Das Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin

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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Das Freiheitsverständnis bei Luther, Calvin und
Melanchthon (1990)
1. Einordnung des christlichen Freiheitsbegriffs
1.1 Systematisch
Der systematische Ort, an dem reformatorische Theologie sich entzündet und
entfaltet, ist die Rechtfertigungs- und Gnadenlehre,1 mithin gehört die Klärung
des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium zu den vornehmsten Interessen
der Reformation. Aus dieser Konzentration theologischen Fragens ergibt sich
eine systematische Eingrenzung des Blickwinkels, also in der Folge ein
Anthropozentrismus in der Anschauung Gottes, dies in bewußter Abkehr von
philosophischer
Spekulation2
und
scholastischer
Logomachie.
Diese
Distanzierung und Verschiebung des Interesses zeigt sich zeigt sich in
programmatischer Ausprägung besonders deutlich in der Charakterisierung des
eigentlichen Glaubens bei Calvin:3 Echter Glaube hält nicht für wahr, er erkennt
nicht primär, sondern zeichnet sich aus durch ein individuelles Verhältnis zu
Gott, in der Anerkennung4 Gottes als Herrn und Richter, insbesondere aber in
der Annahme Jesu als Retter. Indem somit ein subjektiver Standpunkt zu Gott
gesetzt und gewählt wird und zum bestimmenden Moment des Glaubens
erhoben wird, kann freilich Kirche als Heilsvermittler nicht mehr in der Weise
fungieren, daß sie die Bedingungen der Erlösung bestimmen und beibringen, die
Sündenvergebung verwalten könnte. Deshalb wendet sich die Reformation
vehement gegen den in diesem Verständnis zur sinnlosen Tyrannis gewordenen
Anspruch der römischen Kirche, den Heilsweg durch Gesetzgebung regeln zu
können. Indem auf diese Weise also die Heilsfrage zu einer solchen der Relation
von Individuum und Gott wird, hängt die Realisierung der Rettung von der
Stellung des Menschen zu Gott einerseits und der Haltung Gottes zum
Menschen andererseits ab.5 In der Konsequenz dieser Loslösung der Religion
aus dem Status des Cultus findet zugleich eine Transzendierung statt, die an die
Stelle einer Ableistung gerechterweise geforderter Genugtuung für begangene
1
Für Luther vgl. Kinder, E. Rechtfertigung II Dogmengeschichtlich 2.), RGG 31961, 834-840, Sp.
834.
2 Die antiphilosophische Haltung ist merkwürdigerweise gerade bei Melanchthon besonders
ausgeprägt, vgl. z.B. CR 21, 5b21-6a4.
3 Vgl. Calvin, J., Opera selecta, hrsg. v. P. Barth, Bd. 1, München 1926, S. 56 (68/69), vgl.a. S.
27 (37): "summa fere sacrae doctrinae duabus his partibus constat: Cognitione Dei ac nostri",
außer der Erörterung der Trinität ist jedoch vom ersten Moment kaum die Rede.
4 Calvin gebraucht hier meist anstelle von cognoscere das Verb agnoscere.
5 Dieses also als Gnade Gottes, jenes als Glaube.
© Stephan Sturm 1990
1
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Sünde nunmehr von aller tätigen Leistung zur Erlangung des Heils absieht,6
daher
wendet
sich
reformat6orisches
Denken
gegen
jede
Art
von
Werkgerechtigkeit.
So kann, insofern menschliches Verdienst nicht in Betracht kommen kann, die
Rechtfertigung nur eine geschenkte sein, Konsequenz reiner göttlicher Gnade.
Dies sind also die beiden Hauptpunkte der christlichen Freiheit bei Luther: Die
Befreiung von der Heilsverwaltung der Kirche und die Befreiung von der
Gesetzgebung. Die Sicherung dieser Rechtfertigung sola gratia gegen die Hybris
der Werkgerechtigkeit hat jedoch zur systematischen Voraussetzung die
Negierung
der
menschlichen Willensfreiheit,
mithin
Prädestination.7
Die
Transzendierung Gottes hat also, wie es zunächst scheint, eine Entmündigung
des Menschen zur Folge.
1.2. Historisch
Aus diesen Voraussetzungen erhellt sich bereits, daß das reformatorische
Freiheitsverständnis dem antiken im Ansatz geradezu entgegengesetzt ist, 8
mithin auch vom humanistischen Modell gesondert werden muß. Denn gerade
das, was die Voraussetzung der Freiheitsgewinnung für Luther ausmacht, ist für
den antiken Menschen Ausdruck der größtmöglichen Unfreiheit. Nach antikem
Verständnis9 ist der Mensch gerade deshalb frei, weil er über einen freien Willen
verfügt;10
die
Fähigkeit,
kraft
seines
seine
Menschlichkeit
allererst
ausmachenden Geistes das Gute zu erkennen und damit auch zu tun,11 ist die
6
Vgl. Hegel, G. W. F., Werke, hrsg. v. E. Moldenhauser und K. M. Miche., Bd. 16 (Vorlesungen
über die Philosophie der Religion I), Frankfurt, 1969, S. 220-236, insbesondere S. 227, vgl.a. S.
254/55.
7 Luther entwickelt bezeichnenderweise keine besondere Prädestinationslehre, vgl. Kähler, E.,
Praedestination III Dogmengeschichtlich, RGG3 1961, 483-487, S. 486; er scheint sie eher als
notwendige Bedingung in Kauf zu nehmen, da er ansonsten die verantwortlich denkende
Beteiligung des Menschen am Heilsgeschehen fordert, vgl. Maurer, W., Von der Freiheit eines
Christenmenschen: Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21, Göttingen
1949, S. 38.
8 Eine Abgrenzung gegen das antike und weitgehend das mittelalterliche Verständnis von
Freiheit dient nicht allein überhaupt der besseren Eingrenzung des am lutherischen Konzept
Einzigartigen und Neuen, sondern soll überdies ebenso die fälschliche Anwendung der
Kategorien aufklärerischer Denkmuster auf Luther verhindern. Zugleich ist hier der Anfangspunkt
gesetzt, von dem zunächst sich entfernend Luther die Unmittelbarkeit des griechischen
Verständnisses überwindet, jedoch in der Abstraktion des Theozentrismus anders als Calvin
nicht verbleibt, sondern diese, wie sich erweisen wird, vermittelt, zuletzt dahin wieder
zurücksteuert. Ebenso wird sich auf diese Weise die Differenz zu dem letztlich von
subjektivistischer Individualität der Aufklärung beeinflussten modernenn Verständnis von Freiheit
als Willkür und Beliebigkeit zeigen.
9 Inwiefern hellenistische Einflüsse (so vornehmlich stoizistische) auf das reformatorische
Freheitskonzept vorliegen, wird im zweiten Abschnitt bei Calvin zu zeigen sein, in jedem Falle ist
dieses Verständnis vom ursprünglich klassischen zu trennen. Antik meint hier die griechische
Polis und wenngleich nur schattenhaft die Blütezeit der römischen Republik.
10 Vgl. Bultmann, R., Der Gedanke der Freiheit nach antikem und christlichem Verständnis, in:
Glauben und Verstehen, Bd. 4, Tübingen 1965, S. 51.
11 Zum ethischen Intellektualismus vgl. Platon, Protagoras, 357e, 358c/d, vgl.a. Bultmann, a.a.O.,
S. 46.
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Voraussetzung dafür, ein selbstbestimmtes, freies Leben im Einklang mit der
eigentlichen Natur, die ebenso nicht ein vom Willen regiertes, sondern ein von
Vernunft geordnetes Ganzes ausmacht, zu führen.12 Freiheit wird deshalb in
erster Linie als Gegensatz zur Knechtschaft gefaßt,13 wohingegen Luther Freiheit
ja gerade im Herr und Diener zugleich definiert.14 So gewinnt der antike Mensch
seine Freiheit auch nicht etwa aus einer Loslösung vom Gesetz, dieses ist
vielemehr gerade die Grundlage, auf der Freiheit allererst möglich wird, 15 denn
Freiheit ist im antiken Sinne immer auch und zuerst politische Freiheit,16 die sich
nicht nur im
Fehlen
äußerer Fremdherrschaft
und Tyrannis, sondern
insbesondere auch in der besonderen Atmosphäre der Polisgemeinschaft, die
sich besonders in der Parrhesie darstellt, ausdrückt.17 Frei ist daher nur
derjenige, der im Staat der besten Gesetze an diesem nicht nur aktiv und
verantwortungsvoll beteiligt ist, sondern in ihm auch seinen besonderen Platz
durch die Unterordnung unter das Gemeinwesen und das Gesetz findet. 18
Darüberhinaus ist die antike Vorstellung vom freien Menschen geprägt von der
Ungebundenheit an Notwendigkeit19 und Äußerlichkeit; die antike Anthropologie
trennt scharf zwischen Leib und Seele (bzw. Geist), 20 ebenso zwischen der
Person und ihren Verhältnissen;21 ethische Freiheit ist daher Unabhängigkeit von
leiblicher Begehrlichkeit, die aber als prinzipiell beherrschbar gilt. 22 Der Mensch
ist deshalb vermittels der Überlegenheit des Geistes über den Körper ethisch
immer schon frei, wenn diese Freiheit auch durch entsprechende Erziehung
entwickelt und in beständiger Übung erworben werden muß.
Entgegen dieser Auffassung, die auch das Mittelalter weitgehend geprägt hat, ist
der Mensch nach reformatorischem Verständnis ursprünglich un immer schon
unfrei, weil prinzipiell sündhaft,23 daher auch grundsätzlich unfähig, sich für das
12
Vgl. Bultmann, a.a.O., S. 43
Vgl. Fried, J., Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter, Historische Zeitschrift 240
(1985), 313-361, S. 318/19.
14 Das scheinbare Paradox von Knechtschaft und Herrschaft wird von Luther zum Kennzeichen
der Freiheitsdialektik eigens betont.
15 Vgl. Bultmann, a.a.O., S. 43.
16 Vgl. Bultmann, a.a.O., S. 44; politische Freiheit hat im reformatorischen Begriff keinen Platz,
bemerkenswert ist dabei Luthers Haltung im Bauernkrieg, die durchaus nicht bloße
Loyalitätsforderung darstellt, sondern gerade die Trennung des poltischen Kampfes vom
theologischen postuliert.
17 Vgl. Heidegger, M., Sein und Zeit, Tübingen 161986, S. 165; Hegel charakterisiert dies treffend
als "edelste (attische) Urbanität gebildeter Menschen", vgl. Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie S. 25.
18 Die positive Haltung zum Gesetz wird besonders deutlich in Platons Kriton (vgl. Crit. 50c-53a),
zeigt sich auch darinn, daß für Kapitalverbrechen in der Platonischen Gesetzgebung der
Ausschluß aus der Gesetzesgemeinschaft des Staates vorgesehen ist, vgl. Leg. 881a-d, 868e,
871d.
19 Dieselbe Vorstellung liegt letztlich auch in der scharfen Trennung von Naturkausalität und
Freiheitsgesetz bei Kant vor (vgl. Einleitung zur Kritik der Urteilskraft S. 242-246).
20 Vgl. Platon, Phaedo 105d-106d.
21 Vgl. Platon, Alc. mai. 128d.
22 Vgl. die Vorstellung von den Seelenteilen, Plato, Rep. 438d-440a.
23 Vgl. Bultmann, a.a.O., S. 48/49.
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Gute zu entscheiden, geschweige denn, es zu tun.24 Die Anthropologie bei
Luther überwindet die schroffe Trennung von Leib und Seele zugunstern einer
Fassung des gesamten Menschen als Fleisch; die gesamte Person ist also stets
dem widervernünftigen Trieb unterworfen, daher niemals Herr ihrer selbst. Eben
darum kann auch Freiheit weder erworben noch geübt werden. Freiheit
konstituiert sich also gerade in der Abkehr vom vermeintlich Vernünftigen, in der
Aufgabe der Selbstbestimmtheit und der Abwendung von den die Gesellschaft
bestimmenden Gesetzen der Menschen.
2. Vergleichende Darstellung des Freiheitsverständnisses bei
Luther, Calvin und Melanchthon
2.1. Der Christ als freier Herr
2.1.1. Tractatus de libertate christiana (erster Teil)
Der gesamte Tractat über die christliche Freiheit ist beherrscht und gegliedert
von der Pardoxie25 der Herrschaft und Knechtschaft des Christen, die ganze
Schrift versucht nun, diese Antinomie zur Auflösung zu bringen.
Daß
hierbei
nicht
spekulative,
sondern
vornehmlich
christologische
Überlegungen relevant sind,26 zeigt sich sogleich bei der Fassung der
anthropologischen Voraussetzungen. Luther übernimmt zunächst scheinbar die
altkirchliche Zwei-Naturenlehre27 auf den Mensch angewandt als Aufteilung in
eine geistliche Natur einerseits und eine leibliche andererseits,28 macht jedoch
sofort deutlich, daß es sich dabei nicht um das Nebeneinander des idealistischen
Dualismus handeln soll,29 sondern um ein neues, biblisches Verständnis, in dem
der geistliche dem neuen, der leibliche dem alten Menschen zugeordnet wird, 30
denn der alte Mensch ist insgesamt Fleisch, der neue in gesamter Person
24
Die Theorie der Entscheidungsfähigkeit bei der Unfähigkeit, der Entscheidung Folge zu leisten
aufgrund menschlicher Schwäche wird besonders von Calvin abgelehnt.
25 Als solche wird sie zunächst vorgestellt, vgl. WA 7, 49, 22-25.
26 Vgl. Maurer, a.a.O. S. 49, vgl.a. Kinder, a.a.O., Sp. 835, Jüngel, E., Zur Freiheit eines
Christenmenschen: Eine Erinnerung an Luthers Schrift, München 1978, S. 19, 75.
27 Vgl. Maurer, a.a.O., S. 50; es erscheint geradezu als Entsprechung göttlich:menschliche Natur
in der Person Christi = Geist:Fleisch in der menschlichen Person (vgl. Maurer, a.a.O. S. 56,
Jüngel, a.a.O., S. 103), wobei die mittleren beiden Teile in eins gesetz werden können (vgl.
Maurer, a.a.O., S. 43), so daß sich hier die Beziehung des Menschen zu Gott ausdrückt, ebenso
aber auch eine solche über den Geist in das Fleisch (vgl. Maurer, a.a.O., S. 63), die wesentliche
systematische Grundlage für die Wendung des inneren Menschen nach außen (vgl. Jüngel,
a.a.O., S. 80) im zweiten Teil des Tractates. Nur deshalb kann die reine Innerlichkeit und
Weltflucht überwunden werden, weil die Aufhebung der Trennung von Geist und Fleisch in Jesus
bereits prinzipiell durchgeführt ist (vgl. Maurer, a.a.O., S. 64, Jüngel, a.a.O., S. 90); in dieser
Dynamisierung und Aktivierung des Christusmysteriums (vgl. Maurer, a.a.O., S. 58) kann der
Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit allererst eine Auflösung finden (vgl. Maurer, a.a.O., S.
49).
28 Vgl. WA 7, 50, 5-6.
29 Vgl. Maurer, a.a.O., S. 59.
30 Vgl. Jüngel, a.a.O., S. 74/75.
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
sowohl Fleisch als auch Geist.31 Es handelt sich also nicht um die Trennung,
sondern gerade um die Zusammenlegung beider Naturen in eins,32 erst so ergibt
sich die für den Freiheitsbegriff konstitutive "Einheit in einem paradoxen
Zugleichsein logisch unvereinbarer Gegensätze",33 die aus der Mitteilung
göttlicher Gaben durch den Christus, der in beiderlei Natur ebensowohl als
Einheit gesehen werden muß, herrührt. Daher benimmt auch die Anwendung
des Platonisch-Augustinischen Wendegedankens,34 der die räumliche Trenung
bloß zur zeitlichen macht, der Paradoxie ebenso ihre Aussagekraft wie eine
Aufteilung in Daseinsweisen (die Teilung findet dann auf ontologischem Gebiet
statt)35, vielmehr ist an eine echte dynamische Dialektik zu denken.36
Von dieser anthropologischen Grundlage aus versteht es sich daher auch, daß
das Heil dem Menschen weder in dieser noch in jener Natur allein zukommen
kann, daß christliche Freiheit sich gerade in diesem Miteinander konstituiert.
Luther stellt aber hier zunächst noch nur fest, daß der Seele äußere Dinge, wie
sie die leibliche Natur betreffen, weder nützen noch schaden können, 37 gute
Werke scheiden mithin als Weg der Erlösung aus. Der Ort des Heils und der
Freiheit muß daher ein solcher sein, welcher dieselbe paradoxe Doppelseitigkeit
aufweist,38 das ist das Wort Gottes.39 Dieses ist, insofern es als Gesetz und
Evangelium getrennt ist, die Möglichkeit der Befreiung des gesamten Menschen,
da der ihm eigentümlichen Zweiheit angemessen, und ebenso, insofern Gesetz
und Evangelium auseinander zu verstehen sind, so eine Einheit bilden,40 deren
Realität.
Deshalb betont Luther, daß der Glaube allein zum Christen macht, der aus der
Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit durch das Gesetz an sich selbst
verzweifelt alle Hoffnung aus der Verheißung zieht,41 auf welche sicher
vertrauend der Mensch von aller Ungewißheit und dem lähmenden Druck, sich in
seinen Taten gerecht zu zeigen, entbunden ist.42 Diese Befreiung aber hat
wiederum zur Voraussetzung die Doppelnatur Christi,43 in der Gott eine
Verbindung mit dem Menschen eingeht und diesen nicht nur von der Last der
31
Vgl. Mokrosch, R., Luthers Anthropologie und Freiheitslehre - Auftakt zum neuzeitlichen
Subjektivismus?, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 64 (1975), 80-93, S. 89,
Jüngel, a.a.O., S. 76.
32 Vgl. Jüngel S. 108.
33 Vgl. Maurer S. 50.
34 Vgl. Jüngel S. 43, 85.
35 Vgl. Jüngel S. 83.
36 Es ist dies eine Art coincidentia oppositorum (vgl. Nikolaus v. Cusa, De Beryllo insbes. 9. 10
(S. 10-12) nd 19, 20 (S. 22-26)), eine Unterscheidung ist daher nur de ratione, nicht de re
möglich.
37 Vgl. WA 7, 50, 18-31.
38 Vgl. Mauerer S. 53.
39 Vgl. WA 7, 50, 38-51.
40 Vgl. Bayer, Zugesagte Freiheit S. 11.
41 Vgl. WA 7, 52, 4-7, 12-13, 20-21, 23-24.
42 Vgl. WA 7, 52, 37-53, 3.
43 Vgl. WA 7, 53, 28-31.
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Erbsünde befreit, sondern darüberhinaus mit den Gnadengaben heiligt, 44 so daß
für alle Zeit der Christ von der Last der Sündenbewältigung befreit 45 ein seliges
Leben führen kann; die beglückende Wirkung dieser gewonnenen Freiheit
beschreibt Luther in dem Bild der ´fröhlichen Hochzeit´;46 dieser erste und
fundamentale Aspekt des Lutherischen Freiheitsgedankens ist also durchaus als
konkret und das Leben des Christen bereicherndes, erfreuendes Ereignis
gefaßt.47
In Christus aber ist der Mensch nicht nur befreit von der Sündenschuld und dem
Zwang des gerechtmachenden Lebenswandels, sondern er hat auch Anteil an
den beiden Ämtern Christi, dem Königtum und Priestertum.48 Durch das
Königtum kann der Christ deshalb über alle Dinge frei verfügen; 49 daß dies
freilich mit Armut und Unterdrückung nicht im Widerspruch stehe, macht Luther
sogleich deutlich, indem er dieses Königtum als geistliche Herrschaft
charakterisiert.50 Durch die Teilhabe am Priestertum Christi wiederum kann der
Christ nunmehr frei und ohne Vermittlung des amtlichen Priesters in ein
persönliches Verhältnis zu Gott treten.51 Der zweite wesentliche Aspekt der
christlichen Freiheit bei Luther ist daher die Schaffung eines individuellen
Selbstbewußtseins,52 das den Menschen von aller weltlichen und kirchlichen
Bevormundung frei spricht. Daraus folgt die Notwendigkeit, gerade auch unter
diesem befreienden und zur Unabhängigkeit führenden Aspekt das Evangelium
zu verkünden.53 Luther betont, daß das so verkündete Wort fröhlich machen und
trösten soll,54 christliche Freiheit also ein in jeder Hinsicht emanzipierendes, auf
Selbstbewußtsein ausgerichtetes und daher vor allem erbauendes und
beglückendes Erlebnis darstellt.
2.1.2. Institutio und Loci communes
Die beiden grundsätzlichen Aspekte der christlichen Freiheit, wie sie sich bei
Luther darstellen, finden sich ebenso als die konstitutiven Momente des
Freiheitsbegriffs bei Calvin, jedoch ist deren Herleitung hier insgesamt
44
Vgl. WA 7, 52, 37-53, 3.
Ob nun von der Anrechnung der Sünde (vgl. 55, 10) oder der überhaupt ("donata aeterna
iustitia", vgl. 55, 19) scheint zunächst nicht gaz klar, letzteres ist wohl zu verstehen als Mitteilung
einer Qualität, die das weiterhin natüßrlich eintretende Vergehen hindert, zur Sünde, d.i.
verdammungswürdigen Tat zu werden.
46 Vgl. WA 7, 53, 26, 5, vgl. a. Maurer S. 37.
47 Vgl. Jüngel S. 76, 85, Bartsch S. 514, Maurer S. 55.
48 Vgl. WA 7, 56, 35-38.
49 Vgl. WA 7, 57, 3-6.
50 Vgl. "spirituali potentia", WA 7, 57, 14, "spirituale imperium", WA 7, 57, 19.
51 Vgl. WA 7, 57, 25-26, 30-32, vgl.a. Maurer S. 53f..
52 Vgl. Maurer S. 54, Jüngel S. 76, 109.
53 Vgl. WA 7, 58, 31-33 und 59, 4-6.
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systematisch weniger streng durchgeführt, anstelle dessen aber in ungleich
prägnanterer Weise bezeichnet und ausführlich dargestellt. Der verschiedenen
Absicht
einer
Gesamtdogmatik
gemäß
findensich
die
systematischen
Grundlagen des Kapitels zur christlichen Freiheit bereits im ersten Kapitel vom
Gesetz. Calvin zeigt bereits hier eine vom Lutherischen völlig verschiedene
Tendenz. So bildet zwar ebenso eine Anthropologie die Grundlage zur
Entfaltung einer Rechtfertigungslehre aus Gnade, jedoch fällt diese im
Gesamtduktus ganz anders aus als bei Luther. Anstelle der komplexen ZweiNaturenlehre hebt zwar auch Calvin auf die Erbsündenlehre ab,55 läßt sich aber
dann lediglich in scharfer Form über die grundsätzlich verdorbene Natur des
Menschen aus,56 daher wird im Gegensatz zu Luther, der bereits im
anthropologischen Ansatz den Menschen zum prinzipiell freiheitsfähigen erklärt,
hier zunächst auf die Fluchwürdigkeit des Menschen seiner eigentülichen Natur
nach eingegangen. Daher betont Calvin auch die Unfähigkeit des Menschen zur
Gesetzesleistung und den unfreien Willen weit mehr als Luther57 und führt diese
Überlegungen auf breitem Raume aus. Der Drohcharater des Gesetzes, auf den
Calvin insgesamt weit mehr Gewicht legt, erscheint in doppelter Form: als das
nagende Gewissen58 ebenso wie als geschreibenes Gesetz.59 So ergibt sich
anstelle des aus der Selbsterkenntnis der Sündhaftigkeit erwachsenden neuen
Selbstbewußtseins hier Selbstverleugnung in Begleitung von Demut und
Erniedrigung.60 Ebenso erscheint die bei Luther aus der Sündenvergebung
resultierende Zuversicht hier geradezu verkehrt als Vorbedingung. 61 Gegen
Luther betont Calvin darüberhinaus die Notwendigkeit der Selbstverachtung62
und führt den Gedanken der Moralität (im Kantischen Sinne), d.h. der Prüfung
der Gesinnungen durch Gott aus,63 so daß die aufbauende Zuwendung Gottes
zum Menschen bei Calvin vielmehr als clementia Caesaris erscheint. Im Hinblick
auf die Behandlung der für das christliche Leben relevanten Norm ist
insbesondere von Wichtigkeit, daß Calvin im Gegensatz zu Luther auf die
Heiligung besonderen Wert legt,64 die darüberhinaus aufgrund einer besonderen
Erwählungslehre65 nicht allen Menschen zuteil wird.
54
Vgl. "cuius enim cor, haec audiens non totis medullis gaudeat et tanto solatio accepto non
dulcescat in amorem Christi?", WA 7, 59, 7-8.
55 Vgl. 28 (38).
56 Vgl. 28/29 (38).
57 Vgl. 28 (38): "Quamquam etiam sic nati sumus, ut non sit nobis situm, quidquam agere quod
Deo acceptum esse possit."
58 Vgl. 29 (39): "concientia".
59 Vgl. 29 (39): "Dominus legem nobis scriptam posuit."
60 "Desperatio, humilitas, submissio", vgl. 30 (40), 31 (41).
61 Vgl. 30 (40): "Si certa fide ea amplectimur" ist Konditionalsatz.
62 Vgl. 52 (64), vgl.a. 42 (54).
63 Vgl. 41 (51), insbes. 42 (54), 43 (54), 46 (56).
64 Vgl. Göhler S. 104.
65 Vgl. 31 (41), 32 (42) "electos suos", vgl.a. 51 (63).
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
In der Tendenz ähnlich entwickelt Melanchthon weniger in noetischer Dichte als
in dianoetischer Diskursivität eine der Calvinischen weitgehend analoge
Rechtfertigungslehre. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Betonung des
unfreien Willens,66 der Erbsündenlast67 und der hier besonders klar ausgeführten
negativen Natur des Menschen als Fleisch68 sowie der Notwendigkeit der
Selbsterachtung,69 dagegen fällt der Charakter der Gewissensprüfung70 weit
weniger ins Gewicht. In der Betonung der Unfähigkeit des Menschen jedoch geht
Melanchthon über Calvin noch hinaus, indem das Gesetz nicht nur obwohl von
Gott befohlen unerfüllbar bleit, sondern gerade weil Gott seine Erfüllung fordert.71
In den Aspekten der christlichen Freiheit kommt Melanchthon über Luther nicht
wesentlich hinaus; neben der Freiheit vom Gesetz in Hinsicht auf die
Rechtfertigung, die aber nur wenig ausgeführt ist,72 stellt er vor allem die
Unrechtmäßigkeit
der
Inkompetenz
Priester,
der
weltlichen
der
Gesetzgebung
Konzilien
und
der
der
Kirche73
gesamten
und
die
Kirche,74
Entscheidungen in Glaubensfragen zu treffen,75 heraus. Autorität kann
diesbezüglich nur die heilige Schrift sein,76 die Erörterung der Ungültigkeit
weltlicher Gesetzgebung, sofern sie sich gegen den Glauben richtet,77 hält sich
hingegen im Rahmen des allgemeinen reformatorischen Denkens. Im ganzen
erscheinen die bei Luther aus einem komplexen Gedanken entwickelten
Momente der Freiheit hier eher als angehängte Resultate theoretischer
Betrachtungen, die insbesondere in der Behandlung des Gesetzes auführlich
auseinandergelegt werden; die Behandlung der befreienden Aspekte ist daher
bei Melanchthon wenig intensiv oder gar emphatisch.
Calvin dagtegen entwickelt in einem eigenen Kapitel zum Ende der Institutio eine
ausführliche Freiheitslehre, deren erste Komponente die Erhebung über das
Gesetz,78 mithin die Aufgabe aller Selbstgerechtigkeit darstellt. Im Vergleich mit
Luther und Melanchthon besonders pointiert und zu einem eigenen dritten
Moment der Freiheit erhoben findet sich hier eine Lehre von den αδιάφορα,79
Calvin hebt mehrfach ausdrücklich die Bedeutung des freien Umgangs mit den
66
Vgl. CR 21, 6a 1,2 (86): "receptum est impium de libero arbitrio dogma."
Vgl. CR 21, 13b 18-22 (97), 14b 15-17 (98).
68 Vgl. CR 21, 20a 14-17 (104).
69 Vgl. CR 21, 14a 18-25 (98), 38b 15 (122).
70 Vgl. CR 21, 18b 4-8 (102).
71 Vgl. CR 21, 28a 15-17 (112).
72 Vgl. CR 21, 107a 3-5 (193): "libertas conscientiae".
73 Vgl. CR 21, 46a 2-6 (130), 46a 11-14 (131).
74 Vgl. CR 21, 47a 3-7 (131).
75 Vgl. CR 21, 46a 15-17 (131).
76 Vgl. CR 21, 46a 18-20 (131), 46b 8-10 (131), 45b 13-16 (130).
77 Vgl. CR 21, 47a 2-3 (132).
78 Vgl. 196 (224).
79 Bei Calvin in adjektivischer Form, sonst res mediae, vgl. 203 (231).
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Dingen hervor,80 insofern aus dem beständigen Zweifel im Verhältnis zu an sich
gleichgültigen Dingen leicht eine Verwirrung im Glauben entstehen könne.81 So
erfolgt hier auch aus anderer Richtung eine Verwerfung katholischer Kultregeln,
wo bei Luther und Melanchthon dies mehr als unbillige Bevormundung gesehen
wird, kommt dieser Frage bei Calvin inhaltliche Relevanz zu. Er wendet sich
deshalb entschieden gegen den Aberglauben der Kultverbundenheit,82 rät aber
ebenso auch vom Geiz83 und von der Verschwendung84 ab. Von Bedeutung ist
jedoch grundsätzlich nicht der Gebrauch der Dinge selbst, sondern die Haltung
der Seele zu diesen Dingen, die sind allein, wenn sie auch als unterschiedslose
gebraucht werden, wirklich gleichgültig, d.h. für jenen, der darn seine Seele nicht
hängt.85 Die Haltung Calvin erinnert in dieser Forderung nach der nüchternen
Seele an die Vorstellung der stoischen αταραξία. Im Umgang mit diesen
gleichgültigen Dingen ist aber weiter sorgfältig darauf zu achten, daß man
denen, die im Glauben weniger gefestigt noch an den kultischen Vorschriften der
römischen Kirche hängen, kein Ärgernis bereitet und so diese etwa durch ein
provokantes
Auftreten
´schwachen
Brüdern´87
in
Glaubenszweifel
gegenüber
stürzt.86
Rücksicht
Wo
geboten
allerdings
ist,
gilt
den
der
abergläubischen Rechthaberei der Kulteiferer (Pharisäer) gegenüber jede
Provokation als erlaubt.88 Freilich legt Calvin Wert darauf, daß diese Freiheit,
daher auch die Rücksichtnahme auf andere lediglich bei den unterschiedslosen
Dingen gestattet sei,89 in glaubensrelevanten Fragen darf es dagegen keine
Kompromisse geben.
Unterschiedlicher Meinung sind im Bereich der res mediae Calvin und
Melanchthon in der Frage der Ehe: während jener sich heftig gegen die sinnlose
Forderung nach Ehelosigkeit wendet und es als geradezu geboten ansieht, auch
hier die natürlichen Gaben Gottes frei zu gebrauchen,90 rät Melanchthon
vorsichtig zur Beibehaltung des jeweiligen Standes.91
In Hinsicht auf Kirche und Staat unterscheidet Calvin streng zwischen
politischem und geistlichem Regiment,92 daher wendet er sich wenn auch
vorsichtig gegen die Vermischung kirchlicher und weltlicher Macht,93 wo beides
von derselben Person ausgeübt wird, geht dies jederzeit zu Lasten einer
80
Vgl. 198-200 (226-229).
Vgl. 198f. (226f.).
82 Vgl. 199 (227): "superstiosa opinio".
83 Vgl. 198f. (226f.).
84 Vgl. 200 (229).
85 Vgl. 200 (228): "modo iis indifferenter quis utatur".
86 Vgl. 201 (229).
87 Vgl. 201 (229): "infirmi frates".
88 Vgl. 202 (230).
89 Vgl. 203 (231).
90 Vgl. 39 (50)
91 Vgl. CR 21, 42a 12-14 (126).
92 Vgl. 204 (232).
93 Vgl. 204 (232f.).
81
© Stephan Sturm 1990
9
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
angemessenen Führung der kirchlichen Ämter. Calvin verwirft entschieden jede
Art kirchlicher Gewalt94 und läßt lediglich eine Vollmacht, sofern und solange sie
legitim und in aufbauender Weise gebraucht ist,95 bestehen. In diesem Sinne ist
es notwendig, daß die Amtsträger sich verstehen als Diener Christi, 96 die an
einen bestimmten Auftrag gebunden eine Würde nur in diesem Amt, nicht aber
als Person haben.97 Weil die heilige Schrift die einzige und vollständige
Grundlage des Glaubens ist, darf es auch keinerlei darüber hinausgehende
Lehre geben,98 so daß der Christ an kirchliche Dogmen prinzipiell nicht gebunden
ist, sofern diese als in der Bibel nicht gegründete bloße Willkür sind.
Besonderes Gewicht legt Calvin immer wieder darauf, daß die in Christus
gewonnene Freiheit vom Gesetz im Hinblick auf die Erlösung in keiner Weise
von der Kirche begrenzt werden darf.99 Deshalb dürfen die Gewissen nicht an
Kirchenordnungen gebunden werden, denn bloß äußerliche Riten oder
Satzungen können nicht den Anspruch erheben, heilsrelevante Mysterien zu
sein. Dies würde nicht nur den Christen der gottgegebenen Freiheit berauben, 100
sondern überdies das göttliche Gesetz des Dekalogs ungültig machen.101 Es ist
deshalb auch unwesentlich, lehrt Calvin, welche Stunden und Orte für Gebete
und Gottesdienste festgelegt werden, allerdings ist es zur Organisation des
Gemeindewesens notwendig, überhaupt derlei Regelungen zu treffen.102
Entgegen der vorsichtigen Haltung Luthers erklärt sich Calvin dafür, Zeremonien,
die sich im Aberglauben des Volkdes festgesetzt haben und so leicht zu diesem
zurückführen könnte, ganz zu entfernen.103
Ebenso wie Luther lehrt auch Calvin ein individuelles und unmittelbares
Verhältnis des Christen zu Gott: Alle Verheißung, die der Kirche gegeben ist, gilt
daher auch dem einzelnen Christen.104 Er entwickelt aber anders als Luther und
Melanchthon darüberhinaus eine besondere Lehre zum Kirchenbegriff. Unter
Kirche im eigentlichen Sinn versteht er das Reich Christi und die Gemeinschaft
der gläubigen Christen,105 während die äußerliche Institution der Kirche allein
diesen Namen trägt. So wird Kirche auch keineswegs durch die ohnehin
widersprüchlichen
Konzilien repräsentiert.106 Besonders scharf wendet sich
94
Vgl. 205 (234): "potestas".
Vgl. 205 (234), der Begriff ´Vollmacht´ kommt lediglich in der Übersetzung vor, im lateinischen
Text ist implizit weiter von ´potestas´ die Rede.
96 Vgl. 205 (234): "ministri Christi et dispensatores mysteriorum Dei".
97 Vgl. 205f. (234).
98 Vgl. 207 (236), 208 (236f.).
99 Vgl. 209 (238).
100 Vgl. 223 (253).
101 Vgl. 224 (254).
102 Vgl. 227 (257).
103 Vgl. 228 (258).
104 Vgl. 213 (242).
105 Vgl. 215 (244).
106 Vgl. 217 (246).
95
© Stephan Sturm 1990
10
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Calvin deshalb gegen die Überheblichkeit des Unfehlbarkeitsdogmas.107 Da also
der Kirche als Instituion keine besondere Würde zukommt, muß auch die
Kirchenpracht und aller Versuch, die Autorität der Kirche nach außen deutlich zu
machen, abgelehnt werden.108
Was die Haltung der weltlichen Obrigkeit gegenüber angeht, betont die Institutio
energisch, daß die Freiheit des Christen eine nur geistliche sei, mithin als
politische keinesfalls mißzuverstehen sei.109 Lediglich sofern die Befehle der
Regierungen in heilsrelevanten Fragen wider den Glauben stehen, ist der Christ
an jene nicht gebunden.110 Ansonsten ist die staatliche Gewalt nach Calvin nicht
etwa eine profane Angelegenheit,111 sondern alle Obrigkeit sei von Gott, schreibt
Calvin, und mit göttlicher Autorität ausgestattet,112 ja, die weltlichen Regenten
stellten sogar die Person Gottes selbst vor,113 denn das Wirken der Obrigkeit
diene der göttlichen Gerechtigkeit.114 Deshalb hält Calvin auch dafür, jede
verschiedene
Verfassung
als
je
nach
dem
Willen
Gottes
gesetzte
anzunehmen.115 Aus dem besonderen Ansehen ihres Amtes soll nun wiederum
den Regenten die Pflicht erwachsen, das allgemeinne Wohl zu fördern, sich
gegen das Volk aber milde zu zeigen;116 in diesem Geschäft dürfen, fordert
Calvin, die Herrschenden sich nicht dazu hinreißen lassen, ihrem persönlichen
Vorteil oder ihren Begierden nachzugehen,117 daher auch nicht leichtfertig den
Krieg riskieren.118
Es begründet aber das Fehlen der rechten Eigenschaften des Fürsten und
unangemessene Regierungsführung selbst, wenn die Gottlosigkeit offenkundig
ist, in keinem Falle ein Widerstandsrecht, da selbst die Tyrannenherrschaft als
gottgewollt angesehen werden muß.119 Überhaupt kommt es Privatleuten nach
Ansicht Calvins nicht zu, sich in Staatsangelegenheiten zu mischen,120 solches
kann allenfalls der Ständeversammlung angemessen sein.
2.2. Der Christ als dienstbarer Knecht
2.2.1 Tractatus de libertate Christiana, zweiter Teil
107
Vgl. 210 (239).
Vgl. 221 (251).
109 Vgl. 228 (258f.).
110 Vgl. 248 (279).
111 Vgl. 229 (259).
112 Vgl. 230 (260f.), 231 (262).
113 Vgl. 230 (261): "omnino Dei personam sustinere".
114 Vgl. 231 (261): "divinae iustitiae ministros".
115 Vgl. 233 (263), insbes. 238 (269).
116 Vgl. 231 (261).
117 Vgl. 235 (266).
118 Vgl. 236 (266).
119 Vgl. 243 (275), 244 (275).
120 Vgl. 243 (274).
108
© Stephan Sturm 1990
11
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Die aus der christlichen Freiheit erwachsende Verpflichtung, die in Christus
gewonnene Freiheit nicht als bloß passive verkümmern zu lassen,121 sondern
nunmehr zu verteidigen und aktiv zu gestalten, zeigt sich für Luther einerseits im
Verhältnis zum Körper und andererseits im Verhalten zum Nächsten. Dabei wird
zunächst herausgestellt, daß Freiheit für den Menschen, da er nicht reine
Seele,122 sondern eine Einheit von Körper und Seele darstellt,123 nicht als
comtemplative, als abstrakte Allgemeinheit aufgefaßt werden kann; denn eine
solche würde der reinen Seele eignen, so aber muß die abstrakte Freiheit
bezogen und vermittelt werden.124 Insofern also der Christ niemals vollkommen
gerecht ist, sondern immer auch Sünder,125 gilt es zunächst die Freiheit
gegenüber den Ansprüchen des alten Menschen im Leib zu verteidigen. 126
Deshalb kann die Freiheit sich nur dann bewähren, wenn durch beständige
Übung der Leib mit der Seele in Einklang gebracht wird.127 Es ist dabei entgegen
Maurer128 nicht an die Platonische Herrschaft der Seele über den Leib zu denken,
vielmehr
stellt
sich
Auseinandersetzung
der
zweier
zu
bewältigende
den
gesamten
Konflikt
als
Menschen
eine
tätige
betreffenden
Daseinsmöglichkeiten dar, immer wieder erneut muß der Streit gegen die unfreie
Willkür estanden, der Verfallenheit geweht,129 das Dasein erneut in die Welt
ausgelegt130 und von der Getriebenheit und Manipulation der Leidenschaft
emanzipiert werden. Dabei muß aber behalten werden, und Luther betont dies
mehrfach, daß diese Übung nicht um der Rechtfertigung willen geschieht, 131
sondern allein Gott zu Gefallen,132 d.h. die prinzipiell unverlierbare potentielle
Freiheit nun auch im Sinne des Gebers Früchte tragen zu lassen, ihres
eigentlichen Inhaltes nicht zu berauben, sondern zur aktuellen zu erheben und
so erst eigentlich zu entfalten. Luther zeigt diesim Bild des durch den Glauben
in´s Paradies zurückversetzten Menschens,133 der nunmehr von dem Zwang,
seine Erlösung zu erwirtschaften, frei ist, sich unbesorgt ganz dem Streben nach
einem gottgefälligen Leben widmen kann. Hier zeigt sich, daß Luther auch diese
Bewährungsaufgabe als eine die Selbstbewußtheit des Menschen befördernde
121
Vgl. Jüngel S. 99: "Als ein solcher Mensch wäre er im negativen Sinne ein Knecht aller Dinge,
weil er gerade nicht von der Freiheit des inneren Menschen, aus sich herauszugehen, Gebrauch
macht."
122 Vgl. WA 7, 59, 28-30.
123 Vgl. Mokrosch S. 89, Maurer S. 59, 61.
124 Vgl. WA 7, 60, 1-6.
125 Vgl. Ebeling Sp. 501.
126 Vgl. WA 7, 60, 10-13.
127 Vgl. WA 7, 60, 25-27; es ist hier aber an keine Askese zu denken, Luther lehrt das Maßhalten
in der Leibeszucht (vgl. WA 7, 60, 30-33; vgl.a. Maurer S. 62).
128 Vgl. Maurer S. 59.
129 Vgl. Lohff S. 82.
130 In einem durchaus Heideggerschen Sinn, vgl. Heidegger, Sein und Zeit S. 145, 148, 126-30.
131 Vgl. WA 7, 60, 33-38.
132 Vgl. WA 7, 61, 15, vgl.a. Maurer S. 45.
133 Vgl. WA 7, 61, 13.
© Stephan Sturm 1990
12
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
und zur Eigenverantwortlichkeit allererst befähigende, mithin erhebende,
aufbauende Erfahrung versteht.134
Dabei ist für Luther wesentlich die Einsicht, daß die Person eine Einheit mit ihrer
Tätigkeit darstellt,135 diese kann von jener nicht abgesondert werden, der
gläubige Christ ist daher in der Lage, aus seinem Wesen spontan angemessene
Aktivität ausfließen zu lassen,136 die ethische Pflicht stellt sich so für den
befreiten Menschen nicht als Aufopferungspflicht und Normerfüllung, 137 sondern
als Aufgabe der Persönlichkeitsbildung dar, es geht eben gerade nicht darum,
sich ein gottgefälliges Werk abzuringen, sondern darum, eine Einheitlichkeit der
Person zu schaffen, in der die äußere Handlung mit der Person in einer
Übereinstimmung steht, die eine besondere Willensanstrengung unnötig macht.
Es muß nun aber, dies ist das zweite Verhältnis der Freiheit zu und in der
Wirklichkeit, berücksichtigt werden, daß die Person icht nur durch Körper und
Seele, sondern auch in seinem sozialen Kontakt, dem Zusammenleben mit
anderen Menschen bestimmt ist.138 Daher kann die Gerechtigkeit des Menschen
nie eine individuelle einer ´schönen Seele´ sein, Freiheit und Gerechtigkeit
müssen sich gerade auch im ethisch verantwortlichen Umgang mit den
Mitmenschen bewähren. Die angemessene Weise des Umgangs kann deshalb
nicht aus einem kategorischen Kodex ethischer Normen bestimmt werden,
sondern muß aus der konkreten Not des Nächsten definiert werden.139 Hier kann
sich der Christ wiederum frei von der Notwendigkeit, ein Verdienst zu erwerben,
Jesus zum Vorbild nehmend140 von aller eigensüchtigen Berechnung der eigenen
Werthaftigkeit absehend den Blick getrost von dem richtenden Gott auf seine
Umwelt lenken und echte Mitmenschlichkeit üben. Hier ist noch über den ersten
Schritt im Verhältnis zum Körper hinausgehend nicht nur der schiefe Blick auf die
Glückseligkeit, sondern ebenso der Egoismus, derselben würdig zu werden (im
Sinne Kants), überwunden, hier geht deshalb der Glaube mit "Lust und Liebe"
ans Werk.141
134
Vgl. Jüngel S. 109, Mehl S. 514, vgl.a. Mokrosch S. 89, insbes. aber Maurer S. 38, 55.
Vgl. WA 7, 61, 26-30; vgl.a. Jüngel S. 108, er verteidigt zu Recht diese Einheit gegen die
Kritik Marcuses (vgl. S. 62); vgl.a. Mokrosch S. 88, Maurer S. 57.
136 Spontan will hier mehr als nur ´freiwillig´ heißen, vielmehr soll die innere Dynamik, mit der
notwendig aus dem Glauben gute Werke kommen, darin bezeichnet sein, vgl. WA 7, 62, 6-7;
vgl.a. Kinder Sp. 835, Mehl S. 515, Bayer, Gesetz und Evangelium S. 169.
137 Das Gesetz als solches verliert für den Christen die Bedeutung, statt dessen wirkt in ihm das
Gewissen, vgl. Ebeling S. 515; Luther hat im Gegensatz zu Calvin keinen tertius usus legis, vgl.
Mehl S. 513, Bayer, Gesetz und Evangelium S. 168f..
138 Vgl. Wa 7, 64, 15-17; vgl.a. Jüngel S. 108, Mokrosch S. 88f..
139 Vgl. Wa 7, 66, 4-6; 64, 26-27; vgl.a. Ebeling S. 507, Bayer, Zugesagte Freiheit S. 102.
140 Vgl. WA 7, 65, 10.
141 Vgl. WA 7, 34, 31-32; 64, 34-37; vgl.a. Ebeling Sp. 507, Mehl S. 514; vgl.a. das Bild vom
fröhlichen Wechsel bei Maurer S. 55, 36, 38, 63.
135
© Stephan Sturm 1990
13
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
2.2.2 Institutio142
Ganz anders ist die Stimmung bei Calvin, der insgesamt weit mehr als Moralist
erscheint als Luther.143 Sogleich zu Beginn des Kapitels über die chrisltiche
Freiheit wird betont, daß die Freiheit vom Gesetz keineswegs zu verstehen sei in
dem Sinne, daß dieses in seiner imperativen Geltung aufgehört habe, für den
Gläubigen zur wesentlichen Grundlage seiner Lebensgestaltung zu dienen.144
Zwar wird immer wieder hervorgehoben, daß die guten Werke kein heil erwirken
können, jedoch findet bei Calvin, da er zwischen Rechtfertigung und Heiligung
stark unterscheidet,145 eine Verschiebung zugunsten der Heiligung statt,146 die für
das christliche Leben weniger das befreiende Moment der Sündenvergebung
relevant werden läßt als vielmehr den Sinn und Zweck der gewonnenen Freiheit
gerade im strikten Gehorsam gegen den Willen Gottes, mithin in der Befolgung
des Gesetzes sieht.147
Deshalb lehrt Calvin einen dreifachen Gebrauch des
Gesetzes, wobei dieses im besonders hervorgehobenen tertius usus 148 gerade
auch für die Gläubigen seinen normativen Charakter behält,149 die guten Werke
sind also zwar auch in freiwilligem Gehorsam erbracht, nicht aber wie bei
Luther150 natürliche Folge des in die Freiheit gesetzten neuen Menschen,
sondern müssen in einem lebenslangen Kampf stetig neu abgerungen werden. 151
Das gesamte christliche Leben soll nach Calvin ein Dienst am Willen Gottes
sein, in dessen Anspruch und Besitz152 der Mensch gerade erst durch die
Annahme in der Sündenvergebung gelangt.153
So geht für Calvin zunächst die bei Luther aufgewiesene Vereinheitlichung der
Gesamtperson in Leib und Seele obschon thematisch behauptet zugunsten
moralisierender Appelle verloren, hier findet vielmehr eine besondere Trennung
statt,154 die es erlaubt, zur beständigen Abtötung des Fleisches und
142
Auf eine besondere Behandlung der Loci communes kann hier verzichtet werden, denn
Melanchthon nimmt hierin keine eindeutige Stellung ein, insgesamt neigt er mehr zu Luther, ohne
jedoch dessen gedankliche Tiefe zu errreichen, es finden sich aber auch Übereinstimmungen mit
Calvin in Punkten, die diesen von Luther trennen.
143 Vgl. Mehl S. 516, Niesel S. 88.
144 Vgl. 196 (223f.), 200 (228).
145 Vgl. Nijenhuis S. 583, Göhler S. 89, dagegen Kinder Sp. 837, ebenso trennt auch
Melanchthon, vgl. CR 21, 72b, 12-15 (159); vgl.a. Kinder Sp. 836.
146 Vgl. Göhler S. 104.
147 Vgl. 198 (226).
148 Vgl. 43 (54f.), 49-51 (61f.), vgl.a. Weber Sp. 1595, Nijenhuis S. 584, Hermann Sp. 842,
Dankbaar S. 200, Göhler S. 117; dagegen betont Melanchthon den ersten, vgl. CR 21, 66b, 1822 (152).
149 Vgl. 31f. (42), 237 (268), vgl.a. Göhler S. 61, 117; Sünde wird hier nicht wie bei Luther als
Vertrauensbruch, sondern als Auflehnung gegen die Autorität Gottes gesehen, vgl. Göhler S. 65.
150 Ebenso bei Melanchthon, vgl. CR 21, 93a 17-21.
151 Vgl. Dankbaar S. 199, Göhler S. 47, 48, 99.
152 Vgl. Niesel S. 87, Göhler S. 11, 12, 15.
153 Vgl. Hauck S. 99.
154 Vgl. 228 (258), vglo.a. Göhler S. 33, bei MelanchthonCR 21, 117a 5-6, 11a 14-20 (104; die
Tendenz geht jedoch bei ihm eher zur ganzheitlichen Sicht Luthers.
© Stephan Sturm 1990
14
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Unterdrückung des natürlichen Antriebes aufzurufen,155 so daß sich eine
ausgeprägte Abwertung alles Irdischen ergibt.156 Ohnehin besteht der Gehorsam
gegenüber Gott insbesondere in der Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, in
Selbstverachtung und Selbstverleugnung;157 Calvin ist hier also dem Streben
Luthers, die Persönlichkeit und das Bewußtsein zu stärken, in der fortwährenden
Forderung nach Demütigung und Erniedrigung158 ganz entgegengesetzt.159
Ebenso ist die Stimmung, in der sich die neue Freiheit entfaltet, von der
Lutherischen völlig verschieden, war dort die Folge der Annahme durch Gott
Freude und Erbauung, so sieht Calvin im christlichen Leben vielmehr den
Aspekt des Leidens und der Qual, wesentliches Moment des rechtschaffenen
Lebens ist daher neben der Selbstverleugnung das Tragen des Kreuzes. 160 Zwar
soll auch hier der Gehorsam ein freiwilliger und freudiger sein, jedoch erscheint
die Freude hier nicht als beglückende Erfahrung, sondern als Imperativ, 161 denn
nicht allein die Leistung des von Gott Gebotenen ist gefordert, sondern eine
völlige Anpassung des Willens,162 deshalb zerbricht Gott den Widerstand des
Menschen gegen seinen Willen und bringt ihn zum Gehorsam, indem er Unglück
und Leid schickt,163 die in der Lehre der gnadenhaften Sündenvergebung
überwundene Vorstellung von Gott als Rächer und Strafer kommt daher hier
wiederum voll zur Geltung.164 Ebenso verliert sich der dort gewonnene Aspekt
der Heilsgewißheit, indem zwar nicht die Leistung als solche vor Gottes Augen
gerecht ist, wohl aber der Gehorsam und das Bemühen der Menschen, 165 die im
stets unvollkommenen
Streben des Menschen, das als Ziel jedoch weiterhin die prinzipiell nach wie vor
geforderte Perfektion hat,166 eher zu Zweifel als zu Sicherheit Anlaß geben.167
Eine Restauration der Werkgerechtigkeit findet überdies letztlich dort statt, wo
bei Calvin nicht nur eine Rechtfertigung der Person, sondern davon gesondert
eine solche der Werke stattfindet,168 die prinzipielle Einheit von Werk und Person
ist hier bereits aufgegeben, und Calvin nähert sich zumindest der scholastischen
155
Vgl. 36 (47), 39 (50), vgl.a. Göhler S. 47.
Vgl. Niesel S. 137, Göhler S. 12.
157 Vgl. 42 (53), 52 (64), 197 /225), vgl.a. Niesel S. 87, 136, Göhler S. 71, 36.
158 Vgl. 30 (40), 45 (56), 48 (60), 49 (61), 54 (67), vgl.a. Göhler S. 22.
159 Vgl. Hauck S. 101, Göhler S. 11, 15 (von einer Aufgabe persönlicher Besitztstände, wie dieser
meint, kann jedoch keine Rede sein, hier herrscht vielemehr in der Tendenz ein Stoizismus des
bloß geistigen Abstandes vor).
160 Vgl. 52 (64), 241 (272), 246 (278), 248 (280), vgl.a. Niesei S. 136, Göhler S. 36.
161 Vgl. 42 (54), 46 (57), 197 (225), vgl.a. Göhler S. 15, 15, Niesel S. 92.
162 Vgl. 33 (97), 42 (54), 46 (57).
163 Vgl. 52 (64), 55 (67), vgl.a. Niesel S. 138, Göhler S. 35.
164 Vgl. 34 (44), 35 (46), 40 (50/51).
165 Der Glaube muß sich bezeugen, vgl. 53/54 (60), 198 (226), vgl.a. Dankbaar S. 205.
166 Vgl. Göhler S. 55.
167 Vgl. Ratschow Sp. 486.
168 Vgl. Weber Sp. 1596, Kinder Sp. 837, Dankbaar S. 119, Göhler S. 93.
156
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15
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Vorstellung vom 'meritum de congruo',169 wenn auch er von einem wenn auch
unverdienten Lohn der Gerechtigkeit spricht.170 Besonders deutlich aber zeigt
sich dies in Calvins entschiedener Tendenz zum Syllogismus practicus,171 zwar
sind gute Werke nicht der Realgrund, wohl aber der Erkenntnisgrund 172 der
eigenen Heiligung ebenso wie der anderer,173 so daß auf diesem Umwege auch
wieder eine Scheidung der wahren Christen von den Nichtchristen nicht nur
möglich, sondern auch von der Kirche vollziehbar wird. So ergibt sich in der
Verbindung des Syllogismus practicus mit der von Calvin vertretenen
Erwählungslehre174 auch wiederum eine besondere Stärkung der Autorität der
Kirche, welche letztlich durch den Ausschluß aus der Gemeinschaft entgegen
der ursprünglichen systematischen Abgrenzung unwillkürlich erneut zum
Gesetzgeber und Bezwinger, zum Heilsvermittler für die Christen wird.175
Calvin wird auf diese Weise durch den Theozentrismus seiner Ethik,176 die
grundlegend negative Anthropologie177 und den unbedingten Wunsch, den Willen
Gottes im Irdischen zu verwirklichen,178 wenn auch nur implizit gezwungen, eine
Reihe
ursprünglich
programmatischer
Forderungen
der
Reformation
preiszugeben.
Daher gelingt es im Verhältnis zum Nächsten, das bei Luther den größeren und
wesentlichen Teil der Frucht der von Gott geschenkten Freiheit darstellt, Calvin
nicht, zu einem eigentlich positiven Freiheitsbegriff zu gelangen, Nächstenliebe
bleibt eine geforderte Einschränkung der eigenen Freiheit zugunsten des
Mitmenschen,179 nicht aber um seinetwillen, sondern um der Erfüllung göttlicher
Gebote willen,180 d.h. um des Erweises der eigenen Heiligkeit willen. Ein echtes
Miteinander des an der Not des Anderen orientierten verantwortlichen Handelns
der prinzipiell einander in der gemeinsamen Freiheit zugeneigten Christen, wie
sich dies bei Luther zeigte, findet hier also keine Realität, die Ethik Calvins bleibt
aber damit letztlich im stoizistischen Individualismus und den kategorischen
Imperativen einer Gesinnungsethik181 stecken.
169
Bei A.v. Haies vgl. Joest Sp. 831, bei Calvin vgl. 55 (67), angedeutet ist dies auch bei
Melanchthon, vgl. CR 21, 92a 16 - 20 (179).
170 Vgl. Göhler S. 97
171 Vgl. 52 (64), 75 (89), vgl.a. Nijenhuis S. 584, Kinder Sp. 837, Kahler Sp. 486, Göhler S.
100; vgl. bei Melanchthon CR 21, 95a 16 - 18 (182).
172 Vgl. Hauck S. 100, im Calvinismus finde gar ein Rückschluß aus dem Lebenserfolg statt,
vgl. S. 106, vgl.a. Göhler S. 74.
173 Vgl. Göhler S. 101, 103.
174 Vgl. 31 (41), 32 (42), 51 (63), 73 (86), Andeutungen finden sich auch bei Melanchthon, vgl.
CR 21, 101b 2-5 (188).
175 Vgl. 75/76 (89), 76/77 (90), vgl.a. Göhler S. 19, 127
176 Vgl. 49 (61), vgl.a. Hauck S. 106, Göhler S. 16.
177 Diese findet sich auch bei Melanchthon, vgl. CR 21, 17a 10-12 (101).
178 Vgl. Hauck S. 96.
179 Vgl. 227 (257).
180 Vgl. 31 (41); die Gebote der zweiten Tafel sind solche "quae propter Deum [!] proximo
praestanda sunt".
181 Vgl. 41 (52), vgl.a. Göhler S. 50.
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16
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Es kann also, wie sich gezeigt „hat, keine Rede davon sein, Luther und Calvin
seien hier etwa bei grundsätzlicher Übereinstimmung182 nur nuancenhaft
voneinander verschieden,183 hier findet keine Akzentverschiebung statt,184 im
Verständnis der christlichen Freiheit liegt bei Luther und Calvin ein im Ansatz
völlig anderes Konzept zugrunde; die Ausführungen der beiden Reformatoren
sind einander nicht nur in der Betonung unähnlich, sondern geradezu
entgegengesetzt.
2.3. Rekurs: Platon -Luther- Hegel
Es hatte sich anfangs gezeigt, daß in der Reformation Gott aus der
Unmittelbarkeit des Zusammenseins mit dem Menschen herausgelöst, seiner
anthropomorphen Vorstellung, seiner Endlichkeit entledigt wird, transzendiert
wird. Diese abstrakte Trennung zeigt sich in ihrer vollen formalen Begrenzung
bei Calvin; die menschliche Vernunft, der menschliche Wille, die Realität des
Menschen in der Welt treten hier in ihrer absoluten Negation auf.185 Der
Theozentrismus seiner Ethik, die Charakterisierung der Kirche als Gesellschaft
der Erwählten, die Forderungen nach Selbstverleugnung und Selbstverachtung
verlegen die Wirklichkeit der Religion trotz bzw. gerade aufgrund der Forderung
nach Erfüllung des göttlichen Willens in der Welt in's Jenseits, die
Transzendierung Gottes vernichtet hier also den Menschen, hebt ihn dabei
zugleiafch
als
Geist
(im
reformatorischen
Sinne)
aus
der
Welt
heraus,transzendiert den Christen zur reinen Gesinnung.186 In ethischer Hinsicht
ist daher die Folge die selbstvergessene Individualität, die im beständigen Blick
auf den transzendenten Gott allein Bestand hat und sich deshalb im Handeln
kategorisch moralisch erweist.
In dieser Entzweiung mit Gott kann deshalb der Mensch nicht verbleiben, der
Widerspruch des Begriffes von Gott einerseits und der menschlichen Natur
andererseits muß aufgehoben werden. Diese Aufhebung ist wiederum bei Calvin
eine bloß abstrakte; in Christus ist zwar der Mensch mit Gott versöhnt, daher frei
vom Gesetz, jedoch ist dies hier nur in der Vorstellung, die in der moralischen
Absicht Calvins, in der Pointierung des tertius usus legis gehindert ist,
Wirklichkeit zu werden.
Diese Versöhnung wird dagegen bei Luther konkret, hier kommt Gott aus der
abstrakten Trennung vom Menschen heraus, entäußert nicht diesen seiner
182
Vgl. Mehl S. 516, vgl.a. Dankbaar S. 186.
Vgl. Mehl S. 516.
184 Vgl. Kinder Sp. 837.
185 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II S. 230/31.
186 Vgl. a.a.O. S. 336, insbes. aber S. 326/27.
183
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17
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
menschlichen Natur, sondern wird mit seinem Willen vereinigt, vermittelt 187 zur
konkreten Idee;188 der Begriff Gottes kann so erst zur Wirklichkeit, zum Geist
werden (im Hegeischen Sinne). Gott gibt daher dem Menschen bei Luther nicht
nur in der Rechtfertigung die Freiheit vom Zweifel am Heil, sondern gibt ihn
gerade in seiner Annahme an die Welt wieder zurück; christliche Freiheit kann
deshalb hier nie Freiheit von der Welt, sondern immer nur Freiheit für die Welt
bedeuten. Luther negiert daher auch nicht den Willen des Menschen, sondern
setzt die vernünftige Verantwortung des Menschen allererst wieder frei. Nur
deshalb gelingt es Luther, die Gemeinschaft der Christen nicht allein im Jenseits,
sondern auch im Diesseits zu finden. So ist hier Gott nicht nur mit dem Willen
des Menschen, sondern ebenso mit seiner Natur als ζώον πολιτικόν versöhnt.
Es zeigt sich also nun, daß Luther auf vielfache Weise auf die anfangs als
Gegensatz beschriebene antike Vorstellung von Freiheit zurückkommt, nur daß
diese nicht mehr im ursprünglichen Unmittelbaren, sondern im vermittelnden
Denken erscheint:
1. Weil die Trennung von Leib und Seele aufgehoben ist, der Mensch nicht
mehr primär im λογιστικόν sein Wesen hat, sondern in einem alle Vermögen
verbindenden θυμοειδές (hier besonders ist der Mensch nicht nur mit Gott,
sondern
auch
mit
sich
selbst
versöhnt),
erscheint
der
ethische
Intellektualismus der Griechen als die Fähigkeit, spontan angemessene
Handlung entstehen zu lassen; gleich bleibt, bzw. wird sich jedoch, daß die
Freiheit und das Gute keinen Widerspruch, der etwa im Willen zu
überwinden wäre, darstellen, sondern auseinander natürlich folgen.
2. Das Gesetz, der objektive vernünftige Maßstab, ist nicht Begrenzung der
Freiheit, sondern Bedingung ihrer Möglichkeit, die Übereinstimmung des
Menschen hier mit dem Willen Gottes, dort mit dem νόμος macht den
Menschen zum Knecht, der gerade in diesem Knechtsein erst Herr seiner
selbst wird.
3. Die Rückkehr zum bzw. Vermittlung des antiken Denkens zeigt sich ferner
nicht zuletzt in der gemeinsamen Einsicht, daß verantwortliches Handeln sich
stets nur aus der Gemeinschaft der Menschen definieren lassen kann.
Luthers Ethik ist deshalb nicht wie Calvinische moralisch, sondern sittlich
orientiert.189 Deshalb steht Luther nie in der Gefahr, Vorlage des modernen
Mißverständnisses von Freiheit als allenfalls äußerlich begrenzte Willkür und
Beliebigkeit zu werden, während der Calvinische Individualismus in Verbindung mit dem Selbstbewußtsein der menschlichen Vernunft und deren
Folge einer Entwertung alles Objektiven in der Aufklärung, mit dem
187
Vgl. a.a.O. S. 332.
Vgl. a.a.O. S. 327.
189 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 286 - 291.
188
© Stephan Sturm 1990
18
Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
abstrakten Subjektivismus leicht zur idealen Grundlage der Entäußerung des
Menschlichen in der Geworfenheit individueller Selbstbezogenheit werden
kann.
Es fehlt aber Luther die Einsicht, daß die menschliche Gemeinschaft, in der der
Christ steht und als Freigegebener handelt, immer schon eine bestimmte,
organisierte ist, daß verantwortliches Handeln jederzeit nur in den jeweils
bestehenden Verhältnissen der von weltlicher Institution gesetzten Möglichkeit
stattfinden kann. Ethisches Handeln kann aber von dem Raum, in dem der
Mensch als Mensch immer schon sich befindet, als dessen Bedingung
überhaupt nicht absehen, politische und ethische Freiheit bleiben beide abstrakt,
solange
sie
unvermittelt
nebeneinanderstehen.190
Das
Verhältnis
zum
Politischen bleibt aber auch bei Luther ein bloß negatives,191 so kann christliche
Freiheit hier noch nicht zur politischen werden.192
190
Die Gegenwart hat das umgekehrte Problem, die moderne Demokratie sichert zwar dem
Individuum politische Freiheit, die aber bloß formell bleibt, mangels Inhalt (Gesinnung) keine
Realität hat, vgl. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Religion I, S. 244), wogegen die
Lutherische Ethik zwar Inhalt nicht aber die nötige Form besitzt, so daß die an sich davon
getrennt immer schon bestehende Form diesem Inhalt letztlich widersprechen muß.
191 Die Affirmation der Notwendigkeit staatlicher Obrigkeit, auch die Ausstattung derselben mit
göttlicher Autorität hindert nicht, daß hier gleichwohl ein negatives Verhältnis vorliegt, zwar nicht
als Kontradiktion, aber als parataktische Dichotomie, vgl. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie
der Religion I S. 239 "Bei jener Wahrheit, daß die Gesetze der göttliche Wille sind, kommt es
also besonders darauf an, daß bestimmt wird, welches diese Gesetze sind." vgl. a. 238; ein
Übergang zur politisch-sozialen Befreiung findet überhaupt in der Reformation nicht statt, vgl.
Mehl S. 518.
192 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, S. 332
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Die in der Arbeit verwandten Kurztitel sind durch Unterstreichung kenntlich gemacht; bei Zitaten
aus Luther, De Libertate Christiana erscheint hinter der Seiten- die Zeilenangabe, bei Zitaten aus
den Loci Communes Melanchthons nach Abschnitts- und Zeilenzahl in Klammern die Seitenzahl
der benutzten Ausgabe, Zitate aus der Institutio Calvins geben außer der Abschnittszahl in
Klammern die Seite an.
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Freiheitsverständnis bei Luther und Calvin
Verzeichnis der Abkürzungen
1.) Allgemein
a.
a.a.O.
Anm.
auch
am angegebenen Ort
Anmerkung
d.h.
insbes.
Kap.
o.
Philos.
S.
Sp.
u.
vgl.
Vorl.
das heißt
insbesondere
Kapitel
oben
Philosophie
Seite
Spalte
und
vergleiche
Vorlesungen
2.) Zu den Werken Platons
Alc.mai.
Crit.
Leg.
Prot.
Rep.
Alcibiades maior
Crito
Leges
Protagoras
Res publica
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