1. Wittgenstein und die Praktische Philosophie 1.1. Wittgenstein als Ausgangspunkt 1953 erschienen posthum Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Obwohl in diesen eher die Frage im Mittelpunkt steht, was es heißt, gemeinsam eine Sprache zu sprechen, wurde durch Peter Winchs „The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy“ von 1958 und H. L. A. Harts „The Concept of Law“ von 1961 schnell klar, daß sich von ihnen aus auch neu über zentrale Probleme der Praktischen Philosophie nachdenken läßt.3 Insbesondere nach Harts Buch war nicht mehr zu übersehen, daß das, was die Normativität sozialen Handelns ausmacht, mit Wittgenstein neu gefaßt werden kann. Kurz gesagt soll sie sich nicht darin zeigen, daß eine Person aus irgendwelchen Gründen weiß, daß eine Handlung richtig bzw. gut oder falsch bzw. schlecht ist. Vielmehr soll sie sich darin zeigen, daß mehrere Personen eine, wie Wittgenstein es nennt, „Gepflogenheit“ (PU § 198)4 teilen, mit der sie Handlungen durch andere Handlungen als richtig bzw. gut oder falsch bzw. schlecht qualifizieren, und genau dadurch eine Gruppe mit einer sozialen Praxis, also, wie sie i. f. genannt 3 4 „Wittgensteins Überlegungen darüber, was es heißt, einer Regel zu folgen, werden grundsätzlich im Hinblick auf eine Klärung des Wesens der Sprache vorgetragen. Ich muß nun zeigen, daß sie auch auf andere Wechselbeziehungen zwischen Menschen Licht werfen können.“ (Winch (1958), 60) Hart nimmt in „The Concept of Law“ interessanterweise nur marginal Bezug auf Wittgenstein (cf. 332, 357), sein Ansatz ist aber nur von einer Wittgensteinschen Position aus zu verstehen. „Gepflogenheit“ wird auch benutzt in PU § 199, § 205, § 337; BGM VI-21 (S. 322), VI-43 (S. 346). Verwandte Begriffe sind: – „Institution“ (PU § 199, § 337, § 380 [„I. der Anwendung“], § 540 [„I. der Sprache“], § 584 [„I. des Geldes“]); BGM VI-32 (S. 334); VPP S. 167, cf. 360; 12 1. Wittgenstein und die Praktische Philosophie werden soll, soziale Gruppe bilden – und eben kein bloßes Aggregat von Personen. Da, wie zu zeigen sein wird, für die Existenz einer solchen Gruppe Handlungen, die andere Handlungen explizit als schlecht qualifizieren, notwendig sind, muß der Begriff der Sanktion5 im Zentrum einer Wittgensteinschen Bestimmung von Normativität stehen, insofern Sanktionen solche Handlungen sind.6 1.2. Die beiden Grundfragen der Praktischen Philosophie Mit der Bestimmung der Normativität sozialen Handelns befindet man sich im Kernbereich der sog. „Praktischen Philosophie“. Ihre zentrale Aufgabe kann mit zwei Fragen umrissen werden: Nach welchen Kriterien kann man erstens beurteilen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist? Und nach welchen Kriterien kann zweitens herausgefunden werden, welche Beurteilung einer Handlung als gut oder schlecht sich in der sozialen Praxis einer Gruppe durchsetzen soll? Die erste Frage ist eine Frage nach einem ethischen Wissen, mithilfe dessen die Qualität von – „Technik“ (PU § 199, § 205, § 262 [„T. der Anwendung“], § 337, § 557 [„T. der Anwendung“]); BGM I-4 (S. 37 f.), III-46 (S. 178), III-49 f. (S. 183–185), IV, 23 (S. 236), IV, 55 (S. 254), V-9 (S. 266), V-19 (S. 279), V-42 (S. 296), VI-2 (S. 303), VI-14 (S. 315), VI-43 (S. 346), VII-1 (S. 355), VII-53 (S. 418), VII-73 (S. 436); – „Praxis“ (PU § 7 [„Praxis des Gebrauchs der Sprache“], § 51 [„Praxis der Sprache“], § 54 [„Praxis des Spiels“], § 197 [„Praxis des Spielens“], § 202); BGM I-10 (S. 41) [„ständige Praxis seines Gebrauchs“], I-17 (S. 43) [„Praxis der Sprache“], II-35 (S. 135), VI-34 (S. 335), VI-41 (S. 344); ÜG Nr. 139, 524; „(ständiger) Gebrauch“, „Gebräuche“ (PU § 198, § 199); BGM I-4 (S. 37 f.), I-9 (S. 41 f.), I-14 (S. 42) [„ständig geübter Gebrauch“], VII-10 (S. 366 f.), VII-73 (S. 436). „Sanktion“ meint i. f. durchweg: feindselige Haltung, Ablehnung, Bestrafung u. ä., also verkürzt gesprochen: Zufügung eines Übels aufgrund einer vorangegangenen Handlung. Es gibt auch einen genau entgegengesetzten Wortgebrauch von „Sanktion“, der aufmunternde Haltung, Belohnung u. ä. meint, die sog. „positive Sanktion“. Dieser Wortgebrauch wird i. f. ausgeblendet. Zur Ambiguität des Sanktionsbegriffs cf. Zimmer (1999). Dies ist eine Behauptung, die aus den Wittgensteinschen Texten so nicht einfach abzulesen ist; s. u. 2.3. das zum bei Wittgenstein zentralen Begriff der „Übereinstimmung“ Gesagte. – 5 6 1.2. Die beiden Grundfragen der Praktischen Philosophie 13 Handlungen bewertet werden kann, die zweite Frage eine Frage nach einem Wissen, mithilfe dessen die Qualität des Souveräns bewertet werden kann, d. h. die Qualität dessen oder derjenigen, der/die in einer faktisch existierenden sozialen Gruppe die Macht hat/haben, Handlungen als hinsichtlich der sozialen Praxis dieser Gruppe gut oder schlecht zu bewerten. Die Praktische Philosophie hat soziales Handeln also immer um zwei Achsen thematisiert. Die erste Hauptaufgabe Praktischer Philosophie leitet sich aus der Einsicht her, daß Bewertungen menschlicher Handlungen als gut oder schlecht keine natürlichen Tatsachen sind in dem Sinn, daß sie nach einem für alle Menschen naturgesetzlich festgelegten Kausalmechanismus aus den zu beurteilenden Handlungen entspringen; wie eine menschliche Handlung bewertet wird, ist strittig, denn es mag zwar zu Übereinstimmungen in der Bewertung kommen, ja, soll die soziale Praxis einer Gruppe gelingen, muß es sogar zu solchen Übereinstimmungen kommen; eine solche Übereinstimmung darf aber weder vorausgesetzt werden noch muß sie notwendigerweise zustande kommen. Praktische Philosophie als Moralphilosophie bzw. Ethik sieht deshalb ihre zentrale Aufgabe darin, denjenigen, die menschliche Handlungen bewerten, Kriterien dafür an die Hand zu geben, welche Bewertungen sie sinnvollerweise vertreten können, wenn sie sich selbst als Menschen verstehen wollen. Diese Kriterien sind genauso strittig wie die Bewertungen selbst, für die sie Kriterien sein sollen. – Die zweite Hauptaufgabe Praktischer Philosophie besteht darin zu untersuchen, welche Bewertungen menschlicher Handlungen sich in der sozialen Praxis einer Gruppe de facto in Handlungen durchsetzen sollen. Diese Aufgabe erwächst aus der Einsicht, daß die Strittigkeit der Bewertungen menschlicher Handlungen und der Kriterien für diese Bewertungen dazu führt, daß in der faktischen sozialen Praxis einer Gruppe verschiedene, oft sogar einander ausschließende Bewertungen und Bewertungskriterien eingesetzt und im Vollzug entsprechender Handlungen durchgesetzt werden. Wenn auch die moral- und sozialhygienischen Todesphantasien eines bedeutsamen Teils der traditionellen Praktischen Philosophie darin bestanden, Zustände sozialer Praxis zu imaginieren, in denen die Strittigkeit von Bewertungen und Bewertungskriterien ver- 14 1. Wittgenstein und die Praktische Philosophie schwunden ist,7 d. h. Menschen sich endlich als vernünftig begriffen haben und auch einmütig danach handeln, so hat sie sich doch auch genügend Gedanken darüber gemacht, wie unter der faktischen Strittigkeit solcher Bewertungen bzw. Bewertungskriterien und der daraus erwachsenden Handlungen8 soziale Praxis überhaupt gelingen kann. Diese Gedanken sind Gedanken über den Souverän, d. h. Gedanken darüber, wer in einer sozialen Gruppe die Macht haben soll. Sie sind zentriert um die Einsicht, daß soziale Praxis dann nicht gelingen könnte, wenn sich jegliche Bewertung und jegliches Bewertungskriterium umstandslos in Handlungen durchsetzen könnte. Daß sich bestimmte Bewertungen und Bewertungskriterien in einer sozialen Praxis durchgesetzt haben, heißt, daß sie in ihr gültig sind. Daß sie gültig sind, heißt, daß nach diesen Bewertungen die in der sozialen Praxis einer Gruppe zu vollziehenden und vollzogenen Handlungen durch andere Handlungen als gut oder schlecht qualifiziert werden. In einer gelingenden sozialen Praxis müssen also bestimmte Bewertungen und Bewertungskriterien von Handlungen immer schon vom Souverän unterdrückt worden sein. Diese Unterdrückung geschieht durch eine spezifische Art von Handlungen, nämlich Sanktionen.9 Daß der Souverän bestimmte Bewertungen und Bewertungskriterien hinsichtlich ihrer Durchsetzbarkeit unterdrücken muß, muß nicht heißen, daß er sie in ihrer Existenz insgesamt unterdrücken muß. Es sind von daher zwei Typen sozialer Praxis zu unterscheiden: Der eine Typ sieht die faktisch 7 8 9 Cf. zur Kritik dieser „positiven“ Freiheit grundlegend Berlin (1958), 197, 212, 221–236. Von ihr wurde meistens behauptet, sie entstehe aufgrund der Verzerrung einiger Handlungsmotive und einiger Bewertungen faktisch zu vollziehender oder vollzogener Handlungen durch Mitglieder der sozialen Gruppe aufgrund bestimmter Merkmale der sog. „menschlichen Natur“. Cf. Dahrendorf (1961), 399 f.: „Insofern jede menschliche Gesellschaft [. . . ] eine ‚moralische Gemeinschaft‘ ist, d. h. Normen kennt, deren Verbindlichkeit durch Sanktionen garantiert wird, kennt jede Gesellschaft auch mindestens jene rudimentäre Ungleichheit, die sich aus der Sanktionierung des tatsächlichen Verhaltens von Individuen und Gruppen nach dem Maßstab der Normen ergibt. Jede soziale Norm ist eine Auswahl aus dem großen Reservoir von Werten, das wir denken können; jede solche Auswahl aber diskriminiert, indem sie einer sozialen Gruppe zusagt und entspricht, gegen andere Gruppen.“ (Der Text ist stark abgeändert in Dahrendorf (1966), 368.) 1.3. Wittgenstein und die Praktische Philosophie 15 unterdrückten Bewertungen und Bewertungskriterien als solche, die sich potentiell in Handlungen durchsetzen, also als eine Gefahr für die faktische Herrschaft der Bewertungen und Bewertungskriterien des Souveräns; sie sind deshalb schon in ihren Äußerungen zu unterdrücken. Der andere Typ sieht sie nicht – oder wenigstens nicht nur – als Gefahr für den Souverän, sondern als solche, deren Äußerung dem Gelingen sozialer Praxis wenigstens bis zu einem gewissen Grad förderlich ist. Praktische Philosophie beschreibt zum einen beide Typen sozialer Praxis, setzt sie aber zum anderen selbst wieder einer Bewertung aus – und dies normalerweise so, daß sie den zweiten Typ sozialer Praxis für gut, den ersten für schlecht hält: In der einen Gruppe handeln Personen unter Zwang, d. h. unter der Furcht vor vom Souverän angedrohten Sanktionen, in der anderen unter Selbstbindung, d. h. so, daß sie die in dieser Gruppe gültigen Handlungsbewertungen und Bewertungskriterien als ihre eigenen begreifen. 1.3. Wittgenstein und die Praktische Philosophie Man hat sich schwergetan, Wittgenstein im Kontext der Praktischen Philosophie (wenn man ihren Kernbereich denn durch die beiden o. g. Fragen hinreichend bestimmt sehen will) zu verorten. Das Wittgensteinsche Textkorpus selbst scheint dafür wenigstens drei Gründe zu liefern. 1. Der erste Grund ist ein rein äußerlicher: Wittgenstein hat sich zu diesen beiden Fragen explizit wenig geäußert. Im Zentrum seiner Überlegungen dazu, was es heißt, einer (sprachlichen) Regel zu folgen, steht die Abwehr einer falschen Vorstellung hinsichtlich der Existenz von Regeln, nämlich die Vorstellung, diese seien Gebilde, die eine einzelne Person erkennen und durch diese Erkenntnis ihre (sprachlichen) Handlungen als richtig bzw. gut oder falsch bzw. schlecht qualifizieren könne. Für diese Position hat sich – pace Platon – die Bezeichnung „Regelplatonismus“ eingebürgert; ich werde sie i. f. „Regelinterpretationismus“ nennen.10 Wenn Wittgenstein gegen diese falsche Vorstellung seine eigene 10 Als Begründung für die Benennung soll das in 2.2. zum Wittgensteinschen Deutungs-Begriff Gesagte dienen.