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EUROPÄISCHES PARLAMENT
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1999
2004
Plenarsitzungsdokument
ENDGÜLTIG
A5-0408/2003
26. November 2003
BERICHT
über einen rechtlichen Rahmen für den freien Verkehr von Gütern im
Binnenmarkt, bei denen ein Streit um den Eigentumsstatus absehbar ist
(2002/2114(INI))
Ausschuss für Recht und Binnenmarkt
Berichterstatter: Willy C.E.H. De Clercq
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INHALT
Seite
GESCHÄFTSORDNUNGSSEITE ............................................................................................ 4
ENTSCHLIESSUNGSANTRAG .............................................................................................. 5
BEGRÜNDUNG ........................................................................................................................ 8
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GESCHÄFTSORDNUNGSSEITE
In der Sitzung vom 4. Juli 2002 gab der Präsident des Europäischen Parlaments bekannt, dass
der Ausschuss für Recht und Binnenmarkt die Genehmigung zur Ausarbeitung eines
Initiativberichts gemäß Artikel 163 der Geschäftsordnung über einen rechtlichen Rahmen für
den freien Verkehr von Gütern im Binnenmarkt, bei denen ein Streit um den Eigentumsstatus
absehbar ist, erhalten hat.
Der Ausschuss für Recht und Binnenmarkt benannte in seiner Sitzung vom 28. Mai 2002
Willy C.E.H. De Clercq als Berichterstatter.
Der Ausschuss prüfte den Berichtsentwurf in seinen Sitzungen vom 11. September, 4.
November und 17. November 2003.
In der letztgenannten Sitzung nahm der Ausschuss den Entschließungsantrag einstimmig an.
Bei der Abstimmung waren anwesend: Willi Rothley, amtierender Vorsitzender; Ioannis
Koukiadis, stellvertretender Vorsitzender; Willy C.E.H. De Clercq, Berichterstatter; Ward
Beysen, Bert Doorn, Raina A. Mercedes Echerer (in Vertretung von Uma Maija Aaltonen),
Janelly Fourtou, Fiorella Ghilardotti, Malcolm Harbour, Lord Inglewood, Klaus-Heiner
Lehne, Sir Neil MacCormick, Toine Manders, Arlene McCarthy, Manuel Medina Ortega,
Marcelino Oreja Arburúa (in Vertretung von Kurt Lechner), Elena Ornella Paciotti (in
Vertretung von Maria Berger), Marianne L.P. Thyssen und Ian Twinn (in Vertretung von
Joachim Wuermeling gemäß Artikel 153 Absatz 2 der Geschäftsordnung).
Der Bericht wurde am 26. November 2003 eingereicht.
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ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
Entschliessung des Europäischen Parlaments zu einem rechtlichen Rahmen für den
freien Verkehr von Gütern im Binnenmarkt, bei denen ein Streit um den
Eigentumsstatus absehbar ist (2002/2114(INI))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine Entschließungen vom 14. Dezember 1995 zur Rückgabe
geraubten Eigentums an jüdische Gemeinden1 und vom 16. Juli 1998 zur Rückgabe des
Vermögens von Holocaust-Opfern2,
– unter Hinweis auf das Europäische Übereinkommen vom 23. Juni 1985 über Straftaten im
Zusammenhang mit Kulturgut und die Richtlinie 93/7/EWG des Rates vom 15. März
19933 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
verbrachten Kulturgütern,
– gestützt auf Artikel 163 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt (A5-0408/2003),
A. in der Erwägung, dass bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs Schritte unternommen
wurden, um geraubtes Vermögen aufzuspüren und wieder in das Herkunftsland zu
verbringen,
B. in der Erwägung, dass ein großer Teil dieses Vermögens nicht an die Eigentümer oder
deren Erben zurückgegeben wurde,
C. in der Erwägung, dass die Prozessbeteiligten oft mit schwierigen Problemen konfrontiert
wurden wie beispielsweise Kollision von Rechtsvorschriften, unterschiedlichen
Verjährungsfristen und anderen Schwierigkeiten, und dass dies eine rasche und effiziente
Lösung, bei der den Interessen aller Beteiligten Rechnung getragen wird, erschwert und
behindert,
D. in der Erwägung, dass es sich hier um ein wichtiges menschliches und ein rechtliches
Problem handelt, da die Opfer weiterhin mit rechtlichen und technischen Problemen
konfrontiert werden,
E. in der Erwägung, dass am 18. März 2003 eine öffentliche Anhörung stattgefunden hat,
F. in der Erwägung, dass es sich hier um ein weit verbreitetes rechtliches Problem auf
europäischer Ebene handelt,
1
ABl C 17 vom 22.1.1996, S. 141
ABl C 292 vom 21.9.1998, S. 112
3
ABl C 120 E vom 24.4.2001, S. 182-183
2
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1. begrüßt die Tatsache, dass diverse Regierungen anerkennen, dass die einzigartigen
Probleme im Zusammenhang mit Kulturgütern (also öffentliches oder privates Eigentum,
das als künstlerische Schöpfung oder Kulturgut angesehen wird), die zu Kriegszeiten
durch Gewaltakte, Beschlagnahme oder scheinbar rechtmäßige Transaktionen oder
Auktionen entwendet wurde, angegangen werden müssen;
2. erkennt an, dass das Problem dieser Güter zwar allgemein bekannt ist, es sich für private
Anspruchsteller jedoch oft als außerordentlich schwierig erwiesen hat, ihr Eigentum
zurück zu erlangen und dessen Herkunft zu klären;
3. begrüßt die von Drittländern (insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika und der
Russisches Föderation) unternommenen Anstrengungen, parallele oder gegenseitige
Maßnahmen zu ergreifen;
4. fordert die Europäische Kommission auf, unter Einhaltung der Bestimmungen nach
Artikel 295 des EG-Vertrags gegen Ende des Jahres 2004 eine Studie über folgende
Aspekte durchzuführen;
–
Einführung eines gemeinsamen Katalogisierungssystems, das sowohl von staatlichen
Stellen als auch von privaten Kunstsammlungen genutzt werden kann, um Daten über
die Situation geraubter Kulturgüter und den genauen Stand der bestehenden
Forderungen sammeln zu können;
–
Entwicklung gemeinsamer Grundsätze über den Zugang zu öffentlichen oder privaten
Archiven, die Informationen über die Identifizierung und Lokalisierung von
Vermögen enthalten, sowie über die Verknüpfung von Datenbanken, die
Informationen über Vermögen enthalt, bei dem ein Streit über den Eigentumsstatus
anhängig ist;
–
Ermittlung gemeinsamer Grundsätze in Bezug auf die Frage, wie Eigentum oder
Rechtsanspruch entstehen, sowie in Bezug auf Verjährung, Normen für die
Beweisführung und das Recht, erstattete Eigentümer zu exportieren oder zu
importieren;
–
Erkundung möglicher Streitbeilegungsmechanismen, mit denen lange und unsichere
Rechtsverfahren vermieden und die Grundsätze der Fairness und der Gerechtigkeit
berücksichtigt werden können;
–
Möglichkeit der Einsetzung einer grenzüberschreitenden, koordinierenden Behörde,
die für Streitigkeiten in Bezug auf den Rechtsanspruch auf Kulturgüter zuständig ist;
5. fordert die Mitgliedstaaten und die Beitrittländer auf, alle notwendigen Anstrengungen zu
unternehmen, um Maßnahmen anzunehmen, um die Schaffung von Mechanismen zu
gewährleisten, die der Erstattung der Güter, auf die sich diese Entschließung bezieht,
förderlich sind, und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Erstattung der im Rahmen
eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit geraubten Kunstgegenstände an die
rechtmäßigen Anspruchsteller eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse im Sinne
von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist;
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6. fordert den Vorsitz der Europäischen Union auf, im Rat eine Arbeitsgruppe mit dieser
Angelegenheit zu befassen;
7. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den
Mitgliedstaaten, den Beitrittsländern und dem Europarat zu übermitteln.
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BEGRÜNDUNG
Hintergrund: Die Natur des Problems
Verschiedene Aspekte des Problems der während des Zweiten Weltkriegs geraubten
Vermögen waren Gegenstand internationaler Übereinkommen. Dabei ist ein Problem noch
immer ungelöst: das der Kulturgüter, bei denen ein Streit um den Eigentumsstatus absehbar
ist.
Das Problem der „Raubkunst“ oder „Beutekunst“ (also öffentlichen oder privaten Eigentums,
das als künstlerische Schöpfung oder Kulturgut angesehen wird), die zu Kriegszeiten durch
Gewaltakte, Beschlagnahme oder scheinbar rechtmäßige Transaktionen oder Auktionen
entwendet wurde, ist leider auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer ein dunkles
Kapitel der Menschheitsgeschichte. Solche Plünderungen hat es zu allen Zeiten gegeben, sie
traten jedoch im 19. und 20. Jahrhundert besonders häufig auf. Während des Zweiten
Weltkriegs wurden Kulturgüter in einem nie zuvor erlebten Ausmaß geraubt. Der Umfang der
Plünderungen wurde während des Kriegs und nach dem Krieg ausreichend dokumentiert und
von allen Mitgliedstaaten bestätigt und anerkannt. Nach dem Krieg erstellte Inventarlisten
zeigen ,dass mehrere Millionen Gegenstände geraubt wurden, darunter Kunstwerke von
Museumsqualität, Möbel, Bücher, religiöse Objekte und andere Güter von kulturellem Wert.
Aus den Aktenverzeichnissen der Ansprüche, die Überlebende und ihre Familien und die
Mitgliedstaaten angemeldet haben, wird ersichtlich, dass Tausende von im Umlauf
befindlichen bedeutenderen Kunstwerken (einige davon in Museumssammlungen) Lücken in
ihrer Herkunftsgeschichte aufweisen, die auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Europa
(1939-1945) zurückzudatieren sind. Von offizieller Seite wurde auch bestätigt, dass auf dem
Kunstmarkt eine beträchtliche Zahl von Kunstwerken gehandelt wurde, bei denen
Eigentumsstatus und Herkunft nicht eindeutig geklärt waren. Museen und Kunsthändler
bestätigen die Notwendigkeit, Rechtssicherheit zu schaffen, um die Herkunft ihrer
Sammlungen und erworbenen Objekte zu klären.
Obwohl das Problem der geraubten Kulturgüter allgemein bekannt ist, hat es sich für private
Anspruchsteller oft als außerordentlich schwierig erwiesen, ihr Eigentum zurück zu erlangen.
Dies liegt zum einen daran, dass viele europäische Staaten das internationale Recht betreffend
den Status dieses Eigentums einfach ignorieren und es einem Dieb (oder denjenigen, die Teil
der nachfolgenden Erwerbskette sind) gestatten, gemäß nationalem Recht Eigentum zu übertragen. Darüber hinaus werden Rechtssachen in Zusammenhang mit geraubten Kulturgütern
oft durch Streitigkeiten über das anzuwendende Recht und Verjährungsbestimmungen
verkompliziert, je nachdem, wo das Kunstwerk gestohlen wurde, wo es sich in der Zwischenzeit befunden hat oder wo es gefunden wurde. Nicht zuletzt sahen sich die Kläger beim
Recherchieren ihrer Forderungen aufgrund der unterschiedlichen Bestimmungen, die
innerhalb Europas für den Zugang zu Archiven gelten, vor beträchtliche Hürden gestellt.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden verschiedene nationale Gesetze
verabschiedet, die speziell das Problem des geraubten Eigentums betrafen. Viele dieser
gesetzlichen Bestimmungen sind inzwischen jedoch verjährt. Das Thema kehrte mit dem Fall
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der Berliner Mauer, als die Archive in Osteuropa und Russland geöffnet wurden, ins Zentrum
der öffentlichen Aufmerksamkeit zurück. Viele private Organisationen fingen an, sich aktiv
mit der Frage geraubter Kulturgüter zu befassen, und verschiedene nationale Ausschüsse und
Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, um die Archive zu durchforsten, Nachforschungen über
die Herkunft von Kunstwerken anzustellen und in einigen Fällen individuelle Anträge auf
Rückerstattung zu prüfen.
Leider ist es eine allgemein anerkannte Tatsache, dass das Problem der „Raubkunst“ in
Europa auch nach 1945 fortbesteht. So hat beispielsweise die Kommission für Ansprüche auf
Rückerstattung von Grundbesitz in Bosnien-Herzegowina Forderungen betreffend verlorenes
Eigentum in Zusammenhang mit den „ethnischen Säuberungen“ Serbiens in Bosnien
anerkannt. Bedauerlicherweise ist damit zu rechnen, dass sich ähnliche Forderungen auch aus
zukünftigen Konflikten ergeben werden.
Derzeitiger Stand
Das Naziregime war verantwortlich für den Raub von wertvollen Kulturgütern in gewaltigem
Umfang, nicht nur in Deutschland, sondern in jedem Land, das mit diesem Regime verbündet
war oder von ihm besetzt wurde, darunter Österreich, Belgien, die Tschechoslowakei,
Frankreich, Ungarn, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Polen, Rumänien und
die von der deutschen Wehrmacht besetzten früheren Sowjetrepubliken (baltische
Republiken, Russland, Ukraine und Weißrussland). Nach dem Völkerrecht waren diese
Plünderungen ungesetzlich. Während des Krieges stellten die Vereinten Nationen klar, dass
von den Staaten wiedererlangtes geraubtes Eigentum dem Herkunftsstaat zurückerstattet
werden müsse, um es den ursprünglichen Eigentümern zurückzugeben. Dieses geraubte
Eigentum erhielt später durch den Nürnberger Gerichtshof einen Sonderstatus. So wurde in
Artikel 6b der Nürnberger Charta ausdrücklich bestimmt, dass der Raub von Privateigentum
während des Krieges nach dem Völkerrecht ein Verbrechen darstellen kann. In seinem
abschließenden Urteil entschied der Gerichtshof, dass die Plünderung von Eigentum nach
dem 1. September 1939 in bestimmten Fällen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt. 1
(Der Gerichtshof hat die Plünderung von Gütern aus jüdischem Besitz vor diesem Datum
nicht entschuldigt, sondern lediglich festgestellt, dass sie kein Kriegsverbrechen darstellt.
Deutschland selbst hat das Plündern von Vermögen vor diesem Zeitpunkt in mehreren
Nachkriegs-Übereinkommen als ungesetzlich anerkannt). In zahlreichen Übereinkommen
nach dem Krieg wurde auch festgestellt, dass die Staaten verpflichtet sind, geraubtes
Eigentum wiederzuerlangen, auch wenn es sich inzwischen im Besitz von dem Anschein nach
unschuldigen Käufern befindet, und für dieses Eigentum zu sorgen und es instand zu halten,
bis es an den Herkunftsstaat zurückgegeben wird. Nach internationalem Recht wurden die
Staaten also als Hüter des geraubten Eigentums und nicht als seine Eigentümer angesehen.
Einzelstaatliche Gesetze, die nach dem Krieg in der Schweiz, in Belgien, Frankreich,
Deutschland, Griechenland, Italien und den Niederlanden erlassen wurden, erkannten diesen
Sachverhalt an und schufen eine Rechtsvermutung zugunsten der ursprünglichen Eigentümer
des in dieser Zeit geraubten Vermögens. Heute sind diese einzelstaatlichen gesetzlichen
Bestimmungen jedoch ausgelaufen oder aufgrund von Verjährungsfristen außer Kraft
1
Siehe Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September 1946.
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getreten, und es gibt kein internationales Übereinkommen, das auf die Zeit des Zweiten
Weltkriegs anwendbar ist. Da das Problem ein allgemein anerkanntes ist, bemühen sich die
Staaten weiterhin um die Schaffung von Rechtsinstrumenten zur Angleichung der nationalen
Gesetze. Auf institutioneller Ebene hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates
eine Entschließung zu geraubtem Kulturgut aus jüdischem Besitz verabschiedet1. Darüber
hinaus nahmen anlässlich einer diplomatischen Konferenz in Washington am 3. Dezember
1998 über Kunstwerke, die in der Holocaust-Ära beschlagnahmt wurden, 44 Staaten
einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten „nicht bindende“ Grundsätze an und verpflichteten
sich moralisch zur Rückerstattung geraubter Kulturgüter. Die teilnehmenden Staaten
erkannten den gewaltigen Umfang der immer noch im Umlauf befindlichen geraubten
Kulturgüter an und verpflichteten sich im Rahmen von 11 Empfehlungen, (i) alle Maßnahmen
zu ergreifen, um eine Liste von Kunstwerken zweifelhaften Ursprungs zu erstellen und zu
veröffentlichen, (ii) Verfahren zu entwickeln, die die Klärung strittiger Eigentumsfragen
ermöglichen und die Schwierigkeiten berücksichtigen, denen sich die Kläger oft gegenüber
sehen, wenn sie ihren Rechtsanspruch geltend machen wollen, und (iii) die Auflagen
hinsichtlich der Beweislast zu erleichtern, die die Kläger tragen, welche die Rückerstattung
von geraubtem Eigentum fordern. Beim nachfolgenden Internationalen Forum über geraubte
Kulturgüter der Holocaust-Ära im Oktober 2000 in Wilna wurde versucht, die in Washington
vereinbarten Grundsätze und die Entschließung des Europarates in die Praxis umzusetzen2.
Einige EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten wie Russland3 haben vor kurzem Maßnahmen
zugunsten der von Kunstraub Geschädigten erlassen, wie beispielsweise die Prüfung von
Anträgen auf Rückführung4, Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen über unerlaubte
Handlungen und Eigentum, wie Verjährungsfristen, und die Einsetzung parlamentarischer
Ausschüsse zur Prüfung dieser Frage.
Auf europäischer Ebene behandelt Richtlinie 93/7/EWG vom 15. März 1993 die Frage der
Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten
Kulturgütern. Ziel der Richtlinie ist eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und
eine gegenseitige Anerkennung der einschlägigen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im
Bereich der nationalen Kulturgüter. Es wurde jedoch keine einheitliche rechtliche Grundlage
für individuelle Ansprüche geschaffen, die immer noch auf sehr unterschiedlichen nationalen
gesetzlichen Voraussetzungen beruhen. Das Parlament hat darüber hinaus zwei
Entschließungen zum Thema geraubte Kulturgüter angenommen, die Entschließung von
19955 zur Rückführung geraubter Vermögen an die jüdischen Gemeinden und die
Entschließung von 19986 zur Rückerstattung der Vermögen von Holocaust-Opfern. Somit hat
die Europäische Union Schritte zur Anerkennung des historischen Tatbestands des
Kunstraubs zwischen 1933 und 1945 unternommen, aber bisher keinen umfassenden Rahmen
1
Entschließung 1205 vom 4. November 1999.
Der Hinweis auf die Holocaust-Ära sollte nicht so verstanden werden, dass diese Initiativen sich nur mit
geraubten Kunstwerken aus jüdischem Besitz befasst haben. Im fraglichen Zeitraum wurde eine große Zahl von
Einzelpersonen und Gruppen in ganz Europa Opfer dieser Plünderungen, die von verschiedenen Tätern verübt
wurden.
3
Das russische Parlament hat sein Gesetz über Kulturgüter im Jahr 2000 geändert.
4
Eine Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts bestätigte die Erklärung
von Berlin und machte deutlich, dass mit der neuen gesetzlichen Regelung keine Änderung des deutschen Rechts
beabsichtigt wird, um Ansprüche im Zusammenhang mit geraubtem Kulturgut abzuweisen (Herbst 2001).
5
ABl. C 17 vom 22.01.1996.
6
ABl. C 292 vom 21.09.1998.
2
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zur Lösung der weiterhin bestehenden rechtlichen Probleme geschaffen, die Auswirkungen
auf den freien Verkehr aller Kunstwerke im Binnenmarkt haben.
Notwendigkeit des Tätigwerdens der EU bei einem europäischen Rechtsproblem
Die rechtliche Lage in diesem Bereich ist z.Z. völlig unklar, so dass Museen, Kunsthändler,
Opfer und Erben nicht in der Lage gewesen sind, Beutegut zurückzuerlangen oder die Lücke
in der Frage der Herkunft von Kunstbesitz zu füllen. Kläger stehen oft einem unübersichtlichen Gewirr von rechtlichen Problemen gegenüber, von denen viele einfach von dem
schieren Zufall abhängen, wo das Beutegut vielleicht gefunden wird. Der Zugang zu Daten ist
von Staat zu Staat verschieden, ebenso wie die Rechtsstandards im Zusammenhang mit so
grundlegenden Fragen wie der Festlegung des anwendbaren Rechts, des Besitznachweises,
der Feststellung, wann Klage erhoben werden muss und der Auswirkungen der zwischenzeitlichen Übereignung auf angeblich unschuldige Erwerber. Es besteht die Notwendigkeit
eines rechtlichen und institutionellen Rahmens, der für die Kläger die derzeitigen Besitzer und
staatseigene und gemeinnützige Einrichtungen fairer sein wird. Darüber hinaus ist dies ein
sehr europäisches Problem, das einer europäischen Lösung bedarf, und die bevorstehende
Erweiterung der Europäischen Union macht die Frage noch bedeutender, da sie eine Reihe
von Beitrittsländern unmittelbar betrifft.
Ungefähr 170 Klagen sind derzeit in Gerichten in ganz Europa, auch in Russland, anhängig.
Bei allen geht es um die gleichen rechtlichen Probleme: Bestimmung der Herkunft eines
Kulturgutes, Festlegung der Art und Weise, wie der Rechtslücke in der Frage des Besitzes
zwischen 1933 und 1945 Rechnung getragen wird, Definition der anwendbaren
Rechtsprechung, Entscheidung darüber, wer ein „gutgläubiger“ Erwerber sein und welche
Rechte dieser Erwerber haben kann, gegebenenfalls Entscheidung darüber, ob
Verjährungsfristen gelten sollten usw. Darüber hinaus führen Unterschiede zwischen
Zivilrecht und „common law“ (Gewohnheitsrecht) in den Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Ergebnissen, zu endlosen Rechtsstreitigkeiten und einer verzwickten rechtlichen
Situation für die Opfer und die Erben von kulturellem Beutegut. Zwar sind einige dieser
Probleme offensichtlich kultureller Natur, aber Ziel eines europäischen rechtlichen und
institutionellen Rahmens für erbeutete Kulturgüter muss es sein, eine rechtliche Lösung für
eindeutig rechtliche Probleme zu finden, anstatt zuzulassen, dass dies zu einem kulturellen
Problem wird.
Zweifellos ist dies ein rechtliches Problem. Zunächst einmal war und bleibt die systematische
und diskriminierende Plünderung von Eigentum durch totalitäre Regime eine schwere
Verletzung des vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Menschenrechts auf friedliche
Nutznießung von Eigentum. Die Entscheidung darüber, wie die Rechte der von diesen
Verletzungen Betroffenen behandelt werden sollten, wirft ganz entschieden rechtliche Fragen
auf.
Zweitens, rührt das durch einen solchen Raub entstandene Problem von der Kollision von
Rechtsvorschriften, die innerhalb der EU zu einer unterschiedlichen Behandlung von Klägern
führt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, und zwar abhängig davon, wo ihr
Eigentum letztendlich verblieben ist.
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Drittens, führt die Beschäftigung mit Beutekunstfragen auch dazu, sich mit rechtlichen Fragen
im Zusammenhang mit dem Völkerrecht, der Geltung verschiedener Verträge, dem
internationalen Privatrecht, dem Zugang zu Informationen, Eigentumsrechten, der Beweislast
und von Verjährungsfristen zu befassen.
Abschließend stellen sich in Fällen von erbeutetem Kulturgut generell die folgenden Fragen,
die alle voneinander abweichenden rechtlichen Normen entsprechend den Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten unterliegen: 1.) Wie wird der Besitz oder der Eigentumstitel festgelegt
und welchen Zugang zu den erforderlichen Informationen bieten die Mitgliedstaaten den
Klägern? 2.) Wann muss ein Antrag auf Rückgabe von Eigentum gestellt werden und welche
diesbezügliche Verjährung sollte gelten? 3.) Welche Rechte haben gegebenenfalls
„gutgläubige“ Erwerber an erbeuteten Kulturgütern? 4.) Welche Ansprüche können gegen
professionelle Verkäufer, wie z.B. Kunsthändler, geltend gemacht werden, die erbeutete
Kunstgüter gekauft oder verkauft haben? und 5.) Falls ein erbeutetes Kulturgut wiedererlangt
wird, kann es dann Beschränkungen für die Möglichkeit des Eigentümers geben, dieses Gut
zu exportieren? Die verschiedenen Antworten auf diese Fragen in den Mitgliedstaaten stellen
einen Rechtsmangel dar und verhindern den freien Verkehr von Kulturgütern auf dem
Binnenmarkt.
Bewertung möglicher Initiativen des EP
Das derzeitige Rechtssystem im Zusammenhang mit erbeuteten Kulturgütern ist weder
einheitlich noch berechenbar; es führt weder zur Förderung einer freiwilligen oder
wirkungsvollen Regelung von Ansprüchen, noch zum Schutz der Rechte der Opfer, die sich
um die Rückgabe des Beuteguts bemühen, oder erreicht die erklärten Ziele des von den
Nationen der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Völkerrechts. Um die Fragen im
Zusammenhang mit erbeuteten Kulturgütern voll und ganz zu würdigen, hielt das Europäische
Parlament im März 2003 eine Anhörung ab, um sowohl die Öffentlichkeit stärker zu
sensibilisieren als auch mögliche Lösungen der EU für die vorliegenden Probleme zu finden.
Damit der Weg für einen umfassenden europäischen Rahmen für die faire Lösung von
Streitigkeiten über den Besitz erbeuteter Kulturgüter geebnet wurde, umfasste diese Anhörung
Folgendes:
–
Bewertung der Bemühungen um Verwirklichung der auf der Washingtoner Konferenz,
in der Entschließung 1205 des Europarates und auf dem Vilnius-Forum dargelegten
Grundsätze;
–
Überprüfung der bestehenden Programme der Mitgliedstaaten für die Ermittlung und
Rückgabe erbeuteter Kulturgüter;
–
Bewertung der bestehenden oder geplanten Datenbanken im Zusammenhang mit
Beutekunst und der Möglichkeit der Erweiterung öffentlicher Datenbanken, um
umfassendere Vermögensnachforschungen im Zusammenhang mit spezifischen
Werken und/oder Ansprüchen zu erlauben;
–
Beurteilung der Rechtsvorschriften und Verordnungen der EU im Zusammenhang mit
dem Zugang zu Archiven über a) Kulturgüter, b) Enteignung,
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–
Vermögensveräußerungen oder Raub in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, c)
Nachkriegslisten erbeuteter Gegenstände, an die „Herkunftsländer“ zurückgegebener
Gegenstände, registrierter Klagen und erledigter Klagen, d)Unterlagen von Museen
und Händlern über in Europa zwischen 1933 und 1945 gekaufte oder verkaufte
Objekte. Eine Schlüsselfrage ist das Verhältnis zwischen der Achtung der Privatsphäre
des Einzelnen und der Garantie dafür, dass die Kläger ungehindert gerichtlich
vorgehen können;
Festlegung einheitlicher Normen für die Auffindung und Behandlung von erbeuteten
Kulturgütern, einschließlich von Beutekunst, die Herkunftsfragen aufwirft;
–
Bewertung des derzeitigen Geltungsbereichs der EU-Regelung und von
intereuropäischen Verträgen oder Vereinbarungen im Zusammenhang mit
Import/Export und Zollregelungen, die die Festlegung einheitlicher Normen für das
Auffinden und die Behandlung von erbeuteten Kulturgütern betreffen können;
–
Überprüfung der derzeitigen Anstrengungen zur Verwirklichung einer parallelen
Zusammenarbeit mit den Behörden in Russland, den Ländern in Mittel- und Osteuropa
und anderen Gerichtsinstanzen im Zusammenhang mit der Auffindung und Rückgabe
von Beutekunst;
–
Bewertung der Anwendung und Entwicklung der Konvention von Lugano und der
derzeitigen Praxis im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Konvention zur
Durchsetzung von Urteilen im Zusammenhang mit beweglichem Eigentum (oder
Kulturgütern);
–
Erörterung darüber, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die Charta der
Grundrechte und die Rechtssprechung, die der Europäische Gerichtshof und der
Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt hat, auf gestohlene oder erbeutete
Kulturgüter Anwendung finden könnte.
Allgemeine Schlussfolgerungen
Aus der Anhörung ging sehr deutlich hervor, dass bei der derzeitigen Lage ein großer Mangel
an Rechtssicherheit, Transparenz und einer kohärenten Vorgehensweise herrscht. Es handelt
sich hier um eine grenzüberschreitende Frage, die auch einer grenzüberschreitender Lösung
bedarf.
Hauptziel der Initiative des Europäischen Parlaments ist es, die Entwicklung transparenter
Rechtsbehelfsstrukturen vorzuschlagen, die im Einklang mit den geltenden Prinzipien des
europäischen und des Völkerrechts stehen sollten.
Die Europäische Union sollte eine führende Rolle bei der Schaffung einer
grenzüberschreitenden, koordinierenden Behörde spielen, die das derzeitige System, bei dem
diese Probleme auf Einzelfallbasis nach nationalem Recht behandelt werden, ersetzen soll.
Um diese Führungsrolle spielen zu können, sollte die Europäische Union einheitliche
Vorschriften zur Lösung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Auffinden, dem
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Besitz und der Rückgabe von erbeuteten Kulturgütern festlegen. Zu diesem Zweck ist es
dringend notwendig, eine zentrale Datenbank einzurichten und allgemeinen Zugang zu
öffentlichen und privaten Archiven vorzusehen.
Diese Maßnahmen tragen nicht nur zu einem konsistenteren und besser vorhersehbaren
Binnenmarkt für Kunstwerke bei, sondern verbessern ebenfalls den Zugang zum Recht und
die Achtung der Rechtsstaatlichkeit.
Letztendlich ist eine moralische und ethische Frage, die dringend einer moralischen und
ethischen Lösung bedarf.
Es bedarf einer klaren und kohärenten Vorgehensweise, nicht nur auf der Grundlage von
Regeln und rechtlichen Bestimmungen, sondern ebenfalls anhand von Grundsätzen wie
Gerechtigkeit und Moral. Dies ist gegebenenfalls im Rahmen einer koordinierenden
Verwaltungsbehörde auf europäischer Ebene möglich, die gemeinsame Regeln festlegt.
Grenzüberschreitende Probleme erfordern grenzüberschreitenden Lösungen.
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