Medizinethik Das ausgewählte Kind Neue Technologien machen es möglich: Noch bevor eine Schwangerschaft besteht, kann ein Embryo, der im Reagenzglas gezeugt wurde, auf Erbkrankheiten hin untersucht werden. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) bewahrt Eltern, die ein genetisches Risiko tragen, vor einem (weiteren) Kind mit schweren, erblich bedingten Krankheiten. Aber ist diese Vorauswahl ethisch zu vertreten? Viele sind in der Debatte zu Wort gekommen, am wenigsten aber diejenigen, die unmittelbar von den Konsequenzen einer Zulassung oder eines Verbotes der PID betroffen sind: die so genannten genetischen Hochrisikopaare. Das könnte daran liegen, dass die Situation dieser Paare die Widersprüchlichkeit der Debatte offen legt. Gerade aber wenn man über ein gesetzlich verankertes, strafrechtliches Verbot nachdenkt, müssen die Bedürfnisse und Sichtweisen dieser unmittelbar Betroffenen einen zentralen Platz in der öffentlichen Debatte einnehmen. Nur so kann eine im Sinne von kontextsensitiver Ethik und demokratischer Rechtsauffassung bestmögliche Entscheidung getroffen werden. Befragung betroffener Eltern Die Auffassungen im Hinblick auf ethische Aspekte der PID sowie den Umgang mit bisherigem und zukünftigem Kinderwunsch bei Paaren mit hohem und durchschnittlichem genetischen Risiko zu ermitteln, war eines der wesentlichen Ziele einer interdisziplinären multizentrischen Studie, welche vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der ethischen Begleitforschung des deutschen Humangenomprojektes gefördert wurde. Ausgehend vom Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität, arbeiteten aus Marburg Frau Professor Manuela Koch, Humangenetik, Frau Dr. med. Tanja Krones, Professor Gerd Richter, Ethikkommission, Zentrum Innere Medizin und Zentrum für Konfliktforschung und Professor Ralf Zoll, Soziologie und Zentrum für Konfliktforschung mit; aus Heidelberg war Professor Georg F. Hoffmann, Pädiatrie und aus Gießen Dr. Gerd Hüls, Pädiatrie beteiligt. In unserer Untersuchung haben wir 162 Paare mit einem hohen ge30 Foto: dpa Präimplantationsdiagnostik: Hilfe für Eltern oder neue Eugenik? Bei der künstlichen Befruchtung wird die Samenzelle in die Eizelle injiziert. netischen Risiko und 150 Paare ohne ein bekanntes genetisches Risiko im reproduktionsfähigem Alter befragt, wie sie mit Kinderwunsch umgegangen sind und in Zukunft umgehen möchten. Die ethische Bewertung und die mögliche Nutzung der PID waren zentrale Fragenkomplexe. Bezüglich der Fragen zum moralischen Status des Embryos zum Zeitpunkt der PID antwortete eine weit überwiegende Anzahl der befragten Frauen und Männer, der Embryo sei „ihr Kind“ (52,3 %) oder „eher ihr Kind“ (24,8 %). 16,6 % betrachten den Embryo „eher als einen Zellhaufen“, 4,3 % als „einen Zellhaufen“. Zeigte sich in der Gesamtstichprobe eine hohe Zustimmung zur Legalisierung der PID, so zeichnete sich doch zwischen der Auffassung der genetischen Hochrisikopaare (HR) und der Kontrollgruppe (KG) ein deutlicher quantitativer Unterschied ab. 18 % der Gesamtstichprobe (11 % HR / 27 % KG) plädierten für ein weiter bestehendes Verbot der PID, 82 % (88 % HR / 72 % KG) für eine Legalisierung. Die meisten Be- fragten waren der Meinung, „die PID sollte bei allen genetischen Erkrankungen erlaubt sein. Die Bewertung der Schwere der Erkrankungen sollte allein den betroffenen Familien überlassen bleiben“. Diese Ergebnisse lassen sich sehr vielschichtig interpretieren. Zunächst bestätigen sie, dass der Embryo in der Petrischale größtenteils als eigenes Kind personalisiert wird. Dass dennoch die Legalisierung der PID selbst in so weiten Grenzen befürwortet wird, zeigt das hohe Maß an Vertrauen in Paare, ethisch-moralisch verantwortlich zu entscheiden. Das Argument, die PID sei keine vorgezogene Pränataldiagnostik (PND), da zum Zeitpunkt der Diagnostik keine körperliche Koexistenz und damit kein Schwangerschaftskonflikt bestünde, trifft gemäß dieser Personalisierung des Embryos als „eigenes Kind“ nicht die Gefühle und die Lebenswirklichkeit von möglichen Nutzern der Diagnostik. Von weiterem Interesse war bei der Untersuchung die Frage, welche reproduktive Option bei bestehendem aktuellem Kinderwunsch die be- fragten Personen aus der Ziel- und Kontrollgruppe für sich am ehesten in Anspruch nehmen würden. Dabei war allen Befragten bekannt, dass die PID in Deutschland verboten ist. Die Befragung zeigte folgendes Ergebnis: In der Gruppe der Hochrisikopaare wollten sich 31 % PND oder PID auf eine Schwangerschaft einlassen, 33 % würden im Rahmen einer Schwangerschaft eine PND durchführen lassen, und für 17 % war die Möglichkeit einer PID die wahrscheinlichste Möglichkeit. Innerhalb der Hochrisikogruppe entschieden sich vor allem diejenigen für eine PID, die im Schnitt die wenigsten gesunden Kinder hatten und deren erstgeborenes Kind häufiger und subjektiv schwerer betroffen war. Somit sind aus der Sicht der meisten betroffenen Paare mit einem hohen genetischen Risiko und starkem Kinderwunsch die PND oder die PID die wahrscheinlichsten und einzigen gleichwertigen Optionen. Genau wie bei Abbrüchen nach § 218 wird bei der PID eine Unzumutbarkeit nach der Geburt antizipiert. Statt der PID oder zusätzlich Medizinethik dazu werden viele dieser Paare wissentlich eine Schwangerschaft auf Probe eingehen. Sie tun dies nicht, weil sie eugenisch denken, sondern weil aus ihrer Sicht die Geburt eines Kindes mit der familiären Erkrankung ebenso wenig zumutbar ist wie der Verzicht auf eigene Kinder. Aufgrund der Alternativlosigkeit ist der Konflikt im Fall der PID nicht nur antizipiert, sondern existiert real, auch ohne die bestehende Koexistenz zum Zeitpunkt der Diagnostik. Paare, die in den europäischen PID-Zentren um Beratung nachsuchen, haben zu über 70 % keine gesunden Kinder, 25 % haben ein oder mehrere kranke Kinder. Gerade vor diesem persönlichen Hintergrund erscheint es besonders maliziös, die Reproduktionsentscheidung solcher Paare als selektiven Abort zu bewerten oder die PID als ethisch grundsätzlich bedenklich einzustufen. Gerade weil viele dieser Paar Kinder mit Behinderung haben oder mit behinderten Familienangehörigen leben, weil sie selbst von der Erkrankung betroffen sind oder einen Spätabbruch erlebt haben, sind sie in ho- hem Maße in der Lage, moralisch verantwortungsbewusst zu entscheiden. Da die PID nach einer künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation / IVF) ebenfalls ein sehr belastendes und mit Risiken und Misserfolgen behaftetes Verfahren ist, da sie zudem bei Paaren eingesetzt wird, die keine künstliche Befruchtung bräuchten, ist dieser Weg sicherlich für diese Paare die Ultima Ratio in einem schwerwiegenden ethischen Dilemma. Die mit der PID verbundenen Risiken werden auch in den zuvor mandatorisch erfolgenden Beratungen thematisiert. Diese Risiken jedoch als Argument gegen die Einführung der PID zu verwenden, spricht den Paaren die Kompetenz ab, ihre Reproduktionsentscheidung verantwortlich zu treffen. In der Frage nach einer Legalisierung der PID besteht nach den ersten Ergebnissen unserer Befragung eine sehr große Kluft zwischen Ethikexperten und Politikern auf der einen und betroffenen Hochrisikopaaren und der befragten Bevölkerung auf der anderen Seite. Die Unterschiede in den Wertvorstellungen zu Ethik und Genetik, die zwischen Expertenempfehlung und Patientenperspektive bestehen, scheinen nach neueren Studien ein generelles Phänomen zu sein. Andere, die in der Debatte zu Wort kommen, wie Erwachsene mit Behinderungen ohne Kinderwunsch, Ärzte, Wissenschaftler und die gesamte Gesellschaft, sind mehr oder weniger mittelbar Betroffene, deren Ängste vor möglichen negativen Konsequenzen ebenso ein großes Gewicht zukommen muss. Diese Konsequenzen sind jedoch kein Argument, welches ein strafrechtliches Verbot dieser Diagnostik rechtfertigen würde. Solchen Tendenzen muss durch systematische Maßnahmen politisch und gesellschaftlich effektiv entgegengetreten werden. Insgesamt gibt es gute Gründe und überzeugende ethische Argumente für die rechtliche Zulassung der PID im Rahmen einer kontextsensitiven Ethik. Dabei ist auf eine enge Indikationsstellung bei Einzelfallabwägung zu achten. Der Aufstellung einer positiven Indikationsliste bedarf es nicht. Ethische Überlegungen zu einer aktuellen Kontroverse War der Beginn menschlichen Lebens früher mit der Geburt eindeutig bestimmbar, werden durch die heutigen Möglichkeiten der Medizin auch Existenzformen menschlichen Lebens sicht- und erlebbar, die zuvor so nicht erfahrbar waren. Grundlegende und klare ethische Aussagen darüber, wie der Mensch an diesen Grenzen des Lebens im Sinne einer guten ethischen Praxis verantwortlich handeln kann, sind zunehmend schwieriger zu treffen. Kaum ein Thema aus dem Bereich von Ethik und Genetik ist in den letzten zwei Jahren so intensiv diskutiert worden wie die Frage, ob man die PID in Deutschland zulassen sollte. Diese Diagnostik, die zuerst von dem Briten Alain Handyside Ende der achtziger Jahre an menschlichen Embryonen angewendet wurde, ermöglicht es, die genetische Veranlagung für bestimmte Erkrankungen oder Chromosomenfehlverteilungen zu diagnostizieren. Embryonen, welche solche Merkmale nicht aufweisen, werden in die Gebär-mutter eingesetzt. Familien, die ein hohes Risiko für die Weitergabe einer genetischen Erkrankung tragen, können auf diese Weise ein nicht von der in Frage stehenden Erkrankung betroffenes Kind bekommen. Diese Paare bräuchten in der Regel keine künstliche Befruchtung, um schwanger zu werden. Mittlerweile wird die PID ebenso häufig dann eingesetzt, wenn Frauen schon mehrere Fehlgeburten oder künstliche Befruchtungen hinter sich haben, ohne schwanger geworden zu sein, da oft Chromosomenfehlverteilungen die Ursache dafür sind, dass Embryonen sich nicht weiter entwickeln. Im Mai 2002 hat ein Konsortium, welches Daten der Aktivitäten von weltweit 25 PID-Zentren sammelt, erstmals über die Anwendung der PID bei Paaren berichtet, die lediglich das Geschlecht ihres Kindes bestimmen wollten – eine Indikation, die von den führenden westlichen Ethikbeiräten scharf kritisiert wird. Bisher sind weltweit etwa 500 Kinder nach einer PID geboren worden. Durchgeführt wird die PID zur Zeit in elf EU-Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien und Ungarn). In Deutschland ist die PID nach der Mehrheitsmeinung juristischer Kreise aufgrund des 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) verboten. Die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages hat im Mai 2002 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Darin stimmte die Mehrheit der Kommission gegen die Einführung der PID. Im Januar 2003 hat der Nationale Ethikrat eine Stellungnahme zur „Genetischen Diagnostik vor und während der Schwangerschaft“ ver- Nachgeschlagen: IVF – In-Vitro-Fertilisation – Künstliche Befruchtung Eine Hormongabe stimuliert bei der Frau einen multiplen Eisprung. Diese Eizellen werden entnommen und unter Beobachtung mit den Spermien des Mannes befruchtet. Von den sich entwickelnden Embryonen werden bis zu drei in die Gebärmutter eingepflanzt. Nur weniger als 20 % der IVF-Anwendungen folgt eine erfolgreiche Schwangerschaft. PID – Präimplantationsdiagnostik Nach der künstlichen Befruchtung (siehe IVF) mehrerer Eizellen werden den Embryonen im Acht- oder Sechzehnzellstadium je ein bis zwei Zellen entnommen, um deren Erbgut auf genetische Mutationen hin zu untersuchen. Die Embryonen mit einer nachgewiesenen Erbkrankheit werden verworfen, von den gesunden Embryonen werden bis zu drei zur Einleitung einer Schwangerschaft in die Gebärmutter eingepflanzt. PND – Pränataldiagnostik Mittlerweile schon standardisierte Untersuchung, in der in den frühen Monaten einer Schwangerschaft aus dem Fruchtwasser oder dem Mutterkuchen fötale Zellen entnommen werden, die auf eine Genmutation oder Chromosomenanomalie untersucht werden. Wird eine Krankheit nachgewiesen, besteht die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch. Totipotenz Zellen von sehr frühen Embryonen (bis zum Achtzellstadium) sind totipotent, das heißt, dass sich aus jeder einzelnen totipotenten Zelle unter optimalen Umgebungsbedingungen ein eigenständiges Individuum entwickeln kann. In der Natur geschieht dies spontan, wenn sich ein Embryo zu so genannten eineiigen Zwillingen teilt. Pluripotenz Fähigkeit von (Stamm-)Zellen, sich unbegrenzt zu vermehren und alle Zelltypen des Körpers zu bilden (zum Beispiel Muskelzellen, Nervenzellen und Blutzellen). Ausdifferenzierte Zellen haben diese Fähigkeit verloren und sind auf einen Zelltyp festgelegt: Wenn eine Hautzelle sich teilt, können die aus ihr hervorgehenden Tochterzellen nur Hautzellen werden. Pluripotente Zellen sind die embryonalen Stammzellen nach dem Achtzellstadium, die allerdings keine Totipotenz mehr aufweisen. 31 Medizinethik sionsentwurf der Bundesärztekammer, in dem diese anregt, die PID für Fälle von sehr schwer verlaufenden Erbkrankheiten in Deutschland zuzulassen. In der Diskussion um die ethische Zulässigkeit der PID wird eine Reihe von Problemen benannt: ! Totipotenz versus Pluripotenz ! Ziel der PID: Schwangerschaft und Geburt versus Selektion ! Motive der PID: individuelle Gesundheitsfürsorge versus Eugenik ! Recht auf ein „gesundes“ Kind – gesellschaftliche Erwartung ! Frage der Regulierung und Eingrenzbarkeit ! Embryo in vivo versus Embryo in vitro – Schwangerschaftsabbruch versus PID eine ethische Begründung unbrauchbar sei. Was und wann etwas am sich entwickelnden Menschen schützenswert sei – so seine Schlussfolgerung –, muss ethisch aus anderen Voraussetzungen als den biologischen abgeleitet werden. Ganz unabhängig davon sind in diesem Zusammenhang allerdings die Bestimmungen des ESchG zu sehen, da es gute Gründe für dieselbigen geben mag, die allerdings einer anderen Begründung bedürfen als die der embryonalen Totipotenz versus Pluripotenz. Ziele und Motive der PID Ziel der PID ist die Herbeiführung einer Schwangerschaft bei einem genetischen Hochrisikopaar und die Geburt eines von der in Frage stehenden genetisch bedingten Erkrankung nicht betroffenen Kindes. Darüber hinaus kann es Sekundärziel sein, eine mögliche Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch bei nachgewiesenem Gendefekt zu umgehen. Häufig ist zu hören, dass es sich bei der PID um eine „Eugenik von unten“ handele oder um Selektion. Dies wären gewichtige Argumente gegen die Einführung der PID, die einer Klärung bedürfen. Die Eugenik muss historisch und gesellschaftspolitisch als eine soziale und politische Strömung bezeichnet werden, die sich der Verbesserung der menschlichen Rasse durch gezielte Beeinflussung der Fortpflanzung verpflichtet fühlte und – staatlicherseits betrieben – einzig und allein die Verbesserung des Genpools einer Bevölkerung zum Ziel hatte. Nach übereinstimmender Meinung werden die PID und die PND nicht als eugenische Maßnahmen in diesem Sinne verstanden, sondern 60 20 50 40 27 36 15 19 30 16 20 Gruppenzugehörigkeit Prozent 20 15 10 12 11 Kontrollgruppe 5 0 Zielgruppe fe of n o ik ris rs st n en en ng ku e eh ng ku an kr Er an kr Er n le al te Al le al n lle n te ie rb fä el nz Ei ve e er hw sc in D PI d en hl Fe Meinungen zur Einführung der PID 32 Totipotenz versus Pluripotenz Die Frage nach der Totipotenz und Pluripotenz embryonaler Zellen scheint naturwissenschaftlich soweit eindeutig beantwortbar zu sein, dass nach Abschluss des Acht-ZellStadiums die embryonale Zelle ihre Totipotenz verliert, darüber hinaus liegen nach neueren Untersuchungen Hinweise dafür vor, dass selbst im Vier-Zell-Stadium einige dieser Zellen bereits soweit differenziert sind, dass sie ihre Totipotenz verloren haben. Totipotenz wird dabei im Sinne des ESchG verstanden als die Fähigkeit einer embryonalen Zelle, sich bei Vorliegen der erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu einem Individuum entwickeln zu können. Auf philosophischer Seite hat Christian Kummer 1999 die Begrifflichkeit der embryonalen Totipotenz dahingehend kritisiert, dass der aristotelische Substanzbegriff für die Wirklichkeit des Menschen und sein Werden unzureichend und somit gleichzeitig die Rede von der Realpotenz in der Diskussion um die PID für Quelle: Richter ten führen dagegen allerdings an, dass im Rahmen einer PID einzig und allein in der Absicht gehandelt wird, eine Schwangerschaft herbeizuführen, so dass der Tatbestand nach § 1 Abs.1 nicht gegeben ist und somit eine PID nicht gegen das ESchG verstößt. Des weiteren ist es nach § 2 Abs. 1 ESchG verboten, einen auf künstlichem Wege erzeugten Embryo zu einem anderen Zweck als dem seiner Erhaltung zu verwenden. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass lediglich dann nach § 8 Abs. 1 ESchG ein Verstoß vorliegen kann, wenn eine totipotente embryonale Zelle zur Diagnostik im Rahmen einer PID verwendet wird. Ist dies nicht der Fall, steht eine molekulargenetische Diagnose der Einzelzelle nicht im Widerspruch zum ESchG. Die juristische Diskussion macht deutlich, dass die PID nicht zwangläufig gegen die bestehende Gesetzgebung verstoßen muss. Angestoßen wurde die gesellschaftspolitische Debatte zur PID im Frühjahr 2000 durch einen Diskus- als vorbeugende Krankheitskontrolle und Erweiterung der Wahlfreiheit betroffener Paare. Zielhorizont der PID ist die Gesundheit des zukünftigen Kindes. Tatsächlich aber wird nicht die Krankheit eines Kindes abgewendet, sondern der erkrankte Embryo selbst aussortiert. In dieser Hinsicht kommen wir nicht darum herum, die Maßnahme der PID als Selektion zu bewerten. Allerdings muss dabei die Debatte um die PID in ihrem lebenspraktischen Bezug gesehen werden, der sich eindeutig auf die individuelle Gesundheitsfürsorge bezieht. Dies setzt voraus, dass die PID nur im Sinne von Einzelfallentscheidungen angewandt werden darf. Wenn die PID als Maßnahme der Selektion verstanden werden muss, so muss dies auch in Relation gesetzt werden zur pränatalen Diagnostik mit konsekutiven Schwangerschaftsabbrüchen und in Relation zu Abbrüchen aus sozialen Gründen. Allerdings besteht hier ein deutlicher und für die Bewertung wichtiger Unterschied zwischen der PID und der PND, da eine PID mit der dazu notwendigen künstlichen Befruchtung lediglich solche Eltern durchführen lassen können, bei denen ein konkretes Risiko aus der eigenen Familie bekannt ist. Diese Eltern werden bei bestehendem Kinderwunsch eine Schwangerschaft herbeiführen, bei der sie in der Mehrzahl fest entschlossen sind, vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch zu nehmen und sich gegebenenfalls für eine Abtreibung zu entscheiden. Ein PID-Verbot verschiebt also die Problematik lediglich von einer „Zeugung auf Probe“ hin zu einer „Schwangerschaft auf Probe“. Darüber hinaus ist anzumerken, dass das selektive Potenzial der PID aufgrund ihrer medizinischen Voraussetzungen neben dem der PND nicht ins Gewicht fallen wird, wobei daran zu erinnern ist, dass letztere straffreie gesellschaftliche Praxis ist. 70 66 60 50 40 33 30 31 Pr oz en t Prozent Quelle: Richter öffentlicht, in der sich die Mehrheit der Mitglieder für eine limitierte Zulassung der PID ausspricht. Es wird erwartet, dass das Parlament alle mit der Reproduktionsmedizin zusammenhängenden Fragen in einem speziellen Fortpflanzungsmedizingesetz regelt. Zur Zeit wird die rechtliche Seite der PID durch das ESchG bestimmt. Dieses Gesetz ist allerdings weiterhin Gegenstand einer kontroversen juristischen Debatte. Strittig ist bereits § 1 Abs. 1, demzufolge es strafbar ist, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft herbeizuführen. Für einige namhafte Juristen verstößt daher die PID gegen das ESchG. Andere Juris- 23 20 17 10 13 Zielgruppe 7 4 0 Verzicht keine PND Adoption Kontrollgruppe IvF PND Reproduktive Optionen von Hochrisikopaaren PID Recht auf ein „gesundes“ Kind – gesellschaftliche Erwartungen Der Slogan mancher PID-Kritiker, es gebe „kein positives Recht auf gesunde Kinder“, klingt einigermaßen zynisch, wenn man bedenkt, dass es ja um den Ausschluss nachgewiesener und erlebter schwerwiegender familiärer Krankheiten geht und nicht um die Garantie genereller Gesundheit eines Kindes, die es ja nie geben kann. Allerdings tauchen im Rahmen der PID Fragen auf, die den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderten und Behinderung betreffen. Die PID ist zwangsläufig mit einem Werturteil verbunden, nämlich dass der positiv getestete Embryo nicht ausgetragen werden soll, sondern verworfen wird. Dies kann und wird von einem Teil derjenigen, die mit einer genetischen Erkrankung leben, als Kränkung oder Diskriminierung empfunden. Hier ist allerdings zu fragen, ob die Selektion vor der Einpflanzung einer Diskriminierung behinderter Menschen nach der Geburt entspricht. Kaum zu bestreiten ist, dass erst die PND Urteile der Art ermöglicht hat, Behinderungen „müsse es doch heute nicht mehr geben“, und damit einen subtil wirkenden gesellschaftlichen Druck initiiert. Allerdings weist die zunehmende politische und rechtliche Integration der Behinderten in unserer Gesellschaft in eine andere Richtung. Gleichwohl wird darauf zu achten sein, dass die Sicherung gleicher Lebenschancen für geistig und/oder körperlich behinderte Menschen stets gewährleistet ist und dabei auch die Unterstützung der Eltern behinderter Kinder nicht außer Acht bleibt. Behindertenfeindliche Einstellungen und Vorurteile bekämpft man allerdings nicht sinnvoll durch Verbote medizinischer Techniken. Es ist meines Erachtens auch nicht zu sehen, dass als Folge der Zulassung von PID die Rechte behinderter Menschen gefährdet sein sollten. Regulierung und Eingrenzbarkeit Sehr oft wird hinsichtlich der Regulierbarkeit und Eingrenzbarkeit der PID auf das „slippery-slope“-Argument, das Abgleiten auf einer schiefen Ebene, hingewiesen, wohinter sich die Angst verbirgt, es könnte zu einer sukzessiven Ausweitung der Anwendung kommen. Hier bin ich der Auffassung, dass das SchiefeEbene- oder Dammbruch-Argument implizit zwei Prämissen enthält, nämlich die Unausweichlichkeit und die Unaufhaltsamkeit einer Ausweitung. Foto: dpa Medizinethik Im Achtzellstadium des Embryos besitzen die Zellen noch die Fähigkeit, zu einem eigenständigen Organismus auszuwachsen. Beide Prämissen sind nicht überzeugend, da das Argument kontrafaktisch ist, also Kausalzusammenhänge voraussetzt, die es nicht beweisen kann. Es ist auch nicht zu erkennen, warum eine mögliche Ausweitung der PID-Anwendung und somit ein Abgleiten auf der schiefen Ebene nicht durch entsprechende gesetzliche Regelungen verhindert werden könnte. Somit ist festzustellen, dass lediglich die Gefahr eines Missbrauchs nicht das Verbot des rechten Gebrauchs rechtfertigen kann. Embryo in vivo versus Embryo in vitro Wie sieht aber der wertmäßige Zusammenhang von Schwangerschaftsabbruch und PID aus? Ein Schwangerschaftsabbruch ist nach § 218 StGB grundsätzlich rechtwidrig, und ein Schwangerschaftsabbruch ist lediglich wegen der Unzumutbarkeit des Austragens der Schwangerschaft für die Mutter straffrei – aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt. Hier gerät der Rechtsstatus der Mutter in Konflikt mit dem Lebensrecht des Embryos oder Föten. Antizipiert wird dabei in den meisten Fällen der Konflikt zwischen der Autonomie der Mutter und der ihr durch ein (krankes) Kind unzumutbar erscheinenden Belastung nach der Geburt. Hier hat der Gynäkologe Hepp auf eine Analogie der Konfliktsituation von Frauen hinsichtlich der Inanspruchnahme von PID und PND mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch dahingehend hingewiesen, dass die real existierende Schwangerschaft für das Bestehen des Konfliktes nicht konstitutiv sei, sondern die Antizipation der unzumutbaren Situation nach der Geburt eines schwerst kranken Kindes. In dieser Situation besteht in der Tat zwischen der gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbruch und PID ein Wertungswiderspruch, da in dieser Argumentation die PID gleichsam als zeitlich vorverlegte PND angesehen werden kann. Als zweiter Punkt ist anzuführen, dass mittels des ESchG ein hoher Schutzanspruch für den Embryo in vitro im Rahmen der künstlichen Befruchtung erhoben wird, während die Anwendung nidationshemmender Verhütungsmittel (die die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut verhindern) nicht nur straffrei, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert ist und bislang kaum moralisch in Frage gestellt wurde. Auch hier ist ein Wertungswiderspruch zu konstatieren. Die gesamte Diskussion um die PID bezieht sich ausschließlich auf den Embryo, was ihn als Artefakt er- scheinen lässt. Darauf hat vor allem Claudia Wiesemann in ihrem Gutachten für die Enquete-Kommission des Bundestages hingewiesen. Es wird eine theoretischen Diskussion geführt, die fast nichts mit einer lebenspraktischen Auseinandersetzung im Rahmen einer kontextsensitiven Ethik zu tun hat. Das begriffliche Inventar ist dasjenige bürgerlicher Individualrechte, und weder der relationale Charakter einer möglichen Schwangerschaft noch der des Menschenwürdeprinzips werden berücksichtigt. Pragmatische Ethik Im Rahmen einer kontextsensitiven Ethik, die auch als pragmatische Ethik oder klinische Ethik bezeichnet werden kann, wird ganz bewusst auf ethische Universalia, wie zum Beispiel auf das Menschenwürdeprinzip oder den kategorischen Imperativ, verzichtet. Solche Prinzipien abstrakter Ethiktheorien erheben einen universalen Geltungsanspruch, der allerdings in der Praxis nicht einzuhalten ist. Gerade hinsichtlich der Herausforderungen der Bio- und Medizinethik kommt eine abstrakte, deduktive Ethiktheorie nicht darum herum, Ausnahmen zuzulassen, will sie auf die gestellten Herausforderungen reagieren. Zwangsläufig kommt 33 Medizinethik ESchG §2, Abs. 1: „Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt, erwirbt oder verwendet, ...“ ESchG § 8, Abs. 1: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.“ Auszug aus dem EschG es dabei zu dem Widerspruch, dass Normen universal gelten müssen, aber gleichzeitig gerechtfertigte Ausnahmen zugelassen werden sollen. Eine Ethik, die sich mit generellen (abstrakten) und gleichzeitig spezifischen (konkreten) Problemen von Menschen beschäftigt, ist hier aufgerufen, die Differenz von Universalität und Partikularität anzuerkennen, damit sie Aussagen hinsichtlich der Allgemeinheit eines normativen Gehaltes einer Tatsache machen kann, ohne diese mit der Universalität der Geltung von Normen zu verwechseln. Ethikansätze, die auf Deduktion und abstrakter Reflexion beruhen (wie deontologische und utilitaristische Ansätze), weisen häufig das Problem auf, dass sie zu abstrakt sind, als dass sie in konkreten Problemkonstellationen konstruktiv angewendet werden könnten. Sie sind zumeist praxisfern. Will man das kategorische Menschenwürdeprinzip für die Frage nach der ethischen Bewertung von embryonaler Stammzellforschung 34 und der Präimplantationsdiagnostik fruchtbar machen und es nicht als Diskursblocker in diesen Auseinandersetzungen einsetzen, so ist nach Klärung der Prämissen (Rechtfertigung und Unterscheidung) nach dem hypothetischen, das heißt nach dem nicht-kategorischen Gebrauch des Menschenwürdeprinzips zu fragen. Hierbei kann das Menschenwürdeprinzip als intensionale Strategie angewendet werden, um die Problematik adäquat zu bearbeiten. Die intensionale Strategie beruht, anders als die extensionale Strategie, nicht darauf, bestimmte Formen menschlichen Lebens aus dem Geltungsbereich des Prinzips der Menschenwürde auszuschließen, sondern sie überprüft, inwiefern die Verträglichkeit bestimmter Handlungsformen mit der Menschenwürde einer Entität behauptet werden kann. Mit diesem Beispiel wird auf die Struktur kontextsensitiver Ethik verwiesen, auf die im weiteren eingegangen werden soll. Eine kontextsensitive Ethik nimmt ihren Ausgang bei Prinzipien der mittleren Ebene (wie beispielsweise Autonomie, Fürsorge, NichtSchaden, Gerechtigkeit und Vertrauen), so dass in einem ethischen Diskurs auch Vertreter unterschiedlicher Ethiktheorien Konsensmöglichkeiten finden können. Die kontextsensitive Ethik macht dabei Anleihen bei unterschiedlichen Moraltheorien, da es ihr um pragmatische, problemund menschenbezogene Lösungsvorschläge geht. So weist die kontextsensitive Ethik Elemente der Prinzipienethik, der fall-orientierten Ethik (Casuistry), der Care-Ethik und des Dewey’schen Pragmatismus auf. Entscheidend ist, dass sie trotz ihrer offenen und unvollständigen Theoriestruktur zur kohärenten Urteilsbildung führt und dabei auch kontextübergreifend den gesellschaftlichen Diskurs berücksichtigt. Erkenntnisund handlungsleitend für eine kontextsensitive Ethik ist daher eine gründliche Analyse der Situation, in der alle Beteiligten in ihren eigenen moralischen Urteilsfähigkeiten ernst genommen werden. Die Situations- und Problemanalyse rekrutiert unter anderem auf die vom „Principlism“ in Anspruch genommenen Prinzipien, die konkret und nicht abstrakt sind. Desgleichen werden auch Perspektiven der Geschlechterdifferenz berücksichtigt, die ebenfalls für eine situationsbezogene Ethik in Anspruch genommen werden. Insgesamt gilt, dass die Geltung der heranzuziehenden ethischen Prinzipien an Situationen und historische und kulturelle Kontingenzen geknüpft sind. Dabei ist im Laufe der ethischen Untersuchung wichtig, dass moralische Bewertungen oder ethische Urteile hypothetisch aufgestellt werden und im Sinne der Dewey’schen „inquiry“ überprüft werden müssen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein komplexes Verfahren mit verschiedenen Operationen, durch welches die Beteiligten unbestimmte Problemlagen in bestimmte Probleme effektiv transformieren, die sie dann optimal bewältigen können. Dabei ist die Logik Deweys ein offenes Unternehmen, die Empfehlung einer Art des Denkens, die den Beteiligten helfen kann, ihr gegenwärtiges, reales Problem besser zu bewältigen. Diese Untersuchungsmethode ist nicht mehr fundamentalistisch; sie sucht nicht letzte Gewissheiten, sondern begnügt sich mit wohlbegründeten garantierten Aussagen und Ausgangspunkten, die sich im Laufe der weiteren Untersuchung als fruchtbar und konstruktiv erweisen werden. Dabei steht nicht mehr der Begriff der objektiven Wahrheit im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern eine gute, produktive und konstruktive Problemlösung, die von Foto: Graßmann ESchG §1, Abs. 1, Nr. 2: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt...“ den Beteiligten gemeinsam erarbeitet und verantwortet werden kann. In einem solchen Untersuchungsverfahren werden hypothetische ethische Annahmen überprüft und angenommen oder verworfen. Dieses Vorgehen hat teilweise Anlass gegeben zu harscher Kritik aus anderen Philosophierichtungen und zum Vorwurf der Beliebigkeit (Relativismus) geführt. Wird allerdings die Unterscheidung von abstrakt/konkret, von generell/spezifisch und von universal/partikular nicht mehr kategorial verstanden, so sind mit dem Ansatz einer pragmatischen, kontextsensitiven Ethik lebenspraktische ethische Urteile zu erzielen. In der bundesdeutschen bioethischen Diskussion scheinen allerdings die genannten, aus abstrakten Ethiktheorien stammenden Vorurteile immer noch vorherrschend zu sein. In der Debatte, ob die PID zugelassen werden oder weiterhin verboten bleiben sollte, ist die Kontextsensitivität meines Erachtens ein wesentliches Entscheidungskriterium für eine ethische Bewertung, die sowohl sowohl für unmittelbar Betroffene (genetischen Hochrisikopaare mit Kinderwunsch) wie auch für mittelbar Betroffene (Erwachsene mit Behinderungen ohne Kinderwunsch, Ärzte und Wissenschaftler) und die gesamte Gesellschaft tragbar ist. Gerd Richter Prof. Dr. med. Gerd Richter Vorsitzender der Ethikkommission des Fachbereichs Medizin, Oberarzt am Zentrum für Innere Medizin und Lehrbeauftragter für Bioethik – Klinische Ethik Baldingerstraße 1 35032 Marburg Tel.: (0 64 21) 28-6 64 87 E-Mail: [email protected] URL: www.med.uni-marburg.de/ e-einrichtungen/ethikkomm/