Martin Richter 21.4.2002 Über die "Geschwindigkeit der Zeit" Es gibt keine universelle Zeit. Jedes System besitzt seine eigene Zeit, und man kann nicht von einer Zeit sprechen, die für das ganze Universum gilt. Das berühmteste Beispiel für die Relativität der Zeit liefert Einsteins Relativitätstheorie, die unter anderem besagt, dass die Zeit von einem externen Beobachter aus betrachtet in einem wesentlich schnelleren System (etwa eines sich mit ¾ der Lichtgeschwindigkeit, also etwa 225 000 km/s bewegenden Raumschiffes) wesentlich langsamer abläuft. Kehrt dieses nach 5 Jahren wieder auf die Erde zurück, werden die Astronauten ihre Eltern, selbst ihre Kinder nicht mehr wiedersehen können, da auf der Erde die Zeit "langsamer" als auf dem Raumschiff verstrich. So hat jedes System eben eine Zeit, die sich von der anderer Systeme unterscheiden kann. Allerdings stellt sich die Frage, ob unter den Menschen, die ja (noch) alle auf der Erde und somit in einer vergleichbaren Umgebung und unter ähnlichen Umständen leben, da sie sich z.B. mit mehr oder weniger der gleichen Geschwindigkeit durch das All bewegen, die Zeit für jeden gleich schnell vergeht. Dies darf nicht mit der Funktionsweise von etwa Armbanduhren verglichen werden, die ja von Beginn an darauf ausgelegt sind, in ihrer Zeitmessung den anderen Armbanduhren auf der Erde möglichst zu gleichen. Die Rede ist von der Zeit des Menschen, nicht von der Uhr, die ja nur ihre eigene Zeit "messen" kann. Jeder weiß, dass das Zeitempfinden der Menschen nicht in jeder Situation gleich ist, sondern die Zeit vielmehr mal langsam, mal schnell vergehen kann: Eine langweilige Schulstunde oder das Warten in einer Arztpraxis lassen die Zeit (zumindest scheinbar) viel langsamer vergehen als ein spannendes Spiel, ein interessantes Buch oder eine aufregende Reise. Für dieses Phänomen gibt es einfache Erklärungen, etwa die verstärkte Wahrnehmung der Zeit bei Langeweile, eben weil man keine Ablenkung von der Betrachtung der vergehenden Zeit findet und diese somit stärker wahrnimmt, als wenn man sich völlig auf andere Dinge konzentriert und die Zeit einfach vergisst, weswegen sie einem später als wesentlich kürzer vorkommt. Dass solche Erklärungen nicht völlig überzeugend klingen, ist unschwer zu erkennen. Vergeht unsere eigene Zeit in solchen Situationen vielleicht wirklich schneller bzw. langsamer? Wenn ja, dann wäre eine für alle Menschen gleich schnell vergehende Zeit natürlich ausgeschlossen, denn während Millionen Menschen in langweiligen Schulstunden sitzen, lesen Millionen anderer Menschen gerade Millionen interessanter Bücher. Selbst in ein und der selben Situation, etwa der Schulstunde, gäbe es dann unterschiedliche "Zeitgeschwindigkeiten", denn während ein Großteil der Schüler ungeduldig auf das Ende der Stunde wartet, hat der Lehrer das Gefühl, zuwenig Zeit für das Behandeln seines Unterrichtsstoffs zur Verfügung zu haben; für ihn verginge die Zeit also schnell. Manchmal bleibe die Zeit sogar beinahe stehen, berichten Menschen, die sich einmal in einer lebensbedrohlichen Notsituation befanden. Auch auf das ganze Leben bezogen gibt es offensichtlich Unterschiede in der Wahrnehmung der Zeit: Ältere Leute klagen oft darüber, wie schnell ihnen die Zeit "durch die Finger rinnt", während Jugendliche oft von chronischer Langeweile betroffen sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass man mit fortschreitendem Alter den Tod nahen sieht und sich eine ähnliche Situation ergibt wie bei dem Lehrer, der das Ende der Stunde nahen sieht, mit dem Unterschied, dass sowohl die verbleibende Zeitspanne als auch die Schwere des Ereignisses beim Alten größer ist als beim Lehrer. :-) Aber: Warum sollte die Zeit für ältere Menschen nicht wirklich schneller ablaufen? Einmal angenommen, es wäre so: Der Alte sieht seine Umgebung, ähnlich eines Filmes, schneller ablaufen als ein Kind, da er meint, die Zeit verginge schneller als in seiner Jugend. Wir alle wären also Teil des Filmes, und für uns müsste, da die Zeitwahrnehmung, wie alles andere auch, relativ ist, der Alte langsamer erscheinen als das Kind, welches ja uns langsamer wahrnimmt. Kurz: Je schneller die Zeit einer Person verginge, desto langsamer würde sie uns erscheinen, und umgekehrt. Das wäre eine, zugegeben etwas ungewöhnliche Erklärung dafür, dass uns alte Menschen in ihren Bewegungen und Reaktionszeiten langsam erscheinen, was üblicherweise aus medizinisch-biologischer Sicht mit dem Verschleiß von Körperzellen und dessen Funktionen erklärt wird. In Albert Einsteins Relativitätstheorie spielt auch die Gravitation in Bezug auf die Zeit eine wichtige Rolle. Die Geschwindigkeit der Zeit eines Systems hängt nämlich auch davon ab, welcher Gravitation es ausgesetzt ist. Die Gravitation ist unmittelbar von der Masse eines Körpers abhängig; je größer die Masse, desto größer die Gravitationskraft, die der Körper ausübt. Dies ist auch im Zusammenhang mit Einsteins Begriff "Raumzeit", ein vierdimensionales System aus Raum und Zeit als vierter Dimension, wichtig: Ein schwarzes Loch etwa, mit sehr hoher Masse und daher sehr großer Gravitationskraft, kann die Raumzeit "krümmen", also sogar die Zeit durch seine Kraft "verbiegen". Dies sind alles Theorien, auf deren Richtigkeit jedoch vieles hinweist, auf das ich hier aus Gründen der Vereinfachung nicht weiter eingehen werde. Jedenfalls hat die Gravitation (und damit die Masse) eines Körpers eine Auswirkung auf die Zeit. Darf man daraus schließen, dass die individuelle Zeit bzw. ihre Geschwindigkeit eines Lebewesens nach dessen Masse bzw. Größe (die ja mit der Masse in direktem Verhältnis steht) richtet? Auf den ersten Blick erscheint dies absurd – warum sollte die Zeit eines Blauwales langsamer verstreichen als die eines Hundes? Aber bei genauerer Betrachtung erkennt man schon eine gewisse Wahrheit in dieser Behauptung: Nehmen wir als Beispiel eine gewöhnliche Fliege. Ihre Masse ist unwesentlich klein, ebenso ihre Größe. Sie nimmt die Welt um sich herum anders wahr als ein Mensch, was biologische Forschungen erwiesen haben. Beispielsweise sind ihre Facettenaugen in der Lage, Einzelbilder sehr viel besser unterscheiden zu können als der Mensch. Einen normalen Fernsehfilm nimmt die Fliege als eine Art Diashow wahr; für sie verschmelzen die Bilder nicht zu einer Bewegung. Der Zweck dieser Sichtweise ist naheliegend: Es ermöglicht ihr, lebensbedrohliche Situationen, wie etwa einen Schlag mit der Fliegenklatsche, schneller abzuschätzen und in Bruchteilen von Sekunden über die Möglichkeit einer Rettung zu entscheiden, während der Mensch nur eine einzige, viel zu schnelle Bewegung wahrnimmt. Auch ihr Flügelschlag läuft, wie bei fast allen Insekten, so schnell ab, dass ein Mensch keine einzelne Bewegung mehr wahrnehmen kann. Aber ist die Fliege, die oft nur Tage oder Wochen lebt, sich der Kürze ihres Lebens bewusst? Wohl kaum. Für die Fliege vergeht die Zeit offensichtlich sehr langsam. Allgemein nehmen Flinkheit und Reaktionsvermögen mit zunehmender Größe eines Lebewesens ab: ein Mensch reagiert schneller als ein Elefant, der wiederum weniger schwerfällig als ein Blauwal ist. Genauso verhält es sich mit der Lebenserwartung, die grundsätzlich um so höher liegt, je größer ein Lebewesen ist. Und doch empfinden alle ihre Lebensdauer als normal... Das Problem bei derartigen Theorien liegt darin, dass man die individuelle Zeit eines Lebewesens nicht messen kann, weder mit einer Uhr noch mit sonst irgendeinem Hilfsmittel. Es gibt keine bekannte Methode, die Zeit selbst zu beschreiben, weshalb ein Schüler zwar nach einer Schulstunde sagen kann: "Die Zeit verging viel zu langsam", aber nicht angeben kann, wie langsam sie verging. Eines ist jedoch sicher: Die Zeit birgt so viele Rätsel, dass kein Mensch jemals genug Zeit haben wird, sie alle zu lösen... Anregungen aus: Manu's Homepage über die Zeit – www.wasistzeit.de (Manuel Uhl) sowie Russell Stannard: Durch Raum und Zeit mit Onkel Albert (The Time and Space of Uncle Albert, Faber&Faber 1989)