Polyphonie in Bewegung Schüler entwickeln strukturelle Choreographien zu einem Instrumentalkanon von Christiane Hahn und Gero Krüger Das hier vorgestellte Unterrichtsmodell wurde erfolgreich in unterschiedlichen Lerngruppen erprobt: in einer sechsten Klasse einer Pankower Grundschule und in einigen fünften Klassen eines altsprachlichen Wilmersdorfer Gymnasiums. Stets war bei den Schülern großer Eifer zu beobachten; die in Gruppen erarbeiteten Ergebnisse zeigten auf vielfältige und einfallsreiche Weise die Auseinandersetzung der Schüler mit dem gestellten Thema. Dies hat die Autoren veranlasst, das Unterrichtskonzept und die Materialien auf diesem Wege allen Interessierten zur Verfügung zu stellen. Polyphonie in der europäischen Musikkultur. Seit in der franko-flämischen Musik des 15. Jhds. erstmals das Gleichgewicht unabhängiger Stimmen realisiert wurde, gilt Polyphonie als eines der subtilsten Gestaltungsprinzipien abendländischer Musik. Dabei stellt der Kanon eine besonders strenge Form dar, die durch höchstmögliche Ökonomie der Mittel gekennzeichnet ist. Diese wird besonders deutlich in der Identität von Gleichzeitigem und Aufeinanderfolgendem: die Fortsetzung der Kanonmelodie bildet zugleich ihren Kontrapunkt. Diese Strenge ist es, die große Komponisten von Josquin über Bach bis Schönberg immer wieder veranlasst hat, sich schöpferisch mit der Kanonform auseinanderzusetzen. Natürlich muss andererseits zugegeben werden, dass viele Kanons, die heute in der Schule gesungen werden, im Grunde nur aufgelöste vierstimmige Sätze sind, deren Stimmverläufe aneinandergereiht werden, und die insofern nicht eigentlich polyphon entworfen sind. Man darf zwar in dem Bestreben, schon kleine Kinder mit Kanons bekannt zu machen, ein Indiz für den Stellenwert der Polyphonie in unserer Musikkultur sehen. Andererseits aber führt die Bekanntschaft mit Kanons wie „Bruder Jakob“ leider dazu, dass die Gattung als etwas Kindergartenhaftes angesehen wird. Ziele und Methoden. Es ging den Autoren also weniger darum, den Schülern die Einfachheit der Kanonstruktur zu vermitteln, sondern vielmehr sie ihre Komplexität erfahren zu lassen. Eine solche Erfahrung ist Voraussetzung für das Verständnis der Rolle der Polyphonie in der europäischen Musiktradition. Polyphone Musik stellt an den Hörer die kaum erfüllbare Anforderung, mehrere musikalische Verläufe gleichzeitig – sowohl im Hinblick auf ihre jeweils eigene Logik als auch in ihrer Beziehung zueinander – zu verfolgen. Das eigentlich Schwierige daran ist, dass dieser Vorgang im Fluss der musikalischen Zeit erfolgen muss. Daher ist eine Grafik, die die Struktur gewissermaßen in „Draufsicht“ wiedergibt, zwar eine große Hilfe, kann aber die zeitliche Erfahrung der Struktur nicht ersetzen. Ebensowenig genügt es, die Struktur nur rational zu erfassen; vielmehr ist ein handelndes Erleben, gewissermaßen aus einer Innensicht heraus, erforderlich. Singen scheint hier das Nächstliegende zu sein, schränkt aber - wie bereits oben angedeutet - die Auswahl der Musik auf eher einfache Kanons ein. Stücke, bei denen die kontrapunktierenden Teile der Kanonmelodie auch in ihrem Charakter kontrastierend angelegt sind, wie etwa „Signor Abbate“ von Beethoven, sind dagegen auch schwieriger zu singen, und es ist fraglich, ob es für Schüler überhaupt möglich ist, neben der notwendigen Konzentration auf die Ausführung der eigenen Stimme noch Aufmerksamkeit für die anderen zu erübrigen. So entstand die Idee, das Ziel - die Komplexität einer polyphonen Struktur zu erfahren - durch Umsetzen eines Kanons in Bewegung in Form einer „strukturellen Choreografie“ zu erreichen. Die Schüler legen zunächst aus einem gemeinsam erarbeiteten Repertoire einen Bewegungsablauf fest, der den Verlauf der Kanonstimme verdeutlicht. Indem sie sich nun in der festgelegten Weise zu jeweils einer Kanonstimme bewegen, durchlaufen sie das Nacheinander der Teile aus der Sicht der Einzelstimme und erfahren so die Logik der Melodie, können aber gleichzeitig das Gegeneinander der Stimmen erleben, indem sie ihre Mitschüler beobachten, die die eigenen Bewegungen zeitlich verschoben ausführen; schließlich erleben sie sich und die anderen als Teil eines sinnvollen Ganzen, eines Ablaufs, der mehr ist als die Vervielfachung der Teile. Die Musik. Bei der Suche nach einem geeigneten Stück zeigte sich, dass es für einen Musiklehrer manchmal sinnvoll sein kann, selbst zum Produzenten zu werden. Kanons, die lediglich einen auseinandergelegten vierstimmigen Satz darstellen, schieden aus, da die Melodieteile zu wenig gegensätzlich sind. Überhaupt wurde schnell deutlich, dass gesungene Kanons - insbesondere solche „für gleiche Stimmen“ - wegen der schlechten Durchhörbarkeit weniger geeignet sind, abgesehen von den Texten, die vom eigentlichen Vorhaben ablenken. (Dies bedeutet nicht, dass die bewegungsmäßige Umsetzung von eigens dafür vorgesehenen „Bewegungskanons“ ebenfalls reizvolle Möglichkeiten bietet.) Nachdem die Wahl auf die Gattung der Instrumentalkanons gefallen war, ging natürlich große Faszination von dem berühmten Pachelbel-Kanon aus, der allerdings nach kurzer Bedenkzeit ausschied, da er für den angestrebten unterrichtlichen Zweck einfach zu lang ist. Auch die Möglichkeit, eine gekürzte Fassung zu verwenden, wurde schnell verworfen. Aber er wurde zum Modell für einen selbstkonzipierten Kanon, bei dem folgende Vorgaben realisiert wurden: - Der gesamte Kanon soll kurz sein (etwa 1 Minute). - Die Melodieabschnitte sollen hinsichtlich ihres musikalischen Charakters deutlich voneinander abgegrenzt und mit einem kleinen Bewegungsrepertoire darstellbar sein. - Ein ostinater Bass soll den Schülern eine durchgehende, einfache rhythmische Grundlage bieten. Hieraus ergab sich schnell die Gesamtanlage des Stückes: Es beginnt und endet mit dem zweitaktigen Ostinato. Die Kanonmelodie besteht aus drei zweitaktigen Abschnitten, die als langgezogenes Legato, kürzere Legato-Phrasen und Staccato-Bewegung charakterisiert sind. Sie wird von drei Stimmen jeweils einmal vorgetragen. Dadurch kommt es nur einmal zu einer Gleichzeitigkeit aller drei Teile. Der Kanon kann so durch drei, vier oder mehr Schüler realisiert werden: drei Schüler verkörpern die Stimmen, die anderen den ostinaten Bass. Das Eintreten und Ausscheiden der Stimmen eröffnet reizvolle Möglichkeiten der bewegungsmäßigen Umsetzung. Unterrichtliche Realisation. Im Folgenden wird ein Modell dargestellt, das eine Umsetzung des Konzepts wahlweise in einer (hochkonzentrierten) oder in zwei Stunden ermöglicht. Der zentrale Teil der Unterrichtseinheit besteht darin, dass die Schüler in Gruppen eine Choreographie zu dem Kanon erarbeiten sollen. Dabei sollen drei Schüler die Stimmen des Kanons und die anderen den Bass bewegungsmäßig umsetzen. Der Bass bietet die Möglichkeit der Leistungsdifferenzierung, da es sich hierbei um eine völlig anders geartete Aufgabe handelt. Die Erfahrungen zeigen, dass es sich nicht notwendig um die leichtere Aufgabe handeln muss. Wie diese Aufgabe ausgefüllt wird, kann aber den Schülern überlassen bleiben. Damit die Gegensätzlichkeit der Melodieteile auch in der Umsetzung deutlich wird, benötigen die Schüler ein Repertoire an Bewegungen, die zu den vorkommenden Charakteren passen: eckige und runde, getupfte und fließende Bewegungen unterschiedlicher Größe und Schnelligkeit. Günstig wäre es, wenn ein solches Bewegungsrepertoire bereits während vorangegangener Stunden angebahnt wür- Abb. 2: Die Struktur des gesamten Kanons de; es kann aber auch durch eine angeleitete Übung zu Beginn der Stunde erarbeitet werden. Ein solches Vorgehen hat zugleich den Vorteil, dass die Schüler im Schutz der Gruppe „in Bewegung kommen“ und auf die Stundenthematik orientiert werden. Damit die Schüler eine strukturorientierte Choreografie erarbeiten können, muss nun die Struktur der Melodie deutlich werden. Das Ordnen vorgegebener grafischer Notate hat sich hierzu als effektive und zeitsparende Methode bewährt. Die grafische Gestaltung der Teile bietet zugleich visuelle Anregungen für die bewegungsmäßige Umsetzung, für die dann auch gleich im Anschluß Schülervorschläge gesammelt werden. Falls zwei Stunden zur Verfügung stehen, können die Schüler gleich an dieser Stelle auch eine Bewegungsfolge zu der Melodie erarbeiten. Für das hörende Erkennen der Kanonform ist die Wahrnehmung des zweiten Melodieeinsatzes von entscheidender Bedeutung. Alles andere kann notfalls „geschlossen“ werden, muss also nicht unbedingt „gehört“ werden. In der Aufnahme wurden die Klangfarben so gewählt, dass alle drei Stimm-Einsätze deutlich hörbar sind (Flöte -> Oboe -> Streicherchor+Englischhorn). – So ist auch der Aufbau der Kanonpartitur im wesentlichen ein Akt des logischen Schließens, weniger des Durchhörens. Das Durchhören des Stimmgeflechts ist ja auch nicht Voraussetzung, sondern Ziel des Unterrichts (nicht einmal Ziel dieser Stunde!). Allerdings stellt die fertige Partitur eine gute Hörhilfe dar, die die Schüler diesem Ziel ein gutes Stück näherbringen wird. – Durch das Mitzeigen zur Musik wird jeweils gewährleistet, dass die Schüler die grafische Notation mit dem Gehörten richtig verbinden. In der zentralen Gruppenarbeit sollen die Schüler zwei Aufträge erfüllen, die zwar beide eigenes Gewicht haben, aber doch eng miteinander zusammenhängen: sie sollen zunächst eine Bewegungsfolge zur Kanonmelodie erarbeiten (falls nicht bereits geschehen, s. o.) und diese dann „kanonisch“ – also zeitlich versetzt – ausführen. Dieser zweite Arbeitsauftrag stellt extrem hohe Anforderungen an jeden einzelnen Schüler: er muss allein – ohne Unterstützung durch die Gruppe, ja sogar gegen sie – seine Bewegungsfolge exakt zur Musik ausführen. Daher ist es wichtig, dass die erarbeitete Bewegungsfolge möglichst einfach gehalten und klar strukturiert ist. Insofern müssen die Schüler das Ziel – die kanonische Ausführung – kennen, um die Einzel-Bewegungsfolge bereits im Hinblick auf dieses Ziel konzipieren zu können. Unterrichtserfahrungen. Die Unterrichtseinheit wurde mehrfach erprobt: als ein- und zweistündige Variante, in 5. und 6. Klassen, in Grundschule und Gymnasium, unter verschiedenen räumlichen Bedingungen. Bemerkenswert scheint uns Autoren, dass die Schüler jedesmal Möglichkeiten der Umsetzung erfanden, an die wir nicht im entferntesten gedacht hatten, und die doch ihre eigene Logik hatten und der Aufgabenstellung angemessen waren. Auf einige soll im folgenden eingegangen werden. Die Schüler einer Dreiergruppe stellten sich mit den Gesichtern zueinander auf und führten zunächst gemeinsam den Bass als quadratische Schrittfigur aus. Nacheinander lösten sich die Darsteller der Melodiestimmen aus der Bassfigur heraus, bis schließlich alle den jeweiligen Teil ihrer Melodie darstellten. Nach dem Ende ihrer Melodie gingen sie wieder zur Bass-Schrittfolge über. (Grafik) - Eine andere Dreiergruppe stellte das Heraus- Grafik) standen zu Beginn alle Schüler hintereinander, die beiden vorn aufgestellten Bass-Darsteller bewegten sich auseinander und wieder zurück. Durch die entstehende Lücke hindurch gingen nacheinander die Melodie-Darsteller nach vorn. lösen aus dem Bass durch Aufrichtung aus der Hocke dar. (Bild) Auch eine Vierergruppe ging von einer gemeinsamen Bass-Schrittfolge aus. Im Unterschied zur Dreiergruppe blieb ein Schüler während des ganzen Stückes beim Bass. Dieser Gruppe gelang besonders gut die Synchronität der BassSchrittfolge zu Beginn und Ende des Stückes. (Grafik) Andere Gruppen mit bis zu fünf Schülern ließen sich viele Möglichkeiten einfallen, den Bass darzustellen: als zwei gegenläufige Kreisbewegungen um die im Dreieck angeordneten Melodiestimmen herum, als Querbewegung vor oder auch hinter den nebeneinander stehenden Melodiestimmen. Diese bewegten sich teils am Anfang und Schluss mit dem Bass mit, teils standen sie ruhig, teils deuteten sie Anfang und Ende „ihrer“ Melodie durch Umdrehen an. Bei einer besonders anspruchsvollen Choreografie einer Fünfergruppe (Bild und Ausblick. In den Klassen, in denen es möglich war, die Gruppenergebnisse auf Video aufzuzeichnen, zeigte die Auswertung in einer späteren Stunde, dass die Schüler bereit waren, sehr konstruktiv an den Problemen weiterzuarbeiten. Es stellte sich in manchen Fällen heraus, dass Choreographien „gut gedacht“ waren, aber „aus geometrischen Gründen“ nicht realisierbar waren. Bei der zuletzt erwähnten Gruppe zeigte sich das Problem der „Rückentwicklung“ des Raumaufbaus. Würden die Schüler nach dem Ende ihrer Melodie wieder hinter den Bass-Darstellern verschwinden, so würde der am weitesten vorn stehende Schüler als letzter übrig bleiben eine im Hinblick auf die Bühnenwirkung nicht gerade glückliche Idee. So zeigte sich, dass die gefundene Lösung - die beiden mittleren Schüler bleiben vorn und beginnen eine weitere Bass-Bewegung - ein sehr wohl begründbarer Kompromiss ist. Es wird dabei aber auch deutlich, dass die Weiterentwicklung solcher Überlegungen nicht zuletzt auch Ansatzpunkte für fächerübergreifenden Unterricht (Mathematik, Kunst) bietet. - Insgesamt zeigen unsere Erfahrungen, dass von der einfachen Gruppenaufgabe, einen Instrumentalkanons in Bewegung umzusetzen, nachhaltige Impulse für den Musikunterricht ausgehen, aus denen sich zwanglos viele Möglichkeiten der Fortführung ergeben. Kopiervorlage zum „Instrumentalkanon in a“ von Christiane Hahn und Gero Krüger (c) 1998-2003 by Christiane Hahn und Gero Krüger, Nesselweg 2, 13158 Berlin Frei kopierbar für den Einsatz im Musikunterricht der allgemeinbildenden Schule. Alle anderen Verwendungen bedürfen der schriftlichen Genehmigung der Autoren. Weitergabe an andere Personen nur mit diesem Copyright-Vermerk.