EUROPÄISCHE KOMMISSION Brüssel, den 22.5.2015 COM(2015) 214 final MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates DE DE MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates 1. HINTERGRUND Gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden „MwSt-Richtlinie”) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von der genannten Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Mehrwertsteuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Da dieses Verfahren Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Mehrwertsteuer vorsieht, sollten solche Abweichungen nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union1 in ihrem Anwendungsbereich begrenzt und verhältnismäßig sein. Mit einem bei der Kommission am 12. Februar 2015 registrierten Schreiben beantragte Italien die Ermächtigung, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Regelung einzuführen. Mit Schreiben vom 16. März 2015 unterrichtete die Kommission die übrigen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 395 Absatz 2 der MwStRichtlinie über den Antrag Italiens. Mit Schreiben vom 17. März 2015 teilte die Kommission Italien mit, über alle zur Beurteilung des Antrags erforderlichen Informationen zu verfügen. Italien beantragt die Ermächtigung, für sämtliche Lieferungen an große Einzelhandelsbetriebe das Reverse-Charge-Verfahren anzuwenden. 2. REVERSE-CHARGE-VERFAHREN Die Mehrwertsteuer schuldet gemäß Artikel 193 der MwSt-Richtlinie der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt. Mit dem Reverse-Charge-Verfahren wird die Steuerschuldnerschaft auf den Steuerpflichtigen verlagert, der die Lieferung oder die Dienstleistung erhält. 3. DER ANTRAG Italien beantragt gemäß Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, dass der Rat das Land auf Vorschlag der Kommission ermächtigt, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Sondermaßnahme zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf Lieferungen an große Einzelhandelsbetriebe anzuwenden. Unter großen Einzelhandelsbetrieben sind Hypermärkte, Supermärkte und Discounter zu verstehen, wobei ihr Tätigkeitscode maßgeblich ist. Die Ausnahmeregelung würde für alle Arten von Verbrauchsgütern gelten, die an diese großen Einzelhandelsbetriebe zum Verkauf an Endverbraucher geliefert werden. Die Maßnahme ist in Italien noch nicht in Kraft, da sie vom Rat genehmigt werden muss. 1 Siehe z. B. Rechtssache C-489/09, Rn. 27. 2 4. STANDPUNKT DER KOMMISSION Erhält die Kommission Anträge nach Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, prüft sie, ob die Grundvoraussetzungen für eine Ermächtigung erfüllt sind, d. h. ob die beantragte Sondermaßnahme die Verfahren für die Steuerpflichtigen und/oder die Steuerverwaltung vereinfacht oder Steuerhinterziehung bzw. -umgehung verhindert. Die Kommission geht dabei immer mit Bedacht vor und legt strenge Maßstäbe an, um sicherzustellen, dass die Ausnahmeregelungen notwendig, verhältnismäßig und in ihrem Anwendungsbereich begrenzt sind und das allgemeine MwSt-System nicht untergraben. Jede Abweichung vom System der fraktionierten Zahlung darf daher nur ein letztes Mittel und eine Dringlichkeitsmaßnahme bei erwiesenen Betrugsfällen sein und muss Garantien im Hinblick auf die Notwendigkeit und den Ausnahmecharakter der Ausnahmeregelung, ihre Geltungsdauer und die Besonderheit der betroffenen Waren enthalten. Das Reverse-Charge-Verfahren darf nicht systematisch als Abhilfe für eine unzureichende Überwachung durch die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission Sonderregelungen zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens grundsätzlich nur dann ins Auge fasst, wenn zum einen die fragliche Ware den Endverbraucher ansonsten nicht erreichen kann, wenn zum anderen dadurch ein verlässlicher Steuerschuldner an die Stelle eines unsicheren Steuerschuldners am Anfang der Lieferkette tritt und wenn außerdem nicht die Gefahr besteht, dass sich der Betrug auf den Einzelhandel oder auf einen anderen Mitgliedstaat verlagert, der keine solche Regelung anwendet. Der Antrag stützt sich auf von Italien vorgelegte makroökonomische Daten, denen zufolge der Umfang der Steuerhinterziehung im Einzelhandel rund 11 % niedriger ist als in der Wirtschaft insgesamt (16,04 % gegenüber 27,12 %). Von der Verlagerung der Steuerpflicht auf einen Teil des Einzelhandels (d. h. auf die großen Einzelhandelsbetriebe) verspricht sich Italien höhere MwSt-Einnahmen. Zunächst einmal hält es die Kommission für fraglich, ob eine derart umfassende und undifferenzierte Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf eine sehr große Zahl von - im vorliegenden Fall im Wesentlichen für den Endverbrauch bestimmten Waren noch als Sondermaßnahme im Sinne von Artikel 395 der MwSt-Richtlinie gelten kann. Außerdem weist sie vorsorglich darauf hin, dass weder die Art noch der Umfang der mutmaßlichen spezifischen Betrugsproblematik in Bezug auf die Zulieferer (von denen ein Teil selbst große und mittlere Unternehmen sind) der großen Einzelhandelsbetriebe nachgewiesen wurde. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Reverse-Charge-Verfahren hier eine geeignete Maßnahme darstellt, da mit diesem Verfahren zwar Betrugsformen wie etwa Karussellbetrug bekämpft werden können, es aber nicht dazu geeignet ist, bei sämtlichen Formen von Betrug (wie beispielsweise in der sogenannten Schattenwirtschaft, in der keinerlei MwStPflichten erfüllt werden) oder allgemein bei anderen Ursachen für die Nichterhebung von Mehrwertsteuer Abhilfe zu schaffen. Im vorliegenden Fall bezweifelt die Kommission ernsthaft, dass die beantragte Maßnahme die von den italienischen Behörden erwarteten positiven Auswirkungen haben wird. Darüber hinaus haben die italienischen Behörden nicht nachgewiesen, dass die Art der in Rede stehenden Waren eine Überwachung durch herkömmliche 3 Kontrollmaßnahmen unmöglich und damit die Anwendung des Reverse-ChargeVerfahrens erforderlich macht. Wenn für einen beträchtlichen Teil der für den Endverbrauch bestimmten Waren die gesamte Mehrwertsteuerschuldnerschaft auf die Einzelhandelsebene verlagert wird, dürfte sich der Betrug auf diese Ebene verlagern, ohne dass aber irgendeine Garantie bestünde, dass die Maßnahme auch positive Auswirkungen hätte. Zudem könnte die Maßnahme dazu führen, dass sich der Betrug auf andere Mitgliedstaaten verlagert, da die Waren gemäß dem Reverse-Charge-Verfahren (im wirtschaftlichen Sinne) „MwSt-frei“ erworben und überall in der Europäischen Union auf dem Schwarzmarkt verkauft werden könnten. Angesichts dieser Sachlage ist die Kommission der Auffassung, dass sich eine Ausnahmeregelung in diesem Bereich nicht rechtfertigen lässt. 5. FAZIT Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen spricht sich die Kommission gegen den Antrag Italiens aus. 4