9. Vorlesung: Thomas Hobbes: einsetzungslimitierter Individualismus

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Prof. von der Pfordten
Vorlesung: Einführung in die Rechts- und Sozialphilosophie
9. Vorlesung: Thomas Hobbes:
einsetzungslimitierter Individualismus
Nachdem in den letzten drei Vorlesungen mit der Menschenwürde, dem Widerstandsrecht
und der Rechtfertigung staatlicher Strafe drei Anwendungsthemen der Rechtsethik und insbesondere auch des normativen Individualismus behandelt wurden, kehren wir nun stärker zu
theoretischen Fragen der Rechtsethik zurück. Die nächsten Vorlesungen wird untersucht, wie
denn die Ausgestaltung des normativen Individualismus genauer aussehen kann. Dazu wollen
wir uns drei herausragende Vertreter dieser Theoriegruppe ansehen. Zunächst sei aber noch
einmal eine historische Übersicht der Theoretiker in der Neuzeit aufgeführt:
I. Übersicht über die Diskussionslage zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus
normativer Individualismus
1651
normativer Kollektivismus
Hobbes
1690
Locke
Rousseau
Bentham/Utilitarismus
Kant
1797
Hegel
Humboldt
Mill
1919
Marx
Lenin
Spann
[Weimarer Reichsverf.]
C. Schmitt
[Stalinismus]
[Faschismus]
1949 [Grundgesetz]
Buchanan
1971
Nozick
Gauthier
Rawls
[Systemtheorie]
Habermas/Diskursethik
Kommunitarismus
Erläuterungen:
– Hobbes hat als erster prominenter Theoretiker in der Neuzeit eine Version des normativen Individualismus als
legitimatorische Rückführung politischer Herrschaft auf die betroffenen Individuen vertreten. Allerdings sah er
2
diese Rechtfertigung nur bis zur tatsächlichen Einsetzung eines Souveräns als notwendig an.38 Mit dem Einsetzungsakt ist der Souverän legitimiert und kann weitgehend beliebige politische Entscheidungen treffen.
– Locke übernimmt Hobbes’ normativ-individualistischen Ausgangspunkt, lehnt aber die Beschränkung der
Rechtfertigungsbedürftigkeit auf die bloße Einsetzung des Souveräns und die Folge einer absoluten Herrschaft
bei Hobbes ab. Die normativ-individualistische Rückbindung politischer Herrschaft wird permanent, ist allerdings noch naturrechtlich überwölbt und modifiziert.39
– Rousseau geht zwar vom Individualwillen aus, läßt aber nicht den zusammengesetzten Willen aller (volonté de
tous), sondern einen kollektiven Gesamtwillen (volonté géneralé) für die politische Entscheidung maßgeblich
werden.40 Der politische Vertrag wird zum Gesellschaftsvertrag ausgeweitet, der den Menschen erst zum Menschen und Vernunftwesen macht.
– Der Utilitarismus (Bentham etc.) sieht zwar individuelle Freude und individuelles Leid als maßgeblich an,
ordnet aber das einzelne Individuum dem größten Glück der größten Zahl unter.41
– Kant formuliert die Zusammenstimmung der Willkür des einen mit der Willkür des anderen als Rechtsprinzip,
hält aber die kooperationsstiftende Vernunft bzw. das allgemeine Gesetz nicht vollständig von nicht individuell
rechtfertigbaren Elementen frei, etwa dem „Allgemeinwillen“ Rousseaus.42
– Humboldt verzichtet auf diese Elemente und geht deshalb in seinem normativen Individualismus über Kant
hinaus.43
– Hegel konstatiert die Aufhebung der individuellen Subjektivität in der Objektivität und Totalität des Staates.44
– Marx geht vor allem in seiner frühen Phase von den Bedürfnissen des einzelnen und seiner Entfremdung durch
die kapitalistisch organisierte Arbeit aus, ordnet ihn aber den historisch-materialistischen Entwicklungsgesetzen
und der Diktatur des Proletariats unter.45
– Mill verteidigt einerseits den Utilitarismus, andererseits mit dem „harm-principle“ in „On Liberty“ eine normativ-individualistische Staatsrechtfertigung.46
– Lenin wendet sich gegen den „Subjektivismus“ und verteidigt die deterministische Interpretation der Geschichte durch die marxistische Orthodoxie.47
– Othmar Spann propagiert den Ständestaat.48
38
Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Richard Tuck, 1651, Cambridge 1991, Kap. 17, p. 121.
John Locke, Two Treatises of Government, 1690, hg. von Peter Laslett, Cambridge 1960, 1988, II 87, p. 324.
40
Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, Paris 1992, II 3, S. 54. Dt.: Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977, S.
31.
41
Jeremy Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789, Buffalo 1988, p. 1ff.
42
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, Band VI von
Kant’s gesammelten Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907,
Nachdruck 1968, S. 230 einerseits, S. 313f. andererseits.
43
Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1982, S. 52: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen
Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist;“.
44
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821, Bd. 7 der Suhrkamp-Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1986, § 258, S. 399: „Wenn der
Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des
Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte
Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des
Staates zu sein. – Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat
das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung
als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines
Leben zu führen.“
45
Karl Marx, MEW-Ergänzungsband, Erster Teil, S. 511-514; Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 20, 27, 218 einerseits; Kapital Bd. III, MEW 25, S. 891; Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 18 andererseits. Vgl. auch
Ian Forbes, Marx and the new Individual, London 1990.
46
John Stuart Mill, Utilitarianism, 1861, On Liberty, 1859, in: ders., Utilitarianism, hg. von Mary Warnock,
Glasgow 1962.
47
Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Band 2, München 1978, S. 402f.
39
3
– Carl Schmitt schaltet in seiner Verfassungslehre die Individuen mit seiner Apologie einer kollektiven existentiellen politischen Entscheidung des Volkes aus.49
– Buchanan, Nozick, Gauthier führen den normativen Individualismus ins nicht mehr begründbare Extrem:50
Nurmehr gemeinsame politische Projekte, die sich auch aus einer zufälligen Koordination tatsächlich ergeben
oder ergeben könnten, sollen legitim sein. Jede darüber hinausgehende Kooperation ist illegitim. Damit werden
die Individuen in der Verfolgung ihrer Belange limitiert.
– Rawls geht in seiner ursprünglichen Theorie von Individuen aus, inkorporiert aber mit der Voraussetzung einer
Wahl unter dem „Schleier des Nichtwissens“, der Annahme einer Entscheidung der politischen Gemeinschaft
über alle Grundgüter und dem Resultat, daß eine Maximinstrategie (= Maximierung für diejenigen, die das Minimale haben, d. h. die Ärmsten) gewählt werden würde, auch kollektivistische Elemente.51
– Der Kommunitarismus kritisiert zwar den Liberalismus, aber vor allem in seinem individualistischen Menschenbild und seinen libertären Ergebnissen. Die Vertreter des Kommunitarismus vermeiden zumeist eine klare
Entscheidung für eine normativ-kollektivistische Rechtfertigung.52
– Habermas (Diskursethik) setzt mit der Überordnung des Diskursprinzips D über das Universalisierungsprinzip
U den Kollektivismus des Diskurses zumindest in der Theoriekonstruktion über die Rechtfertigung unter Rückbeziehung auf die einzelnen betroffenen Individuen.53 In Faktizität und Geltung stehen die Beachtung der Menschenrechte und der Primat der Parlamentsentscheidung in einer unaufgelösten Zwittrigkeit.54
Tatsächliche politische Entwicklungen/sonstige Theorien:
– Die Weimarer Reichsverfassung kodifiziert mit der Nachordnung der individuellen Menschenrechte gegenüber
den staatlichen Organisationsgesetzen eine Mischung aus normativem Individualismus und Kollektivismus.
– Der Stalinismus geht in seinem Kollektivismus noch über Marx und Lenin hinaus.
– Der Faschismus verneint mit der Parole „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ die legitimatorische Bedeutsamkeit der Individuen. Im Rechtsbereich geschieht dies durch die Inflationierung von Gemeinwohlformeln.55
– Das Grundgesetz ruht mit seiner Vorordnung der Menschenwürde und der Grund- und Menschenrechte auf
einem normativ-individualistischen Fundament.
– Die Systemtheorie schaltet bei Niklas Luhmann im Rahmen ihrer Ausschließlichkeit beanspruchenden deskriptiven Beschreibung das Individuum als normativ rechtfertigende Instanz aus und setzt die Systemfunktionalität
als letztentscheidend. Damit wird – selbst wenn die Systemtheorie selbst nicht den Status einer normativethischen Theorie beansprucht – zumindest als Folge auch eine normativ-individualistische Rechtfertigung politischer Entscheidungen verdrängt.56
II. Thomas Hobbes
48
Othmar Spann, Der wahre Staat, Graz 1921, 51972.
Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, 81993, S. 238.
50
James Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975; Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974; David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986, 1988.
51
John Rawls, A Theory of Justice, 1971, Oxford 1986, S. 11ff., 60ff., 90ff.
52
Michael Sandel (Hg.), Liberalism and its Critics, New York 1984, S. 5.
53
Jürgen Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996, S. 60.
54
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, Kapitel 3, S. 109ff., z. B. S. 133: „Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten liegt im normativen Gehalt
eines Modus der Ausübung politischer Autonomie, der nicht schon durch die Form allgemeiner Gesetze, sondern
erst durch die Kommunikationsform diskursiver Meinungs- und Willensbildung gesichert wird.“
55
Vgl. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974. Oliver Lepsius, Die
gegensatzaufhebende Begriffsbildung, München 1994.
56
Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993.
49
4
Der erste Theoretiker, den man ohne wesentliche Einschränkungen als normativen
Individualisten bezeichnen kann, war Thomas Hobbes.
Thomas Hobbes’ Leben: *05.04.1588 (Westport). 1603-08 Studium in Oxford, anschließend Tätigkeit als Hauslehrer und Privatsekretär, 1610-13, 1629-30 und 163436 Reisen nach Frankreich und Italien, Begegnungen mit Bacon, Descartes, Galilei,
Gassendi und Mersenne, 1640-52 Aufenthalt in Paris, Flucht vor dem englischen Bürgerkrieg
1652 Rückkehr nach England. Tod 04.12.1679 (Hardwicke). –
Unter dem Eindruck der mathematischen und naturwissenschaftlichen Forschung seiner Zeit
verband Hobbes Rationalismus und Empirismus. Er übertrug die Methode einer mechanistischen Erklärung auf die Bereiche des Menschen und der Gesellschaft. Dabei waren die „Elemente“ des Euklids sein großes methodisches Vorbild. Den Staat sah Hobbes durch einen
politischen Vertrag legitimiert und erkannte ihm absolute Souveränität zu. Neben seinen philosophischen Werken verfaßte Hobbes geschichtliche, mathematische und naturwissenschaftliche Schriften, letztere vor allem zur Optik, sowie eine Homer-Übersetzung.
Werke: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen (1640); Elemente der
Philosophie, dritte Abteilung: Vom Bürger (1642); Leviathan, oder die Materie, Form und
Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens (1651); Elemente der Philosophie,
erste Abteilung: Vom Körper (1655); Elemente der Philosophie, zweite Abteilung: Vom
Menschen (1658); Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische
Recht (1681). Als Ausgaben stehen die Opera philosophica quae latine scripsit omnia (5
Bde., hg. v. W. Molesworth, Nachdruck Darmstadt 1966) sowie The English Works of Thomas Hobbes of Malmsbury (11 Bde., hg. v. W. Molesworth, Nachdruck Darmstadt 1966) zur
Verfügung. Deutsche Übersetzungen des Leviathan finden sich in den Verlagen Meiner, Reclam und Suhrkamp, eine deutsche Übersetzung der Elemente bei Meiner.
Nachfolgend wird für Hobbes Leviathan zunächst die englische Ausgabe von Tuck zitiert
(Cambridge 1991) und dann die deutsche im Suhrkamp-Verlag von Iring Fetscher (Frankfurt
a. M. 1984)
III. Thomas Hobbes’ einsetzungslimitierter normativer Individualismus
(vgl. für eine ausführliche Darstellung des folgenden: von der Pfordten, „Rechtsethik“, S. 296-315)
Der einsetzungslimitierte Individualismus fordert nur für den Zeitpunkt der tatsächlichen oder
fiktiven Einigung der Individuen und den dadurch legitimierten Einsetzungs- oder Usurpationsakt des politischen Souveräns eine normativ-individualistische Rechtfertigung durch die
Bürger. Haben die Bürger der Einsetzung des Souveräns einmal zugestimmt oder ist eine Zustimmung zumindest hypothetisch anzunehmen, dann ist der Souverän für alles zukünftige
Handeln legitimiert und keinen oder nur geringen weiteren Restriktionen seitens der Bürger
unterworfen.
Der einsetzungslimitierte Individualismus legt besonderes Gewicht auf die Einigung der Bürger und die Fundierung politischer Institutionen, während staatsbeschränkende Strukturen, die
nach der Machtübernahme durch den Souverän wirksam werden könnten, wie naturrechtliche
und ethische Einschränkungen der Staatsgewalt, Menschenrechte, individueller Rechtsschutz,
Wahlen, Abstimmungen und eine Kontrolle der Machtausübung durch Gewaltenteilung, fehlen oder nur schwach ausgestaltet sind. Hobbes war wohl der erste, in dessen Theorie die in-
5
dividualistischen Elemente so stark werden,57 daß man seine Gesamtposition der Gruppe
normativ-individualistischer Theorien zuordnen kann.
Allerdings war dieser Innovationsschub auf vier Ebenen limitiert. Diese vier Limitationsebenen bauen aufeinander auf und kulminieren schließlich in der strikten Beschränkung der individuellen Mitsprache auf den fiktiven oder realen Zeitpunkt der Machtübernahme des Souveräns. Das Ergebnis ist ein Staatsmodell, das sich kaum von der absolutistischen Realität im
16., 17. und beginnenden 18. Jahrhundert unterscheidet und gegenüber verschiedenen politischen Modernisierungen dieser Zeit, wie der englischen konstitutionellen Monarchie, sogar
zurückbleibt. Die massive Veränderung der Theoriekonstruktion, welche die Hobbessche
Lehre mit sich bringt, findet also gleichsam unterhalb der Ebene praktischer Forderungen statt
und bricht erst, wenn die Hobbesschen Limitationen des normativen Individualismus abgebaut sind, zu den politischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte
durch: der konstitutionellen Monarchie, der Aufklärung, der Forderung nach Menschenrechten und demokratischer Mitsprache.
Im folgenden wird zunächst Hobbes’ Gedankengang mit seiner vierstufigen Beschränkung
des normativen Individualismus nachgezeichnet. Die vier Stufen sind: sein naturalistisches
Menschenbild (1. Stufe), sein Ausschluß einer gehaltvollen vorstaatlichen Ethik (2. Stufe),
seine Beschränkung des Zwecks der Staatsbildung auf die Sicherung der Selbsterhaltung (3.
Stufe), schließlich seine Konzeption eines unbeschränkten Souveräns (4. Stufe).
1. Stufe: Das naturalistische Menschenbild
Hobbes’ Konstruktion der politischen Philosophie nimmt ihren Ausgangspunkt beim einzelnen Menschen. Der Grund hierfür liegt allerdings nicht in einem aufklärerischen Menschenbild, das den Menschen als autonomes Wesen begreift und deshalb den Staat gegenüber jedem einzelnen rechenschaftspflichtig macht. Dem Menschen wird bei Hobbes kein Anspruch
auf gehaltvolle ethische Rechtfertigung staatlicher Freiheitseingriffe zugestanden. Der Grund
für den Ausgang der Staatskonstruktion vom Menschen liegt vielmehr in Hobbes’ metaphysischen und methodischen Basisüberzeugungen: Hobbes ist Materialist und Atomist. Für ihn
sind Körper und deren Bewegungen die Grundlage aller anderen Beziehungen und zusammengesetzen Entitäten.58 Mit Hilfe einer resolutiv-kompositiven Methode – hier macht sich
der Einfluß von Euklids „Elementen“ (vgl. die Definition des Kreises mit Hilfe von Punkt und
Linie) aber auch der neuen Wissenschaftsanschauung bei Galilei, Harvey, Descartes und Gassendi bemerkbar – sollen die zusammengesetzten Körper analysiert und aus atomaren Körpern und ihren Bewegungen sowie Kausalverhältnissen aufgebaut werden.59
Hobbes vergleicht das Verhältnis von Mensch und Staat mit dem zwischen Feder und Uhr.
Der Mensch ist gleichzeitig „Werkstoff und Konstrukteur“.60 Deshalb muß die Erklärung des
Staates beim einzelnen Menschen ansetzen. Aber wie gesagt: Nicht der einzelne Mensch als
autonomes Vernunftwesen wird hier zugrunde gelegt, sondern der Mensch als sinnlicher und
zweckrationaler Körper. Hobbes vertrat also ein naturalistisch reduziertes Menschenbild. Entsprechend ist seine Theorie auch nur unter Einschränkungen als gehaltvolle ethische Rechtfertigung anzusehen. Hobbes’ Theorie erfüllt zwar die Bedingung des normativen Individualismus, nach der die Rechtfertigung politischer Entscheidungen letztlich nur auf die menschli57
Deutlich wird dies besonders in der Aussage Hobbes’, daß jeder Bürger gegenüber der Staatsgewalt nur durch
eigenes Handeln verpflichtet werden kann: Leviathan, Kap. 21, p. 150, S. 168.
58
Vgl. Hobbes, De Corpore, 1, 8, p. 9, S. 11f.; 8, 1, p. 90ff., S. 85ff.
59
Vgl. Hobbes, De Corpore, 6, 1, p. 58, S. 56f.; Ulrich Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes,
Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, S. 60ff.; Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 10ff.; John Watkins,
Hobbes’ System of Ideas, Brookfield 1965, S. 28ff.
60
Hobbes, Leviathan, Einleitung, p. 10, S. 5.
6
chen Individuen Bezug nehmen darf. Aber sie erfüllt diese Bedingung auf der ersten Stufe des
Menschenbilds der Rechtfertigungskonstruktion nur in sehr eingeschränkter Form, bei der die
Grenze zwischen bloß beschreibender Erklärung von naturgesetzlich ablaufenden Kausalvorgängen und normativ gehaltvoller ethischer Konstruktion verschwimmt.
Der Mensch handelt für Hobbes ausschließlich nach seinen Strebungen und Wünschen („appetites“).61 Allerdings müssen diese Strebungen und Wünsche nicht egoistisch – verstanden
im Sinne eines psychologischen Egoismus – ausgerichtet sein, wie vielfach in der Literatur
angenommen wird. Sie können nach Hobbes prinzipiell auch altruistischen oder kollektiven
Zielen dienen, mag das in der Realität auch nur gelegentlich vorkommen.62 Für Hobbes gibt
es aber keine objektiven Güter, Pflichten oder Werte mit normativer Verpflichtungskraft. Gut
ist vielmehr nur das, was der einzelne subjektiv begehrt.63 Dies ist im Hinblick auf die Etablierung der politischen Gemeinschaft ausschließlich Selbsterhaltung, das heißt die durch
Vermeidung eines Bürgerkriegs ermöglichte Führung eines zufriedeneren Lebens.64 Diese
Konzentration der staatslegitimierenden Qualität der Individuen auf die Selbsterhaltung bedingt einen reduzierten Anspruch an den Staat. Der Staat ist nicht wie die antike polis in umfassender Weise für das gute oder glückliche Leben verantwortlich, sondern nur für den Erhalt des einzelnen als Bedingung privaten Glücks.
Zur Verwirklichung seiner Strebungen steht dem Menschen Rationalität zur Verfügung. Will
er diese im sozialen Verkehr einsetzen, muß er das Verhalten anderer Menschen berücksichtigen. Dabei streben nicht selten zwei Menschen nach demselben äußeren Gegenstand, der sich
nicht gemeinschaftlich genießen läßt. Sie können dann zu Feinden werden.65 Diese anthropologisch-empirische Annahme eines möglichen Konflikts wegen einzelner äußerer Gegenstände ist relativ schwach.66 Nicht angenommen wird von Hobbes dagegen auf dieser ersten zwischenmenschlichen Konkurrenzstufe die ihm häufig ohne genauere Differenzierung zugeschriebene These einer anthropologischen Konstante permanenter und allgemeiner menschlicher Aggressivität.
Allerdings gilt: Auch wenn es einige Menschen gibt, die sich angesichts dieser Konkurrenzsituation bezüglich einzelner äußerer Gegenstände auf einen fairen Anteil beschränken wollen,
so suchen doch manche andere nach Macht und Eroberungen und machen es bei realistischer
Betrachtungsweise selbst den Genügsamen und Vernünftigen unmöglich, sich ausschließlich
mit der Verteidigung im Falle eines Übergriffs zu begnügen. Auch die Genügsamen und Vernünftigen müssen sich deshalb zur eigenen Sicherheit durch Rüstung und Angriff eine Machtbasis schaffen. Ergebnis dieser Eskalationssituation im Naturzustand ist der Kampf aller gegen alle. Jeder ist ständig von Tötung und Schädigung bedroht.67 Und da die Menschen an
natürlicher Stärke annähernd gleich sind, so daß jeder den anderen zumindest im Schlaf oder
zusammen mit anderen töten kann, gelingt es niemandem, die Konfliktsituation endgültig für
sich zu entscheiden oder auch nur, sich dauerhaft zu sichern.
61
Hobbes, Leviathan, Kap. 6, p. 39., S. 38.
Vgl. im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen: Bernhard Willms, Der Weg des Leviathan: Die HobbesForschung von 1968-1978, Berlin 1979, S. 102, FN 15; Otfried Höffe, Widersprüche im Leviathan: Zum Gelingen und Versagen der Hobbesschen Staatsbegründung, in: ders. (Hg.), Anthropologie und Staatsphilosophie,
Freiburg/Schweiz 1981, S. 113-142, S. 117f.; Jean Hampton, Hobbes and the Social Contract Tradition, Cambridge 1986, p. 20ff., und Gert, Artikel zu Hobbes in: The Oxford Companion to Philosophy 1995, p. 368.
63
Hobbes, Leviathan, Kap. 6, p. 39, S. 41.
64
Hobbes, Leviathan, Kap. 17, p. 117, S. 131.
65
Hobbes, Leviathan, Kap. 13, p. 87, S. 95.
66
Knappheit von Gütern und Gegenstandskonkurrenz werden zwar in der Praxis oft Hand in Hand gehen, sind
als Kriterien aber nicht identisch. Gegenstandskonkurrenz kann es auch in einem Zustand des Überflusses geben.
67
Hobbes, Leviathan, Kap. 13, p. 88, S. 96.
62
7
An dieser Stelle führt Hobbes das ein, was er das „natürliche Recht“ („Right of Nature“) auf
Selbsterhaltung nennt.68 Jeder hat im Naturzustand die natürliche Freiheit, nach seinem Willen alles zur Erhaltung seiner selbst zu unternehmen und selbst zu bestimmen, wann eine
Selbstverteidigung angezeigt ist. Und da es nichts gibt, was er nicht möglicherweise zum
Schutz seines Lebens gegen Feinde verwenden könnte, folgt daraus, daß in diesem Zustand
jeder ein „Recht“ (verstanden als natürliche Freiheit) auf alles hat, selbst auf den Körper des
anderen. Da angesichts dieser Lage niemand seines Lebens sicher sein kann, gebietet die Vernunft auf einer zweiten Stufe, auf der die Einsicht in diese permanente Bürgerkriegssituation
berücksichtigt wird, unter anderem folgende Regeln:69
„And consequently it is a precept, or generall rule of Reason, That every man, ought to endeavour Peace, as farre
as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek, and use, all helps, and advantages
of Warre.“ (altes Englisch des 17. Jahrhunderts!)
(„Folglich ist dies eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft: Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des
Kriegs verschaffen und sie benützen.“)
„That a man be willing, when others are so too, as farre-forth, as for Peace, and defence of himselfe he shall
think it necessary, to lay down this right to all things; and be contented with so much liberty against other men,
as he would allow other men against himselfe.“
(„Jedermann hat auf Verhaltensweisen zu verzichten, die den Frieden und die Selbsterhaltung aller gefährden
und sich mit derselben Freiheit zu begnügen, die er anderen einräumt.“)
Hobbes bezeichnet diese Regeln (von denen er siebzehn weitere anführt) als „Gesetze der
Natur“ („Laws of Nature“). Aber was ist damit gemeint? Dazu hat sich eine intensiver Diskussion in der Literatur entwickelt (vgl. Rechtsethik, S. 302ff.). Am plausibelsten ist es, von
instrumentellen Klugheitsregeln zur Sicherung der Selbsterhaltung des einzelnen auszugehen
(hypothetische Imperative). Dann ist aber jedes ethische oder moralische Vorrecht im Naturzustand ausgeschlossen. Hobbes kennt keine ethisch maßgebliche Ungleichheit der Seelenvermögen oder Naturanlagen wie Platon oder Aristoteles. Weil es im Naturzustand überhaupt
keine überindividuelle Ethik gibt, sondern nur individuelle Vernunftregeln, sind alle Menschen im Naturzustand gleich.
2. Stufe:Der Ausschluß einer gehaltvollen vorstaatlichen Ethik
Wir haben mit Hobbes’ Ausschluß einer Individualethik im Naturzustand die zweite Stufe
seiner Limitation des normativ-legitimatorischen Individualismus erreicht. Diese zweite Limitationsstufe liegt aufgrund des naturalistischen Menschenbilds der ersten Stufe nahe, wenn sie
auch nicht notwendig daraus folgt: Weil der Mensch auf der ersten Stufe naturalistischreduktionistisch konzipiert wird, kann er auf der zweiten Stufe der vorstaatlichen zwischenmenschlichen Interaktion seinen Mitmenschen keine gehaltvolle ethische Einschränkung ihrer
Handlungen auferlegen. Jeder ist lediglich in seinem eigenen Interesse gehalten, Klugheitsregeln zu folgen. Eine ethische Verpflichtung, die über den Gebrauch instrumenteller Rationalität hinausginge, besteht nicht.
Da aber die instrumentellen Regeln den natürlichen Trieben und Leidenschaften der Menschen Beschränkungen auferlegen, droht beständig ihre Übertretung. Die Menschen verstehen
zwar die ihrer eigenen Selbsterhaltung dienenden Klugheitsregeln. Aber dieses Verständnis
garantiert nicht, daß sie immer nach diesen Regeln handeln. Deshalb besteht unentwegt die
68
Hobbes, Leviathan, Kap. 14, p. 91, S. 99. Es dürfte klar sein, daß dieses „natürliche Recht“ sich von den ethisch gehaltvollen Rechten der Naturrechtstradition unterscheidet. Es statuiert nicht berechtigte Ansprüche
gegen andere, sondern negiert jegliche Limitation der Handlungsfreiheit des Akteurs.
69
Hobbes, Leviathan, Kap. 14, p. 92ff., S. 100ff.
8
Gefahr illegitimer Gewalt. Diese Gefahr kann nur durch einen Vertragsschluß und die Einsetzung einer staatlichen Regelungs- und Sanktionsmacht oder die stillschweigende Anerkennung eines Usurpators gebannt werden.70
3. Stufe: Beschränkung des Zwecks der Staatsbildung auf die Sicherung der Selbsterhaltung
Grundlage dieser Einsetzung oder Anerkennung einer staatlichen Macht ist das Ziel der Menschen, sich selbst zu erhalten und dadurch71 ein zufriedeneres Leben zu führen. Damit ist die
dritte Stufe der Limitation der normativ-individualistischen Position erreicht. Zwar wird die
Etablierung staatlicher Gewalt ausschließlich durch die betroffenen Individuen legitimiert.
Aber die individuellen Interessen, die diese Etablierung tragen, sind auf das Selbsterhaltungsinteresse beschränkt. Andere Interessen wie die Verwirklichung persönlicher Freiheit, die
Autonomiewahrung durch politische Partizipation, das Bedürfnis nach gemeinschaftlichem
Handeln, die Identitätssuche in der Gemeinschaft, die Schaffung materieller Güter, die Suche
nach religiöser Sinnerfüllung, die Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls und das Verlangen nach Selbstachtung und Anerkennung bleiben unberücksichtigt, obwohl Hobbes gerade
letztere Interessen durchaus als menschliche Motive im Naturzustand kennt. Unberücksichtigt
bleibt auch, daß Individuen nicht selten diese anderen Ziele sogar über das Ziel der Selbsterhaltung stellen, zum Beispiel religiöse Ziele.
4. Stufe: Politischer Vertrag und Konzeption eines unbeschränkten Souveräns
Die vierte Stufe bildet bei Hobbes der Abschluß des politischen Vertrages.
Dazu muß man zwei Arten von „Vertragsbeziehungen“ unterscheiden:
(1) der Vertrag zwischen den Bürgern
(2) die Machtübertragung an den Souverän
Während der erste Vertrag zwischen den Bürgern bei allen Theoretikern vergleichbar ist, weichen sie beim zweiten „Vertragsteil“ der Machtübertragung voneinander ab. Es gibt drei Alternativen, die Beziehung zwischen Bürgen und politischer Gemeinschaft zu verstehen:
(1) Hobbes: Schenkung, Machtübergabe
(2) Pufendorf, deutsche Theoretiker: zweiter Vertrag, Theorie vom Doppelvertrag
(3) Locke: Auftrag, Stellvertretung
Für Hobbes gilt: Ist der Souverän einmal etabliert, so ist er weder durch den ursprünglichen
politischen Vertrag noch durch die von ihm selbst erlassenen positiven Gesetze gebunden.
Der politische Vertrag wird nur unter den Bürgern, nicht aber mit dem Souverän geschlossen.
Der politische Vertrag sieht nach Hobbes eine vorbehaltlose, schenkungsgleiche Übertragung
der Macht auf den Souverän vor, ohne daß diesem in irgendeiner Form Vertragspflichten erwachsen. Die positiven Gesetze werden vom Souverän erlassen und können ihn deshalb selbst
nicht binden. Hobbes folgt hier dem alten römisch-rechtlichen Grundsatz „princeps legibus
solutus“.
70
Hobbes, Leviathan, Kap. 17, p. 120 ff., S. 134.
Die deutsche Übersetzung von Euchner zieht das wichtige Wort „thereby“ fälschlicherweise vor die „Selbsterhaltung“ und vermittelt so den unzutreffenden Eindruck, die Führung eines zufriedeneren Lebens sei neben der
Selbsterhaltung ein zusätzliches, die Staatsbildung legitimierendes Ziel.
71
9
Ein zentrales Ergebnis der Hobbesschen Theorie ist, daß es Eigentum nur im und durch den
Staat geben kann.72 Das bedeutet, daß vorstaatliche Zuordnungen von Gütern für den Staat
nicht verbindlich sind. Es muß allerdings nicht bedeuten, daß alle individuellen Interessen in
totalitaristischer oder zumindest wohlfahrtsverteilender Weise durch den Staat befriedigt werden. Der Staat, der alle Lebensverhältnisse regelt, ist keine notwendige oder wahrscheinliche
Folge der Hobbesschen Theorie. Gekappt ist aber das aktuale, steuernde und restringierende
Rechtfertigungsverhältnis der individuellen Interessen zu politischen Entscheidungen. Daraus
resultiert die beständige Gefahr, daß die Lösung von Interessenkollisionen nicht durch Anhörung und Abwägung, sondern durch blanken staatlichen Machtspruch erfolgt. Damit ist die
vierte und letzte Stufe erreicht und Hobbes’ machtstaatliche Limitation des normativen Individualismus vollendet.
Hobbes’ auf die Etablierung staatlicher Macht limitierter normativer Individualismus beschränkt die Berücksichtigung der Individuen auf den fiktiven oder realen Einsetzungsakt der
staatlichen Gewalt oder auf die fiktive Zustimmung zu einer Eroberung der staatlichen Gewalt
durch einen Usurpator. Ist die staatliche Gewalt etabliert, muß die Fortwirkung der Interessen,
welche die Etablierung stützten, zur Rechtfertigung staatlicher Machtausübung ausreichen.
Für diese Limitation des normativen Individualismus führt Hobbes drei Begründungen an,
von denen die dritte hier kurz dargestellt werden soll:
Geht man von einer fiktiven Einigung der Bürger zur Rechtfertigung politischer Macht aus,
muß man annehmen, daß die Bürger eine optimale Gestaltung dieser Einigung wählen würden. Sie werden nur dann auf ihre zukünftige Partizipation und auf die weitere Berücksichtigung ihrer Interessen verzichten, wenn sie vermuten können, daß ein derartiger Verzicht als
das einzige oder zumindest – gegenüber anderen noch schlechteren Alternativen – beste Mittel zur Wahrung grundlegender individueller Interessen anzusehen ist. Hobbes hat diese These
vertreten. Seine zentrale Begründung für die Limitation der Interessenberücksichtigung der
Bürger auf die fiktive Einsetzung ist also eine zweckrationale Begründung: Um den Bürgerkrieg als größtes Übel zu vermeiden, muß das kleinere Übel des absoluten Staates in Kauf
genommen werden.73 Andernfalls könnte jeder Bürger eine politische Maßnahme anzweifeln
und zum Anlaß für einen erneuten Bürgerkrieg nehmen. Der Kampf aller gegen alle wäre die
unausweichliche Folge. Der normative Individualismus wird also aus zweckrationalen Gründen auf den Zeitpunkt der Einsetzung der politischen Macht limitiert. Diese Begründung enthält zwei zentrale Thesen:
(1) die wertende These, daß die Sicherung gegen den Bürgerkrieg selbst den völligen Verzicht
auf bürgerliche, politische und sonstige Rechte im Staat, also den absoluten Staat, rechtfertigt,
(2) die empirisch-praktische These, daß nur zwei Alternativen bestehen: absoluter Staat oder
Bürgerkrieg – und daß alle denkbaren Zwischenstufen mit hoher Wahrscheinlichkeit in den
Bürgerkrieg führen.
Träfen beide Thesen zu, so wäre Hobbes’ Begründung des einsetzungslimitierten Individualismus überzeugend. Die Frage ist deshalb: Treffen beide Thesen zu?
Die erste, wertende These ist das Ergebnis von Hobbes’ bereits erläuterter vierstufiger Einschränkung des normativen Individualismus, also das Ergebnis seines naturalistischen Menschenbilds (1. Stufe), seines Ausschlusses einer gehaltvollen vorstaatlichen Ethik (2. Stufe),
seiner Beschränkung des Zwecks der Staatsbildung auf die Sicherung der Selbsterhaltung (3.
Stufe) und schließlich seiner Konzeption eines unbeschränkten Souveräns (4. Stufe). Wenn
der Mensch naturalistisch aufgefaßt wird, keinen gehaltvollen ethischen Verpflichtungen gegenüber anderen unterworfen ist und es ihm bei der Staatsbildung vor allem auf die Selbster72
73
Hobbes, Leviathan, Kap. 13, p. 90, S. 98.
Hobbes, Leviathan, Kap. 18, p. 128, S. 144; Kap. 20, p. 144f., S. 162.
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haltung ankommt, dann wird er sich mangels Alternativen zur Vermeidung des Bürgerkriegs
einem absoluten Staat unterwerfen. Jede der ersten drei Einschränkungen stützt die Einschränkung auf der Folgestufe, ohne allerdings deren logische Ableitung zu ermöglichen. Das
bedeutet, daß die Limitation der Elemente des normativen Individualismus auf jeder der vier
Stufen diskutierbar ist:
Für die erste Stufe des naturalistisch verengten Menschenbildes gilt, daß es nicht unserem
Selbstverständnis entspricht. Wir begreifen uns – mit wenigen Ausnahmen – nicht als auf
körperliche Strebungen reduzierte Maschinenwesen. Wir pochen auf unsere Autonomie und
verlangen Rechtfertigung für Autonomieverletzungen. Konstruiert man somit auf der ersten
Stufe der Überlegungen ein ethisch gehaltvolleres Menschenbild als Hobbes, dann führt das
auf der zweiten Stufe der Intersubjektivität dazu, daß schon im Naturzustand die Menschen
gegenüber Autonomieverletzungen anderer in ethisch gehaltvoller Weise eine Rechtfertigung
verlangen. Das Handeln wird im Naturzustand nicht nur durch zweckrationale Überlegungen
des Akteurs beschränkt, sondern auch durch entsprechende Forderungen der anderen Betroffenen. Aus dieser Konfliktsituation erwachsen bereits im Naturzustand gehaltvolle intersubjektive ethische Verpflichtungen. Daraus folgt aber: Die Annahme vorstaatlicher ethischer
Verpflichtungen beeinflußt die Ziele, um derentwillen das Projekt der Staatsbildung verfolgt
wird. Damit ist die dritte Stufe von Hobbes’ Gedankengang erreicht: Wenn man den Verlauf
der Geschichte seit Hobbes berücksichtigt, so wird man annehmen müssen, daß die meisten
Menschen nicht nur Selbsterhaltung, sondern auch Freiheit, Glück, Selbstachtung, Anerkennung und politische Partizipation als zentrale Lebensziele ansehen. Zur Erreichung dieser
Ziele wurden Revolutionen entfacht und Bürgerkriege geführt. Allerdings ist Bürgerkrieg
nicht gleich Bürgerkrieg. Zur Vermeidung eines sehr blutigen Bürger- oder gar Auslöschungskriegs würden wir vielleicht ein gemäßigt-absolutistisches Regime tolerieren, kaum
aber ein Regime, das den nationalsozialistischen oder stalinistischen Verbrecherorganisationen des 20. Jahrhunderts ähnelt. Hobbes’ normative These kann man also allenfalls – und
damit ist die vierte Stufe seines Gedankengangs erreicht – in einer sehr eingeschränkten Form
akzeptieren: Einem sehr blutigen Bürger- oder gar Auslöschungskrieg würden manche ein
gemäßigt-absolutistisches Regime vorziehen.
(2) Hobbes’ zweite empirisch-prognostische These muß dagegen im Hinblick auf unsere Erfahrungen mit der Stabilität demokratischer Staaten als widerlegt angesehen werden. Wenn
gegen einige Mängel demokratischer Staatsformen institutionelle Vorkehrungen getroffen
werden – man vergleiche etwa das „wehrhafte“ Grundgesetz mit der Weimarer Reichsverfassung –, sind demokratische Staaten offenbar mindestens genauso stabil wie absolutistische.
Angesichts der Möglichkeit, sowohl den Bürgerkrieg als auch den absoluten Staat zu vermeiden, kann man deshalb nicht annehmen, daß die Menschen sich freiwillig der unumschränkten
Herrschaft des Leviathan mit all ihren Gefahren und negativen Konsequenzen ausliefern werden.74 Die Einschränkung des normativ-individualistischen Paradigmas durch die Konzentration der Interessenberücksichtigung auf einen vergangenen und hypothetischen Legitimationsakt der Souveränitätsübertragung ist demnach auch mit Rekurs auf zweckrationale Gründe
nicht zu rechtfertigen. Allerdings enthält die Hobbessche Theorie einen bedenkenswerten
Aspekt. Auch im demokratischen Staat kann die permanente Partizipation der einzelnen nicht
so weit gehen, den demokratischen Staat selbst abzuschaffen, denn dies würde die Partizipation beseitigen. Die Demokratie muß sich gegen ihre Feinde wehren.
74
Dieser Einwand findet sich der Sache nach schon bei Locke, Two Treatises of Government, II 93, p. 328, S.
258; II 163, p. 376f., S. 304.
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