten Schritt stattfinden, d.h. erst wenn
bereits inhaltlich mit dem Input gearbeitet wurde, damit bedeutungstragende
Äußerungseinheiten gespeichert werden können. Der Erwerb grammatischer Kompetenz ist
also als datengesteuerter Prozess zu verstehen, der bottom up von statten geht, also nicht wie
das verstehende Hören top down und wissensgesteuert.
Das Lenken der Aufmerksamkeit auf die Sprache kann nun konkret verstanden werden als ein
bewusstes Wahrnehmen der Ausdrucksseite der Sprache, als ein Speichern von klar und
deutlich wahrgenommenen Syntagmen, die mit inhaltlichen und situativen Merkmalen der
Interaktion, der sie entstammen, reichhaltig verknüpft sind. Es kann aber auch abstrakt
verstanden werden als das bewusste Wahrnehmen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Nach
den meisten der zitierten Autoren ist das konkrete Wahrnehmen der Lautgestalt der Sprache
unabdingbare Voraussetzung für sprachlichen Erwerb. Einige, vor allem Long und andere
(Dowty/Williams 1998), schreiben auch dem abstrakten Wahrnehmen eine erwerbsfördernde
Wirkung zu.
3.
Primäre und sekundäre grammatische Kompetenz
Meine bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die grammatische bzw.
lexikalisch-grammatische Kompetenz, die im mündlichen Erst- und Zweitsprachenerwerb
erworben wird und mit deren Hilfe beim spontanen Sprechen Äußerungen gebildet werden.
Das ist allerdings nur ein Teil der grammatischen Kompetenz, die Menschen über ihre
Muttersprache haben. Ein nicht unbedeutender Teil erwachsener muttersprachlicher
Kompetenz wird nämlich erst in der Schule erworben, beim Lesen- und Schreibenlernen, sowie
beim muttersprachlichen Grammatikunterricht. Diese zusätzliche grammatische Kompetenz,
ich nenne sie kulturgrammatische Kompetenz, muss von Fremdsprachenlernern natürlich auch
erworben bzw. gelernt werden, wahrscheinlich auf ähnliche Art und Weise wie sie von
Muttersprachlern gelernt wird, das heißt über die Auseinandersetzung mit der schriftlichen
Variante der zu lernenden Sprache und teilweise über ein Erlernen eines expliziten
analytischen Regelwissens.
Die Fragen, die sich dabei stellen, sind die folgenden. Ist es besser, wie beim
muttersprachlichen Spracherwerb zuerst eine solide Basis in der gesprochenen Sprache
aufzubauen, die intuitiv gelernt wird und universellen psycholinguistischen Regeln gehorcht,
bevor man auf die geschriebene, bewusst gelernte, mit Regeln und Ausnahmen befrachtete
schriftliche Variante der Zielsprache eingeht? Wenn ja, ist es trotzdem möglich, dass das
Schreiben und Lesen und eventuell auch ein analytisches Grammatikwissen den mündlichen
Grammatikerwerb unterstützt, eventuell sogar schneller und effektiver stattfinden lässt? Wenn
ja, wieviel "Vorsprung" sollte dabei jeweils die mündliche Komponente haben und wie genau
kann die schriftliche Auseinandersetzung mit Sprache den mündlichen Spracherwerb
erleichtern?
Helbig (1992) unterscheidet zwischen einer Grammatik A, dem der Sprache selbst
innewohnenden Regelsystem, unabhängig von dessen Beschreibung durch die Linguisten und
von dessen Beherrschung durch die Sprecher, einer Grammatik B, der Abbildung dieses der
Sprache selbst innewohnenden Regelsystems durch die Linguistik, und einer Grammatik C,
dem von einem Sprecher internalisierten Regelsystem, auf Grund dessen dieser die betreffende
Sprache beherrscht. Helbigs Grammatik A weist Ähnlichkeiten mit Saussures "langue" und
seine Grammatik C mit Chomskys "Kompetenz" auf. Die Reihung von A nach B und C
suggeriert darüber hinaus, dass es ein abstraktes Regelsystem gibt, das unabhängig von den
Sprechern einer Sprache existiert, das von Sprachwissenschaftlern auf ebenfalls abstrakte
Weise beschrieben wird und das dann auf dieser Grundlage von den Sprachbenutzern
internalisiert wird. Dies ist eines der größten Probleme der Fremdsprachendidaktik, denn damit
werden diese Grammatiken A, B und C einander bewusst oder unbewusst gleichgestellt und es
wird suggeriert, dass sich die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen (Grammatik C),
dadurch einstellt, dass Lerner die Grammatik B internalisieren, die wiederum aus der
Grammatik A abgeleitet ist.
Ich schlage eine andere Reihenfolge vor, mit einer etwas anders gelagerten Definition dieser
Grammatiken, damit sie nicht nur stärker mit den Erkenntnissen der kognitiven Linguistik
übereinstimmt, sondern sich auch fruchtbarer für die Fremdsprachendidaktik erweist. Aus
Helbigs Grammatik C mache ich meine Grammatik A oder Primärgrammatik, die über den
frühkindlichen muttersprachlichen Erwerb erworbene Fähigkeit, grammatisch richtig zu
sprechen. Helbigs Grammatik A definiere ich neu als Grammatik B oder Kulturgrammatik, die
über das Lesen– und Schreibenlernen (inkl. muttersprachlicher Grammatikunterricht)
erworbene Fähigkeit, grammatisch richtig zu schreiben und davon abgeleitet mündlich höhere
Register zu benutzen. Helbigs Grammatik B schließlich wird zu meiner Grammatik C oder
Schulgrammatik, einem von Sprachwissenschaftlern aus gut formulierten schriftlichen Texten
gewonnenen Regelsystem, das grammatische Verhältnisse in "gut" geschriebenen Texten auf
eine logische Art beschreibt.
Sowohl die mündlich erworbene Primärgrammatik als auch die schriftlich erworbene
Kulturgrammatik sind mentale Grammatiken in Einzelpersonen und sind damit konkreter Art.
Die Kulturgrammatik entsteht auf der Grundlage der Primärgrammatik, wird aber von der
Schulgrammatik modifiziert. Die Schulgrammatik ist abstrakt. Sie stellt einen Kompromiss
zwischen zahlreichen, vielen unterschiedlichen Generationen angehörigen Kulturgrammatiken
dar. Die Schulgrammatik beeinflusst die Kulturgrammatik in dem Sinne, dass das Produkt der
Kulturgrammatik, die schriftlichen Texte, möglichst keine Differenzen zu einem Produkt der
Schulgrammatik aufweisen sollte. Sie beeinflusst individuelle Kulturgrammatiken auch
dadurch, dass sie regionale und überregionale Standards schafft, wobei Syntagmen
(lexikalisierte Wortfolgen) gespeichert werden, die ähnlich wie beim Erwerb idiomatischer
Kompetenz zum Erwerb standardsprachlicher (kultursprachlicher) Kompetenz führen,
dadurch, dass sie sowohl als lexikalische Phrasen zur Verfügung stehen, die komplett
abgerufen werden können, wie auch dadurch, dass nach Speicherung einer genügend hohen
Zahl an ähnlichen Phrasen, implizit und automatisch abstrakte Regeln abgeleitet werden, die
die kulturgrammatische Kompetenz erweitern. Die Kulturgrammatik
Abbildung 4. Primärgrammatik, Kulturgrammatik, Schulgrammatik
wiederum beeinflusst, bei jedem Menschen auf andere Weise, die Primärgrammatik, ebenso
wie sie von der Primärgrammatik beeinflusst wird, da beide Grammatiken mentale
Grammatiken im Kopf des gleichen Sprachbenutzers sind, was zu im weitesten Sinne
bilingualen Verhältnissen führt.
Die Primärgrammatik enthält zumeist implizite "Regeln", die über den Muttersprachenerwerb
erworben wurden und die eher selten reflektiert oder verbalisiert werden. Die Kulturgrammatik
enthält die impliziten Regeln der Primärgrammatik, die Texte produzieren, die der
Schulgrammatik gerecht werden. Sie enthält zusätzliche "Korrekturregeln" für die
dialektalen/soziolektalen Elemente der Primärgrammatik, die nicht der Standardsprache
entsprechen, allerdings bei den meisten Menschen nicht für alle dialektalen/soziolektalen
Merkmale, und sie enthält zusätzliche kultursprachliche Regeln, die kein Äquivalent in der
Primärgrammatik haben.
Die Primärgrammatik entwickelt sich ab dem 2. oder 3. Lebensjahr, die Kulturgrammatik ab
dem 6. oder 7. Lebensjahr. Primär– und Kulturgrammatik sind allerdings nur teilweise
identisch mit gesprochener und geschriebener Grammatik, da sie auch eine
Registerunterscheidung nach sich ziehen. Primär– und Kulturgrammatik beeinflussen sich
gegenseitig, die Primärgrammatik wohl mehr die Kulturgrammatik als umgekehrt. Mit Hilfe
der Kulturgrammatik werden schriftliche und teilweise mündliche Texte eines höheren
Registers produziert, wobei letztere den Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses
unterworfen sind. Die Kulturgrammatik entwickelt sich vor allem über das Lesen (und
Produzieren) schriftlicher Texte, also nur teilweise und vielleicht sogar nur einem sehr kleinen
Teil über die Schulgrammatik. Die Regeln der Schulgrammatik tragen auf zweierlei Art dazu
bei, die Kulturgrammatik weiterzuentwickeln. Erstens über Feedback auf der Ebene des
Geschriebenen (Produkt) mit potentiellem Einfluss auf spätere Schreibprozesse. Dies findet
meist in der Schule oder in anderen Lernsituationen statt. Zweitens über Regeln auf der Ebene
des Schreibens (Prozess). Auch dies findet meistens in der Schule statt, aber auch immer dann,
wenn sich ein Autor sprachlich unsicher fühlt und zu einem Sprach- oder Grammatikführer
greift. Letzteres findet allerdings wohl eher selten statt und beeinflusst die Entwicklung der
Kulturgrammatik eher wenig.
4.
Auswirkungen auf die Didaktik und Methodik des Grammatikunterrichts
Ich unterscheide in diesem Beitrag zwischen einer Reihe unterschiedlicher Grammatiken, einer
Primär- und Kulturgrammatik mit jeweils rezeptiven und produktiven Varianten, die sich zwar
alle gegenseitig beeinflussen, die aber nicht in einer einzigen Grammatik zusammenfallen. Die
Annahme einer einzigen Grammatik ist eine sprachwissenschaftliche Abstraktion, die
individuelle mentale Prozesse unbeachtet lässt und die dadurch nicht sehr fruchtbar für den
Fremdsprachenunterricht war und ist. In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, welche
Auswirkungen die anskizzierte Sichtweise auf die Didaktik und Methodik des
Grammatikunterrichts haben kann. Ich gehe dabei sowohl auf Fragen der Progression ein wie
auf Fragen der Methodik.
Es sollte in Lehrwerken eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Primärgrammatik,
Kulturgrammatik und Schulgrammatik gemacht werden, nicht unbedingt in dem Sinne, dass
tatsächlich drei unterschiedliche Grammatikmodelle präsentiert werden, sondern eher so, dass
unterschiedliche Herangehensweisen und Progressionen Aufgaben unterschiedlicher Art
zugrunde liegen. Die Primärgrammatik, als Hör- und Sprechgrammatik, sollte eine sehr flache
Progression aufweisen. Sie sollte ausschließlich auditiv gelernt werden und zwar mit Hilfe der
Prinzipien der Sprachaufmerksamkeit und des lexikalischen Lernens. Unter
Sprachaufmerksamkeit verstehe ich Aktivitäten, die den Blick auf die Sprache lenken, unter
lexikalischem Lernen, Aktivitäten, die es Lernern erlauben, Phrasen, Satzteile und Teilsätze
zusammen mit ihrer situativen Einbettung zu speichern. Die Kulturgrammatik, als
Schreibgrammatik, sollte ebenfalls eine flache Progression aufweisen, könnte der
Primärgrammatik jedoch immer etwas voraus sein. Sie kann visuell als Signalgrammatik
gelehrt werden und sollte vor allem eine Faustregelgrammatik sein, das heißt aus einfachen
Regeln bestehen, die eine hohe Trefferquote erreichen. Die Schulgrammatik schließlich stelle
ich mir als Lesegrammatik vor. Sie kann relativ unabhängig von Primär- und Kulturgrammatik
einherlaufen, vor allem weil ihre Progression deutlich steiler sein kann, möglicherweise so
steil, wie die jetzigen Grammatikprogressionen in Lehrwerken. Die Lehrwerksteile, die die
Schulgrammatik vermitteln, gehen induktiv-explorativ vor. Grammatik wird als Metawissen
und Strategiewissen gelehrt und gelernt, allerdings rein rezeptiv, d.h. ohne dass produktive
Regeln gegeben werden und ohne dass sie produktiv geübt wird. Im
Fortgeschrittenenunterricht, bei Erwachsenen und in akademischen Kontexten könnte die
Schulgrammatik durchaus deutlicher mit der Kulturgrammatik verzahnt werden, nicht
allerdings mit der Primärgrammatik.
Das Verhältnis der drei Grammatiken zueinander, ihre jeweiligen Anteile am
Unterrichtsgeschehen und die Steilheit der Progressionen hängen natürlich immer davon ab,
wie alt die Lerner sind, welche Schulbildung sie aufweisen, auf welchem sprachlichen Niveau
sie sich befinden, welche Lerntraditionen sie besitzen, welche Lernziele im Mittelpunkt stehen
und welches Verhältnis zwischen Ausgangssprache und Zielsprache besteht. Sehr junge Lerner
z.B. sollten nur der Primärgrammatik ausgesetzt werden. Bei akademisch gebildeten Lernern,
sollten die Anteile der Kulturgrammatik und der Schulgrammatik vergleichsweise höher sein.
Im Anfangsunterricht sollte wohl die Primärgrammatik stärker im Mittelpunkt stehen, während
im fortgeschrittenen Unterricht dies für die Kulturgrammatik gilt. Lerner, denen traditionelle
Grammatikbetrachtungen vertraut sind, könnten früher mit der Lesegrammatik und ihren
fachwissenschaftlichen Termini beginnen als Lerner, die weniger Erfahrungen mit
muttersprachlichem Grammatikunterricht gemacht haben. Lerner, die nur lesen lernen wollen,
können sich wahrscheinlich mit einer Lesegrammatik begnügen, während bei Lernern, deren
Muttersprache räumlich und typologisch weit entfernt von der zu lernenden Sprache ist, die
Primärgrammatik deutlich gefördert werden sollte.
Das Verhältnis der drei Grammatiken zueinander sollte auch davon abhängig gemacht werden,
wie sie sich gegenseitig unterstützen können. Es ist anzunehmen, dass das Schreibenlernen die
mündliche Grammatikentwicklung positiv beeinflussen kann. Eine weitere Frage, die sich vor
allem im Bereich Primärgrammatik stellt, aber teilweise auch bei den anderen Grammatiken,
ist das Verhältnis von Muttersprache zu Zielsprache und das Verhältnis von
Sprachuniversalien zu Besonderheiten der jeweiligen Sprachpaare. Inwieweit eine bereits
gelernte Fremdsprache den Erwerb einer weiteren Fremdsprache beeinflusst, ist ebenfalls eine
interessante Frage, zu der es noch kaum Forschungsansätze gibt. Das, was sich bis jetzt mit
dem Begriff Tertiärsprachenforschung verbindet, besteht aus einer Darstellung von
Sprachlern- und Arbeitsstrategien und aus einem Vergleich der Schulgrammatiken der
involvierten Sprachen. Unter der Perspektive, die in diesem Beitrag eingenommen wird, ist
dies für den Primärgrammatikerwerb, möglicherweise auch für den Kulturgrammatikerwerb,
allerdings nicht so relevant, wie es Modelle mentaler Grammatiken wären, die sich gegenseitig
beeinflussen.
Im Folgenden möchte ich nun auf Fragen der Methodik eingehen. Die Fähigkeit, grammatisch
richtig zu sprechen (Primärgrammatik) ist eine auditiv-mündliche Fähigkeit und lässt sich,
auch wenn schriftliche Übungen durchaus unterstützend wirken können, nur auditiv-mündlich
entwickeln. Dabei sollten drei Arten von Lernerfahrungen im Vordergrund stehen, die ich mit
den aus der Forschung bekannten Termini input enhancement und input processing und analog
dazu mit output enhancement umschreiben möchte. Unter input enhancement (Sharwood
Smith 1993) versteht man das Hervorheben bestimmter Elemente gehörter oder gelesener
Texte, damit sie leichter wahrgenommen und verarbeitet werden können. Input enhancement
und focus on form (Sprachaufmerksamkeit) sind zwei Seiten der gleichen Münze. Während
input enhancement den Blick auf die Lehrperspektive richtet, darauf, was LehrerInnen und
LehrmaterialienentwicklerInnen tun, um Sprache lernbar zu machen, richtet focus on form den
Blick auf die Lernperspektive, darauf, was Lerner machen, wenn sie mit sprachlichen
Materialien arbeiten.
Im Abschnitt 2 wurde festgestellt, dass sich Sprachaufmerksamkeit (focus on form) konkret
verstehen lässt, als ein bewusstes Wahrnehmen der Ausdrucksseite der Sprache, ohne in
grammatischen Kategorien zu denken. Außerdem kann man es abstrakt verstehen, als die
bewusste Suche nach oder das bewusste Achten auf grammatische Regelmäßigkeiten, um sie
metasprachlich zu analysieren. Letzteres wird im Zusammenhang mit Hörerfahrungen als
input processing (VanPatten/Cadierno 1993) bezeichnet. Lerner werden z.B. gebeten,
grammatische Phänomene, die ihnen geschildert wurden, in Hörtexten wahrzunehmen, sie zu
analysieren und klassifizieren. Die konkrete Variante der Sprachaufmerksamkeit setzt sich
zum Ziel, über ein bewusstes und konzentriertes Wahrnehmen das Speichern intakter,
authentischer, situierter und semantisierter Wortfolgen (Phrasen, Teilsätzen, Sätzen) mit
"gefrorener", d.h. unanalysierter Grammatik zu ermöglichen. Diese "gefrorene" Grammatik
kann damit sowohl als Monitor für das eigene Sprechen und Schreiben dienen, es "klingt"
richtig, als auch als Basis späterer interner und unbewusster "Grammatikanalysen" (Ellis
1996). Je klarer beim Speichern Inhalts- und Ausdrucksseite sind, desto förderlicher ist das
Speichern solcher Wortfolgen für den Spracherwerb. Die Klarheit der Inhaltsseite hängt davon
ab, wie authentisch, situiert und semantisiert die Wortfolgen sind, die Klarheit der
Ausdrucksseite davon, wie klar und deutlich gesprochen wird, wie viele Pausen gemacht
werden und wie oft wiederholt wird, damit auch wirklich alle Wörter und Silben als komplette
Lautgestalt wahrgenommen und gespeichert werden können.
Es ist anzunehmen, dass der Aufbau der Primärgrammatik auch durch abstrakte
Sprachaufmerksamkeit, das bewusste Wahrnehmen sprachlicher Regelmäßigkeiten unterstützt
werden kann. Wenn diese abstrakte Sprachaufmerksamkeit jedoch förderlich für die Fähigkeit,
grammatisch richtig zu sprechen, sein soll, muss mit nicht verschriftlichten Hörtexten
gearbeitet werden. Da es nach VanPatten (1986) fast nicht möglich ist, auf Sprache und Inhalt
gleichzeitig zu achten, setzt dies voraus, dass Hörtexte in mehreren Durchgängen bearbeitet
werden, wobei in den ersten Durchgängen die Aufmerksamkeit auf den Inhalt und in späteren
Durchgängen auf die Lautgestalt und Ausdrucksseite der Sprache gelenkt wird, z.B. dadurch,
dass Lerner gebeten werden, vielleicht in Form eines Lückendiktats, alle konjugierten
Verbformen schriftlich festzuhalten. Die Förderung der Sprachaufmerksamkeit bei
mündlichen Texten hat den weiteren Vorteil, dass Lerner dadurch Strategien lernen, die sie
auch außerhalb des Unterrichts einsetzen können und damit auch in ungesteuerten
Kommunikationssituationen bewusst weiterlernen können. Die gesammelten Beispiele lassen
sich dann im Unterricht natürlich auch weiter bearbeiten, analysieren und klassifizieren, wobei
eine Verschränkung mit der Kulturgrammatik bzw. auch mit der Schulgrammatik stattfinden
könnte.
Nach Keenan und MacWhinney (1987) lassen sich produktive Formen nicht automatisch aus
rezeptiv gespeicherten Formen ableiten, sondern müssen eigens erworben und mit
Sprechintentionen verknüpft werden. Wenn fremdsprachliches Lernen für produktive Zwecke
zu einem bedeutenden Teil darüber stattfindet, dass lexikalische Phrasen gelernt werden, die
später intern analysiert werden, dann sollte die Ausdrucksseite dieser lexikalischen Phrasen so
wohlgeformt wie möglich gespeichert werden können. In Analogie zu input enhancement
bezeichne ich mit output enhancement den Versuch, die Inhalts- und Ausdrucksseite von
produktiv verwendetem sprachlichen Material optimal zu speichern. Auf der Inhaltsseite
bedeutet dies, dass die Situation in der gelernt wird, den Situationen ähnelt, in denen die
Fremdsprache später benutzt werden soll, dass es sich dabei also um authentische
Kommunikationssituationen handelt. Es bedeutet auch, dass der propositionale und funktionale
Inhalt der Äußerungen so klar wie möglich erkannt sind. Auf der Ausdrucksseite bedeutet dies,
dass Anstrengungen gemacht werden, den Lernern zu ermöglichen, phonetisch und syntaktisch
möglichst fehlerfrei zu sprechen. Dies kann z.B. dadurch erreicht werden, dass mit
vorgefertigten Phrasen und Sätzen, mit lexikalischen Phrasen und Versatzstücken,
kommunikativ gearbeitet wird. Wichtig dabei ist, dass Sprechintentionen suggeriert werden,
dass authentische Sprachhandlungen ausgeführt werden, und dass diese mit wohlgeformtem
sprachlichem Material verknüpft werden.
Ähnlich könnte auch bei der Kulturgrammatik vorgegangen werden. Da allerdings über das
Schreiben und Lesen. Die implizite Kompetenz, das Gefühl für grammatisch und situativ
angemessene, geschriebene Sätze und Texte, ließe sich analog zur Primärgrammatik über input
enhancement und output enhancement entwickeln, während die explizite Kompetenz über
input processing aufgebaut würde. Die Übergänge zwischen konkreter Sprachaufmerksamkeit
(input enhancement) und abstrakter Sprachaufmerksamkeit (input processing) sind im
schriftlichen Bereich allerdings eher fließend. Konkrete Sprachaufmerksamkeit könnte z.B.
dadurch hergestellt werden, dass bestimmte grammatische Elemente in Texten graphisch
hervorgehoben werden, z.B. Personal- und Possessivpronomen, während abstrakte
Sprachaufmerksamkeit dadurch hergestellt würde, dass diese Pronomen ihren Antezendenten
zugeordnet werden müssen. Unter output enhancement könnte man sich z.B. die Verwendung
vorgefertigter Phrasen und Sätze zur Formulierung eigener Schreibintentionen vorstellen.
Durch die Verschränkung der Fertigkeiten beim Schreiben (s. Abschnitt 1) ist anzunehmen,
dass das schriftliche Arbeiten den Erwerb mündlicher Kompetenzen unterstützt.
Die Schulgrammatik schließlich würde als Lesegrammatik eingeführt und eingeübt, sofern sie
bei einer bestimmten Zielgruppe überhaupt eingesetzt werden soll. Dies hat eine Reihe von
Vorteilen. Die interessanten Aspekte, die mit einer grammatischen Betrachtung verbunden
werden, bleiben erhalten, während die frustrierenden Elemente wegfallen. Zu den interessanten
Aspekten gehört z.B. die Frage, wie Sprache funktioniert und welche
Bedeutungszusammenhänge und -unterschiede durch grammatische Elemente gemacht
werden können. Durch eine induktiv-explorative Herangehensweise, die sich bei einer
Lesegrammatik anbietet, kann dieses Interesse geweckt und gestillt werden. Dabei eignen sich
Lerner auch das Handwerkszeug an, das sie benötigen, um über Grammatik zu sprechen. Ein
weiterer Vorteil ist, dass Grammatikunterricht datengesteuert und dadurch authentischer und
relevanter wird. Frustrierende Elemente werden bei einem Lesegrammatikansatz eher
vermieden. Ein großer Nachteil traditioneller Grammatikübungen ist, dass oft und gerade von
schwächeren Schülern viele Fehler gemacht werden. Dies ist nicht nur frustrierend und kann zu
Sprach- und Lernängsten führen, sondern es ist auch problematisch für den Grammatikerwerb
selbst. Da das Gehirn fehlerhafte Sätze genauso wahrnimmt, wie es korrekte Sätze wahrnimmt,
vielleicht sogar durch die beim Schreiben intensivere Beschäftigung mit der Sprache deutlicher
wahrnimmt, ist es wahrscheinlich, dass das Gehirn versucht, auf der Basis von fehlerhaften
Sätzen als Junkdaten (Wong-Fillmore 1976) eine mentale Grammatik aufzubauen. Die Ironie
dabei wäre, dass gerade grammatikorientierte Lehrmethoden, deren Übungen und Erklärungen
Lerner dazu bringen, viele Fehler zu machen, fossilierte Lernersprachen hervorrufen würden
und eher nicht die kommunikativen Methoden, denen dies oft vorgeworfen wird.
5.
Zusammenfassung und Ausblick
In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, dass die Annahme einer einzigen Grammatik
eine sprachwissenschaftliche Abstraktion ist, die weder den mentalen Vorgängen bei der
Verwendung und beim Lernen von Sprache gerecht wird, noch hilfreich für die Entwicklung
der Grammatikdidaktik im Fremdsprachenunterricht ist. Fremdsprachenlerner sind immer
Einzelgänger (Riemer 1997). Grammatikerwerb findet immer in inviduellen Köpfen statt.
Grammatikerwerb führt dazu, dass in Realzeit grammatisch richtig gesprochen und
geschrieben wird bzw. so richtig, wie es eben auch Muttersprachler nur können. Individuelle
grammatische Kompetenz ist prozessorientiert und spontan einsetzbar. Die Schulgrammatik
mit ihrer Einengung auf die überregionale, schriftsprachliche Variante einer Sprache ist
produktorientiert, muss nachgeschlagen werden und ist darüber hinaus ein Kompromiss aus
unzähligen individuellen Grammatiken, was u.a. dazu führt, dass sie nicht gehirnfreundlich ist
und vollgepropft mit Ausnahmen. Zudem ist sie nur eine mögliche logische Beschreibung von
statischen Strukturen und Abhängigkeiten zwischen Wörtern, Satzteilen und Sätzen der
geschriebenen Sprache. Die Regeln dieser Grammatik haben mit den mentalen Regeln, die
Sprecher befähigen, grammatisch richtig zu sprechen, nichts gemein.
Gegen das Diktat der Schulgrammatik habe ich zwischen einer Primärgrammatik, der
intuitiven Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, die sich über den kindlichen
Erstspracherwerb entwickelt, einer Kulturgrammatik, der intuitiven Fähigkeit, ein zweites,
gebildetes Register, eine überindividuelle und überregionale Variante der Sprache zu benutzen,
und der Schulgrammatik selbst unterschieden, wobei sowohl die Primärgrammatik, wie die
Kulturgrammatik eine rezeptive und produktive Seite haben. Ich habe postuliert, dass sich die
Primärgrammatik nur auditiv-mündlich erwerben lässt, ohne abstreiten zu wollen, dass
schriftliche Prozesse durchaus unterstützend wirken können. Ebenso entwickelt sich die
Kulturgrammatik vor allem durch Lese- und Schreiberfahrungen und nur teilweise durch ein
Lernen und Üben der Schulgrammatik.
All dies hat mich dazu bewogen, in Lehrwerken eine deutliche Trennung zwischen einer
Grammatik, die sich auf mündliche und schriftliche produktive Kompetenzen konzentriert, und
einer Lesegrammatik, die eher mit traditionellen Begriffen und Progressionen umgehen kann,
vorzuschlagen. Die produktive Grammatik sollte methodisch-didaktisch gesehen in eine
Sprech- und Schreibgrammatik unterteilt werden, terminologisch bräuchte man hier keine
Unterschiede zu machen. Beiden produktiven Grammatiken gemeinsam wäre eine sehr flache
Progression und eine Unterscheidung zwischer einer expliziten und impliziten
Grammatikbetrachtung. In der impliziten Herangehensweise wird versucht, grammatische
Kompetenz durch rezeptive und produktive Speicherung intakter, situierter und semantisierter
lexikalischer Phrasen aufzubauen, und dadurch, dass die Aufmerksamkeit beim Hören bzw.
Lesen auch auf die grammatischen Elemente der Sprache gelenkt wird. In der expliziten
Herangehensweise wird bei ausgewählten Lernergruppen darüber hinaus versucht, auditiv und
visuell Wahrgenommenes zu analysieren und klassifizieren. Wichtig dabei ist, dass die
Sprechgrammatik über das Arbeiten mit auditiven Daten aufgebaut wird, und nicht wie in
aktuellen Lehrwerken durch visuelle Daten. Die Lesegrammatik hätte neben der Funktion,
grammatische Lesestrategien zu entwickeln, die Aufgabe, über Sprache sprechen zu lernen und
dabei terminologisches Handwerkszeug zu erwerben.
Die kognitive Wende in der Fremdsprachendidaktik hat stattgefunden. Allerdings anders, als
dies immer noch in vielen Beiträgen zur Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht
thematisiert wird. Es handelt sich hier nämlich nicht um eine Rückkehr zum altbewährten
Grammatikunterricht mit neueren kreativen und autonomiefördernden Methoden, sondern um
ein neues sprachlerntheoretisches Erkenntnisinteresse, das auch eine neue Art von
Grammatikunterricht fordert. Das neue Erkenntnisinteresse ist: Was läuft in den Köpfen der
Sprachlerner ab, wenn sie eine fremde Sprache lernen? Kognitiv bedeutet hier Fragestellungen
aus der kognitiven Psychologie und der kognitiven Linguistik zu übernehmen. Was läuft in den
Köpfen ab und wie kann dem geholfen werden? Dafür brauchen wir eine präzisere Vorstellung
von Grammatik, von unterschiedlichen Arten von Grammatik. Das habe ich in meinem Beitrag
versucht zu zeigen. Antworten auf meine in diesem Zusammenhang gestellten Fragen könnten
dabei den fremdsprachlichen Grammatikunterricht radikaler ändern, als es die kommunikative
Methode der letzten Jahrzehnte getan hat.
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