„Jugendliche sind anders: medizinische und psychosoziale Aspekte“ 9. – 11.9.2005 in der Ev. Akademie Tutzing Vortrag „Wie schon die Alten sungen... Jugendliche und Drogen aller Art“ Dr. Wolf-Rüdiger Horn, Gernsbach/Baden Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Suchtbeauftragter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V., Köln 1 Trends bei Jugendlichen Alkohol: Zunahme von Rauschtrinken, langsame Angleichung w/m (auch bei Alkoholintoxikationen) Zigaretten: ca. 10 Jahre lang Zunahme in jungen Altersgruppen, w>m Cannabis: trotz Kriminalisierung steigender Konsum Heroin: “Loser”-Droge, lieber “Partydrogen” chemische Manipulation ist “in”, z. B. Doping mehr Adipositas, mehr Gewalt und mehr Schulschwänzen, insgesamt weniger Gesundheit 2 Mehr Rauchen, Saufen und Kiffen bei Jugendlichen: europaweit Erstkonsum: Zigaretten 13,6 J. , Alkohol 14,1 J. , Cannabis 16,4 J. 1. Rausch 15,5 J., tägl. Rauchen 15,6 J. Ursachen: Spaß gegen Langeweile und Stress, Geselligkeit, Parties, Ausklinken, Zudröhnen, Machtgefühle, Prestige, Taschengeld, elterliches Monitoring Risiko: psychische Vulnerabilität, Suchtfamilien, Armut, Konsumorientierung, Schulprobleme u. a. 3 4 Das kann so beginnen: mit früh einsetzenden Verhaltensstörungen Erziehungsfaktoren z.B. ineffektive Erziehungspraktiken, geringe kognitive Anregung Kindfaktoren z.B. soziale Fertigkeiten, schwieriges Temperament Kontextfaktoren z.B. Armut, psychische Störungen u. Eheprobleme der Eltern KiGa- und Peerfaktoren z.B. Aggression in der Gruppe, Ablehnung durch Peers Früh einsetzende Verhaltensstörungen nach Webster-Stratton 2001 5 ... und so im Jugendalter weitergehen! Deviante Peergruppe Zurückweisungen Früh auftretende Verhaltensstörung Ineffektive Erziehung Mangelnde Beaufsichtigung, Negat..Bindungsmuster Delinquenz Gewalttätigkeit Substanzmissbrauch Mangelnde Schul- , Bindung Lehrer- -KindSchulversagen Z E I T nach Webster-Stratton 2001 6 Und welchen Beitrag leistet der “Markt”? Werbung (Kosmopolitisierung und Kommerzialisierung von Sex, Gewalt, Junk Food, Drogen aller Art Allgegenwärtigkeit) Medien (TV, Film, Printmedien) Verfügbarkeit (Drogen und Junk Food: Supermarkt, Automaten, Tankstellen, Gewalt: Steckdose, alles “rund um die Uhr”) für Jugendliche erschwinglicher Preis spezifische Angebote (Alcopops, Zigaretten in Kleinpackungen, elektronische Spiele) 7 Und die “Alten”? Wir sind die Modelle Fast überall wird getrunken und geraucht, viel Werbung (imagebetont, für Alkohol: täglich 1,6 Millionen Euro), Angebot rund um die Uhr Je Einwohner jährlich 10,4 Liter reiner Alkohol und 1.650 Zigaretten; d. h. täglich 22,8 g Alkohol + 4 1/2 Zigaretten in Familien, wo viel getrunken und geraucht wird: Jugendliche trinken 2 3x und rauchen 4x so häufig wie in anderen Familien 8 Natürlich ist das “Zeug” gefährlich! Zur Sucht ist es aber ein langer Weg! Person Sucht Suchtmittel Umwelt Ein komplexes Bedingungsgefüge und ein Prozeß mit vielen modifizierenden Variablen und unterschiedlichen Konsequenzen, der zur Abhängigkeit und zum Autonomieverlust führt. 9 Allgemeines Rahmenmodell zur Entstehung von Substanzstörungen (EDSP-Studie, Wittchen et al., München 1999) Vulnerabilität Personale / familiäreFaktoren Alter, Geschlecht, Persönlichkeit, Temperament, genetische/ biologische Vulnerabilität, frühe psych. Störungen Soziale Faktoren Gesellschaft, Region, Familie, soziales Netz, Einstellungen, Normen,Brauchtum Rituale, Bildung Exposition modifizierende Variablen Konsequenzen Wirksamkeitserwartungen, Dosis,Konsummodus,psych. Probleme, Coping, life skills, zusätzl. Substanzen, Peers Substanzgebrauch Akute Konsequenzen soziale Probleme, Unfälle, Gewaltbereitschaft Abhängigkeit Menge, Häufigkeit Art Variabilität Verfügbarkeit Toleranz,Entzugssymptome, etc. langfristige Konsequenzen Biologische Veränderungen riskanter Konsum Abhängigkeit somatische, psychische, sozialeEinschränkungen schädlicher Konsum Abhängigkeitspotenziale 11 Was macht uns Sorge beim Alkoholkonsum Jugendlicher? Unfälle („Discotod“) Gewalttätigkeit, Vandalismus riskantes Sexualverhalten Fehlzeiten Schule/Lehrstelle zunehmende Exzesse (Intoxikationen) Konzentration , Gedächtnis Ängste, Depressionen u. a. drohende Alkoholabhängigkeit ebenso wie Tabak = Einstiegsdroge 12 Prozentanteile der 16- bis 20-jährigen Schweizer, die zugeben, betrunken ein Fahrzeug (Fahrrad, Mofa, Motorrad oder Auto) gelenkt zu haben 25 20 15 Mädchen 1993 Mädchen 2002 Jungen 1993 Jungen 2002 10 In Europa 57.000 tote Jugendliche u. junge Erwachsene durch Alkohol pro Jahr! 5 0 1- bis 2- mehrmals sehr oft mal Quelle: SMASH-02 Lausanne 2004 www.umsa.ch 13 Schulprobleme und Betrunkensein bei 14-Jährigen: DDRAM-Studie aus Bremen 1998 14 Warum ist jugendliches Rauchen besorgniserregend? bekannte gesundheitliche Folgen (“Juckt mich nicht”) Verstärkung depressiver Symptome Probleme bei Mädchen und jungen Frauen: Gewicht, Pille, Schwangerschaft bei chronischen Erkrankungen Risikoverstärkung: z. B. Asthma, Diabetes besonders bei frühem Rauchbeginn: schnelle Abhängigkeit, eher andere Drogen 15 “Gateway drugs”: Cannabiskonsum und Vorerfahrung mit Rauchen und Alkohol (in Prozent bei 12- bis 25jährigen) 80 67 60 44 36 40 20 5 6 Rauchen Rausch 0 Quelle: Drogenaffinitätsstudie BZgA 2004 Niemals geraucht bzw. Rausch gehabt jemals Tabak bzw. 1-5mal Rausch 6mal od. mehr Rausch 16 Auch “illegale” Drogen bringen’s! Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt... Tetrahydrocannabinol: Stimmung , Wahrnehmung von Klängen/Farben , Gruppengefühl , Reaktionsfähigkeit + Konzentration , auch “bad trips”. Organtoxizität: Lunge, aber kognitive Beeinträchtigungen, Psychosegefährdung, psychische Abhängigkeit (rund 5%) Schnüffelstoffe: Euphorie, Rausch, evtl. Halluzinationen, Organtoxizität: Leber, Herz, ZNS, evtl. akute, schwere Organschäden, Koma, Tod Ecstasy: Euphorie, Gefühl v.Kraft + Stärke, Wahrnehmungen , Hunger + Durst , Organtoxizität: Herz-Kreislauf-Störungen, Verwirrtheit, Anfälle, Austrocknung, ZNS: Wortfindungs- u. Gedächtnisstörungen 17 Das jugendliche Gehirn reift noch!!! Jede Droge ist gefährlich! Quelle: Sandra Brown & Susan Tapert, San Diego 2004 18 Dilemma: Umgang mit psychoaktiven Substanzen = Entwicklungsaufgabe in der Jugend (Teil 1) Entwicklungsaufgaben Funktionen des Substanzkonsums Wissen, wer man ist und was man will; Identität Ausdruck persönlichen Stils Suche nach grenzüberschreitenden, bewusstseinserweiternden Erlebnissen Aufbau von Freundschaften; Aufnahme intimer Beziehungen Individuation von den Eltern Erleichterung des Zugangs zu Peergruppen Exzessiv-ritualisiertes Verhalten Kontaktaufnahme mit gegengeschlechtlichen Peers Unabhängigkeit von Eltern demonstrieren Bewusste Verletzung elterlicher Kontrolle 19 Entwicklungsaufgaben und Funktionen des Konsums psychoaktiver Substanzen (Teil 2) Entwicklungsaufgaben Funktionen des Substanzkonsums Lebensgestaltung, -planung Teilnahme an subkulturellem Lebensstil Spaß haben und Genießen Eigenes Wertesystem entwickeln Entwicklungsprobleme gewollte Normverletzung Ausdruck sozialen Protests Ersatzziel Stress- und Gefühlsbewältigung (Notfallreaktion) Quelle: Silbereisen/Reese 2001 20 Schutz vor dem übermäßigen Einsatz von Drogen bieten: genetische Ausstattung (z. B. mit bestimmten Enzymen) eine annehmende, harmonische Erziehung, die auch die notwendigen Grenzen setzt, Vertrauen in eigene Fähigkeiten, altersgemäße Übernahme von Verantwortung, Durchhaltevermögen Belastungsfähigkeit bei Konflikten, adäquater Umgang mit Ängsten und Spannungen gute Kommunikationsfähigkeit kritisch-abwägende Konsumhaltung (bei sich selbst, Eltern, Freunden) befriedigende schulische oder berufliche Entwicklung, "Schulzufriedenheit" 21 Das Konzept der Resilienz (Widerstandsfähigkeit)... ...beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, relativ unbeschadet mit den Folgen belastender Lebensumstände umgehen und Bewältigungskompetenzen weiterentwickeln zu können. Resilienz ist also eine dynamische Kapazität, die sich über die Zeit im Kontext der Mensch-UmweltInteraktion herausbildet und nicht schon von Geburt an vorliegt. nach Scheithauer & Petermann 2002 22 Was können Erzieher, Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter u. a. vorbeugend tun? Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken und ihre Selbstwirksamkeit vergrößern helfen; einen kleinen Beitrag zur Entwicklung von Lebenskompetenz und Stressbewältigungsstrategien bei Kindern und Jugendlichen leisten; versuchen, Aggression und Stress in der Umgebung von Kindern zu minimieren. 23 Und wenn Jugendliche trinken, rauchen, kiffen? Sekundärprävention ist eher ein Konzept der Gesundheitsförderung, es gilt dann... sachliche Informationen über psychoaktive Substanzen zu vermitteln sich der selbstlimitierenden Natur von Drogenproblemen bei den meisten Jugendlichen bewusst zu sein (Tabak?) psychosoziale Ressourcen zu identifizieren Selbsteinschätzung und Selbstreflexion zu verbessern für riskante und weniger riskante Konsummuster zu sensibilisieren, sowie für die Unterscheidung von Genuss, Missbrauch und Abhängigkeit Risikokompetenz zu vermitteln, Schadensreduzierung als erstrebenswertes Zwischenziel zu eventueller Abstinenz zu erwägen (z. B. „Just be smokefree“) 24 Risikominimierung statt Abstinenz Konsummuster verändern Kriterien Geringeres Risiko Hohes Risiko Höhe der Dosis geringe Dosis der rauscherzeugenden Substanz hohe Dosis, mehrere Konsumeinheiten an einem Tag Häufigkeit des Konsums gelegentlicher Konsum von Alkohol und anderen Drogen regelmäßiger Konsum, mehrmals in der Woche über einen längeren Zeitraum Anzahl der konsumierten Drogen Konsum einer einzigen Substanz Mischkonsum von Alkohol und anderen Drogen Situation des Konsums nur zu besonderen Anlässen, nicht allein, nicht in Schule, Arbeit, Straßenverkehr Konsum in jeder beliebigen Situation Quelle: “Drogen und Du” Therapieladen Berlin 25 Ein “Fall” aus der Praxis: Patrick 16 Jahre alt, adipös, wirkt niedergeschlagen, antriebslos (könne aber aufbrausen), unauffällige Kleidung Vater Polizist, drei jüngere Geschwister Hauptschule ohne Abschluss, Schlosserlehre, MofaFührerschein schon weg, da “blau” erwischt; wegen Körperverletzung bei Schlägerei zu Sozialeinsätzen verurteilt Trinken nur an Wochenenden, dann auch Zigaretten, Cannabis? 3x Montag abend bzw. Dienstag in der Praxis: Kopf- oder Bauchschmerzen Krankschreibung 26 Mit Jugendlichen ins Gespräch kommen Grundhaltung: Patienten- statt Expertenzentrierung, Akzeptanz statt Bevormundung, Wertschätzung, Empathie, Vertraulichkeit Gesprächsstil: aktives Zuhören, offene Fragen (Was? Wann? Wer? Wie?) statt „Verhör“ Lösungs- statt Problemorientierung: keine fertigen Lösungen, Ambivalenz anerkennen, auf Widerstand flexibel reagieren, Ressourcen aktivieren, Wahlmöglichkeiten eröffnen, Skalierungen, Wunderfragen Autonomie und Selbstwirksamkeit unterstützen, Patient für Auswahl und Durchführung von Verhaltensalternativen selbst verantwortlich 27 Die Entscheidungswippe 28 “Entscheidungswippe” am Beispiel Drogen aller Art Pro Fortsetzung Nutzen des Konsums von Tabak, Alkohol und Cannabis „Was für Vorteile bringen dir Rauchen, Trinken, Kiffen etc.?“ Nachteile einer Änderung „Welche unangenehmen Folgen befürchtest du, wenn du für eine Weile aufhören oder reduzieren würdest?“ Pro Veränderung Nachteile des Konsums von Tabak, Alkohol und Cannabis „Welche Probleme sind schon durch Tabak, Alkohol, Cannabis entstanden?“ Nutzen einer Änderung „Was würde sich in deinem Leben verändern, wenn du das Rauchen, Trinken, Kiffen reduzieren oder stoppen könntest?“ 29 Kostenloses Programm zum Rauchstopp für Jugendliche und junge Erwachsene Info-Blatt für Multiplikatoren Anmeldebroschüre mit angehängter Anmeldekarte Handbuch zum “Rauchstopp” (auch Reduktion möglich) mit wichtigen Tipps für Paten und Teams Feedbackkarte CD-ROM mit Hintergründen, Fakten, Studien Internetseite www.justbesmokefree.de mit Tests, Gästebuch Telefon-Helpline, Gewinnmöglichkeit (4mal im Jahr insgesamt € 1.000) Wo einzusetzen? Familie, Schule, Arztpraxis, Betrieb, Verein Sponsoren: Kooperation: 30 Einige Schlussbetrachtungen (1) Politischer Einsatz (child advocacy): Jugendschutz verbessern, Werbeeinschränkungen, mehr Mittel für Prävention, bessere Spiel- und Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder, Medien- und Marktkontrolle Spannungsfeld zwischen grenzenloser Freiheit (Genuss, Markt) und moralinsaurer Prävention (“Healthism”, Ausgrenzung sozial Benachteiligter) beachten, vernünftiges Maß für Regulation finden 31 Einige Schlussbetrachtungen (2) multidisziplinäre Vernetzung von Gewalt-, Depressions- und Suchtprävention immer die Erwachsenen (Elternkurse, Web) und die Kinder/Jugendlichen stärken! Bei Erziehern, Lehrern, Ärzten: mehr Interesse an und Kompetenz in Gesundheitsförderung (Salutogenese!) und ressourcenaktivierender Therapie, Pädagogik und Beratung! Größerer Einsatz von Zeit, Geld und Personal in der Prävention! Aus- und Weiterbildung sowie Forschung intensivieren! Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Noch Fragen? [email protected] 32