sehnsucht-reisen-kunstforum

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Band 136, 1997, Titel: Ästhetik des Reisens, S. 59
Paolo Bianchi
Sehn-Sucht-Trips:
Versuch über das Reisen und Ruhen
Als Reisende im Prä-Millennium
TRICKY: Pre-Millennium Tension,
1996, CD, Island Records. Blue
Source Sleeve Photography by
Stephane Sednaoui. Courtesy
Polygram Switzerland, Zürich
RAOUL HAUSMANN (1886 - 1971),
Tatlin Zuhause, 1920, Fotomontage
und Gouache, 45 x 30 cm
IARA LEE: Synthetik Pleasures, 1965,
Dolby-Stereo, 35 mm, 83 Minuten,
Courtesy Columbus Film, Zürich
NAZCA-KULTUR (200 v. bis 700 n.
Chr.) Anthropomorphes Gefäß, um 300
n. Chr., gebrannter Ton, Höhe: 74,5
cm, Durchmesser: 37 cm. Foto: Carl
Troll, Geo-Ecology of the Mountainous
Regions of the Tropical Americas
(1968). Courtesy Museum Rietberg,
Zürich. Aus dem Katalog zur
Ausstellung "Sicán - Ein Fürstengrab in
Alt Peru", bis 9. März 1997
Das Prinzip Sehnsucht ist das A und O des Reisens. Die Sehnsucht nach dem
Paradies auf Erden ist die Triebfeder. Die Sehnsucht nach Entgrenzung macht aus
Reisenden Flüchtende und Suchende. Die Sehnsucht nach e-motionaler Erfahrung
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(motion/emotion) ist groß: Einerseits ist die Tourismusindustrie der größte
Wirtschaftszweig der Welt, andererseits gehört das Drogenproblem zu einer der
Hauptsorgen westlicher Gesellschaften.
Das Sehnen entfaltet sich als emotionale Bewegung auf etwas Unbestimmtes und
Unfaßbares hin. Die Sucht ist, ganz im Gegensatz dazu, ein Verlangen nach etwas
Bestimmtem. Das Sehnen paart sich mit der Neugierde und die Sucht mit der Angst.
Das Wort Sehn-Sucht sagt bereits, daß Sehnen zur Sucht wird. Sowohl künstliche
(Ferien-)Paradiese als auch Drogen, beides lähmt den Menschen in seiner
Sehnsucht, so der Schweizer Psychologie Matthias Vogt. Die "Reisewut" vieler
Menschen hat Suchtcharakter. Vogts Analyse kommt zum Schluß: Es ist ein
Phänomen unserer Zeit, daß "viele Menschen Sehnsüchte gar nicht aufkommen
lassen, sondern auf sofortige Bedürfnisbefriedigung und Spannungsabfuhr fixiert
sind. Unser heutiges Leben ist wahrscheinlich der Sucht näher als dem Sehnen".
Die Formulierung einer Philosophie, Psychologie oder Anatomie der Ruhelosigkeit
bleibt unter solchen Umständen ein schwieriges Unterfangen. Und wenn dem so ist,
so ist authentisches Reisen vor allem in einer unauflöslichen Mischung und Hybridität
zu suchen. Wo, wenn nicht in diesem Dazwischen, ist die Intensität des Reisens und
Ruhens zu finden?
Der amerikanische Kult-Autor Hakim Bey spricht in diesem Heft von
Zwillingsgespenstern und meint damit den Touristen und den Terroristen, die beide
unter demselben Hunger nach dem Authentischen leiden. "Doch jedesmal, wenn sie
sich dem Authentischen nähern, weicht es vor ihnen zurück. Fotoapparate und
Maschinenpistolen stehen jenem Moment der Liebe im Weg, nach dem sich alle
Terroristen und Touristen
insgeheim sehnen. Zu ihrem unbewußten Kummer können sie nur eins: vernichten.
Der Tourist vernichtet Bedeutung, und der Terrorist vernichtet den Touristen."
Vielleicht ist der Begriff der Sehnsucht noch das Präziseste, was sich zur
Authentizität, zur Liebe und zum Reisen sagen läßt. Sehnsucht richtet sich auf etwas,
was sich entzieht, sie ist die heftigste Form der Reise.
I. Reisen - Utopie globaler Solidaritätserfahrung
Die Bilder des Reisens konstruieren sich durch Sehn-Sucht. Sie ereignen sich in
körperlichen, geistigen, sozialen und virtuellen Realitäten. Das geschieht in einem
visuellen Raum, mit dem Auge als dem ausgeprägtesten Sinnesorgan der
Reiseerfahrung, gefolgt vom Hören, Riechen und Tasten.
Viele visuelle Künstler und Musiker bauen ihre Ästhetik gerne auf Exotik oder
Fremdeinflüssen auf. Während sich die einen unterschiedliche Einflüsse auf ihre
engen Bedürfnisse zurechtschneiden, lassen sich andere davon berauschen und
tragen. Die Literatur bringt Welterfahrung durch Sprache zum Ausdruck, durch das
Ertönen des Wortes. Kulturtourismus - Kult-Urtourismus? Fungieren Reisende als
Kultgemeinschaft?
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Marcel Duchamp verweigerte sich als Tourist, indem er es vom Auftreffen einer
Münze, Kopf oder Zahl, abhängig machte, ob er sich am Abend nach New York,
seiner zweiten "Heimat", einschiffte oder in Paris blieb.
Der Prototyp des Sehn-Süchtigen ist der Künstler. Der Zürcher Psychoanalytiker und
Kunstethnologe Mario Erdheim meint, daß das Sehnen des Künstlers die Bewegung
auf ein noch unbekanntes, zu findendes oder zu erschaffendes Objekt hin markiere,
während demgegenüber die Sucht des Künstlers dem Wiederholungszwang
gehorcht: "Der Künstler begnügt sich nicht mit dem bereits Erkannten", sagt Erdheim,
"er verläßt den gegebenen Rahmen und erkundet das Neue, oder er sprengt den
Rahmen selbst und stellt die Objekte in neue Zusammenhänge."
Auf der anderen Seite gehorcht "die Sucht des Künstlers dem Wiederholungszwang,
stellt sich in den Dienst der Angstabwehr und reproduziert das erfolgreich Bekannte.
Davon kommt er nun nicht mehr los. Der Erfolg macht süchtig und zwingt zur
Wahrung der Tradition." Erdheim stellt die These auf, "daß Sucht und Sehnen in
jeder Kunst aufweisbar sind, und je nachdem, ob die Gesellschaft den Kulturwandel
(die Geschichte) bejaht oder verneint, wird die eine oder die andere Tendenz die in
der Kunst vorherrschende sein."
Wem außer dem Künstler kann heute ein Bedürfnis nach Freiheit und Abweichung
attestiert werden, nach Grenzüberschreitung, Abschütteln von Konventionen,
gesellschaftlicher Enge und alltäglicher Routine? Seine Suche nach neuen Reizen
steht für Unruhe, für den Aufbruch zu immer wieder neuen Horizonten, was neue
Lust am Leben verleiht. Der Künstler bietet sich mit seiner komplexen Mischung aus
Lust an der Welt, aus Flucht vor der Gesellschaft und sich selbst als Idealbild eines
Sehnsüchtigen an. Das Unterwegssein des Künstlers wird zum Gleichnis des
Menschen, sein Leben eine Reise: homo viator. Wenn Künstler (oder Kulturen) ihre
Lebendigkeit behalten wollen, müssen sie Grenzen überschreiten.
Der Ort des Künstlers ist heute mobil, so wie der Künstler selbst mobil geworden ist.
Es gibt den stationären Künstler nicht mehr, auch sein Atelier ist imprägniert mit einer
gewissen Flüchtigkeit und daher diffus und transitorisch geworden. Der Künstler als
künstliches Produkt hat ausgedient. Heute ist er unterwegs als Exilant oder unter uns
als Asylant, vielleicht auch bloß als Tourist. Er ist jedenfalls on the road, überall
fremd und überall daheim. Der Künstler befindet sich als Passagier im Dazwischen,
er ist betwixt und between Orten, Gemeinschaften und Bindungen. Dieses Dasein im
Dazwischen basiert auf einer eigenen Ursache, Logik und Wirkung. Das
Unterwegssein ist ein Phänomen: Es kann den reisenden Künstler sprachlos werden
lassen, ihn beruhigen, süchtig machen oder neue Sehnsüchte erzeugen.
Das Selbst des mobilen Künstlers ist die Kehrseite eines sozialen Selbst, also einer
Identität, nach der man sich selbst bestimmt sowie von anderen (an-)erkannt und
definiert wird. Wer in den USA vor einem Bankschalter steht, kommt ohne
Fahrausweis oder Kreditkarte nicht zu seinem Cash. Ein Klischee der Literatur ist es,
das "Ein-anderer-Werden" durch eine Reise zu beschwören. Ob Identitäten flüchtig
oder dauerhaft, weitläufig oder intim, weltbürgerlich oder provinziell, nachgiebig oder
starr sind, eine stabile Strukturbesitzen sie nicht. "Der Katalog verfügbarer
Identitätsbildungen vergrößert, verkleinert, wandelt, verzweigt und entwickelt sich mit
der immer dichteren ökonomischen und politischen Vernetzung der Welt", schreibt
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der Ethnologe Clifford Geertz. "Er wird mit dem Ziehen neuer und der Aufhebung
alter Grenzen wieder an Komplexität gewinnen, um so mehr, als sich Menschen auf
unvorhersehbare, nur teilweise kontrollierbare Weise und in immer größerer Zahl in
Bewegung setzen."
Richtiges Unterwegssein sollte sich von der Identitäts-Maske befreien, und so
ideologische Konstruktionen und metaphysische Illusionen hinterfragen und zu
Selbstbefragung führen. Masken sind starr, so gilt er der Versteinerung zu entgehen
und zum Wechsel bereit zu sein - bis hin zur Auflösung. Ist die Wahrheit hinten der
Maske versteckt? Es geht einerseits darum, daß der beobachtende Reisende auf die
Wilden stößt und dabei erkennt: Je näher das Fremde rückt, desto fremder wird das
Eigene. Andererseits gilt aber auch: Je mehr de Mensch um seine Innenwelt weiß,
desto eher kann er das Fremde als das wahrnehmen, was es ist, nämlich etwas
durch und durch außerhalb seines Selbst Befindliches. Oder ausgedrückt mit den
von Bruce Chatwin überlieferten Worten von Buddha: "Du kannst nicht auf dem Pfad
gehen, bevor du nicht der Pfad selbst geworden bist."
Reisen bildet. Man reist weniger zu seinem Vergnügen, sondern, so Albert Camus,
"um der Bildung willen". Camus versteht unter Bildung "die Bestätigung des
geheimsten unserer Sinne, nämlich des Sinns für das Ewige". Mit Nietzsche ließe
sich anfügen: "Jede (Reise-)Lust will Ewigkeit." Ewig schon streifen die Menschen
wie wandernde Tiere herum. Mobilität ist die erste conditio humana, seßhaft wurden
wir viel später. Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Ortswechsel,
der großen Wanderungen und der Seßhaftigkeit. Wo Heim und Heimat geschaffen
werden, gibt es auch Heimatlosigkeit. Heimweh als Sehnsucht nach der fernen
Heimat entsteht in der Fremde. Am Ende aller Entfremdungen, wie der Philosoph
Ernst Bloch (1885-1977) in seinem Hauptwerk "Prinzip Hoffnung" notiert, kann so
etwas "in der Welt entstehen, das allen in die Kindheit scheint und worin noch
niemand war: Heimat".
Als Kinder grenzenloser Kommunikationskulturen sind wir heute überall und nirgends
zu Hause. Wir sind Menschen, die im Weltdorf herumschlendern wie Spaziergänger
in Suburbia. Wir sind Reisende im Spannungsfeld des Prä-Millenniums - ohne
Herkunft, ohne Absichten, ohne Ziel, ohne Haß, ohne Liebe, ohne Gott.
Ein Umgetriebensein, ein orientierungsloses Umherirren in der Welt begleitet die
Menschheit von Anfang an. So wie der Erdkern nicht wie ein Diamant fest im
Zentrum ruht, sondern fließt wie Honig, ist der Mensch in ständiger Bewegung. Der
Mensch, schreibt Heidegger, wird "in die Welt geworfen". Anzufügen ist, daß man als
Kind "auf die ganze Welt" kommt. In den Wehen äußert sich das Sehnen nach einem
Leben unter freiem Himmel statt in der Höhle. Mehr noch: Durch die Geburt fußt
man, wie es in buddhistischen Lehren heißt, "auf der uns innewohnenden 'großen
Mutter Erde', der Buddhaschaft". Mit dem ersten Schrei ist man sowohl Unbehauster
Weltbürger als auch geborgen in der Intimität der Familie: geboren zu werden von
einem Mutterland in ein Vaterland und so in ein Land unter anderen Ländern ist ein
transnationaler Lebenszustand. Eine neue Synthese ist nicht in Sicht - eher Brüche,
Knoten und Spannungen.
Zur Jahrtausendwende erzeugt gerade Mobilität ein ganz eigenes Gefühl der
Gemeinschaft kultureller Zivilisationen. Als Polyglotter mit Wurzeln am ideellen
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Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturkreuzwege, als Weltbetourertaucht der Mensch
des nächsten Millenniums in ein Esperanto der Sehnsüchte ein - und aus. Reisen als
letzte Utopie globaler Solidaritätserfahrung?
In Kalifornien hat sich ein Verein dem Motto "Weltfrieden durch Weltreisen"
verschrieben, berichtet der englische Reisejournalist Simon Winchester, der einem
Member mitten im Atlantik an der Reling eines Schiffs begegnete, als dieser heftig
weinte. Der Kapitän hatte den Seegang für zu schwer befunden, um den Fahrgast,
der nur noch drei "unerledigte" Orte auf der Welt abhaken mußte, auf der Insel
Ascension an Land gehen zu lassen. Der Zweck des Vereins ist es, daß seine
Mitglieder jedes Land der Erde besuchen und in einem Büchlein abstempeln lassen.
Im Büchlein sind über 300 "Staaten" aufgelistet, neben klaren Fällen wie Frankreich,
Brasilien, Sri Lanka oder Kenia finden sich darunter die Insel Midway, Schottland und
Miquelon.
"Der Mann aus Ohio", notiert Winchester nach einem Gespräch und einem Drink
unter Deck, "glaubte, je mehr Menschen die Welt bereisten, um einander zu sehen
und kennenzulernen, je mehr sie sich verstünden und einander tolerierten, je mehr
Fremdsprachen sie lernten und fremde Sitten kennenlernten und je mehr Vergnügen
sie an solcher Verschiedenheit fänden, um so friedlicher und zufriedener könnte die
Welt sein."
Über diese seltsame und so sentimentale Ansicht läßt sich streiten. Winchester
mußte sich jedoch eingestehen, daß der Weltreisende in Sachen Weltfrieden im
Grunde recht hat: "Ich bin zu dieser Erkenntnis gelangt, als ich mir die einfache
Frage stellte: Was verlangt eine Tyrannei von ihrem Volk, außer daß es sich ihr zu
Hause unterwerfe? Antwort: Sie verbietet alle Auslandreisen, damit man mit
niemandem sprechen kann, der unter weniger eingeengten Bedingungen leben muß.
- Die Chinesen verboten das Reisen 500 Jahre hindurch. Selbst ein Boot zu besitzen
galt als Verbrechen, das mit dem Tod durch Erwürgen oder das Messer geahndet
wurde."
Sehnsucht wird häufig als "Fernweh der Seele" bezeichnet. Sehnsucht steht für ein
Ziehen oder Gezogenwerden in eine - bestimmte und/oder unbestimmte - Ferne.
Sehnsucht überfällt uns als kleine Unruhe mitten im Alltag. Der Philosoph Wilhelm
Dilthey (18331911), dem die Selbstbesinnung wichtig war, hat von der "dunklen
Sehnsucht nach Erweiterung unseres Daseins in uns" gesprochen. Damit hat er
Menschen wie sich selbst gemeint, "die wie auf einer Wanderung begriffen sind und
in keinem Gemüth eine Heimat haben".
Das Sehnen weist auf eine zwar unbestimmte und unfaßbare Bewegung hin, die
aber erahnt werden kann. Der Philosoph Bloch schreibt in seinem Hauptwerk "Das
Prinzip Hoffnung" vom Sehnen, dem "einzigen bei allen Menschen ehrlichen
Zustand". Das Sehnen sei, ähnlich wie der Drang, vage und allgemein, "doch es ist
deutlich wenigstens nach außen gerichtet. Es wühlt nicht wie das Drängen, sondern
schweift, das freilich gleichfalls ruhelos schlechthin, süchtig. Und verbohrt es sich
dabei in sich, so bleibt das Sehnen
bloße allgemeine Sucht. Als blind und leer schweifende kann diese sich gar nicht
dorthin begeben, wo sie gestillt würde".
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Wenn die rückwärtsgewandte Sehnsucht sich etwa als Nostalgie äußere, dann
gehöre zur vorwärtsgewandten Sehnsucht die Utopie. Der Zürcher Psychologe
Matthias Vogt stellt fest, daß die Sehnsucht sich sowohl in die Vergangenheit als
auch in die Zukunft richte, also gleichzeitig Retro(spektion) und Vision enthält. Das
regressive und progressive Moment der Sehnsucht stehe in einem dialektischen
Verhältnis zueinander. Kein Widerspruch, denn beides sind Formen der "Ferne".
Sehnsucht, so Vogt, sei darüber hinaus eine ausschließlich menschliche Empfindung
- im Gegensatz zum Trieb oder Bedürfnis, welche auch Tieren eigen sind.
"Sehnsucht treibt uns zurück oder vorwärts in einen Zustand der Grenzenlosigkeit."
Wenn die Grenzen lose sind, kann das auch bedeuten, daß Fernweh und Unruhe
keineswegs nur fürs Unterwegssein stehen, sondern ebenfalls für die Suche nach
einem Zustand von Harmonie und Einklang mit der Natur, von Geborgenheit, Ruhe
und Glück als Reaktion auf die Entwurzelung und Entfremdung der eigenen
denaturierten Zivilisation.
Wer etwa als Kind von italienischen Migranten in einem Gastland aufwächst, kennt
die Idee des Ritorno, der Rückkehr, als diffuse Sehnsucht nach einer verlorenen
Vergangenheit. Gleichzeitig stellt der Rückkehrwunsch eine bessere Zukunft in der
Heimat in Aussicht. Um das zu erreichen, muß möglichst viel Geld verdient werden,
was zu Raffgier und teilweise süchtigem Arbeitsverhalten führt. So kann Sehnsucht
in Sucht umschlagen. Für die Jugendlichen der zweiten Generation, die zwischen
zwei Kulturen stehen und sich beiderorts beheimatet oder weder hier noch dort
richtig zu Hause fühlen, ist der Rückkehrwunsch der Eltern nicht mehr
nachvollziehbar. "Sie wollen jetzt leben", schreibt der Psychologe Vogt, "nicht erst in
einer fernen Zukunft." Der Generationenkonflikt ist hier zugleich ein Kulturkonflikt.
Wer kann sich schon dem eigenartigen Phänomen entziehen, immer dort sein zu
wollen, wo man sich gerade nicht befindet? Spiegelt sich im Reisen eine existentielle
Ausweglosigkeit, die betrübt und schmerzt? Die Nix-wie-weg-lndustrie behebt
Defizite und Bedürfnisse wie Sehnsucht, Fernweh und ungestillten Lebenshunger im
Nu, günstig und beliebig - Paradiese sind im Dutzend billiger. Reiseziele ersetzen
fehlende Lebensziele. Auf und davon?
Wenn ein Gebiet in der Ostschweiz nach der berühmten Kinderbuchheldin Heidiland
getauft wird, dann profitiert man vom Retro-Trend zurück zu Natur, Ethno und
Folklore, von der nostalgischen Sehnsucht nach Echtheit und Pseudo-Authentizität.
Wenn "Ferien auf dem Mond" tatsächlich zur unwiderstehlichen Attraktion werden,
sind wir nicht nur dem Lustwandeln im Unendlichen einen Schritt nähergerückt,
sondern auch dem freien Fall nach oben. Die virtuelle Realität verspricht "synthetic
pleasures", ohne daß jemand nach Ägypten zu den Pyramiden reisen muß, denn
künstliche Welten sind viel schöner als die wirklichen.
Die Wirklichkeit löst sich im Medienzeitalter auf und hinterläßt aufs äußerste irritierte
Geister. Die schönere vorgespielte Wirklichkeit bietet ebenfalls die Glotze: Den DDRMenschen hat das Bild, das sie vom Fernsehen über die Wirklichkeit im Westen
vermittelt bekamen, schließlich besser gefallen als die Wirklichkeit, in die sie gelockt
wurden. Selbst exotischen Ländern haftet immer etwas Scheinhaftes an. Vor ihre
Wirklichkeit schieben sich Sehnsüchte, Wünsche und Illusionen, die unsere
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Vorstellung von der "Trauminsel" bald einmal gebrochen, haltlos und fragwürdig
erscheinen lassen.
Der Tourismus paktiert mit dem jüdisch-christlichen Vergewaltigungsgebot des
"Macht Euch die Erde untertan". So erscheint die Reiseindustrie als geistige
Kolonisation, als spekulative Land- und Besitznahme, die mit den Feldzügen eines
Alexander oder der Expansion des Römischen Reichs augenfällige Parallelen besitzt.
Wer einmalige Naturparadiese wie etwa die Galapagus-Inseln wirklich schützen will,
muß als Tourist hinreisen, behaupten nicht nur die Tourismusmanager, sondern auch
die Naturschützer vor Ort. Ist das wirklich so? Tourismus, das Allheilmittel? Ware es,
im Gegenteil, nicht angebrachter, daheim zu bleiben? Wer nicht reist, spart Geld,
zertrampelt keine fremde Erde und verwüstet keine fremden Kulturen.
Der Körper reist heute (auch ohne Körper) auf einem weiten Feld - zwischen den
Bytes im Cyberspace, den Bildern am Bildschirm und dem realen Brüllen des
afrikanischen Löwen. Nichtsdestotrotz verflacht das Reisen mehr und mehr zum
Pseudoabenteuer. Die Überraschungslosigkeit des Reisens nimmt zu. Würstel und
Kraut gibt's an der Adria wie in der australischen Wüste. Löwenbrau trinkt man auf
Elba wie im Flugzeug der Air New Zealand. Die Welt scheint nicht nur zum globalen
Dorf, sondern auf die Größe eines Hirns geschrumpft zu sein. Okay: "Die Welt ist
klein." Das gilt aber nur für Touristen und ist überdies eine reaktionäre Äußerung.
Der New Yorker Hip-Hop-Musiker Chuck D, vielreisender in Zeichen der Rap-Kultur,
hat hingegen eine visionäre Sicht der Dinge: "When People say it's a small world, it
ain't no small world. It's a big motherfucker. It's a big world, man."
Neue Kontinente gibt es keine mehr zu entdecken, und alle Berge sind entjungfert.
"Es gibt keinen Neuschnee", hat Kurt Tucholsky einst in einer ziemlich warmen Stube
geschrieben: Wandere in die entlegensten Täler, erklimme die höchsten Gipfel - du
wirst immer Spuren im Schnee finden, denn es ist immer einer schon dagewesen.
Destinationen sind zur Schemareise degradiert. Wohin der Neckermann-Tourist auch
reist, nie kommt er in einem anderen Land an.
Auf den Malediven gibt es, das ist wahrscheinlich ziemlich einmalig in der Welt, eine
strikte Trennung zwischen Touristeninseln und Einheimischeninseln, wo Touristen
nicht einmal übernachten dürfen. Ein Vorteil für beide Seiten, meint
Tourismusminister Ibrahim Hussain Zaki: "Die negativen Auswirkungen des
Tourismus auf unser Volk halten sich in Grenzen, die Touristen andererseits haben
ihre Privatsphäre." Was den schwarzen Amerikanern ein Dorn im Auge war, hier die
Schwarzen, dort die Weißen, getrennte Badezimmer, getrennte Theken, ist dem
Tourismus ein Heilmittel.
Ob magischer Ort oder schlimmstes Rattenloch, Jetset oder Last-minute, wo ist der
Unterschied? Ist das Reisen nicht mehr symbolfähig? Wie Robinson sein und
unerforschte Welten entdecken können heute nicht einmal mehr die Kinder, denn die
sogenannten Robinson-Spielplätze gleichen sich wie ein Ei dem andern. Alles ist
austauschbar in der Konsumgesellschaft. "Was man nicht kennt, lohnt sicher auch
das Kennenlernen nicht, alles ist wie überall", sagt Günter Metken. Zugleich entpuppt
er sich als Mahner gegen Kulturpessimismus: "Daß es nichts mehr zu entdecken
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gebe, ist ein Gemeinplatz. Mit gleichem Recht ließe sich sagen, daß jeder wieder
alles neu für sich erleben kann."
Der Reisende wird mechanisch abgefertigt und begegnet überall unpersönlichen
Dienstleistungen. Perfekte Ferien langweilen. Unvorhergesehenes bleibt hingegen
lebendig in Erinnerung. Oft ist es viel spannender, lesend zu reisen, als sich der
Reisebewegung selbst hinzugeben. Lesende sind Nomaden mit den Augen. Seit der
Vatikan 1985 entschieden hat, daß der päpstliche Segen per Bildschirm nichts von
seiner Wirkung verliert, entfällt jeder Grund, selbst nach Rom zu reisen. Der Mensch
wäre wohl besser dran, wenn er Fußgänger geblieben wäre.
Alles hat seine korrekte Umlaufbahn. Oder einen bestimmten Weg. Ein Zug bewegt
sich auf Schienen. Entgleist er, passiert ein Unglück. Eine Rakete hat eine Flugbahn,
auch wenn sie unsichtbar bleibt. Gleiches gilt für Fische, Winde und Sterne. Jedes
Leben hat seinen eigenen Weg. Das Dasein folgt einer großen Lebensreise. Diese
vereint bemerkenswerte Reiseleistungen auf der öffentlichen Bühne des Lebens wie
auch schwierige Herausforderungen und Hindernisse hinter der Bühne. So gesehen
ist die Reise häufig Symbol für den Lebensweg. Wohin führt die Lebensreise? Das
Leben ist eine Irrfahrt zum Selbst. Wissen wir, wer wir sind? Auf unserem Lebensweg
zu Wahrheit und Weisheit brechen wir eigentlich zu unserer Selbstentdeckung auf.
Während das Ziel im Schatten bleibt, müssen wir unserem Schicksal - wie
katastrophal es auch in~mer sei - einen Sinn verleihen, mit der Liebe, mit der
Gelassenheit und durch die Entdeckung des eigenen Selbst. Wer ins Buddhaland
vorstößt, gelangt zum absoluten Glück und zum wahren Selbst, aber nicht in ein
Paradies oder in ein Land, das frei ist von menschlichem Leiden: Lebensreisen sind
Leidensreisen.
Der Geist und Glanz der Utopie mag erloschen sein, der Utopos, der Nirgendwo-Ort,
hat als Mythos überlebt - dem Touristen stehen 1000 Welten zur Auswahl. Action und
Thrill sind in: Klettern auf einem vereisten Wasserfall im Sellraingebirge, Rafting im
ungezähmten Tschatkal-Fluß im Tien-Chan-Massiv Kirgisiens, Untertauchen in
Tropfsteinhöhlen zwischen Maya-Ruinen und Kokospalmen in Mexiko, Uberleben im
malaysischen Taman-Negara-Urwald, Husky-Rennen 1000 Kilometer über die
Finnmarksvidda nach Alta, Biking in China oder auf zwei Rädern durch die Wüste,
oder ein letzter Tip für die große Freiheit, gleich mit dem Survival-Koffer (inkl.
Hängematte und Angelrute) für 15 Mark pro Tag das einsame Robinson-Gefühl auf
einer unbewohnten Insel in Neuseeland reinziehen. Für Kulturfreunde sei der Ausflug
zu einer bizarren Reliquie in ein kleines Museum in Südfrankreich empfohlen: die
Hoden Napoleons, eingelegt in Alkohol!
Das Verschwinden von Utopien kompensiert ein Nebeneinander von
unterschiedlichsten temporären Reiseereignissen. "Heute sind die sogenannten
Paradiese der Ferienanbieter total künstlich, wie alle touristischen Anlagen:
utopisch", schreibt Aurel Schmidt in diesem Heft. Ob in der virtuellen Welt oder im
Club der Biker, Trekker und Surfer: für Raum, Zeit und Körper ist ein reichhaltiger
Prothesenmarkt entstanden. Dazu kommt, daß Reisetrips sich paradox entwickeln:
Enträumlichung (ohne räumliche Distanz von Altona bis Alabama zum Ortstarif im
Internet), Entkörperlichung (Verblassen der Grenzen zwischen Ich und die Welt) und
Entzeitlichung (Verschiebung zeitlicher Dimensionen in eine Art virtuelle Ewigkeit)
gehen Hand in Hand mit Verkörperlichung (Kaptisches Erlebnis), Verdinglichung (im
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Sinne von haptischer Wirklichkeit), Verortung (Sehnsucht nach räumlicher Bindung)
und Verzeitlichung (Nostalgie) - entgegengesetzte Bewegungen also, die sich sogar
wechselseitig verstärken.
Gleiches gilt für die wachsende Globalisierung, die einhergeht mit der Zunahme
neuer Differenzierungen: Kosmopolitismus und Provinzgeist sind keine Gegensätze
mehr - allen Nörglern zum Trotz, die infolge fortschreitender Vernetzung überall
Uniformitäten einer Einheitskultur wittern.
II. Ruhen - enge Räume für weite Träume
Alles Unglück dieser Welt rührt einzig daher, daß der Mensch nicht ruhig in einem
Zimmer bleiben kann, befand Blaise Pascal, Franzose des 17. Jahrhunderts, der die
medizinische Spritze und die Rechenmaschine erfand und 1662 mit nur 39 Jahren
starb. Stattreglos in seinem Zimmer zu liegen wie ein verpupptes Insekt, das auf den
Anbruch einer neuen Jahreszeit wartet, ist der Mensch ein Tempomacher und
Ruheloser: Seine Reise um die Welt in 80 Tagen führt jedoch in die Leere. Denn die
Welt ist bis in den letzten Winkel bereist. Der wahre Garten Eden ist die Ode.
Angesagt wäre eher, um einen Buchtitel von Julio Cortazar zu zitieren, eine "Reise
um den Tag in 80 Welten".
Pascals Welt war damals ein Durcheinandertal. Die Deutschen, wie Simon
Winchester schreibt, prägten dafür späteren Begriff Wanderlust: "Frankreich dehnte
sich nach allen Seiten aus, die Briten waren dabei, Kolonien in Afrika zu errichten,
die Holländer eilten nach Ostindien, um dort Reichtümer zu entdecken, die Siedler
führten Kriege mit den Eingeborenen in Amerika." Obwohl Pascal sich vom Sausen
und Rasen der Leute angewidert fühlte, bekannte er sich später zum Satz: "Unsere
Natur liegt in der Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod." Er stellte fest, daß
das Reisen der Urtrieb des Menschen ist, ohne den er weder existieren kann noch
wird. Was ist der moderne Mensch, wenn nicht die Folge von Mobilität, Migration und
Multikultur, von Massenwanderung und Massentourismus?
"Pilgrim's Progress" von Johan Bunyan, diese allegorische Darstellung des
menschlichen Lebens als eine Wallfahrt, war nach 1678 in der christlichen Welt das
hinter der Bibel am weitesten verbreitete und meistübersetzte Buch, was zeigt, wie
genau es ein damals und noch während langer Zeit vorherrschendes Lebensgefühl
ausdrückte.
Was wäre, wenn jemand mit Pascals Diktum ernst machte und beschlösse, ganz
einfach nicht mehr rauszugehen? Das Zuhausebleiben biete alle Chancen, das
Glück auf Erden ökologisch vernünftig zu mehren, behauptet das Autorenteam Wolf
Schneider und Christoph Fasel in ihrem polemischen Buch "Wie man die Welt rettet
und sich dabei amüsiert" (1995). Das Leben aus erster Hand ruiniere die Erde, im
Leben aus zweiter Hand liege die Rettung: "Die Zukunft gehört dem Stubenhocker:
ihm, der keinen Autofriedhof und keine Giftmüllhalde produziert, kein Ozonloch,
keinen Ölteppich und keine Algenpest."
Die These besticht: Je mehr und länger die Leute daheim vor dem Fernsehen sitzen,
desto weniger zerstören sie autofahrend, fliegend, lärmend und stinkend die Umwelt.
Das Fernsehen ist nicht nur der beste Umweltschutz, es würde dem Arbeitslosenheer
auch eine neue Heimat bieten. Der Staat muß umdenken und jenen eine Rente
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aussetzen, die auf die Produktion von - ohnehin umweltbelastenden - Waren
verzichten. Wohlstand ist nicht als Lohn für geleistete Arbeit zu betrachten, sondern
als Prämie fürs Zuhausebleiben. Das Motto "Bleibt mehr zu Hause, seht mehr fern! "
ist zwar zynisch, aber doch ernst und nicht als schlechter Witz gemeint. Cocooning,
das Einspinnen in den eigenen vier Wände nach dem Motto "My home is my castle",
die Lebensform der Zukunft?
In einem Rechenbeispiel gehen Schneider/Fasel von einer Million Touristen aus, die
pro Jahr das Schauspiel eines Sonnenaufgangs an der Bucht von Rio de Janeiro
genießen möchten. 10 Prozent davon sind Deutsche, die also 100 000 Flugreisen
buchen, 60 000 Hotelzimmer belegen, in 30 000 Taxis steigen und insgesamt rund
400 Millionen Mark verpulvern. Warum nicht lediglich ein fünfköpfiges Fernsehteam
hinfliegen und den Sonnenaufgang filmen lassen? Die Ersparnis ist unglaublich:
Fluglärm, Flugbenzin, Hotelsilos, Autoabgase, Unfälle, Diebe, Durchfall, Knoblauch
und Achselschweiß.
Fernsehen ist nicht nur schöner als die Wirklichkeit, das TV-Team hat auch Zeit und
Geld genug, einen malerischeren Sonnenaufgang zu zeigen, als die Reisenden je
erleben können. "Touristen legen nämlich nicht den geringsten Wert auf fremde
Speisen, Gerüche und Geräusche; nur ihr Auge liebt des Ungewohnte. Wie wäre
sonst der Erfolg amerikanischer Hotelketten zu erklären, die die Ohren, die Nasen
und die Zungen in aller Welt vor dem Fremdartigen bewahren? Fernsehen schmeckt
nicht und riecht nicht, und selbst die exotischen Laute werden unserem Ohr erspart
mit Hilfe der Synchronisation - Augenlust ohne Erdenrest."
Eine ganze TV- und Video-Generation lebt heute quasi aus zweiter Hand. ComicHelden für Kinder, Regenbogenromanzen für Frauen, Sexvideos für Männer und
vieles andere mehr bietet sich zur Identifikation an. Oft werden einem künstliche
Paradiese vorgegaukelt, die an ihrem Glücksversprechen kläglich scheitern. Der
verheißungsvolle Slogan "Don't work, be happy" an Technopartys macht aus dem
Rave wie jede Rauschdroge eine Fluchtburg und steht für ein Streben nach Lust und
Glück. Wenn auch die Kulturindustrie die Ausbeutung jugendlicher Glückssehnsüchte
an großen Raves fleißig vorantreibt, sind kleine, illegale Partys - im Gegensatz zu
Discos, wo Zwänge, Hierarchien und Kontrolle wie in der Außenwelt vorherrschen Freiräume, an denen eigene Grenzen experimentierend erprobt und überschritten
werden: Orte für authentische Lebenserfahrung.
Sekundäre Lebenserfahrung durch künstliche Paradiese sind Zuflucht und
Fluchtversuch in einem. Das Leiden primärer Lebenserfahrung wird ausgeblendet.
Fertige Lebensmuster verhindern es, eigene Erfahrungen zu machen und sich mit
sich selbst auseinanderzusetzen. Als Walt Whitman 1867 während eines
astrologischen Vortrags plötzlicher Ekel befällt, verläßt er den Hörsaal, läuft ins Freie
und betrachtet wortlos den Himmel - um die Sterne über sich zu sehen, anstatt
Wörter über sie zu hören.
Nur wer das eigene Leben anpackt, gelangt zu Selbständigkeit, Selbstverantwortung
und Selbstvertrauen. Sehn-süchtig Dauerberieselung durch TV oder Musik macht
realitätsblind, unkritisch und selbstvergessen. "Ohne Musik kann ich nicht
einschlafen." "Ich brauche Sound, um mich wohlzuführen." "Ohne Musik, die bei mir
immer läuft, wirkt mein Zimmer beängstigend leer." Dies sind Statements von
10
Teenagern, die dem Musikkonsum einen rauschdrogenähnlichen Zustand
zuschreiben.
"Künstliche Paradiese", resümiert Matthias Vogt, "betrugen uns letztlich um unsere
Sehnsüchte. Sie versprechen schnelles Glück, zementieren aber den Status quo und
sind veränderungshemmend." Mit der cocoonten Einbunkerung zwischen Sofa,
Cyberspace, Multimedia und Telearbeit wird einmal mehr der Mythos vom Paradies
beschworen, der im gleichen Bild des eingezäunten Gartens Glückseligkeit
verspricht. Blumengiesen im Netz kann man im "Tele-Garden"
(http://www.usc.edu/dept/garden/).
Dem Kölner Galeristen Joachim Blüher ist der Faxhinweis auf "Kurzer Weg" von
Ernst Bloch zu verdanken. Bloch spricht davon, das Draußen einmal draußen zu
lassen, und von Wegen drinnen, auf denen man auch reisen kann. Was einem in den
Weg komme, könne entweder scharf umgangen oder weggeräumt werden. Was
meint er mit dem "Kurzen Weg? Originalton Bloch:
"Ein Schritt weiter, und die Bahn ist meistens wieder offen, es wird gewandert. Das
kann bereits im eigenen Zimmer gelernt werden, in ihm fing uns ja das erste Gehen,
also Reisen an. Auch später ist das Auf und Ab im eigenen Zimmer sonderlich
erfrischend. Der Wanderer kehrt bald um, gewiß, wegen der Wand, die sperrt und
nicht zu umgehen ist, es fehlt so buchstäblich das Freie. Ebenso zeigen sich immer
wieder die gleichen wiederholten Dinge, der Tisch, der Schrank, die Stühle und
selbst das Fenster, das, auch wenn es noch so weit, jedenfalls die Wand brechend
blicken läßt, bald gewohnte Aussicht gibt.
Trotzdem ist Reisen in Zimmern sonderlich entspannend, und das nicht nur, weil es
eine Art von bewegtem Sichstrecken ist. Sein Auf und Ab ist auch ein Abschreiten,
und treulich rufen die Dinge ihr Hier, an denen man häuslich vorüberkommt. Auch
wirkt die schmale Fläche, indem sie behaglich betrachtet, geachtet wird, gar nicht
mehr eng. Ja dies kleine Draußen führt sogar weit in sich fort."
Wie sich ein Trip durchs eigene Zimmer zu einem Loblied auf die Faulheit verdichtet,
ist im Buch "Mitte" (1994) des in Berlin lebenden Schriftstellers Thorsten Becker
nachzulesen. Kernstück seiner assoziativen Schreibdurchgänge bildet Beckers
Übersetzung von Xavier de Maistres "Reise durch mein Zimmer" aus dem Jahre
1794, die Becker zur Nachahmung empfiehlt. Dieses Manifest des Antireisens
transformiert Becker paradoxerweise in eine Philosophie der Unrast und
Unbehaustheit: " 10 8-92 Köln: Auf der Zugfahrt von München nach Mainz fühlte ich
mich seltsam leicht und frei", steht im Reisetagebuch. "Ich wußte überhaupt nicht, wo
ich hingehörte, und dieses Gefühl war sehr angenehm."
Xavier de Maistre reiste 42 Tage gänzlich ohne Gepäck, kostenlos und allein. "Das
Vergnügen, das der Reisende in seinem Zimmer erfährt, bleibt unberührt von der
peinigenden Eifersucht der Menschen, es ist unabhängig von Glück und
Vermögen.... Ich bin sicher, daß jeder vernünftige Mensch mein System übernehmen
wird, gleich welcher Sorte sein Charakter, welcher Art sein Temperament auch sei,
ob er geizig oder verschwenderisch, reich oder arm, jung oder alt, ob er der heißen
Zone entstammt oder in der Nähe des Pols geboren; er kann reisen wie ich. Also in
der unermeßlichen Menschenfamilie, wie sie auf dem Erdboden herumwimmelt,
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befindet sich nicht ein einziger - nein, nicht ein einziger (wohlbemerkt: Ich spreche
von denjenigen, die Zimmer bewohnen) -, der dieser neuen Art des Reisens, wie ich
sie hier in die Welt einführe, seinen Beifall verweigern könnte."
Maistre wünschte sich, daß alle Faulen sich in Massen erheben und ihm auf seiner
Reise folgen, "wohin auch immer sie uns führen mag". Und: "Ich werde mich sogar
im Zickzack bewegen." Dabei schreitet er "von Entdeckung zu Entdeckung". Sein
Zimmer ist von Osten nach Westen gerichtet und bildet ein längliches Rechteck von
sechsunddreißig Schritten Umfang. Ein Sessel, ein Bett und ein Schreibtisch stehen
drin, die Aussicht ist schön. Drucke und Gemälde dekorieren die Wände, etwa das
Porträt Raffaels und das seiner Geliebten.
Thorsten Beckers Buch des Reisens und Verweilens sei auch, so der Klappentext,
ein Buch der Verselbstung und Entselbstigung. Und wenn Becker auf der letzten
Seite seines Buchs notiert, daß er das Gelingen einer Sache anders versteht denn
als Erfüllung von Wünschen, eröffnet sich hier den Lesern plötzlich das Leitmotiv des
Autors, im Leben wie im Schreiben. Mit seinem Rückgriff auf die Vergangenheit, auf
den Text von Maistre wie auch auf die eigenen Reiseerinnerungen, unterscheidet
Becker den simplen Wunsch von der Sehnsucht. Es sind Sehnsüchte, die
gewissermaßen hinter den Wünschen liegen. Es ist ein Sehnsuchtsbild, das aus
engen Räumen weite Träume schafft.
In der Abgeschiedenheit des eigenen Zimmers (eines Klosters oder auch Zugabteils)
entwickelt sich das Reisen als Freiheit des Geistes, die sich über die Zwänge der
Gesellschaft hinwegsetzt. Einer Gefahr muß man sich aber immer bewußt sein: Im
engen Zimmer oder Tal sind oftmals auch die Herzen enger. Hier droht ein Autismus,
ein sonderbares Benehmen, das von der Außenwelt psychosenhaft kaum Notiz
nimmt und ganz und gar nach affektiven Bedürfnissen und inneren Zuständen lebt.
Ein Zustand, der Bereistisch, de-real genannt wird, was soviel wie wirklichkeitsfremd
meint.
Dennoch: Reisen auf der Stelle sind Reisen an Intensität. Drogen sind Mittel, sich auf
einen Trip zu begeben, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Bewegung des
Reisenden formt die Wahrnehmung seiner Welt und von sich selbst, unabhängig
davon, ob er wochenlang unterwegs ist, zum Arbeitsplatz fährt oder auch nur das
eigene Zimmer durchquert. Der Kaiser von China soll jeden Morgen sein Reich der
Mitte besucht haben, indem er sich den vier Seiten seines Zimmers zuwandte. In
Peking, der Mitte der Mitte, in der Verbotenen Stadt, kreuzen sich die Achsen des
Reiches und die Himmelsrichtungen im Kaiserpalast.
Der Wahrnehmungspsychologe James Gibson macht auf die Interaktion zwischen
Bewegung und Wahrnehmung aufmerksam, wenn er schreibt: "Sich von Ort zu Ort
zu bewegen wird als 'physisch' angesehen, während die Wahrnehmung 'geistig' sein
soll. Doch diese Dichotomie ist irreführend. Fortbewegung wird von der visuellen
Wahrnehmung geleitet. Sich fortbewegen hängt aber nicht nur von der
Wahrnehmung ab, sondern auch die Wahrnehmung hängt von der Fortbewegung ab;
das insofern, als für ein ausreichendes Kennenlernen der Umgebung ein bewegter
Beobachtungshorizont nötig ist. Man muß also wahrnehmen, um sich fortzubewegen;
zugleich muß man sich weiterbewegen, um alles genau wahrzunehmen."
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Es ist derselbe Gibson, der von zwei Fixpunkten innerhalb eines in ständigem Fluß
befindlichen visuellen Feldes spricht, die dem Reisenden als Orientierung dienen: der
Punkt, auf den die Reise hinzielt und der immer größer wird, je näher der Reisende
kommt, und der Fluchtpunkt, von dem man herkommt und von dem aus alles immer
kleiner wird. Von diesen beiden Punkten aus entspinnt sich jene Hülle der
Wahrnehmung, in der sich der Reisende während der Reise befindet - einem Kokon
gleich, der bei Temposteigerung die Gestalt eines Tunnels annimmt.
Das Reisen impliziert eine komplexere Wahrnehmung, denn es appelliert nicht nur an
die Sinne, sondern an den Sinn, den die Reise der menschlichen Erfahrung gibt. So
gesehen ähnelt das Reisen anderen intellektuellen oder spirituellen Erfahrungen.
Wer ein gutes Buch liest, wird in eine Beziehung hineingezogen, das eigene Dasein
scheint sich im Wortsinn zu erweitern. Das gleiche Gefühl kann eine Reise
vermitteln, nämlich die Möglichkeit für das Selbst, sich zu einer unendlichen natürlichen oder übernatürlichen - Welt zu öffnen, das persönliche Dasein in innige
Verbindung mit dem ganzen Universum zu bringen.
III. Rastlos - selbstfremd die Welt erfahren
Die Reise gibt es nicht. Jede Reise ist stets lediglich eine Reise unter anderen
Reisen. So wie jede Kultur eine Kultur unter anderen Kulturen ist. Das reisende
Selbst ist in verschiedene Räume und Zeiten, Identitäten und Gefühlszustände
zerstreut. Erst das In-Bewegung-Sein schafft ein Bewußtsein für wahre Identität. Die
Beziehung zu anderen gebiert ein eigenes Selbstverständnis und somit kulturellen
Wandel. Reisen verändert das Selbst des Reisenden.
Reisen steht heute für den Trip. Die Aura des Ortes ist hin, fragt sich nur, wohin.
Jetzt gilt es, den Touristen selbst ins Anderswo zu befördern, denn hier ist er
sowieso.
Das Abenteuer spielt sich nicht mehr in der exotischen Fremde ab, sondern im
eigenen Ego-Zentrum, ohne daß man dabei auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das
Ich wird zum Kulminationspunkt des Reisens. Der "Kick" kommt von innen. Der
exotische Ort verkommt zum stillen Abort. Das Ego verdrängt das Geo. Die
Abenteuersucht wird weniger durch die Begegnung mit den letzten Kannibalen
gestillt, als vielmehr mittels Adrenalinschüben und der Mobilisierung körpereigener
Morphine befriedigt. Extremsportarten boomen. Adrenalin-Junkies fordern die
Grenzen zwischen Angst und Lust immer wieder aufs neue heraus. Die durch immer
stärkere Reize aktivierten Endorphine, diese hausgemachten Drogen, filtern Angst
und Schmerz heraus und liefern das ersehnte Ekstasegefühl.
Man will, das hat sehr wahrscheinlich schon Trendmama Faith Popcorn in den
achtziger Jahren prophezeit, in einen anderen Lebenszustand entführt, aber zum
Abendessen wieder ins traute Heim zurückgeholt werden. Auffallend ist ebenfalls,
daß in den späten Neunzigern, so Trendbürokrat Matthias Horx, "sich die Anzeichen
für eine neue Welle von Aussteigern mehren. Mit dem Aussteigertum der Alternativen
hat dies wenig zu tun: Ausgestiegen wird meist professionell und mit Hilfe einer
Menge Berufserfahrung".
Job-, Home- und Fun-Sehnsüchte suchen ihre Erfüllung. Wer träumt nicht davon:
"Den Fernseher verkaufen, den Toaster auf den Müll werfen, Flugticket holen und
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weg, dorthin, wo die Sonne immer scheint, die Menschen freundlicher sind und das
Essen schmackhafter ist." ("Tempo", Sommerheft 95). Die Titelgeschichte trug den
Titel "Ferien für immer. Infos zum Auswandern und Glücklichsein".
Ein Beispiel: "Kurt, 24, Sydney, Australien: Kurt kam aus dem österreichischen
Burgenland hierhier. Er studiert jetzt Architektur. Sonst surft er mit einem Longboard,
taucht gerne, lebt mit sechs Australiern in einem viktorianischen Holzhaus und cremt
sich sehr häufig ein, wegen des Ozonlochs. Zu Weihnachten fährt Kurt zurück ins
Burgenland, seine Mutter besuchen."
Auswandern, schmackhaft gemacht? Zu Hause lebt's sich gesünder, gemütlicher und
glücklicher, denkt sich der Hausmuffel. Überhaupt: Sind die Fluchtwege nicht längst
verstellt? Oder ihre zeitliche Begrenzung entlarvt? Das Abhauen ist komplizierter
geworden.
Jede Reise wird zu einer gelungenen, selbst wenn sie die größte Enttäuschung war.
Wer gibt schon gerne zu, die getane Reise sei ein Flop gewesen.
Jährlich reisen fast 2,5 Millionen ausländische Freier nach Thailand. Gesucht wird
schneller Sex, aber auch nach einer Lebenspartnerin unter den thailändischen
Prostituierten: eine familienbezogene, immer freundlich lächelnde Asiatin, die
aufgrund ihrer Andersartigkeit eine heile Welt im Zwischengeschlechtlichen bietet mit anderen Worten eine Frau, die ganz dem in Europa kreierten Klischee
entsprechen soll. Die hohen Erwartungen werden oft mit bitteren Erfahrungen
quittiert. Das Fazit einer Sextourismus-Studie spricht Klartext: Der Sex miz Thai-Girls
ist nur quantitativ überbordend, emotional empfinden ihn die Männer meist als
langweilig, unschön oder sogar abstoßend.
Viele werden trotzdem wieder hinfliegen. Die Kunst des Verdrängens löscht die
Unzufriedenheit in der Erinnerung, durch zeitliche und räumliche Distanz werden die
Erlebnisse idealisiert.
Gelungenes Reisen ist selten, meist bleibt der geistige Horizont hinter dem
geographischen zurück. Umgekehrt ist die Geographie des Denkens nicht nur eine
Sache der Theorie, sondern entspringt dem Bedürfnis des Menschen, sich sinnlich in
der Welt zu situieren.
Auf dem Rücken eines Elefanten zu sitzen und sich als geistreicher Weißer
bemitleidend über das arme, wilde Indien zu amüsieren steht beispielhaft fürs schöne
Staunen eines Europäers. Wer nicht nur sehen, sondern auch begreifen will, kommt
um ein vertieftes Studium fremder Kulturen nicht herum. Je mehr man weiß, um so
mehr sieht man. Der Wissende nimmt besser wahr.
Oft muß man weit vor die Haustür gehen, um etwas über sich zu erfahren: Die weite
Welt als Lebensschule. Indem man reist, beginnt die passive Biographie sich zu
entgrenzen, um als Denkgeographie aktive Gestalt anzunehmen. In der Geo-Graphie
kehrt die Bio-Graphie als Anderer, als Gast zu sich selbst zurück. Der Einkehr geht
das Verlassen der engen Grenzen des nicht selten unheimlichen Heims voraus.
Unbeantwortet bleibt dabei die Frage: In welche Richtung betet man im Flugzeug?
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Die meisten Reisenden stellen moderne, hochindividualisierte und pluralistische EgoGesellschaften, die kapitalistische Welt. Im Massentourismus wird erkennbar, wie
sehr die Kultur des Imperialismus westlichen Denkens und Tuns auch heute noch, in
der Zeit des Postkolonialismus, aktuell geblieben ist. Gerade der Tourismus steuert
und verblendet die Attitüden und Erwartungen des sogenannten Zentrums
gegenüber der sogenannten Peripherie, dem Rest der Welt.
Gelingt es den Blick von einer Ethno-Kultur zu einer Geo-Kultur überzuschwenken?
Kann ein neuer kosmopolitischer oder eben geo-kultureller Raum wachsen, gedacht
als Einheit ohne Zentrum, als herrschaftsfreier Zusammenhalt einzelner, aber
füreinander geöffneter Identitäten? Das würde nicht nur helfen eine seit langem
zwischen den Kulturen spielende Kultur der Kreuzungen, Durchmischungen und
Konflikte zu fördern, sondern sie ebenso produktiv und verbindend wirken zu lassen:
zugunsten gemeinsam-erdbürglicher (also nicht-ethnozentrischer statt
ethnozentrischer) Achtung vor der Würde des anderen und der Andersheit.
Seit 1989 sind zahlreiche Staaten und Kulturräume auf dem Weg zu sich selbst und
zu neuen Formen der Gemeinschaft in Europa und in der interkulturellen
Zusammenarbeit. Unterwegs ist der Mensch nicht nur mit dem Selbstbild seiner
Identität. Unterwegs ist er auch ästhetisch - nicht als neue Autorität, aber als eine
nomadische, unstet wandernde und antinarrative Energie. Heute ringt man gerade im
demokratiegesättigten und wohlstandsverwöhnten Westen um Veränderung des
negativen Karmas. Verbraucht hat sich die Mode des Mutmaßens über die
Wirklichkeit und deren Utopisierung. Bewußtseinsveränderungen von Individuen,
Organisationen oder Kulturen setzen voraus, daß erst einmal ein Bewußtsein
vorhanden ist, besser noch, ein starkes Selbstbewußtsein gepaart mit Selbstzweifel,
- Ironie und auch Achtung.
Für den ästhethisch Reisenden stellt sich die Frage nach einer oppositionellen
Strategie, nach einer Vision als Gegenstück zum Tourismus-Imperialismus. Gegen
die Tyrannei des Massenhaften setzt der reisende Ästhet auf die Subversion des
Eigenen, auch wenn ihm bei seiner Abfahrt der Stau am Check-in-Schalter nicht
erspart bleibt. Es geht ihm auf seiner Passage um eine ethisch-ästhetische Position
in einer Globalkultur, um seinen interkulturellen Standort in einem neuen
kosmopolitischen Raum, um sein Image in der Welt. Reisen kommt von der Lust des
Reisenden an der Welt.
"Der Kult des bloßen Augenscheins, wie ihn noch heute literarische Touristen, ob es
sie nach Patagonien oder nach Serbien führt, so ignorant kultivieren", bemängelt der
Literaturkritiker Karl-Markus Gauss, "diese Haltung, die vermeint, die verborgenen
Zusammenhänge der Welt entschleierten sich just dem ahnungslosen
Spaziergänger" sollte dem um sein Wissen ringenden Reisenden fremd bleiben.
Spannend wird es, wenn das faszinierende Experiment gelingt, das Fremde exakt zu
beschreiben und zu begreifen und es so mit dem Eigenen in Beziehung zu setzen weder überheblich noch demütig, aber mit wachen Sinnen. Grund und Ziel allen
Reisens sind Wissensdurst, Erlebnishunger und Glück.
Wünschenswert ist es, mit den Augen des süchtigen Flaneurs zu reisen, dem der
Weg das Ziel ist, der ausgestattet ist mit dem fremden oder, besser noch, mit einem
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fremdelnd beobachtenden Blick, der sich beim Spazierengehen an Dingen festsaugt.
Es ist ein assoziatives Verfahren, das ins Unbekannte abhebt, ins Unheimliche, um
im nur allzu Bekannten, Komischen und
oft genug Ausweglosen zu landen. Es kommt nicht darauf an, etwas Tolles oder
Schäbiges zu erfahren, sondern die laufende Bereicherung des eigenen Selbst
wahrzunehmen und produktiv umzusetzen. Dergestalt reisend unterwegs zu sein,
geschieht immer simultan mit anderen. Fremdes mischt sich fraglos in Eigenes
hinein. Der erlebte Augenblick ist eine zufällige Schnittmenge verschiedener
Begegnungen und Assoziationen. Wir sind Spiegel und Echo. (Davon handelt der
zweite KUNSTFORUM-Band über das Reisen von Künstlern.)
Das Motto "Lieber anderswo flanieren" gilt heute für einige Metropolen der Welt. Was
sich im klimatisierten Kokon mit Straßencafe a la italienische Piazza eines
wohlhabenden Vororts abspielt, ist etwa im Stadtkern von Johannesburg undenkbar:
Entspanntes Flanieren vor Schaufensterfronten ist praktisch unmöglich, da fordernde
schwarze Hände einem ständig an Kleidern oder Schuhen herumfummeln.
Geschichten über entrissene Fotoapparate und Brieftaschen gehören zur
Tagesordnung. Vorsicht ist geboten. Stetige Wachsamkeit jedoch streßt und nervt.
Ein politisch alles andere als korrekter Witz spiegelt die Lage im Zentrum der größten
Stadt Südafrikas: "Was ist der Unterschied zwischen einem Touristen und einem
Rassisten? - Zwei Stunden in Johannesburg." Der südwärts Reisende muß Klischees
und Widersprüche aushalten können, muß zwischen Fremdenfeindlichkeit und
Familienliebe, Brutalität und Banalität pendeln, ohne aus dem Gleichgewicht zu
geraten.
High-Tech-Tunnelfahrten mit Multimedia, Datenhandschuh und 3-D-Brillen, CyberReisen auf einem Eisbrecher oder Cyber-Party auf einer Sex-Hotline -wohin führt
das? Die Natur wird aufatmen, die Erde wird blühen. "Der Stubenhocker", so
Schneider/Fasel, Weltverbesserer im Zeichen einer medialen Kunstwelt, "gibt sich
einen Ruck und verschwindet im Cyber-Raum."
Einen Ruck hat sich auch Bruce Chatwin (1940 - 1989) gegeben, doch
verschwunden ist der vielgepriesene "travel weiter" und Wanderer aus Leidenschaft
in die gegenseitige Richtung: Low statt high hieß seine Devise, oder anders
ausgedrückt: Nomadismus statt schöner neuer Hometechnozauber und
Stubenheimweh. Ab zu den Kamelen, statt vor dem flimmernden Kaminfeuer im
Fernsehen zu reisen. Flow statt fly. Im flow zu bleiben machte aus Chatwin den
gewohnheitsmäßigen Reisenden, den ewigen Wanderer, der nirgends zu Hause ist
als in der Bewegung.
Die Natur der menschlichen Ruhelosigkeit war es, die den rastlos reisenden Chatwin
am meisten beschäftigte. Er versuchte, Antworten auf uralte Fragen zu finden:
Warum ist der Mensch das unsteste, unzufriedenste aller Lebewesen? Warum
erscheint die Welt der Nomaden als vollkommen, während die Seßhaften ständig um
deren Verbesserung bemüht sind?
Mit 18 Jahren begann Bruce Chatwin beim Londoner Auktionshaus Sotheby's als
Laubursche zu arbeiten, mit 22 stieg er zum Direktor der Impressionismus-Abteilung
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auf - zum jüngsten Direktor, den Sotheby's je hervorbrachte. Geschätzt wurde sein
unfehlbares Auge.
Drei Jahre später erblindete Chatwin vorübergehend. Er begriff diese offenbar
psychosomatische Erkrankung als Ausdruck eines Unbehagens. Der Augenarzt
empfahl ihm, "weite Horizonte" aufzusuchen. Chatwin brach, um seine eigene
Unruhe zu "erwandern", nach Afrika und Zentralasien auf - und entdeckte seine
wahre Bestimmung: das selbstgenügsame Wanderleben der Nomaden.
Er kündigte bei Sotheby's, lebte fünf Jahre bei herumziehenden Hirtenvölkern
zwischen Marokko und Afghanistan, füllte seine Notizbücher mit Anekdoten,
Spekulationen und Beschreibungen und kam, wie er schreibt, zur "Überzeugung, daß
Nomaden der Angelpunkt der Geschichte gewesen waren". Er wollte das in einem
umfangreichen Buch mit dem Titel "Die nomadische Alternative" belegen. Es sollte
ein "außerordentlich ehrgeiziges und intolerantes Werk" (Chatwin) werden, eine Art
"Anatomie der Rastlosigkeit", in der Pascals Satz von dem Menschen, der unfähig
ist, ruhig in einem Zimmer zu sitzen, weiter ausgeführt werden sollte. Das Buch sollte
die These verfechten, daß "die natürliche Auslese uns - von der Struktur unserer
Hirnzellen bis zur Struktur unseres großen Zehs - zu einem Leben periodischer
Fußreisen durch brennend heißes Dornen- oder Wüstenland bestimmt habe". Wahre
Ruhe, glaubte Chatwin instinktiv, könne nur in der Bewegung gefunden werden.
Die Seßhaftigkeit betrachtete Chatwin als denaturierend. Die Seßhaften suchten sich
"ein Ventil in Gewalttätigkeit, Gier, Suche nach einem bestimmten Status oder in
einer Sucht nach allem, was neu war". Mobile Gesellschaften dagegen fand er
"egalitär, unbelastet von Dingen und resistent gegenüber jeder Veränderung". Aus
seinem Nomadenprojekt wurde vorerst jedoch nichts, denn er verbrannte das
Manuskript. Warum nur?
Die "Kunstwelt" mit all ihren teuren, toten Sammelstücken hinter sich lassend, lernte
Chatwin auf Reisen wieder sehen. Er kehrte den Artefakten den Rücken und wandte
sich der Askese des Unterwegsseins zu. Als ein Nomade der Literatur sprach er
durch seine Bücher: Bewegung, nicht Seßhaftigkeit ist die dem Menschen gemäße
Lebensform; das Gehen und Unterwegssein hat heilende Kraft, wirkt gegen
Aggressionen und Depressionen; wechselnde Umgebung und der Kontakt mit
anderen Menschen verhindern das Versinken im gleichförmigen Alltag; im Spiegel
des Fremden entdeckt sich das eigene Ich viel leichter, klarer, unmittelbarer als im
Behausten, Heimatlichen. Chatwin war der Autor all jener, die den Tourismus hassen
und dennoch unter Fernweh leiden. Chatwin war ein Reisender, kein Tourist, einer,
der beim Aufbrechen nicht schon an die Heimkehr dachte.
Wenn Künstler wie Bruce Chatwin ihre Biographie an der Geographie, am Fremden
und Unbekannten brechen und entfalten, kommt es zu einer Ästhetik des Reisens,
die eigene Formen, Motive und Ausdrucksarten schafft, um auszudrücken, was sich
nicht einfach, unvermittelt aussprechen und darstellen läßt. Diesen Bruch zwischen
Selbst und Fremd in der eigenen Künstlerperson auftreten und die beiden Elemente
sich durchdringen zu lassen führt zu glücklichen Momenten, in welchen Leben und
Erleben zusammengeführt werden. Selbstfremd der Künstler die Welt.
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Von diesem Sehnen aus entsteht eine Kunst, aus der das Selbst und das Fremde
gleichberechtigt das neue Objekt schafft. Der kulturelle Ort der Souveränität oder
Autorität des Subjekts wird aufgelöst zugunsten einer interkulturellen Verbindung von
Energien. Das Sehnen einer Kunst, die darauf basiert, daß das Selbst das Fremde
abwehrt (etwa NS-Kunst oder Futurismus a la Marinetti oder sonst disziplinierte und
kalte Ästhetiken) schafft Abhängigkeit und macht süchtig.
Statt Reisen mit dem Bekannten, Vertrauten und Heimatlichen gleichzusetzen,
bezieht sich der ästhetisch Reisende aufs Fremde. Das läßt eine wichtige Funktion
des Reisens faßbar werden: Reisen (oder Kulturj ist das, was in der
Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, es stellt die Veränderung des
Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar. Das Reisen bekommt so gesehen
einen paradigmatischen Wert für die Kultur.
Der ästhetisch Reisende trifft unterwegs auf geistige Verwandte, indem er das
Eigene im Fremden wiedererkennt und so herausfindet, daß das Fremde gar nicht so
fremd ist. Wenn es aber in der Ferne zu Freundschaften kommt, läuft ein anderer
Prozeß ab: Eine Solidaritätserfahrung mit Fremden entsteht erst dann, so der
Psychoanalytiker Erdheim, "wenn man bereit ist, dank der sympathiegetragenen
Begegnung mit dem Anderen das Fremde im Eigenen wahrzunehmen".
Der ästhetisch Reisende schließt sich nicht irgendwelchen Organisation an, um zu
reisen, sondern ist angewiesen auf dichte Netze und auf Formen lebendiger
kultureller Selbstorganisation nicht zuletzt in kleinen Einheiten und Kommunitäten.
Obschon oder gerade weil der Massentourismus in den nächsten Jahren massiv
boomen wird, prägt komplementär zu Nivellierung und Konformismus eine starke
Differenzierung und Individualisierung das kulturelle Bild massenmedial integrierter
Gesellschaften. Die egalitäre Freisetzung selbstbestimmter Reisemöglichkeiten
wächst. Wenn massenhaft Tennis oder Schach gespielt wird, heißt das noch lange
nicht, daß auch das Niveau dieser Sportarten sinkt. Das Gegenteil ist der Fall. Je
breiter die Basis, um so höher die Meisterschaft.
Alternativen zum Massentourismus erfahren beim reisenden Künstler eine
ästhetische Zuspitzung. Ob am Ende der Massentourismus sich sogar auflöst? Ob
generell quantitative von qualitativen Konzepten abgelöst werden?
Für den Ästheten des Reisens sollte das Reisen letztlich Selbstzweck sein. Chatwin,
Engländer, der mit einem Kolonialbewußtsein imprägniert wurde, das die Welt als
Englands Hinterhof betrachtete, sah das trivialer und radikaler zugleich: "Für uns
Junge war Reisen damals nicht Selbstzweck, es gehörte einfach dazu. Man konnte
nach London, aber ebensogut in die Südsee gehen. Diese Vorstellung hat mich bis
heute nicht verlassen. Wenn ich meine Sachen packe, nehme ich mir nicht vor, eine
Reise zu unternehmen. Ich gehe einfach weg."
Der Zweck des Reisens ist, auf Reisen zu bleiben, also nicht utopischen Zielen
nachzuhängen, sondern in Bewegung zu bleiben. Es gibt keinen anderen Grund fürs
Reisen als das Reisen selbst: Reisen als Selbstkommunikation.
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Ob Lost Generation oder Beat Generation, für beide blieb die Bewegung einmal
mehr Selbstzweck, für Ernest Hemingway wie für Jack Kerouac. Unterwegs zu sein
ist die einzige und einzig edle Funktion des Lebens, heißt es in "On the road". In
Bewegung zu bleiben gehörte ebenfalls zum Credo der Hippies. Amerika liegt an
einer großen Autobahn. Der amerikanische Mensch ist ein Pilger geblieben, ewig im
Aufbruch, fortwährend unterwegs auf Straßen.
In der Ästhetik des Reisens zählt nicht die Flucht vor etwas oder die Suche nach dem
"Anderen". Im Mittelpunkt steht ein Unterwegssein, das gewissermaßen als
Rundreise um die Erde zum Ausgangspunkt zurückführt, um dann wieder von vorne
zu beginnen, wie in einem unendlichen Loop. Ich bin ständig auf der "unvollendeten
Suche nach einem Selbst unter anderen", notierte der reisende Ästhet Victor
Segalen; was sich wie ein Plädoyer liest für ein Reisen als Hang zur
Selbstunterwanderung.
Der Kontakt mit der entzauberten Wirklichkeit erübrigt sich für den wahren Ästheten
nicht. Und wichtiger noch: Sehnsüchte müssen nicht in Erfüllung gehen. Was uns
lebendig hält, ist weniger die Erfüllung der Sehnsucht als die Sehnsucht selber. Die
Sehnsucht zu erfüllen entspricht dem Wunsch, eine Blume haben zu wollen und sie
dann zu pflücken. Die Sehnsucht ist erfüllt, die Blume aber ist tot.
ANMERKUNGEN
LITERATUR
Thorsten Becker: Mitte, Berlin 1994.
Klaus H. Bömer: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der
geographischen Utopie, Frankfurt 1984.
Bruce Chatwin: Traumpfade, München/Wien 1990.
Mario Erdheim: Die Sucht und das Sehnen des Künstlers. Ethnopsychoanalytische
Überlegungen zur Ästhetik, in: Kulturen - Verwandtschaften in Geist und Form,
herausgegeben von der Galerie nächst St. Stephan, Wien 1991.
Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts,
Wien 1996.
James Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen
Wahrnehmung, München/Wien 1982.
Eric J. Leed: Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus
unserer Tage, Frankfurt/New York 1993.
Günter Metken: Reisen als schöne Kunst betrachtet, Frankfurt am Main 1983.
Gert Raeithel: Go West. Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner, 1993.
Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter
der Macht, Frankfurt am Main 1994.
Wolf Schneider/Christoph Fasel: Wie man die Welt rettet und sich dabei amüsiert,
Reinbek bei Hamburg 1995.
Matthias Vogt: Sehn-Sucht. Der Zusammenhang zwischen Sehnsucht und Sucht,
Lausanne 1994.
Simon Winchester: Die Welt ist klein, in: Martin Parr: Small World, Heidelberg 1995.
KOMMENTARE ZU DEN BILDERN IM TEXT
TRICKY: Pre-Millennium Tension, CD
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IM SPANNUNGSFELD DES PRÄ-MILLENNIUMS: Er hat ein einziges geniales
Album gemacht >Maxinquaye< (1995), und seither muß er alles können:
avantgardistisch und verständlich sein, den Star und Anti-Star verkörpern, kurz:
famous and naked zugleich sein, wie er mit asthmatischer Stimme auf seinem neuen
Werk >Pre-Millennium Tension< singt. Von düsteren Gedanken hat sich Tricky
(~1968 in Bristol) weiter hinabziehen lassen in eine innere Höhle. Über seinen PräMillennium-Blues meint er: >The 'Pre-Millennium Tension' idea is a bit a joke. It's
nothing to do with the Millennium. We're tense anyway We're best. We're going.
We've gone too fast, too quickly. We're in trouble. Everybody's on about the
millennium . I don't think tha's got anything to do with it. We're just bust. We've just
bust. We've no Chance. It's not looking good.< - Als Kinder grenzenloser
Kommunikationskulturen sind wir heute überall und nirgends zu Hause. Wir sind
Menschen, die im Weltdorf herumschlendern wie Spaziergänger in Suburbia. Wir
sind Reisende im Spannungsfeld des Prä-Millenniums - ohne Herkunft, ohne
Absichten, ohne Ziel, ohne Haß, ohne Liebe, ohne Gott. Ein Umgetriebensein, ein
orientierungsloses Umherirren in der Welt begleitet die Menschheit von Anfang an.
So wie der Erdkern nicht wie ein Diamant fest im Zentrum ruht, sondern fließt wie
Honig, ist der Mensch in ständiger Bewegung. - Zur Jahrtausendwende erzeugt
gerade Mobilität ein ganz eigenes Gefühl der Gemeinschaft kultureller Zivilisationen.
Als Polyglotter mit Wurzeln am ideellen Schnittpunkt unterschiedlicher
Kulturkreuzwege, als Weltbetourer taucht der Mensch des nächsten Millenniums in
ein Esperanto der Sehnsüchte ein - und aus. Reisen als letzte Utopie globaler
Solidaritätserfahrung?
IARA LEE: Synthetik Pleasures
ES IST NATÜRLICH KÜNSTLICH: Ein künstlicher Meeresstrand mit Schiebedach in
Japan, Skipisten in riesigen Freizeitballen, wo sich Hunderte von Menschen einem
durch Witterung ungetrübten Bade- und Skiplausch widmen - ohne Quallen und ohne
Frostbeulen. Der Film der in Brasilien aufgewachsenen und in den USA lebenden
Koreanerin Iara Lee ist ein - elektronischer Road Movie< und zeigt, was der Titel
verspricht: lauter Umformungen Natürlichere Gegebenheiten, Versuche des
Menschen, nicht nur die Naturgewalten zu zähmen, sondern neuerdings die
reizvollen Seiten der rauhen Welt künstlich herzustellen -synthetische
Vergnügungen< eben. - Sowohl künstliche (Ferien-)Paradiese als auch Drogen,
beides lähmt den Menschen in seiner Sehnsucht, so der Schweizer Psychologie
Matthias Vogt. >Die Reisewut< vieler Menschen hat Suchtcharakter. Vogts Analyse
kommt zum Schluß: Es ist ein Phänomen unserer Zeit, daß >viele Menschen
Sehnsüchte gar nicht aufkommen lassen, sondern auf sofortige
Bedürfnisbefriedigung und Spannungsabfuhr fixiert sind. Unser heutiges Leben ist
wahrscheinlich der Sucht näher als dem Sehnen.< - Oft werden einem künstliche
Paradiese vorgegaukelt, die an ihrem Glücksversprechen kläglich scheitern. Sekundäre Lebenserfahrung durch künstliche Paradiese sind Zuflucht und
Fluchtversuch in einem. Das Leiden primärer Lebenserfahrung wird ausgeblendet.
Fertige Lebensmuster verhindern es, eigene Erfahrungen zu machen und sich mit
sich selbst auseinanderzusetzen. - >Künstliche Paradiese<, resümiert Vogt,
>betrügen uns letztlich um unsere Sehnsüchte. Sie versprechen schnelles Glück,
zementieren aber den Status quo und sind veränderungshemmend.<
RAOUL HAUSMANN (1886 - 1971), Tatlin Zuhause
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PRODUKTIVISTENMANIFEST DES ZUHAUSEBLEIBENS: Die Beschäftigung mit
konstruktivistischen Formproblemen erwächst für Wladimir Tatlin (1885-1954) aus
der Begegnung mit den führenden Künstlern des Kubismus, Futurismus und
Dadaismus anläßlich einer Studienreise 1933 durch Europa. In Paris trifft Tatlin mit
Picasso zusammen, dessen kubistische Collagetechnik nachhaltigen Eindruck auf
den Russen ausübt. Nach der Oktoberrevolution wendet sich Tatlin als erster der
russischen Avantgardisten den politischen Ideen eines kommunistischen Staates zu.
Tatlin macht die dadaistischen Versuche einer gesellschaftsbezogenen Kunst für die
Politik fruchtbar, indem er die konstruktive Kunst in die zweckgebundene Technik,
Theorie in Praxis einmünden läßt. Das Jahr 1920 ist ein wichtiges Datum, da Tatlin
sein Produktivistenmanifest veröffentlicht, worin er sein kommunistisches Ziel einer
praxisorientierten, technischen Kunst, die eine individualistische Selbstverwirklichung
im Stile Malewitschs ablehnt und nur eine gesellschaftsbezogene Kollektivkunst
gelten läßt. - Umgemünzt aufs Reisen läßt sich Tatlin als eine Art Propagandist der
Mobilität und des Massentourismus bezeichnen, als ein die Kartographie von Mensch
und Maschine neu bestimmender Geist. Dadaist Hausmann hat das Bild mit einer
nicht zu unterschätzenden Dosis Ironie >Tatlin Zuhause< genannt und so quasi eine
kühne Vision von heute vorweggenommen, die behauptet, daß das Zuhausebleiben
alle Chancen biete, das Glück auf Erden ökologisch vernünftig zu mehren. Also nicht
länger mehr Mobilität = mehr Wohlstand, sondern weniger Mobilität = mehr
Wohlstand. Der Staat muß umdenken und jenen eine Rente aussetzen, die auf die
Produktion von - ohnehin umweltbelastenden - Waren verzichten. Wohlstand ist nicht
als Lohn für geleistete Arbeit zu betrachten, sondern als Prämie fürs Zuhausebleiben.
NAZCA-KULTUR (200 v. bis 700 n. Chr.)
RAUM QUALITATIVER NÄHE UND FERNE :1991 wurde in Peru ein Grab mit
unermeßlichen Kostbarkeiten entdeckt, dessen Erforschung erstmals umfassende
Einblicke in die bisher nur wenig bekannte Sicán-Kultur (ca. 1000 n. Chr.) eröffnete.
Die Sicán herrschten vor den Inkas (ca. 1470 n. Chr.), auf deren mächtiges Reich die
spanischen Eroberer stießen und im Goldrausch systematisch plünderten. Die
archäologische Sensation der Sicán-Entdeckung präsentierte in Europa einmalig das
Rietberg Museum in Zürich. Im Katalog heißt es über die Zivilisation im Andenraum:
>Im Vergleich mit der Alten Welt scheinen die Technologien in der Neuen Welt zu
stagnieren.. Der Webstuhl bleibt etwa unverändert bestehen bis zur Zeit der Inka
Herrschaft. Überdies waren das Eisen als Gebrauchsmetall, das Rad für den Betrieb
von Fahrzeugen und die Schrift in der vorspanischen Welt unbekannt. Die soziale
Organisation und die politischen Systeme entwickelten sich rasch von früheren
undifferenzierten landwirtschaftlichen Gemeinschaften zu den komplexen
Staatsgebilden der Sicán, Chimú und Inka. Diese Situation erscheint aus der Sicht
der Alten Welt recht eigenartig, denn dort gingen soziale Evolution und
technologischer Fortschritt miteinander einher< -Das ästhetische Sprechen wird im
Unterschied zurWissenschaftssprache wesentlich durch Metaphern angereichert. Es
eliminiert nicht, sondern eröffnet somit Ähnlichkeitsräume. Zwischen der
futuristischen >Synthetic Pleasure<-Woman, Hausmanns >Tatlin Zuhause< und
diesem Nazca Gefäß, das ein von Trophäenköpfen und mythischen Wesen
eingehülltes Mumienbündel zeigt, gibt es Ähnlichkeiten in - materieller wie
gedanklicher - Gestalt und Struktur. Es ist offenbar so, daß authentisches Reisen,
das alles Seiende respektiert, dem Menschen einen Raum qualitativer Nähe und
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Ferne eröffnet, in dem auch das Fernste noch ein Ent-Ferntes, das heißt ein Nahes
ist. Reisen zwischen den Kulturen läßt Ent Fernung, also eine Nähe sichtbar werden,
die aller Begrifflichkeit zugrunde liegt und sich selbst doch dem Begriff entzieht.
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