Konzept - Deutschlandradio Kultur

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Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen
31. Oktober 2005, 19.30 Uhr
Der mühsame Kampf um die zweite Chance
Insolvenzen in Deutschland
Von Christoph Lixenfeld
Musik
(Ansage)
Der mühsame Kampf um die zweite Chance
Insolvenzen in Deutschland
Von Christoph Lixenfeld
Musik
Straßengeräusch setzt darunter ein
Sprecher
Erstes Kapitel: Neuanfang mit 1000 Handgriffen pro Stunde
1
Straßengeräusch läuft leiser unter dem Text weiter
Sprecherin
Ein Gewerbegebiet im Südosten der Stadt, eine jener Gegenden, die so gar nicht ins
gängige Hamburg-Klischee von großzügigen Altbauetagen oder Flaniermeilen an der
Alster passen wollen. Zwischen LKW-Verkehr und S-Bahn-Trasse liegt ein
heruntergekommenes Fabrikgebäude, das in der zweiten Etage eine kleine Druckerei
beherbergt. Die Maschinen sehen aus wie aus dem 19. Jahrhundert, und fast alle
stehen still.
Im Hintergrund setzt leise das Maschinentackern ein, wird unter dem folgenden Text
lauter
Sprecherin
Ein Arbeiter sortiert kleine Metallteile in verschiedene Behälter. Er scheint der einzige
zu sein, der heute arbeitet. Abgesehen von der etwa vierzigjährigen, schlanken Frau
mit kurzen braunen Haaren, die in einer Ecke des Saals vor etwas sitzt, dass
aussieht wie eine überdimensionale Nähmaschine. Beate Kalauch steckt kleine
runde Plastikrädchen in eine Öffnung, dann bewegt sich eine Art Stempelkissen nach
vorn und druckt eine schwarze Zahlenskala darauf. Das fertige Rädchen wird
herausgenommen, dann kommt das nächste dran. Ungefähr 1000 Mal macht sie
diesen Handgriff in der Stunde.
Maschinentackern wird lauter, bleibt einige Sekunden alleine stehen, schließlich
springt der Kompressor mit einem Höllenlärm an
2
Tackern wird unter dem folgenden Text leiser und verschwindet schließlich
Sprecherin
Etwa alle fünf Minuten springt der Kompressor an, um die Maschine mit der
benötigten Druckluft zu versorgen. Auch wenn es nicht so aussieht: Beate Kalauch
ist Unternehmerin, allerdings eine ohne Angestellte. Deshalb sitzt sie ein- bis
zweimal pro Woche selbst hier, um die kleinen Rädchen zu bedrucken. Das sie
solche Aufträge hat, ist ein Beweis ihres Erfolgs: Sie hat wirtschaftlich überlebt, hat
sich wieder selbstständig gemacht, obwohl ihre erste Firma Pleite ging und sie über
60.000 Euro Schulden hat.
O-Ton 1: Kalauch
Wir hatten zu teure Räumlichkeiten und wir hatten einfach sehr hohe Personalkosten.
Wir hatten also mehr als 100.000 Euro jeden Monat Verbindlichkeiten, und das war
einfach zuviel. Da sind wir bei in die Knie gegangen. Und wir haben aufgrund der
Erfahrungen, die wir sonst gemacht hatten jahrelang geglaubt, wir schaffen es
einfach.
Sprecher
Die JGS Display GmbH, die Beate Kalauchs Ehemann Johannes mit aufgebaut
hatte, produzierte mit 13 Mitarbeitern Werbemittel. Herstellung auch kleinster
Mengen, wenn’s sein muss am Wochenende, prompte Lieferung durch die Chefin
persönlich, das waren die Trümpfe, mit denen sich die kleine Firma gegen mächtige
Konkurrenz zu behaupten versuchte. Als die Zahlen dennoch nicht besser wurden,
reagierte das Ehepaar Kalauch mit einer Mischung aus Verzicht und Verdrängung.
O-Ton 2: Kalauch
Das wird jeder Unternehmer kennen: Man versucht immer, zu reduzieren, zu
reduzieren, und wir schaffen das, wir zahlen uns selber kein Gehalt. Eigentlich haben
wir immer vom Dispo von der Bank gelebt. Und wir haben trotzdem dran geglaubt.
Wir haben gesagt: Irgendwann verkaufen wir die Firma, und dann rechnet sich das,
3
also als Altersvorsorge auch. Und letztendlich: Wenn man an seine Firma glaubt,
glaubt man auch, dass es irgendwann besser wird. Das ist einfach
Unternehmerdenken.
Sprecher
Dieses Denken hatte Beate Kalauch im März 2003 dazu veranlasst, in die Firma
einzusteigen. Und weil die neue Teilhaberin 50.000 Euro einbrachte, die sie sich
zuvor von einer Freundin geliehen hatte, wollte sie die alleinige Chefin werden.
Ihrem Mann sei das ganz recht gewesen. Beate Kalauch wechselte die Sekretärin
aus, verhandelte die teure Miete neu und akquirierte neue Kunden. Doch es war
bereits zu spät, das Unternehmen hatte nicht mehr jene Reserven, die für dieses
Geschäft unerlässlich sind.
O-Ton 3: Kalauch
Wenn was reinkommt muss Material gekauft werden, dann muss produziert werden,
und dann braucht der Kunde noch mal vier bis sechs Wochen bis er bezahlt. Das
heißt sie haben mindestens ein Vierteljahr von der Auftragserteilung bis zum
Cashflow wieder und müssen natürlich sehen, sie haben in diesem Vierteljahr immer
diese hunderttausend Euro Grundkosten, die sie haben. Das ist einfach ein
Rechenbeispiel ob sie klarkommen oder nicht klarkommen.
Sprecher
Die Kalauchs kamen nicht klar, schon drei Monate nach ihrem Einstieg in die Firma
konnte und wollte die Chefin die Augen davor nicht mehr verschließen. Am 15. Juli
meldet sie beim Amtsgericht Insolvenz an. Diesen Antrag kann nicht nur der
Unternehmer selbst, sonder auch einer der Gläubiger stellen. Die Hausbank zum
Beispiel oder auch der Sozialversicherungsträger, wenn der Unternehmer die
Beiträge für seine Mitarbeiter schon seit längerer Zeit nicht mehr abgeführt hat.
4
Was dann abläuft, erläutert Rainer Himmelsbach. Er ist Rechtsanwalt und Partner bei
der Unternehmensberatung Struktur & Management in Köln, die darauf spezialisiert
ist, Unternehmen zu retten, bevor der Gang zum Amtsrichter notwendig ist.
O-Ton 4: Himmelsbach
Es gibt zwei unterschiedliche Phasen: Zunächst ein sogenanntes vorläufiges
Insolvenzverfahren: Wenn das Unternehmen selbst, weil es nicht mehr genügend
Geld hat oder überschuldet ist Insolvenzantrag stellt oder aber ein Gläubiger, der auf
sein Geld wartet, Insolvenzantrag stellt, beauftragt der Richter einen in der Regel
Rechtsanwalt, der sich das Unternehmen anguckt und mal schaut: Was ist dort an
Vermögen, was ist dort an Schulden.
Sprecher
In dieser Phase läuft der Geschäftsbetrieb relativ normal weiter. Die
Unternehmensleitung bleibt im Amt, und die Bundesagentur für Arbeit sichert mit
dem so genannten Insolvenzgeld drei Monate lang die Bezahlung der Löhne und
Gehälter.
O-Ton 5: Himmelsbach
Eigentlich beginnt dann erst das eigentliche Insolvenzverfahren, und hier hat der
Insolvenzverwalter, der jetzt erst endgültig der neue Chef des Unternehmens ist, die
Aufgabe, so weit es geht das Unternehmen fortzuführen und zu sanieren. Daneben
aber, und insofern hat er immer zwei Herzen in seiner Brust, soll er für eine
bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, die ja alle auf Geld warten, auch sorgen.
Sprecherin
Etwa 40.000 Unternehmen melden in Deutschland Jahr für Jahr Insolvenz an. Und in
fast allen Fällen, genaue Zahlen dazu gibt es nicht, werden diese Firmen nicht
saniert und fortgeführt. Stattdessen macht der Insolvenzverwalter deren Besitz, die
so genannte Insolvenzmasse, so weit es geht zu Geld und zahlt damit die Gläubiger
aus. Das bedeutet nicht nur das Ende des Unternehmens, es führt häufig auch zum
5
persönlichen Bankrott seiner Inhaber. 60.000 Menschen, melden jedes Jahr
Privatinsolvenz an, viele davon sind ehemalige Selbstständige.
Musik setzt ein
Das Desaster hat oft den Grund, dass Unternehmer einen entscheidenden Fehler
machen, wenn ihr Laden auf der Kippe steht.
Musik mit Thema, bleibt einen Moment stehen
Sprecher
Zweites Kapitel: Als ob jemand eine ansteckende Krankheit hat
Musik wird leiser und verschwindet
O-Ton 6 : Emme
Nicht aufzugeben, sondern weiter zu machen, dass ist eben das, was Unternehmer
und Unternehmerinnen zu tun haben. Und was quasi auch ihr Berufsbild und ihr
Selbstbild und wahrscheinlich auch ihre Persönlichkeit ausmacht. Wenn es aber
dazu führt, die Realität nicht wahrhaben zu wollen, dann ist es eben das Ausweichen
vor der Wahrheit.
Sprecherin
Die Berliner Psychologin Martina Emme betreut Menschen, die eine Firmenpleite
hinter sich haben. Und was sie dabei erlebt, deckt sich mit dem, was auch
Insolvenzverwalter immer wieder berichten: Die meisten Betroffenen reden sich viel
zu lange ein, die Situation sei gar nicht so schlimm, morgen komme ja ganz bestimmt
der versprochene Großauftrag, und in der nächsten Woche werde der säumige
Kunde, über den man sich schon so lange ärgert, endlich seine Rechnungen
6
bezahlen. Unterdessen wachsen die Schulden weiter. Drei von vier insolventen
Firmen, schätzt der Insolvenz-Verwalter Eberhard Braun, schaffen nur deshalb den
Neustart nicht, weil der Gang zum Amtsgericht viel zu spät erfolgt war.
Sprecher:
Und das ist nicht nur gefährlich, sondern auch strafbar, weil es den Tatbestand der
Insolvenzverschleppung erfüllt. Martina Emme sieht den Grund für die
Verschleppung vor allem darin, dass die Betroffenen die mit der Pleite verbundenen
Eingeständnisse so schwer ertragen können.
O-Ton 7: Emme
Wenn also die Augen nicht mehr zu verschließen sind, und es ist so, dass also die
Insolvenz nicht mehr abzuwenden ist, dann ist das eine ganz große
Scheitererfahrung. Etwas ist kaputt gegangen. Sehr große Selbstvorwürfe, und auch
ein Schuldgefühl, also das Gefühl, versagt zu haben, das ist eigentlich die
Hauptbegleiterscheinung.
Sprecher
Sich und anderen einzugestehen, dass man etwas nicht geschafft hat, dass man
seine Ziele nicht wird erreichen können, kostet all jene extreme Überwindung, die
jahrlang auf einer Welle des Erfolgs geschwommen sind. Dieser Erfolg, so
Psychologin Martina Emme, sei die Visitenkarte der Geschäftsleute. Und das
Gegenteil, der Misserfolg, die Schande. Und die müsse verborgen werden.
O-Ton 8: Emme
Es ist schon vorgekommen, dass die eigenen Ehepartner nichts davon wissen
sollten. Das gab es Leute, die haben so getan, so ungefähr wie bei einem
Arbeitslosensyndrom, jemand der morgens aus dem Haus geht, abends nach Hause
kommt und so tut, als sei alles noch in Ordnung. Also so was hab ich erlebt, und die
Krise brach dann aus, als den Kindern erklärt werden musste, dass der
Sportunterricht, Klavierstunde, Reitunterricht, der vorher selbstverständlich bezahlt
wurde, dass das nicht mehr bezahlt werden kann.
7
Sprecher
Besonders erschreckend war für Martina Emme die Erkenntnis, dass die Angst vor
dem Eingeständnis des Scheiterns sehr berechtigt ist. Denn unzählige Ehen halten
den persönlichen Belastungen durch die Insolvenz nicht stand und gehen in die
Brüche. Gleiches gilt für die übrigen sozialen Beziehungen, auch Freunde
distanzieren sich plötzlich von dem Betroffenen.
O-Ton 9: Emme
Als ob jemand eine ansteckende Krankheit hat. Das Unterstützungsnetzwerk bricht
zusammen. Die ehemaligen Kollegen wollen nichts mehr zu tun haben, also mit
Versagern gibt man sich nicht ab. Die werden fallen gelassen, die werden nicht mehr
eingeladen und so weiter und so weiter.
Sprecherin
Zusammen mit Forschern der Uni Magdeburg arbeitet Martina Emme an einer Studie
über „Die biografische Dimension von Insolvenz.“ Sie hat Interviews und Gespräche
mit Betroffenen nicht nur in Deutschland geführt, sondern auch im amerikanischen
Boston. Dort reagieren die Menschen auf die Pleite eines Unternehmers offenbar
ganz anders als bei uns.
O-Ton 10: Emme
Es ist eigentlich eher so begleitet mit einem Schulterklopfen: Na ja, gut, das hast du
jetzt in den Sand gesetzt, dann mach mal weiter. Also es wird eher der Neuanfang
betont, es kommt Ermutigung für den nächsten Schritt. Aber dieses mit dem Finger
zeigen: Du hast hier versagt und das dann mit Schande zu belegen, das scheint mir
wirklich ein richtig typisch deutsches Phänomen zu sein.
Hier in Deutschland kann ich sagen: Es ist eine solche Tabuisierung weiterhin da. Ich
habe eine Anzeige aufgegeben in zwei Zeitungen, weil ich Interviewpartner für
dieses Forschungsprojekt suche. Und da war die Überschrift: Insolvenz angemeldet?
Suchen Interviewpartner für und so weiter und so weiter. Und es hat sich – immerhin:
im Tagesspiegel – kein Mensch gemeldet. Das gibt mir doch Aufschluss über den
Grad der Tabuisierung.
8
Sprecherin
Dieselbe Erfahrung wie Martina Emme machten auch Verantwortliche des
Bundeswirtschaftsministeriums, die vor drei Jahren die Plattform www.aus-fehlernlernen.info schufen. Die Website sollte Unternehmern, deren Firma Insolvenz
anmelden musste, als Forum dienen, um Erfahrungen auszutauschen, Tipps für
einen Neuanfang zu erhalten oder einfach nur Trost zu finden. Doch die
Kommunikation kam nicht in Gang, weil niemand darüber berichten wollte, was er
erlebt hatte. Schon seit Anfang 2004 gibt es das Forum nicht mehr, es scheint, dass
in Deutschland niemand aus Fehlern lernen will.
Dabei bietet das 1999 reformierte Insolvenzrecht durchaus Chancen auf einen
Neuanfang. Ob der gelingt, hängt auch von einem Berufsstand an, der in den
vergangenen Monaten massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt war.
Musik setzt ein
Sprecher
Drittes Kapitel: Eine Frage der Masse
Musik mit Thema, wird leiser und verschwindet
O-Ton 11: Rattunde
In den Fällen, in denen es an der Unternehmensleitung gelegen hat, da kommt es
auf die Qualität des Insolvenzverwalters entscheidend an. Es ist in diesem Falle für
eine Zeit der Unternehmer, er muss ins Spiel, und er muss dann die Entscheidung
treffen: Hat das ne Chance? Geht das am Markt? Kriege ich das wieder hin? Oder ist
das eigentlich sinnlos, weil niemand das braucht? Das Gesetz gibt ihm die
Möglichkeit, sanierungswürdige wenn sie so wollen Unternehmen zu sanieren.
Sprecherin
9
Rolf Rattunde von der Berliner Kanzlei Leonhardt und Partner ist einer der
bekanntesten deutschen Insolvenzverwalter. Er und seine Kollegen sind darauf
spezialisiert, Unternehmen trotz Insolvenz wieder flott zu machen, im Falle des
Schreibwarenkonzerns Herlitz gelang ihnen das in nur vier Monaten.
Sprecher
Geholfen hat dabei das so genannte Insolvenzplanverfahren, das 1999 geschaffen
wurde. Dabei bleibt – ähnlich wie beim amerikanischen Chapter eleven – die
bisherige Unternehmensleitung im Amt, der Verwalter spielt bei der Entschuldung
und Gesundung der Firma die Rolle des Vermittlers zwischen den Beteiligten.
Allerdings wird das Verfahren nur in etwa 150 Fällen pro Jahr angewandt, weil es
vergleichsweise aufwändig und deshalb nicht sonderlich beliebt ist.
Sprecherin
Generell unternehmen Insolvenzverwalter nach Schätzungen von Experten nur bei
weniger als einem Prozent der jährlich 40.000 Insolvenzen den Versuch, die Firma
als Ganzes zu retten. Die meisten in der Branche, so schrieb das Manager Magazin
kürzlich, verstünden sich eher als Totengräber denn als Sanierer.
Das liegt auch daran, dass die Weiterführung eines Unternehmens in der Krise mit
einer Menge Ärger verbunden sein kann.
O-Ton 12: Himmelsbach
Verwalter haben zu recht die Sorge, dass sie versuchen, ein Bauunternehmen, dass
immer Verlust gemacht hat, fortzuführen, dann aber weiter Verluste schreiben und
dann eine Pleite in der Pleite haben.
Sprecherin
10
Rainer Himmelsbach, Rechtsanwalt bei der Unternehmensberatung Struktur &
Management in Köln.
O-Ton 13: Himmelsbach
Und dann bekommen die Insolvenzverwalter natürlich große Probleme mit den
Gläubigern, denen es dann lieber gewesen wäre, der Verwalter hätte das gesamte
Vermögen des Unternehmens veräußert und die Mittel an alle Gläubiger, an alle
Lieferanten, an die Arbeitnehmer ausgekehrt.
Sprecher
Der Insolvenzverwalter bekommt von dem, was er an die Gläubiger auskehrt, der so
genannten Insolvenzmasse, einen bestimmten Prozentsatz als Honorar. Je größer
diese Masse ist, und je länger ein Verfahren dauert, desto mehr ist daran zu
verdienen. Die Abwicklung von Riesenpleiten wie der des Baukonzerns Walter
können einem Verwalter mehrere Millionen einbringen. Zwar sieht die
Vergütungsordnung auch Prämien für die Weiterführung von Firmen vor, aber das
Unternehmen zu schließen und die Masse zu verteilen, ist für den Sequester fast
immer der sicherere und bequemere Weg zu einem auskömmlichen Honorar.
Außerdem fühlen sich viele einer Sanierung gar nicht gewachsen, schließlich sind
Insolvenzverwalter – von Ausnahmen abgesehen - Juristen und keine ausgebildeten
Kaufleute. Rolf Rattunde von Leonhardt und Partner in Berlin sieht darin allerdings
kein Problem. Wie ein Verwalter agiert, hängt seiner Meinung nach nicht von der
Ausbildung, sondern von dessen Selbstverständnis ab.
O-Ton 14: Rattunde
Letztlich sind solche Unternehmensfortführungen und Unternehmenssanierungen
unternehmerische Entscheidungen. Dazu muss man zunächst mal sich selber als
Unternehmer verstehen und nicht als bloßer Gerichtsvollzieher oder
Vollstreckungsarm der Gläubiger. Und dann ist es natürlich so, dass jeder
Unternehmer, sich die Frage stellen muss: Ist das, was ich erreichen kann, mit
angemessene Mitteln und mit angemessenen Risiken zu schaffen. Niemand wird
11
Kopf und Kragen riskieren, um eine ausgesprochen unwahrscheinliche Sache
hinzubekommen, die dann am Schluss noch nicht mal so wahnsinnig lukrativ ist.
Sprecherin
Auch Rolf Rattunde und seine Kollegen in der Kanzlei Leonhardt und Partner
riskieren nicht ständig Kopf und Kragen, um Firmen in der Insolvenz vor dem
endgültigen Untergang zu bewahren. Und die allermeisten Kandidaten, so Rattunde,
könnte auch der beste Verwalter der Welt nicht retten.
Es gibt aber auch Unternehmen, die wirken zwar marode, sind aber im Kern gesund
und in der Lage, sich am Markt zu behaupten. Zu ihnen gehört eine Fabrik in
Brandenburg, für die die Insolvenz nicht den Untergang, sondern die Rettung
bedeutete.
Musik setzt ein
Sprecher
Viertes Kapitel: Es ist hier nicht alles traurig, wie ihr meint.
Musik mit Thema wird leiser und geht in das zunächst sehr leise Fabrikgeräusch
über, das unter dem ersten Text weiterläuft
Sprecherin
Premnitz, eine kleine Stadt im Havelland westlich von Berlin: In einem weitläufigen
Industriegebiet stehen die Hinterlassenschaften einer der größten Chemiefabriken
der DDR. 6.000 Menschen beschäftigte die Märkische Faser AG noch 1990, heute
wirkt das Gelände auf den ersten Blick verlassen, fast wie eine Industrieruine: Die
12
Fassaden sind verwittert, zwischen den Betonplatten, mit denen die Zufahrt
gepflastert ist, sprießt das Unkraut.
Fabrikgeräusch wird etwas lauter
Nur die Geräuschkulisse weckt Zweifel daran, ob hier wirklich alle Räder still stehen.
Und wer die größere der beiden Fabrikhallen betritt, vergisst das Bild von der
Industrieruine innerhalb von Sekunden.
Fabrikgeräusch wird plötzlich lauter, so als ab jemand eine Tür aufgerissen hätte;
Geräusch bleibt einige Sekunden stehen, geht dann in den folgenden O-Ton über.
O-Ton 15: Brack
Das ist jetzt typische Versuchsware: Diese Faser wird eine Faser sein, die ein
anderes Bauschverhalten hat, wo man also in volumenstarke Produkte anders
reingehen kann. Wir sind sehr stark im hygienischen Bereich, Inkontinenzbereich,
und ja, jede Art von Bauschigkeit. Da gibt’s ja in der Phantasie sehr viele Dinge
Richtung Decken, Daunen, Füllungen: Da haben wir eine andere Idee.
Maschinengeräusch läuft unter folgendem Text erst weiter, verschwindet dann
allmählich
Sprecherin
Eberhard Brack ist heute Chef der Märkischen Faser. Aus einem Baumwoll-Ersatz
namens Grisuten stellt das Unternehmen künstliches Garn her, das zu Bekleidung
und vielen anderen Textilien für den Einsatz in Gewerbe und Haushalt
weiterverarbeitet wird.
Sprecher
13
Das Unternehmen und der Standort haben eine lange Tradition, hier wurde 1890 die
Chemiefaser erfunden. Hundert Jahre später begann der schrittweise Abstieg. Am
Ende von mehreren Privatisierungen in den 90er Jahren gelangte die Märkische
Faser in die Hände einer Aktionärsgruppe mit Sitz in Singapur. Erklärte Absicht der
neuen Eigentümer war es, in Premnitz Standardfasern in großen Mengen auch für
Märkte außerhalb von Europa herstellen zu lassen.
Sprecherin
Nach Ansicht des damaligen Vorstands ein gewagtes Vorhaben. Wenn überhaupt,
dann hätte das nur nach einer umfangreichen Modernisierung gelingen können. Mit
der aktuellen Produktion machte man Verluste, und als die Eigentümer kein Geld für
Investitionen überwiesen, zog das Management in Premnitz im Jahre 2001 die
Notbremse und meldete Insolvenz an.
Zum Verwalter wurde Rolf Rattunde bestellt, der eine ungewöhnliche Entscheidung
fällte: Er ließ die stillgelegte Produktion kurz vor Weihnachten 2001 trotz Insolvenz
wieder anlaufen, damit die Märkische Faser noch vorhandene Aufträge abarbeiten
konnte und für die Kunden weiter am Markt präsent blieb. Eberhard Brack:
O-Ton 16: Brack
Das sind so Dinge, wo einfach auch den Mitarbeitern zeigt: Hoppla, da ist einer, der
glaubt an uns, und das brauchen Mitarbeiter in der Insolvenz. Die brauchen hier den
Input, wo einer sagt: Leute, ihr seid weder dumm, noch faul, noch sonst irgendwie
inkompetent. Dass ihr insolvent seid, liegt jetzt nicht unbedingt an Euch, sondern das
sind ganz ganz viele Faktoren, und das kann man sicherlich nicht monokausal
beantworten. Mit diesem Input konnten auch die Mitarbeiter hier zu ihren Kunden
wieder gehen und sagen: Hört mal her, es ist hier nicht alles traurig wie ihr meint. Wir
haben das und das und wir haben einen guten Insolvenzverwalter und der hat das
und das gemacht. Und die Kunden sind auch nur Menschen, die sich gerne
begeistern lassen. Unsere Kunden wussten, dass es sinnvoll ist für den Markt, dass
wir weiter existieren.
Sprecherin
14
Ohne den Einsatz des Insolvenzverwalters gäbe es heute die Märkische Faser nicht
mehr, davon ist der neue Chef Eberhard Brack überzeugt. Denn nur weil die Fabrik
trotz Insolvenz noch lief, wagten die neuen Eigentümer überhaupt den Einstieg in
Premnitz.
Neben seinem neuen Job in Brandenburg ist Brack Gesellschafter und
Geschäftsführer von Glaeser Textil, einem Textilhandels- und Recyclingunternehmen
aus Ulm. Sein Partner bei der Märkischen Faser ist Claas E. Daun, Chef von Daun &
Cie., Deutschlands größter Textilgruppe.
Sprecher
Den Kaufpreis will Eberhard Brack zwar nicht nennen, betont aber, der Betrag sei auf
keinen Fall nur ein symbolischer gewesen. Schulden hatte das Unternehmen zum
Zeitpunkt der Übernahme nicht mehr, weil ein langjähriger Lieferant notgedrungen
auf Teile seiner Forderungen verzichtet hatte: Wäre die Märkische Faser
geschlossen worden, hätte ihr größter Gläubiger sämtliche Außenstände aus der
Vergangenheit und für die Zukunft einen großen Kunden verloren.
Sprecherin
Den neuen Inhabern ging es zunächst darum, um jeden Preis neue Verluste zu
vermeiden. Schnelle Entscheidungen mussten getroffen und diese konsequent
umgesetzt werden. Als erstes korrigierten sie die Fehler der Vergangenheit.
O-Ton 17: Brack
Also, eine Sache war sicherlich hier, dass das frühere Management sehr viele Dinge
outgesourct hat. Jetzt möchte ich hier gegen keine Unternehmensberatung reden,
die viel Geld verdient in der Planung und Projektierung und sonst irgendwas. Aber in
unserem speziellen Fall war das sicher eine suboptimale Entscheidung. Deswegen
haben wir sehr viele Dienstleistungen ins Unternehmen reingeholt, wir haben uns
eben zugetraut, dafür auch Leute einzustellen. Heute heißt es ja immer: möglichst
15
wenige Mitarbeiter. Das ist vielleicht ein bisschen eine eindimensionale Sicht: Man
kann auch mit Mitarbeitern ein Unternehmen effizienter und leistungsorientierter
machen.
Maschinengeräusch setzt langsam wieder ein, wird im laufe des Texts lauter und
schließt sich dann nahtlos an die Atmo unter dem nächsten O-Ton an.
Sprecherin
Mit 185 Angestellten hatten die neuen Inhaber die Märkische Faser 2002
übernommen, heute arbeiten hier bereits wieder 280 Menschen. Um Lagerhaltung,
Wartung und Instandsetzung der Maschinen kümmern sich jetzt eigene Leute statt
teurer externer Dienstleister. Um die erforderliche Flexibilität zu erreichen, wurde die
gesamte Organisation des Unternehmens umgestaltet, die strengen Hierarchien aus
alten Zeiten sind verschwunden. Eberhard Brack verhandelte die Konditionen mit
dem lokalen Heizkraftkraftwerk neu und reduzierte die Abhängigkeit vom
Hauptlieferanten des wichtigsten Vorprodukts der Chemiefaser.
Doch nicht nur die Kosten sanken, auch der Umsatz steigt, weil beide neuen Chefs
aus der Branche kommen und wertvolle Kontakte zu neuen Kunden mitbringen.
Maschinengeräusch wird leiser und geht in Musik über
Musik setzt ein
Maschinentackern in der kleinen Druckerei in Hamburg setzt darunter ein und läuft
unter der Kapitalüberschrift und unter dem ersten Text weiter, unter dem ersten OTon wird es leiser und verschwindet schließlich
16
Sprecher
Fünftes Kapitel: Es geht nicht ums Leben, es geht nur um Geld.
Musik, verschwindet
Sprecherin
Zurück nach Hamburg, in die kleine Druckerei im Industriegebiet. Beate Kalauch
arbeitet hier ein bis zwei Tage pro Woche allein vor sich hin. Die Maschine gehört ihr,
die Fläche ist stundenweise gemietet.
Ihr ehemaliges Unternehmen, die JGS Display GmbH, hatte am 15. Juli 2003
Insolvenz angemeldet. Am 5. August gründete Kalauch eine neue Firma, die wie die
alte Werbemittel herstellt und außerdem kleine Druckaufträge abwickelt. Mit den
Erträgen daraus ernährt die Gründerin sich, ihren Mann und die beiden Söhne. Zwar
hat Beate Kalauch heute viel weniger und kleinere Aufträge als früher, aber dafür
auch drastisch niedrigere Kosten. Es gibt weder eigene Räume noch feste
Angestellte, und bei dieser Strategie will sie um jeden Preis bleiben. Wenn im
nächsten Sommer wie jedes Jahr wieder eine Flaute kommt, muss die Familie zwar
sparen, wird aber nicht durch hohe Fixkosten in den Ruin getrieben.
Sprecher
Auch das private Netzwerk ist, anders als in den meisten solcher Fälle, nicht
zerrissen. Die wichtigste Voraussetzung, um trotz Pleite seinen Freundeskreis zu
behalten, sagt Beate Kalauch, ist Offenheit.
O-Ton 19: Kalauch
17
Wir sind einfach ganz normal damit umgegangen und haben das auch
ausgesprochen, dass wir auch selbst Fehler gemacht haben. Dass einfach das
Menschenmögliche getan wurde von uns, und dass es nicht gereicht hat. Sie werden
ja nicht zum Unternehmer geboren, es gibt keine Ausbildung zum Unternehmer, sie
wachsen da so rein. Und dann lesen sie Bücher und versuchen, sich schlau zu
machen. Und wir hatten Unternehmen beauftragt, die uns beraten haben. Das hat
alles nichts gebracht, außer, dass es viel Geld gekostet hat.
Sprecher
Die Beerdigung ihrer ehemaligen Firma läuft noch immer, im kommenden Frühjahr
soll das Insolvenzverfahren endlich abgeschlossen sein. Einen ernsthaften Versuch,
das Unternehmen zu retten, hatte der Verwalter nach Ansicht von Beate Kalauch
nicht gemacht.
Was ihr blieb, ist ein Berg von Schulden, Monat für Monat zahlt sie 650 Euro an die
Bank. Die Höhe der Raten konnte sie selbst bestimmen, und auch sonst ist ihr
Geldinstitut sehr kooperativ und hilfsbereit. Den Verantwortlichen bleibt gar nichts
anderes übrig. Denn Beate Kalauch könnte ebenso gut ihre neue kleine Firma
schließen und Privatinsolvenz anmelden. Dann verlieren die Gläubiger den größten
Teil des verliehenen Geldes, und die Schuldnerin ist nach sechs Jahren sämtliche
Verbindlichkeiten los. Doch diesen Weg zu gehen, war für Beate Kalauch von
vornherein ausgeschlossen.
O-Ton 20: Kalauch
Das Leben kann ja noch lang sein, und vielleicht bin ich ja noch mal dringend drauf
angewiesen, dass jemand für mich bürgt. Und wenn jemand weiß, dass ich mir das
so einfach mache, dass kann ich doch vergessen, das wird nie wieder vorkommen.
Aber jetzt ist es so, das ich, wenn ich Geld brauche, immer noch Mittel und Wege
finde, aus dem Privatkreis Geld zu bekommen, was ich teilweise auch nutze, wenn
ich größere Anschaffungen für die Firma machen muss. Einfach was Material angeht,
da geht es ja schnell in die fünfstellige Summe. Und da krieg ich ganz kurzfristig auch
Geld frei dann. Weil sie auch gesehen haben, wie ich mit dieser Insolvenz
umgegangen bin. Und dass ich nicht gesagt habe, da habt ihr eben alle Pech gehabt,
sondern zu meinen Verbindlichkeiten stehe.
18
Sprecher:
Beate Kalauch ist eine Macherin, für die es zu jedem Problem einen Ausweg gibt und
die allenfalls die Art der Lösung für diskussionswürdig hält. Ihr Mann Johannes hat
die Pleite nicht so leicht weggesteckt: Bis heute findet er nicht die Kraft, noch einmal
etwa eigenes anzufangen. Und dass er in dem neuen Mini-Unternehmen seiner Frau
mitarbeitet, hält das Paar aus psychologischen Gründen für keine gute Idee.
Immerhin: Die Kalauchs streiten viel weniger als kurz nach der Insolvenz, und die
Angst, Ehe und Familie könnten unter dem Druck zerbrechen, ist auch
geschwunden.
Johannes Kalauch hält heute seiner Frau den Rücken frei, erzieht die beiden Söhne,
kümmert sich um den Haushalt, und diese Rollenverteilung scheint im Augenblick für
beide optimal zu sein.
Über die Insolvenz sprechen die beiden mittlerweile nur noch ganz selten. Man muss
einfach das Gestern gestern sein lassen, findet Beate Kalauch.
Musik setzt unter dem folgenden O-Ton langsam ein
O-Ton 21: Kalauch
Es geht immer nur um Geld. Es geht nicht ums Leben, es geht nur um Geld, auch
wenn natürlich das Leben ganz eng damit verknüpft ist. Und natürlich auch: Was
denken die Freunde, was denken die Nachbarn? Wie wird es weitergehen? Werde
ich jetzt als Sozialhilfeempfänger enden, das ist ja die schlimmste Vorstellung, die
man sich so machen kann. Und trotzdem: Es geht nur um Geld.
Musik wird lauter, bleibt einen Moment lang stehen.
(Absage)
In der Reihe Zeitfragen hörten Sie heute:
19
Der mühsame Kampf um die zweite Chance
Insolvenzen in Deutschland
Eine Sendung von Christoph Lixenfeld
Es sprachen: Nina West und Joachim Schönfeld
Ton: Ralf Perz
Regie: Steffi Ruh
Redaktion: Constanze Lehmann
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2005
20
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